0,99 €
Der Sinn und Wert des Lebens entwirft eine Philosophie des geistigen Lebens, die den Menschen aus bloßer Naturkausalität in eine Ordnung objektiver Werte hebt. In essayistisch-argumentativer, zugleich appellativer Prosa begründet Eucken seinen Aktivismus des Geistes: Wahrheit und Freiheit entstehen erst in der tätigen Aneignung des Überpersonalen. Gegen Naturalismus und Historismus behauptet das Buch Eigenrang und Verbindlichkeit des Geistigen und verbindet Ethik, Religionsphilosophie und Kulturkritik im Kontext der lebensphilosophischen Krisendiagnosen um 1900. Rudolf Eucken (1846–1926), Professor in Jena und 1908 mit dem Literaturnobelpreis geehrt, suchte zeitlebens eine lebensbegründende Idealität gegen reduktionistische Weltbilder. Seine Auseinandersetzungen mit Naturwissenschaft, Sozialtheorie und Theologie sowie seine öffentliche Lehr- und Vortragstätigkeit nähren dieses Buch: existenzielle Selbstbegründung durch geistige Umkehr. Biografisch und intellektuell motiviert, verbindet Eucken kritisches Denken mit religiöser Innigkeit, ohne den normativen Anspruch des Wahren dem bloßen Faktischen zu opfern. Empfohlen für Leserinnen und Leser in Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaft, die tragfähige Orientierung suchen. Die klare Begriffsbildung, die geschichtssensible Diagnose und die praxisnahe Ethik bieten eine bis heute anregende Lektüre, die zur Prüfung der eigenen Lebensführung am Anspruch des Geistigen herausfordert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wer heute die Frage aufnimmt, ob das menschliche Leben einen Sinn und Wert hat, der kann nicht zweifelhaft darüber sein, daß es hier nicht einen vorhandenen Besitz zu beschreiben, sondern eine Aufgabe zu bezeichnen gilt, eine Aufgabe, die für uns nicht gelöst ist, auf deren Lösung sich aber unmöglich verzichten läßt. Daß der heutige Lebensstand uns hier keine sichere und freudige Bejahung zuführt, das wird genauer zu zeigen sein; daß wir das Suchen danach nicht einstellen können, ist ohne viel Erörterung klar. Das Leben stellt uns Menschen unter mannigfache Eindrücke und Aufgaben, sie bilden nicht unmittelbar eine Einheit, es hebt sich nicht leicht und sicher aus ihrer Fülle ein leitendes Ziel hervor. Dabei ist das Leben keineswegs eitel Freude und Genuß, es kostet Mühe und Arbeit, es fordert Entsagung und Opfer; die Frage erwacht, ob sich solche Mühe und Arbeit auch lohne, ob der Gewinn des Ganzen alle Gefahren und Verluste im einzelnen aufwiege und eine Bejahung rechtfertige. Das ist kein Problem der bloßen Theorie; das Leben selbst kann seine Höhe erst erreichen, wenn es sich eines bedeutenden Gesamtzieles sicher weiß, und wenn von da aus Spannung und Lust in jede einzelne Betätigung strömt.
Nun gibt es Zeiten, wo die Frage schlummert, weil Überlieferung und Gemeinschaft dem Streben eine sichere Richtung geben und keinerlei Zweifel an den dargebotenen Zielen aufkommen lassen. Erwacht aber einmal der Zweifel, ein Zweifel über das Ganze, so greift er leicht wie ein verheerendes Feuer um sich, die Frage verwickelt sich um so mehr, je mehr wir über sie grübeln; wir finden uns an der Grenze unseres Vermögens, wenn wir erwiesen haben möchten, daß unser Leben bei aller Verworrenheit des ersten Anblicks schließlich einen Sinn und Wert besitzt und sich von da aus zuversichtlich bejahen läßt. Unter der Macht solches Zweifels steht unsere eigne Zeit. Ihre Schwäche an dieser Stelle verrät schon der Umstand, daß sie inmitten staunenswerter Leistungen und unaufhörlicher Fortschritte kein rechtes Glücksgefühl in sich trägt, daß der Mensch als Ganzes sich keineswegs sicher und geborgen weiß, daß er sich selbst herabzusetzen und von seiner Stellung im All gering zu denken geneigt ist. Bei näherem Zusehen finden wir viel Streben nach Einheit des Lebens, aber wir finden zugleich, daß dies Streben sich bei sich selbst bis zu vollem Gegensatze entzweit: grundverschiedene Synthesen und Typen des Lebens bieten sich dar und umwerben den Menschen. Aber indem keine von ihnen siegreich und sicher die anderen bewältigt, spalten widerstreitende Wirkungen und Schätzungen die Menschheit; was dem einen ein hohes Gut, das dünkt dem andern ein lästiges Übel, und der eine weiß nicht hart genug zu verdammen, was den andern entzückt und begeistert. So ergibt sich bei überströmendem Reichtum im Einzelnen eine peinliche Armut im Ganzen, auch ein völliges Unsicherwerden über das Ziel und die Art unseres Weges. Solche Lage treibt zwingend die Frage hervor, ob sich gegenüber aller Verdunklung, Verwirrung, Verneinung ein Sinn und Wert des Lebens erringen lasse, ob alle Widersprüche schließlich einer Einheit weichen, die das Ja dem Nein überlegen macht.
Die Frage kann keine Antwort finden, ohne daß sich das Leben in ein Ganzes faßt; erst eine solche Zusammenfassung ermöglicht ein Urteil darüber, ob es lebenswert ist. Aber wie erreichen wir solche Verbindung zum Ganzen? Wohl drängt zu ihr unser Begehren nach Glück, das Glücksverlangen eines denkenden Wesens, das nicht völlig in die einzelnen Augenblicke aufgehen kann, das nach einem umfassenden Ziele fragen muß. Aber mit allem Wünschen und Wollen, mit aller Aufregung und Leidenschaft erreicht der Mensch einen solchen Abschluß nicht unmittelbar im eignen Bereiche. Er ist in die große Welt verwickelt und an ihr Geschehen gebunden, er muß sich mit ihr auseinandersetzen und einen Ausgleich suchen, er muß das eigne Unternehmen an ihrem Bestande prüfen, er kann auf keinem Glücke bestehen, das der Wahrheit der Dinge und der Wahrheit seiner eignen Natur widerspricht. Wird sich nun wohl zusammenfinden, was er an Glück begehrt, und was von ihm die Wahrheit fordert? Es muß eine solche Vereinbarkeit von Glück und Wahrheit hoffen, wer einen Sinn und Wert des Lebens erstrebt; aber ob sich die Hoffnung erfüllt, das ist eine andere Frage. Jedenfalls verbleibt und treibt das Problem, kein Einzelner hat es bereitet, es steigt aus dem innersten Wesen der Zeit empor, die weltgeschichtliche Lage legt es uns mit Notwendigkeit auf. Daß aber dies Problem der Menschheit zugleich eine Aufgabe der Philosophie bedeutet, das kann nur bezweifeln, wer von dieser niedrig denkt.
Wir beginnen naturgemäß mit der Prüfung der Antworten, welche die Zeit uns entgegenbringt. So wenig die herrschende Verwirrung der Geister erwarten läßt, daß sie eine befriedigende Lösung enthalten, schwerlich könnten sie große Komplexe bilden und viele Gemüter verbinden ohne irgendwelches Wahrheitselement, sie tragen sicherlich Erfahrungen der Menschheit in sich, sie lassen uns in ihrer Gesamtheit den gegenwärtigen Stand des Problems ersehen, sie mögen aber durch das, was an ihnen als unzulänglich befunden wird, die Betrachtung zu dem Punkte führen, wo die Entscheidung liegt, und zugleich uns die Richtung weisen, die unser Suchen einschlagen muß.
Mit einer Behandlung der Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens suche ich die inneren Probleme der Gegenwart jedem Einzelnen möglichst nahe zu bringen und ihn zur Teilnahme daran zu gewinnen. Solche Fassung der Aufgabe zog der philosophischen Erörterung bestimmte Grenzen: daß es aber innerhalb dieser Grenzen genug zu klären gibt, das hofft die Untersuchung selbst zu zeigen. Dem einen oder anderen Leser wird vielleicht der erste, kritische Teil zu weit ausgesponnen scheinen. Aber es konnte die entscheidende Hauptthese, an der die Möglichkeit einer Wiederbefestigung des Lebens und einer Verjüngung der Kultur hängt, ihre volle Überzeugungskraft nur erlangen, wenn sie als der einzig mögliche Weg zum Ziele erwiesen war; dafür aber war jene Kritik unentbehrlich, sie steht nicht neben, sondern in der Sache.
Der moderne Mensch fühlt sich über sich selbst und über einen Sinn seines Lebens vornehmlich deshalb unsicher, weil nicht nur verschiedene Lebensgestaltungen zu ihm sprechen und wirken, sondern weil ein klaffender Riß das Ganze seines Daseins zerspaltet. Eine ältere und eine neue Art stehen hier unversöhnlich gegeneinander, sie widersprechen sich nicht nur an einzelnen Punkten, sie suchen den Standort des Lebens an grundverschiedener Stelle und entzweien sich daher auch bei der Frage nach seinem Sinn und Wert bis zu völligem Gegensatz. Die ältere Art, wie sie durch die Religion und durch einen immanenten Idealismus vertreten wird, macht eine unsichtbare, eine nur dem Auge des Geistes gegenwärtige Welt zur Hauptwelt des Menschen und stellt das unmittelbare Dasein in das Licht wie den Dienst dieser Welt. Was dieses unabhängig von jener Beziehung aus eignem Vermögen zu sein glaubt, das wird hier zu etwas Gleichgültigem oder gar Bösem. Umgekehrt möchte eine neue Denkweise das Leben ganz und gar innerhalb des unmittelbaren Daseins halten und mit seinen Mitteln gestalten, hier allein scheint es echte Freuden und Leiden zu geben; wenn irgend, so muß das Leben hier in ein Ganzes zusammengehen und einen Sinn erweisen. Was diesen Rahmen überschreitet, das kann nur ein Wahngebilde sein, welches das Leben ins Irre verlockt. Beides dringt auf uns mit mächtigen Wirkungen ein und zerteilt unser Leben: unsere Ideale und Wertschätzungen folgen überwiegend der älteren, unsere Interessen und Arbeiten der jüngeren Denkweise. Wofür sollen wir uns letzthin entscheiden, wo einen lebenswerten Gehalt unseres Daseins suchen?
Die religiöse Ordnung, die von grauer Vergangenheit her mit starker Macht in die Gegenwart wirkt, ist voll freudiger Zuversicht, dem menschlichen Leben einen bedeutenden Inhalt zu geben. Diese Zuversicht ruht aber auf ganz bestimmten Voraussetzungen. Der Religion scheint wie die Welt so der Mensch das Werk einer weit überlegenen, nur dem Glauben zugänglichen geistigen Macht, das Verhältnis zu dieser geistigen Macht wird der Kern seines Lebens, es wird es um so mehr, als hier die Überzeugung waltet, daß der Mensch den ursprünglichen Zusammenhang mit jener zerrissen hat und von der Höhe, auf der er stand, tief herabgesunken ist. Alles Streben konzentriert sich damit auf die eine Aufgabe, die verlorene Gemeinschaft mit Gott wiederherzustellen, es kann das aber nur durch eine völlige Wandlung innersten Lebens, durch eine ethische Wiedergeburt geschehen. Zu solcher muß göttliche Liebe und Gnade vorangehen und möglich machen, was menschliche Kraft nicht vermag. Dann aber eröffnet sich dem Menschen auch ein eignes Tun, nicht nur in williger Hingebung des Herzens und in treuer Bewahrung der empfangenen Gnade, sondern auch in eifriger Mitarbeit für den Aufbau eines Reiches Gottes auf Erden.
In diesem Zusammenhange durfte der Mensch von sich und seiner Lebensaufgabe aufs größte denken. Als Ebenbild Gottes stand er im Mittelpunkt der Wirklichkeit, um ihn bewegte sich das Leben des Alls, sein Tun und Lassen entschied über das Schicksal des Ganzen, entschied darüber für alle Ewigkeit. Dabei bildete jeder Einzelne bei aller Bindung an die Tatsachen der göttlichen Ordnung einen eignen Kreis und wurde als Selbstzweck behandelt, ja zur Vollendung des Ganzen, dem nicht das Mindeste verloren gehen durfte, gehörte auch seine Entscheidung.
Diesem Leben fehlte es nicht an Sorgen, Nöten und Schmerzen, der unermeßliche Ernst des Ganzen und die schroffen Konflikte des menschlichen Kreises verhinderten alles behagliche Glück im gewöhnlichen Sinne. Ja das Gewicht von Leid und Schuld konnte hier zunächst mehr gesteigert als verringert scheinen. Aber über den ganzen Bereich von Elend und Not hob hier die göttliche Macht den Menschen in ein neues Leben und ließ ihn hier die eigne Herrlichkeit, Vollkommenheit und Ewigkeit teilen und eine überschwängliche Seligkeit gewinnen. Der endgültige Sieg des Ja über das Nein ward damit völlig gewiß, und auch von dem menschlichen Tun war nicht das Geringste verloren. Es war kein leichtes Leben, aber es war ein Leben voll großer Ziele und in sicheren Zusammenhängen, es war kein vergebliches Leben.
So hat dies Leben Jahrtausende befriedigt, die Menschen fest zusammengehalten, unzähligen Gemütern sowohl Aufrüttelung und geistige Regung als Ruhe und Frieden gebracht. Aber alle Kraft des Wirkens hatte zur Voraussetzung die unerschütterte Festigkeit des Grundes; Zweifel innerhalb der Religion mögen die Glut ihres Lebens noch steigern – Augustin und Luther zeigen das deutlich –, Zweifel über die Religion als Ganzes aber müssen sie, wenn nicht zerstören, so doch lähmen. Solche Zweifel aber sind in der Neuzeit immer stärker geworden und haben der Religion immer härter zugesetzt.
Die Bedenken gegen den Lehrgehalt der Religion standen dabei äußerlich voran, sie zogen ihre Nahrung vornehmlich aus der völligen Veränderung des Weltbildes in Natur und Geschichte. Aber diese Bedenken hätten sich ertragen oder überwinden lassen, hätte das Leben in seinem Grunde die alte Kraft und das alte Feuer bewahrt; dann hätte der Widerspruch der Welt sogar die trotzige Selbstbewußtheit des Glaubens verstärken können (credo quuia absurdum). Daß er ins Gegenteil wirkte, lag an einem inneren Umschwung der Zeiten. Es war eine Zeit der tiefsten Erschütterung und gewaltigsten Aufregung, in welcher die Religion zur geistigen Großmacht wurde und die Herrschaft über das Leben errang. So geschah es gegen den Ausgang des Altertums. Die Welt bot dem Streben des Menschen keine wertvollen Ziele, seine geistige Existenz schien bedroht, nur die Wendung zu einer Überwelt konnte ihn vor innerer Vernichtung behüten. So wurde mit heroischem Aufschwung jene Welt ergriffen und dem Menschen in eine unmittelbare Nähe gerückt, sie wurde der wahrhaftige Standort seines Lebens, für den auch die sichtbare Welt ihr Bestehen und ihren Wert erst darzutun hatte. Zugleich wußte eine hochgestimmte Phantasie dem Unsichtbaren eine anschauliche Verkörperung und überwältigende Eindringlichkeit zu verleihen, hier ward im tiefsten Grunde des Lebens alle Kluft zwischen Menschlichem und Göttlichem aufgehoben, die beseligende Grundwahrheit aller Religion von der wesentlichen Einigung beider fand hier eine überzeugende Verwirklichung. Solche heroische Zeiten vermögen eine völlige Umkehrung des Daseins zu bewirken, ihnen gilt das Schwerste als leicht, das Unmögliche als selbstverständlich, das Unsichtbare als das Nächste.
Solche Zeiten bringen der Menschheit dauernden Gewinn, aber in dem Besonderen ihrer Art gehen sie vorbei und müssen sie vorbeigehen. Denn auf die Dauer kann die Menschheit diese hohe Spannung unmöglich ertragen, sie müßte zusammenbrechen, wenn das Leben nicht wieder in ruhigere Bahnen einlenkte. Aber der Nachlaß der Spannung versetzt die Religion bald in eine kritische Lage, sie kann sich nicht als das allbeherrschende Zentrum des Lebens behaupten und verliert damit ihre unmittelbare Überzeugungskraft. Dann aber treten ihr Menschliches und Göttliches auseinander, ihre Tatsachen und Erfahrungen verblassen, immer mehr wird sie zu einer bloßen Umsäumung eines andersgearteten Lebens. Solche andere Art aber entwickelt sich namentlich seit Beginn der Neuzeit, indem die früher geringgeschätzte und zurückgesetzte Welt eine neue Anziehungskraft gewinnt, mit neuer Sprache zum Menschen redet, ihn aus frischer Quelle neuen Lebensmut schöpfen läßt. Indem er aber ein stolzes Bewußtsein eignen Vermögens gewinnt, verdrängen die Aufgaben der Weltarbeit mit ihrer bunten Fülle die Sorge um den Stand der Seele, fremdartig, ja kaum verständlich wird dem Menschen nun, was ihn früher von derartiger Sorge erfüllte und aufregte. Bei solcher Wandlung ist der Zweifel an der Wahrheit der religiösen Lösung des Lebensproblems nicht aufzuhalten; indem er vordringt, sinkt das religiöse Leben innerlich auch da, wo es äußerlich fortbesteht, es verliert die alte Kraft und Gewißheit, es verwandelt sich in ein Wogen und Wallen des bloßen Gefühls, das nun und nimmer das ganze Leben ausfüllen kann. Was immer der Religion an Bedenken anhaftet, was immer gegen sie spricht, das gewinnt jetzt das bereitwilligste Gehör; im besondern wird jetzt empfunden, wie viel im Bereich unseres Lebens von der Religion, wenn nicht als gleichgültig, so doch als nebensächlich behandelt wird; bei Verfolgung dieses Gedankenganges kann die von ihr vollzogene Umkehrung des Lebens leicht eine arge Verkehrung dünken; als ein Widersinn mag es erscheinen, die Welt, die uns mit so reicher Fülle des Lebens umflutet, an eine fremde und problematische Ordnung zu binden; heißt das nicht, so hören wir fragen, vom Fernen zum Nahen, vom Unsichern zum Sicheren fortschreiten? Dem läßt sich vieles entgegnen, und es darf die Strömung der Zeit nicht ohne weiteres als Wahrheit gelten; auch läßt sich nicht leugnen, daß inmitten aller Bestreitung und Verneinung die Religion in mächtiger Wirkung verbleibt; was sie an Aufrüttelung und Verinnerlichung des Lebens enthält, was sie an Gegensätzen hervorgetrieben, an Sehnsucht nach Unendlichkeit, Ewigkeit, Vollkommenheit entzündet hat, das kann nicht einfach verschwinden, das bleibt ein Maß für alles menschliche Streben nach Wahrheit und Glück. Aber zugleich verbleibt die völlige Wandlung der Lage, auch mit jenen Wirkungen bildet für uns heute die Religion mehr eine Frage als eine Antwort, viel zu unsicher ist sie uns geworden, um uns eines Sinnes unseres Lebens zu versichern und uns unmittelbar zu freudiger Lebensbejahung zu führen.
Den Verwicklungen der Religion entgehen zu können, ohne an Tiefe des Lebens einzubüßen, glaubt ein immanenter Idealismus, der mit seinem Aufbau einer Idealkultur seit Jahrtausenden neben der Religion steht und wirkt, bald zu freundlicher Ergänzung, bald in harter Bekämpfung. Auch er gibt dem Leben zum Hauptstandort eine unsichtbare Welt, aber diese erscheint hier nicht als ein neben der sichtbaren Welt befindliches und von ihr abgelöstes Reich, sondern als ihr eigner Grund, ihre eigne Tiefe; daß das All eine solche dem äußeren Auge verborgene Tiefe hat, daß es sich in ihr zu einem Ganzen zusammenfaßt und ein inneres Leben gewinnt, das ist die feste Überzeugung und die unentbehrliche Voraussetzung dieser Lebensgestaltung. Den Menschen schließt diese Lebensordnung eng mit dem All zusammen, aber zugleich gibt sie ihm eine eigentümliche Stellung und Aufgabe. Er steht mit seinem äußern Dasein in der sichtbaren Welt, aber in seiner Seele beginnt die sonst verborgene Tiefe der Wirklichkeit durchzubrechen, in ihm erst erlangt das Leben der Welt eine volle Klarheit und Freiheit, und es kann das nicht ohne sein eignes Ergreifen und Aneignen, sein Arbeiten und Vordringen; es gibt einen Punkt, wo alles an ihm liegt, und wo er hoffen darf, mit Entwicklung seiner Selbsttätigkeit den Stand des Ganzen zu fördern. Eine Anschaulichkeit und eine Überzeugungskraft gibt dieser Lebensordnung vornehmlich die Tatsache, daß im menschlichen Kreise mit der Wendung zu geistigem Schaffen gegenüber dem Getriebe der Natur ein wesentlich neues Leben emporsteigt, daß hier ein Reich von inneren Größen und Gütern, ein Reich des Wahren, Guten und Schönen entsteht; das darauf gerichtete und davon erfüllte Leben scheint den Menschen über alle Kleinheit des Alltags in eine innere Gemeinschaft mit der großen Welt zu erheben, es scheint keines Zieles über sich selbst hinaus zu bedürfen, sondern in seiner eignen Entfaltung seinen Sinn, in seiner Anschauung seine vollgenügende Freude zu tragen. Hier steht Selbsttätigkeit gegen Gebundenheit, Edles gegen Gemeines, Selbstzweck gegen bloße Nützlichkeit. Zur Erringung dieses Lebens bedarf es einer energischen Aufrüttelung des Wesens und eifriger Arbeit, zum Kern des Lebens wird hier als Vermittlerin jener Tiefe der Welt die geistige Produktion, wie sie namentlich in durchdringender Wissenschaft und aufbauender Kunst zu Tage tritt, dies Schaffen scheint das Leben vollauf auszufüllen und auch die rechte Gesinnung mit sich zu bringen. Der Mensch ist hier in erster Linie auf die eigne Kraft gestellt, aber da sein Streben die Bewegung des Weltalls weiterführt, so umfangen ihn große Zusammenhänge, und die freudige Zuversicht kann sich nicht zu stolzer Selbstbewußtheit überspannen. In seinem eignen Wesen trägt hier der Mensch ein Ideal, das zu erreichen er mit Sicherheit hoffen darf.
Eine derartige Lebensgestaltung wirkt zu uns von der Höhe der antiken Kultur, die dort herrschende Denkweise hat sich seitdem in mannigfacher Form erneuert, sie spricht zu uns in nächster Nähe aus dem Lebenswerk Goethes, sie wirkt fort auf allen Gebieten, die sich mit dem Ganzen des menschlichen Seins befassen, sie bildet einen bleibenden Faktor aller echten Kulturarbeit.
Aber mit dem Anspruch, das Leben zu führen und ihm einen Sinn zu geben, ist es diesem immanenten Idealismus nicht anders ergangen als der Religion: die Grundlagen sind unsicher geworden, und zugleich hat das auf ihnen errichtete Leben die Kraft und die Tiefe verloren, ohne die es sich nicht als das Zentrum des Ganzen behaupten und den Menschen einer erhöhenden und beglückenden Wahrheit versichern kann. Daß die Wirklichkeit eine Tiefe habe, und daß sich der Mensch unter Umkehrung der vorgefundenen Lage in das Reich der schaffenden Gründe versetzen könne, das ist der Durchschnittslage der Gegenwart ebenso zweifelhaft geworden wie die Grundwahrheiten der Religion. Jene Behauptungen sind ein Erzeugnis besonderer Zeitlagen, ein Werk von seltenen Sonn- und Festtagen der Menschheit, wo eine Gunst des Geschickes mit anregenden und aufregenden Lagen große Persönlichkeiten zusammentreffen ließ; hier konnte in Glut und Feuer des Schaffens die unsichtbare Welt eine selbstverständliche Wahrheit und der unbestreitbare Standort des Lebens werden, hier konnte sie alle Kraft des Menschen und die volle Hingebung seiner Gesinnung gewinnen, nur hier war das geistige Schaffen zugleich eine ethische Tat, eine Erhöhung des ganzen Menschen. Aber jene schöpferischen Zeiten gingen vorbei, sie ließen sich auch beim besten Willen nicht dauernd festhalten oder beliebig wieder aufnehmen, der Weltanblick, den jenes Schaffen eröffnet hatte, verblaßte vor widerstreitenden Eindrücken, die sichtbare Welt erschien nicht mehr als eine bloße Erweisung und Entfaltung einer unsichtbaren, sondern als von eigner, gegen die Werte des Geisteslebens durchaus gleichgiltiger Art; viel starrer Widerstand begegnete draußen dem Streben des Menschen, sein eignes Seelenleben zeigte viel Stumpfheit gegen die geistigen Ziele, ja es erschien einem kritisch geschärften Blick als von schroffen Gegensätzen zerrissen und gelähmt, als unfähig, sich zu einer allbeherrschenden Einheit des Vernunftslebens zusammenzufassen. Widerständen draußen mag diese Lebensordnung mit ihrer Aufbietung geistiger Kraft gewachsen sein, auch das Schwerste läßt sich als ein Aufruf zur Entfaltung überlegener Gesinnung ertragen. Aber wenn im Innern Verwicklungen erscheinen, wenn der Mensch sich selbst gespalten und ohnmächtig findet, wenn das Niedere ihn festhält und alles Aufstreben lähmt, dann gerät unvermeidlich das Ganze ins Wanken, dann verliert der Mensch die Zuversicht, das Reich der schaffenden Gründe erreichen zu können; ja was immer er in dieser Richtung gewinnt, das scheint das tiefste Sehnen und Verlangen der Seele nicht zu befriedigen; dann droht jene ganze Kultur zur bloßen Begleitung und Umsäumung eines andersgearteten Lebens zu werden, dann kann der Mensch unmöglich in ihr einen sicheren Abschluß des Lebens finden.
Solcher Widerspruch gegen den immanenten Idealismus ist alt, aber erst die Neuzeit hat ihn zu voller Entfaltung gebracht; sie tat das, indem sie das ganze Gewicht der blinden Tatsächlichkeit der Dinge, die Unvernunft des menschlichen Daseins, die Gleichgültigkeit des menschlichen Durchschnitts gegen höhere Zwecke vollauf zur Geltung brachte, sie tat es weiter durch die Aufweisung der Schranken der menschlichen Organisation, die uns von der unmittelbaren Teilnahme an einem Weltleben endgültig auszuschließen scheinen. Die starke Entwicklung des modernen Subjektes reißt den Menschen aus den überkommenen Zusammenhängen heraus und stellt ihn wie etwas Eigentümliches und Fremdes der Welt gegenüber; hier scheint er wohl den eignen Kreis ins Grenzenlose ausdehnen, nie aber aus ihm heraus auf einen neuen Standort gelangen zu können. Wie sollte aber dann ein geistiges Schaffen eine Umkehrung des Daseins bewirken und mit Eröffnung der Tiefen des Alls dem Leben einen Sinn gewähren?
Gewiß verschwindet mit solchen Zweifeln und Erschütterungen nicht alles Wirken jenes immanenten Idealismus. Aber sobald er nicht mehr von innen heraus und mit der Kraft eines Weltlebens wirkt, sobald er statt eigner Produktion ein bloßes Aneignen, Fortführen, Genießen überkommener Erzeugnisse wird, so verflacht sich das geistige Schaffen unvermeidlich zu einer bloßen Bildung; so gewiß eine solche innerhalb eines weiteren Lebens ihren Wert hat, von sich aus das Leben ausfüllen und befriedigen kann sie nicht. Eine solche Bildung mag viel Genuß und Aufklärung bringen, das Leben reich und beweglich gestalten, mit ihrer Fülle über die Abgründe des menschlichen Daseins gefällig hinwegtäuschen. Aber da sie den Menschen weder bei sich selbst zu lebenumfassender und lebenerhöhender Tat zu führen, noch in ein sicheres Verhältnis zum Weltall zu bringen vermag, da sie ihm keine großen und keine zwingenden Aufgaben eröffnet, sondern alles auf Lust und Neigung stellt, so kann sie unmöglich das Leben lebenswert machen, ja es leidet jenes Reich der Bildung, wie es sich im Durchschnitt der Erfahrung ausnimmt, an einer inneren Scheinhaftigkeit und Unwahrheit: der Mensch soll sich für ein Reich von geistigen Größen und Gütern erwärmen und bemühen, »sich interessieren«, wie es heißt; er redet nicht nur anderen, er redet wohl auch sich selber ein, daß er das aus ganzer Seele tue. In Wahrheit ist ihm jenes ganze Gebiet von geringem oder doch nebensächlichem Werte gegenüber den Zwecken der natürlichen und der sozialen Selbsterhaltung, gegenüber den Interessen und Leidenschaften des Alltages; die Technik des gesellschaftlichen Zusammenseins ist unablässig bemüht, diesen Abstand möglichst zu verdecken und einen leidlichen Schein zu wahren. Aber an einen bloßen Schein können wir nicht unser Leben hängen, bei einer bloßen Nebensache nicht die Kraft zur Überwindung der Sorgen und Nöte, nicht den Gehalt zur Befreiung von unerträglicher Leere finden. Eine wahre Befriedigung gewährt die Bildung, dies Leben aus zweiter Hand, dem Menschen nun und nimmer.
Die Erfahrungen der Religion und des immanenten Idealismus treffen in einem Punkte zusammen, beide scheinen zu zeigen, daß das Streben nach einer neuen Welt den Menschen ins Irre verlockt, daß es die schönen Aussichten, die es seinem Leben eröffnet, nicht vor einem Sinken zu bloßen Illusionen zu behüten vermag. Ja das Scheitern großer Hoffnungen muß zu einem starken Rückschlag, muß zu tiefer Niedergeschlagenheit und zu trübsten Zweifeln führen. Sollte die Natur den Menschen so bereitet haben, daß in ihm Wünsche und Hoffnungen aufsteigen, aufsteigen müssen, die sich auch bei Aufbietung höchster Kraft nicht verwirklichen lassen? Sollte nur ein Trugbild ihn äffen, wenn er über das nächste sinnliche Dasein als klein und unzulänglich hinausstrebt und ein neues Reich in religiösem Glauben oder geistigem Schaffen erstrebt? Aber für eine bloße Illusion ist doch zu viel von jenen Bewegungen geleistet, zu viel an Kräften geweckt, zu viel zur Bereicherung und Vertiefung des Lebens gewirkt. Die Religion entfaltete eine selbständige Innenwelt, und mit ihr einen unbedingten Selbstwert der reinen Gesinnung, sie gab dem Leben Ernst und Erhabenheit, sie erzeugte mit dem Vordringen zum seligen Ja durch ein herbes Nein eine starke Spannung und dramatische Bewegung, sie verlieh allererst der Seele eine wahrhaftige Geschichte und machte diese Geschichte zum Mittelpunkt alles Geschehens, sie zerbrach alle Enge und Starrheit des natürlichen Daseins mit ihrer Erweckung einer überwältigenden Sehnsucht nach Liebe und Ewigkeit. Der immanente Idealismus rief alle Kräfte des Menschen zu voller Betätigung auf und pflanzte ihnen zugleich ein Streben nach harmonischem Zusammenschluß ein, er erhob den Menschen über alle Kleinheit seiner Sonderart in ein inniges Wechselleben mit dem All, er erzeugte durch den Bund von Wahrheit und Schönheit ein Leben zugleich vornehmer und kräftiger Art. Alles dieses hat hohe Ansprüche an das Leben erweckt und hält sie ihm als unerläßliche Forderung vor. Wenn so die Wirkungen beharren, der Grund aber zusammenbricht, der das Ganze trug, wie sollen wir uns dann zu den Entwicklungen und Forderungen stellen? Lassen sie sich von jenem ablösen und ohne einen inneren Zusammenhang aufrecht erhalten? Werden sie nicht bei solcher Ablösung völlig verblassen, wird nicht aller lebendige Inhalt, nicht alle zwingende und treibende Kraft von ihnen weichen? So mögen sie wie blutlose Gespenster über unserem Leben schweben, stark genug, um uns die Lust an der sichtbaren Welt zu vergällen, aber viel zu schwach, um uns aus eignem Vermögen eine andere Welt zu eröffnen und damit unserem Streben ein angemessenes Ziel und unserem Leben einen Sinn zu geben.
Das sind Sorgen, denen die Menschheit sich unmöglich dauernd entziehen kann. Zunächst aber mag sie dadurch eine Erleichterung suchen, daß sie jene möglichst zurückschiebt und ihr Interesse nach anderer Richtung wendet. So tut es die Neuzeit, so vollzieht es sich namentlich in der vielbesprochenen Wendung des 19. Jahrhunderts vom Idealismus zum Realismus. Eine Ermüdung an den Problemen des inneren Lebens greift mehr und mehr um sich, mit jugendlicher Frische und Kraft ergreift die Menschheit die sichtbare Welt, die sich reicher und reicher entfaltet, und erwartet, wenn irgend, so von der Beschäftigung mit ihr einen Sinn und Wert des Lebens. Erst die Wendung dahin scheint es von der bisherigen Schattenhaftigkeit zu befreien und ihm Fleisch und Blut zu gewähren; indem hier alle subjektiven Wünsche des Menschen unverbrüchlichen Ordnungen der Dinge weichen, ergibt sich die Notwendigkeit mancher Entsagung und werden dem Leben bei aller Ausdehnung ins Weite innerlich engere Grenzen gezogen. Aber innerhalb dieser Grenzen gewinnt es eine volle Unbefangenheit und Universalität, es braucht sich nicht, wie in den älteren Lebensordnungen, den Zusammenhang der Wirklichkeit in Gut und Böse zerreißen, sowie irgend etwas verbieten und verkümmern zu lassen, es kann jeder Anregung folgen, jede Kraft unbedenklich entfalten. Sollten hier nicht neue Synthesen des Lebens möglich sein, findet vielleicht in ihnen das Leben ein gutes Recht zu freudiger Selbstbejahung, das ihm die älteren Lebensordnungen wohl vorzuspiegeln, nicht aber zu sichern vermochten? Jedenfalls hat die Menschheit viel Mühe auf dieses Ziel verwandt, sie hat aber dabei verschiedene Stufen durchlaufen und verschiedene Gestaltungen versucht. Betrachten wir diese Versuche.
Daß sich im Fortgang der Neuzeit der Schwerpunkt des Lebens mehr und mehr in die sichtbare Welt verlegt hat, darüber besteht kein Zweifel und Streit. Bei unserem Problem hat aber die Bewegung die beiden Stufen einer milderen und einer schrofferen Behauptung durchlaufen, sie seien nicht mit einander vermengt. Zunächst wurde jene Welt allerdings zum Hauptvorwurf der Beschäftigung gemacht, aber es verblieb dabei aus der tausendjährigen Arbeit der Menschheit ein selbständiges Subjekt, ein gewisses Beisichselbstsein des Lebens, und in ihm blieben die Ergebnisse jener Arbeit gegenwärtig. So entstand ein Nebeneinander von Mensch und Welt; indem sie gegen die überkommene Art weiter auseinandertraten, erfolgte eine durchgreifende Klärung, und es ergab für sich die Arbeit des Menschen als Hauptaufgabe damit, die gegenseitigen Beziehungen zu entwickeln, die Welt, die um der Klarheit und Wahrheit willen zunächst von uns abzulösen war, wieder nahezurücken und in ihrem unverfälschten Bestande an den Menschen zu bringen; davon ließ sich eine erhebliche Steigerung der Kräfte, ja eine neue Art des Lebens erwarten. Diesem neuen Leben ist die sichtbare Welt unvergleichlich mehr geworden, als sie früheren Zeiten war. Sie hat sich nicht nur der Einsicht des Menschen in Natur und Geschichte in ungeahnter Weise erschlossen, sie hat auch seinem Wirken immer mehr Angriffspunkte gewährt, mehr und mehr erhebt er sich aus einem passiven Stande in ein aktives Verhalten zur Weltumgebung, den Befund der Dinge, den er früher als ein unentrinnbares Schicksal hinnahm, kann er nun aus eignem Vermögen ändern und bessern; was immer den Menschen an Elend und Not, an Irrung und Wahn bedrückt, das greift die Neuzeit mutig an und sucht es gründlich zu heben; indem auf der ganzen Linie ein Kampf der Vernunft gegen die Unvernunft aufgenommen wird, eröffnen sich unermeßliche Aufgaben und Aussichten. Zum Kern dieses neuen Lebens aber wird die Arbeit, d. h. die Tätigkeit, welche den Gegenstand ergreift und ihn für die Zwecke des Menschen gestaltet, sie kann das aber in dem gesteigerten Sinne der Neuzeit nicht tun, ohne mehr und mehr sich selbst der Natur und den Gesetzen des Gegenstandes anzupassen, diese in sich aufzunehmen, damit selbst einen gegenständlichen Charakter auszubilden. So zeigen Wissenschaft und Technik, so zeigen auch politisches und praktisches Wirken ein Selbständigwerden der Arbeit gegen die Meinungen und Neigungen der Individuen, mehr und mehr bildet jene eigene Zusammenhänge und entwickelt sie eigene Gesetze und Triebkräfte; damit gibt sie dem menschlichen Streben ein festes Gerüst und die Gewißheit eines unablässigen Vordringens. Soll das Leben daher in diesen Zusammenhängen einen Sinn erhalten, so kann es ihn nur von der Arbeit erhalten. Diese scheint ihn aber zu gewähren, indem sie das menschliche Handeln durch jene festen Zusammenhänge unvergleichlich leistungsfähiger macht und in ihnen auch der Leistung des Einzelnen wie auch jedes Augenblickes einen Wert verleiht, sie entwickelt ein Bewußtsein der Solidarität des Menschengeschlechts, sie umspannt mit gemeinsamem Werk den Gesamtlauf der Zeiten und hält auch dem Einzelnen sein Leben zusammen, sie zeigt dem Menschen mit seiner Größe zugleich seine Grenze, sie wahrt sich freudigen Mut auch wo sie heute eine Grenze findet, indem sie weitere und weitere Möglichkeiten eröffnet, sie mildert schon durch das Aufnehmen des Kampfes den starren Druck des Schicksals. Mit dem allen erzeugt sie ein männliches, klares, zielbewußtes Leben, das aber innerhalb unseres Gesichtskreises, ohne die Verwicklungen der Religion und der Metaphysik. So ist die Frage berechtigt, ob etwa in solcher Gestaltung das menschliche Leben eine volle Befriedigung findet und einen Sinn gewinnt. Es könnte das etwa, wenn die Seele sich zur Nebensache herabsetzen ließe, wenn der Mensch nach einer inneren Einheit seines Wesens und nach Befriedigung dieser Einheit zu streben je aufhören könnte. Da sich aber das nicht so einfach macht, so erscheinen alsbald Verwicklungen, die allen Gewinn der Arbeit in Frage stellen und den versuchten Abschluß verhindern. Das Streben des Menschen war zunächst allein auf die Arbeit gerichtet und von ihren Erfolgen erfüllt, ja berauscht; daß dadurch auch das Befinden, der innere Stand der Seele gewinne, darüber war zu Beginn nicht der mindeste Zweifel. Aber je mehr die Arbeit ins Große wuchs und je selbständiger sie gegen den Menschen wurde, desto unabweisbarer wurden solche Zweifel, desto schroffere Kontraste entstanden zwischen den Wirkungen der Arbeit und den Forderungen der Seele. Diese muß aus aller Leistung nach außen immer wieder zu sich selber zurückkehren, sie muß fragen, was durch jene für ihr eignes Befinden, ihren eignen Stand gewonnen wird, sie muß dies eigne Befinden als den höchsten aller Zwecke behandeln; die Arbeit dagegen mit ihrem riesenhaften Gefüge und Getriebe ist voller Gleichgültigkeit dagegen, was aus dem Befinden des Arbeiters wird, ihr kann er nur als ein Mittel gelten, das sie nach ihren Zwecken verwendet oder verwirft, ihr ist er nur ein Werkzeug, ein mit Bewußtsein versehenes Werkzeug. Wird die Seele solche Behandlung geduldig ertragen, wird nicht ein elementares Verlangen nach Glück und Lebenserhöhung sich gegen solche Herabsetzung aufbäumen? Auch das führt zu einem harten Zusammenstoß, daß die Arbeit mit wachsender Verzweigung und Spezialisierung einen immer kleineren Ausschnitt der menschlichen Kräfte in Tätigkeit setzt, alles übrige dagegen verkümmern läßt. Die Seele aber kann nur bei Belebung aller Kräfte gedeihen, sie wird jene Verkümmerung als einen unerträglichen Verlust empfinden. Ferner bedarf sie für ihr Wohl einer ruhigen Bildung und eines inneren Beharrens, die Arbeit verwandelt das Leben in ein atemloses Hasten und Jagen, sie kennt keinen Stillstand, keine Ruhe. Nach dem allen kann leicht die Seele die Arbeit wie einen Gegner betrachten und zu ihrer Selbsterhaltung einen Kampf wider sie aufnehmen. Was dem Leben daraus an Erschütterungen erwachsen kann, das stellen die sozialen Bewegungen uns mit greller Deutlichkeit vor Augen. Aber das Problem reicht über das soziale Gebiet hinaus in das Ganze des Lebens, durchgängig droht bei alleiniger Richtung auf die Arbeit ihr Gewinn sich der Seele zum Verlust zu wenden, es drohen die Lebensenergien, die Persönlichkeiten, und damit unvermeidlich auch der Stand des Geisteslebens inmitten aller Triumphe der Arbeit bedenklich zu sinken.
Das Problem des Wertes des Lebens gerät bei solcher Spaltung unseres Daseins in völlige Unsicherheit. Wir können uns zeitweilig in die Arbeit versenken und vergessen, aber letzthin arbeiten bloß um zu arbeiten, das können wir nicht; Voltaire's Rezept, zu arbeiten ohne zu räsonnieren, würde den Menschen zu einem bloßen Lasttiere degradieren. Was soll alle Arbeit, wenn ihr Erfolg nicht schließlich auch dem Ganzen des Menschen zu Gute kommt? Auch das zeigt der Anblick der heutigen Lage mit voller Klarheit, daß der Fortschritt der Arbeit die Seele nicht schon zu einer inneren Belebung und Aneignung der Wirklichkeit führt, es faßt sich hier nicht Seele und Welt zu einer lebendigen Einheit zusammen, und es nimmt nicht der Mensch als Ganzes einen Kampf mit der Welt als einem Ganzen zu innerer Umspannung und Aneignung auf, sondern die Welt der Objekte bleibt bei aller unermeßlichen Beschäftigung unserer Seele fremd, alle Bewegung der Kräfte gibt dem Leben keinen Gehalt, und die Gebiete, die vor allem auf geistiges Schaffen gestellt sind, wie Religion, Kunst und Philosophie, müssen kläglich stocken und sinken.
So reißt der Konflikt zwischen Arbeit und Seele das Leben auseinander und versetzt uns in eine Lage, die wir nicht wohl endgültig hinnehmen können. Verschiedene Wege zur Abhilfe sind hier denkbar, wir haben uns zunächst mit dem zu befassen, welcher der Hauptrichtung des modernen Strebens entspricht. Das ist aber das Unternehmen, das Leben strenger, als es in jener Arbeitskultur geschah, ganz und gar in das unmittelbare Dasein zu stellen und ihm hier einen widerspruchslosen Zusammenhang und ein allbeherrschendes Ziel zu geben. Darin vornehmlich findet dieser Gedankengang den Grund der unerträglichen Verwicklung, daß ein Fortwirken der älteren Lebensordnungen Ansprüche und Antriebe in der Seele des Menschen festhalten ließ, die dem modernen Lebenszuge direkt widersprechen und damit das Leben zerreißen; so wird zur Forderung, jenes alles gründlich auszutreiben und lediglich aus den Mitteln der Erfahrungswelt dem Leben einen Inhalt zu geben.
Die Aufgabe, auf dem Boden des unmittelbaren Daseins das Leben zusammenzufassen und ihm, wenn es irgend möglich, einen Sinn zu geben, im besonderen dabei die unerträglich gewordene Spaltung zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, ist von der Neuzeit in zwiefacher Weise angegriffen worden: entweder wurde ein dem Subjekt überlegener Lebensprozeß gesucht, ein Weltleben, das den Menschen ganz und gar in sich aufnehme und dem Subjekt nicht die mindeste Selbständigkeit lasse, oder aber das Subjekt machte sich selbst zum allbeherrschenden Mittelpunkt der Wirklichkeit, und die Welt wurde zu einer bloßen Umgebung des menschlichen Daseins, zu einem bloßen Mittel für das Wohl des Menschen. Wir werden sehen, daß innerhalb dieser Gegensätze weitere Scheidungen erfolgen, und daß sich so eine Fülle eigentümlicher Lebensgestaltungen ergibt; zugleich werden wir sehen, daß keine dieser Gestaltungen ein Gebilde der bloßen Theorie und Reflexion ist, daß vielmehr eine jede von ihnen große Bewegungen und Leistungen der weltgeschichtlichen Arbeit hinter sich hat.
Je mehr die Weltbilder der Religion und des immanenten Idealismus verblaßten, desto mehr ist dem Menschen zum Ganzen der Welt und zugleich des eignen Seins die Natur geworden, die Natur nicht in dem, was sie bei sich selber ist – denn das behandelt eben die Neuzeit als eine schlechthin unzugängliche Tiefe und ein dunkles Geheimnis –, sondern in der Art, wie sie sich einer gewissen Durchsicht vom Menschen aus, d. h. aber in der mechanisch-kausalen Fassung, darstellt. So wenig die Naturwissenschaft unmittelbar eine solche Gleichsetzung von Natur und Welt behauptet, – diese ist das Bekenntnis einer naturalistischen Philosophie, nicht eine Lehre der Naturwissenschaft –, sie ist doch die Wurzel dieser Denkweise, und es führt von ihr zu dieser ein fortschreitender Zug des modernen Lebens. Die Neuzeit setzte in der Aufklärung mit einer scharfen Scheidung von Natur und Seele ein; je entschiedener jene eine seelenlose Natur verlangte, desto eifriger bestand sie auf einem Fürsichsein der Seele. Aber von vornherein war das unermeßliche Reich der Natur den einzelnen, zerstreuten Seelen im Gesamteindruck weit überlegen; mit seinem unablässigen Wachstum mußte dieses Reich mehr und mehr auch die Seele an sich ziehen, es hat sie nicht nur in ihrer Existenz mehr und mehr an Naturbedingungen gebunden gezeigt, es hat auch ihre innere Art von sich aus zu gestalten und sie schließlich einem weiteren Rahmen der Natur gänzlich einzufügen gesucht. Immer stärker wurde im Lauf der Zeiten die Neigung, alle Wissenschaft als Naturwissenschaft, alle Wirklichkeit als Natur zu behandeln. Was bis dahin noch an Abstand verblieb und was Zweifel an jener Lösung erweckte, das schien zu verschwinden mit dem Auftreten einer mechanischen Entwicklungslehre, welche den Menschen ganz und gar in die Natur, und zwar in eine Natur ohne allen inneren Zusammenhang und ohne alle inneren Kräfte, glaubte aufnehmen zu können. Nun durfte und mußte auch der Versuch unternommen werden, dem menschlichen Leben als einem bloßen Stück jenes Naturprozesses einen Gehalt zu geben und es als lebenswert aufzuweisen.
Daß dieses Unternehmen trotz jener geschichtlichen Vorbereitung der eingewurzelten Denkweise schroff widerspricht, ist nicht zu verkennen. Verschiedenes verband sich jener Denkweise zur Empfehlung einer möglichst scharfen Scheidung des Menschen von der Natur: nicht nur wirkte dahin ein, wenn nicht berechtigtes, so doch begreifliches Selbstbewußtsein des Menschen, sondern auch die Neigung, durch eine solche Emporhebung des Menschen dem Handeln hohe Ziele zu stecken und fruchtbare Antriebe zu geben; den Menschen möglichst groß und ausgezeichnet zu fassen, das dünkte ein Zeugnis hoher und edler Gesinnung. Den Widerspruch dieser Denkweise hat zu überwinden, wer den Menschen ganz in die Natur hineinzieht und sein Leben als einen bloßen Naturprozeß versteht; er kann aber eine solche Überwindung unternehmen von der Überzeugung aus, daß jener Widerspruch nur einen Nachklang einer innerlich schon überwundenen Lebensführung bildet; diese Überzeugung läßt ihn hoffen, daß aus dem scheinbaren Verlust ein wahrer Gewinn hervorgehen möge. Auch hier hängt alles an der Wahrheit der Sache, sie würde schon stark genug sein, alles Meinen und Mögen des Menschen zu überwinden.
Wie aber steht es mit dieser Wahrheit? Kann das hier gebotene Lebensbild alle Kräfte und Erfahrungen des Menschen umspannen und sie ganz und gar seiner Eigentümlichkeit anpassen? Unverkennbar hat das hier gebotene Leben seinem allgemeinen Umriß nach große Vorzüge und wirkt mit ihnen mächtig zur Seele des modernen Menschen. Alle Verwicklung, alle Zweiheit scheint hier zu fallen und das Leben sich zu schlichtester Einfalt zu finden, große Zusammenhänge umfangen den Menschen und lassen ihn an ihrem Leben teilnehmen, auf festem Boden, so scheint es, steht hier sein Leben und wird von sicherer Notwendigkeit geleitet. Aller bisherige Nebel scheint zu fallen und das ganze Dasein in lichte Klarheit zu treten. Dabei bringt dies neue Leben der gegenwärtigen Lage viel Arbeit und Kampf. Es gilt einen harten Kampf gegen den eingewurzelten Wahn einer zweiten Welt; wie dieser Wahn in alle Gebiete eingedrungen war, so gilt es ihn aus allen gründlich zu vertreiben und sie gemäß der neuen Denkweise neu zu gestalten. Wir wissen, wie viel Anziehungskraft solche Überzeugung und Aufforderung für weite Kreise unserer Zeitgenossen hat, und wie sie namentlich die aufstrebenden Massen gewinnt, in deren Art es liegt, nach solchen Gesamteindrücken endgültig zu entscheiden.
