Der Sohn des Pharao - Pauline Gedge - E-Book

Der Sohn des Pharao E-Book

Pauline Gedge

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Beschreibung

«Gedge hat sich selbst übertroffen: Ihr Gruselroman aus der Zeit Pharao Ramses' des Zweiten kann sich an Nervenkitzel mit jedem Psychothriller messen.» (Brigitte) Der Arzt und Magier Khamwaset hat den Ruf eines hervorragenden Gelehrten. Er strebt danach, die legendenumwobene Schriftrolle des Gottes Thoth zu finden, von der es heißt, sie verleihe ihrem Besitzer die Macht, die Toten aufzuwecken und Unsterblichkeit zu erlangen. Als er dem Geheimnis auf die Spur kommt, ahnt er nicht, wie hoch der Preis für seine Entdeckung ist. Ein großer Roman über das Geheimnis der Unsterblichkeit im alten Ägypten.

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Seitenzahl: 974

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Pauline Gedge

Der Sohn des Pharao

Roman

Aus dem Englischen von Helmut Mennicken

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Gedge hat sich selbst übertroffen: Ihr Gruselroman aus der Zeit Pharao Ramses’ des Zweiten kann sich an Nervenkitzel mit jedem Psychothriller messen.» (Brigitte)

 

Der Arzt und Magier Khamwaset hat den Ruf eines hervorragenden Gelehrten. Er strebt danach, die legendenumwobene Schriftrolle des Gottes Thoth zu finden, von der es heißt, sie verleihe ihrem Besitzer die Macht, die Toten aufzuwecken und Unsterblichkeit zu erlangen. Als er dem Geheimnis auf die Spur kommt, ahnt er nicht, wie hoch der Preis für seine Entdeckung ist.

Über Pauline Gedge

Pauline Gedge, geboren 1945 in Auckland, Neuseeland, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in England und lebt heute in Alberta, Kanada. Mit ihren Büchern, die in zahlreiche Sprachen übersetzt sind, gehört sie zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Romane.

Für Bella in Liebe und tiefer Verehrung

Danksagung

Die Verse am Anfang eines jeden Kapitels sind den Büchern von Margaret Murry «Egyptian Religious Poetry» und Leonard Cottrell «Life Under the Pharaohs» entnommen.

Kapitel 1

«Gegrüßet seid ihr Götter all aus dem Tempel der Seele, die ihr Himmel und Erde auf den Waagen wiegt und gute Gaben den Toten gebt.»

DIE KÜHLE LUFT ERFRISCHTE IHN. Behutsam betrat Khamwaset das Grabgewölbe und war sich stets bewußt, daß er der erste war, der seinen Fuß in den grauen Sand setzte, seit jenem Augenblick vor vielen Jahrhunderten, da die selbst inzwischen längst verstorbenen Trauernden die Stufen hochgestiegen und erleichtert ins Freie getreten waren, wo das grelle Sonnenlicht und der heiße Wüstenwind sie empfingen. In diesem besonderen Fall, so dachte Khamwaset, als er sich vorsichtig durch den engen Eingangsschacht zwängte, war das Grab vor über fünfzehn Hentis versiegelt worden. Das waren demnach tausend Jahre, so errechnete er; ich bin also das erste Lebewesen seit tausend Jahren, das diese Luft einatmet. «Ib», rief er barsch, «was stehst du da oben und träumst? Bring lieber die Fackeln her!» Sein Haushofmeister murmelte eine leise Entschuldigung. Ein Hagel kleiner Steine traf nun Khamwasets nackte und staubige Knöchel, und Ib schlitterte, bis er neben ihm zum Halten kam. Unterdessen eilten Sklaven, die die qualmenden Flammen trugen, sichtlich widerwillig vorbei.

«Ist dir auch nichts passiert, Vater?» Horis helle Stimme hallte von den dunklen Wänden wider. «Müssen wir irgend etwas abstützen?»

Khamwaset blickte sich rasch um und rief ihm zu, dies sei unnötig. Seine anfängliche Begeisterung schlug in Enttäuschung um. Er war nämlich doch nicht das erste Lebewesen, so stellte er fest, das die geweihte Erde der letzten Ruhestätte dieses Prinzen aus längst vergangenen Zeiten betrat. Als er den Schacht hinter sich gelassen und sich wieder aufgerichtet hatte, erkannte er im Widerschein des flackernden Fackellichts die eindeutigen und schmerzhaften Beweise für einen Grabraub. Behälter, in denen die irdischen Besitztümer des Toten aufbewahrt worden waren, lagen wild verstreut herum und waren leer. Die Amphoren mit den kostbaren Ölen und den Weinen der besten Jahrgänge der Zeit waren nicht mehr vorhanden; die einzigen Überbleibsel waren einige wenige Bruchstücke des dünnen Siegellacks und ein zerbrochener Pfropfen. Möbelstücke lagen kunterbunt durcheinandergewürfelt am Boden – ein schlichter Schemel, ein geschnitzter Holzstuhl mit Beinen aus eingeschnürten Enten, deren leere Augen und schlaffe Nacken einen geschwungenen Sitz hielten, und einer Rückenlehne, die Huh, die Zunge des Ptah, darstellte, kniend und lächelnd, zwei niedrige Eßtische, aus denen die feinen Intarsien herausgebrochen waren, und ein Bett in zwei ungleichmäßigen Hälften, das achtlos gegen eine verputzte Mauer geschoben worden war. Nur die sechs Uschebtis, die regungslos und finster in ihren Wandnischen standen, waren unberührt geblieben. Diese mannshohen Figuren aus schwarz lackiertem Holz warteten noch immer auf das Zauberwort, das sie zum Leben erwecken würde, damit sie ihrem Herrn im Totenreich dienten. Es handelte sich um einfache Holzschnitzarbeiten von klarer und gefälliger Linie, die elegant und dennoch stark wirkten. Seufzend dachte Khamwaset an sein eigenes Haus, das mit so vielen glitzernden, reichverzierten Plumpheiten angefüllt war, die er nicht mochte, seine Frau dagegen als neueste Mode der Innenausstattung so sehr bewunderte.

«Pentawer», sagte er, sich an seinen Schreiber wendend, der inzwischen unaufdringlich neben ihm stand und die Schreibpalette und den Pinselköcher bereits in der Hand hielt, «du kannst damit beginnen, alles aufzuzeichnen, was auf den Wänden geschrieben steht. Arbeite aber so genau wie möglich, und achte darauf, daß du die fehlenden Schriftzeichen nicht nach eigener Vermutung ergänzt. Wo steckt der Sklave mit dem Spiegel?»

Es ist doch immer wieder, als würde man widerborstiges Vieh treiben, dachte er, als er sich umwandte, um den schweren Sarkophag aus Granit, dessen Deckel schief auflag, näher in Augenschein zu nehmen. Die Sklaven fürchten die Gräber, und auch wenn meine Diener nicht zu murren wagen, so hängen sie sich doch Amulette um und murmeln Gebete von dem Augenblick an, da die Siegel aufgebrochen werden, bis zu jenem Moment, da die beschwichtigenden Opfergaben abgestellt werden. Nun, heute brauchen sie sich nicht zu ängstigen, dachte er, indem er sich vorbeugte, um die Inschriften auf dem Sarkophag zu lesen, während ein Sklave ihm mit der Fackel leuchtete. Jedes Drittel dieses Tages ist glücklich, jedenfalls für sie. Ein glücklicher Tag für mich wäre jener Tag, an dem ich auf ein unberührtes, mit Schriftrollen angefülltes Grab stoßen würde. Er lächelte in sich hinein und richtete sich auf. «Ib, hol die Zimmerleute her! Laß die Möbel reparieren und wieder an Ort und Stelle bringen! Laß ebenfalls frisches Öl in die Amphoren füllen und auch Parfüm herbringen. Hier gibt es nichts Interessantes zu holen. Daher können wir bei Sonnenuntergang wieder auf dem Heimweg sein.» Sein Haushofmeister verbeugte sich, ließ den Prinzen vorangehen und folgte ihm den atemraubenden Schacht entlang und die wenigen Stufen hinauf ans Tageslicht. Blinzelnd trat Khamwaset neben dem Schotterhaufen, den die Erdarbeiter aufgeworfen hatten, als sie den Eingang zum Grabmal freilegten, ins Freie. Er wartete, bis sich seine Augen an das gleißende Licht gewöhnt hatten. Der Himmel war von einem strahlenden Blau und traf sich am Horizont mit dem reinen Gelb der endlosen Wüste, die in der Mittagssonne flimmerte.

Zu seiner Rechten erblickte er auf dem Plateau von Sakkâra die nackten Säulen, die eingestürzten Mauern und das zusammengefallene Mauerwerk einer Totenstadt, die vor langer Zeit schon verfallen war und deren fein behauene Steine in blassem Beige eine einsame und feierliche Schönheit ausstrahlten. Ihre glatten Kanten und die langen Ritzungen erinnerten Khamwaset an manches seltsame Gebilde aus der Wüste, das so nackt und trostlos war wie der Sand selbst. Die als Stumpf erhalten gebliebene Stufenpyramide von Pharao Unas ragte aus der Ödnis hervor. Khamwaset hatte sie einige Jahre zuvor inspiziert. Am liebsten hätte er sie restaurieren lassen, die seitlichen Stufen zu einem gefälligen Ganzen ausgebaut und ihre symmetrische Front mit weißem Kalkstein eingekleidet, aber dieses Vorhaben hätte zuviel Zeit, zu viele Sklaven und zu viele zwangsverpflichtete Bauern erfordert sowie eine erhebliche Menge an Gold gekostet, da die Arbeiter mit Brot, Bier und Gemüse zu versorgen waren. Doch selbst als Ruine blieb diese Pyramide noch beeindruckend. Da Khamwaset trotz seiner sorgfältigen Suche am Bau des Großen Pharaos keinen einzigen in Stein gemeißelten Namen entdecken konnte, hatte er Unas durch die Hand seiner eigenen Handwerker mit erneuerter Macht und Leben versehen und natürlich folgende Inschrift einmeißeln lassen: «Der Herrscher hat befohlen, daß verkündet werde, der Herr der Handwerksmeister, der Sem-Priester Khamwaset, hat den Namen des Königs Unas von Ober- und Unter-Ägypten hinzugefügt, der auf der Pyramide nicht zu finden war, da der Sem-Priester Khamwaset gerne die Bauten der Könige von Ober- und Unter-Ägypten restaurierte.» Der Herrscher, so erinnerte sich Khamwaset, als er in der Hitze zu schwitzen begann und sein Baldachinträger zu ihm eilte, um ihm Schatten zu spenden, hatte nichts gegen die seltsame Leidenschaft seines vierten Sohnes einzuwenden, solange es Ramses II., User-Maat-Rê, Setep-en-Rê, als Verdienst angerechnet wurde. Dankbar nahm Khamwaset wahr, wie der Schatten des Baldachins sich auf ihn legte, und zusammen mit seinen Dienern machte er sich auf den Weg zu den roten Zelten, vor denen seine Leibgarde sich erhob, um sich vor ihm zu verneigen. Sein Stuhl wurde in den Schatten gestellt. Bier und ein frischer Salat standen für ihn bereit. Unter dem mit Quasten geschmückten Vorzelt ließ er sich auf den Stuhl fallen, nahm einen kräftigen Schluck von dem dunklen, erfrischenden Bier und beobachtete, wie sein Sohn Hori in dem dunklen Schacht verschwand, dem er selbst vor kurzem entstiegen war. Kurz darauf erschien Hori wieder und begann, die Reihe der Diener zu beaufsichtigen, die bereits mit Werkzeugen ausgerüstet waren und Tonkrüge auf den Schultern trugen.

Khamwaset wußte, daß die Augen eines jeden aus seinem Gefolge gleichfalls auf Hori gerichtet waren. Zweifelsohne war er das schönste Familienmitglied. Er war großgewachsen, besaß einen leichtfüßigen, anmutigen Gang und eine aufrechte Körperhaltung, die auf ihre Weise weder arrogant noch reserviert wirkte. Seine großen Augen mit den schwarzen Wimpern waren der Spiegel seiner Seele, so daß Enthusiasmus, Humor und jedes andere starke Gefühl sie zum Strahlen brachten. Seine zartbraune Haut spannte sich über hochstehenden Backenknochen, und unter diesen unwiderstehlichen Augen tauchten häufig lilafarbene Höhlen von scheinbarer Verletzlichkeit auf. Horis Antlitz dagegen war jugendlich und nachdenklich, doch wenn er lächelte, zerfloß es in Strömen von Fältchen reiner Freude, die seine neunzehn Jahre verwischten und ihm ein unbestimmbares Alter verliehen. Seine großen und geschickten Hände wirkten auf natürliche Weise anziehend. Mechanische Dinge mochte er sehr, und als Kind hatte er seine Erzieher und Ammen mit seinen Fragen und seiner unglücklichen Gewohnheit, jegliches Gerät auseinanderzunehmen, dessen er habhaft werden konnte, bis zur Raserei getrieben. Khamwaset wußte sehr zu schätzen, daß Hori sich ebenfalls für das Studium alter Gräber und Bauten und in einem geringeren Ausmaß auch für das Entziffern der Steininschriften oder der wertvollen Schriftrollen interessierte, die sein Vater sammelte. Er war der vollkommene Assistent, lernbegierig, geschickt im Organisieren und stets willig, Khamwaset viele der Lasten während ihrer gemeinsamen Erkundungen abzunehmen.

Doch es waren nicht diese Eigenschaften, die dazu führten, daß die Augen eines jeden in seiner Umgebung auf dem jungen Mann ruhten. In seiner Unschuld war Hori sich glücklicherweise nicht darüber im klaren, daß er eine starke sexuelle Anziehungskraft ausübte, gegen die niemand gefeit war. Mit bitterem, stillem Gefallen, unter das sich Bedauern mischte, hatte Khamwaset immer wieder diese Wirkung beobachtet. Arme Sheritra, dachte er wohl zum tausendstenmal, als er den letzten Schluck Bier hinunterstürzte und die berauschende, feuchte Kühle des Salats genoß. Oh, meine arme, kleine unbeholfene Tochter, immer folgst du dem Schatten deines Bruders, und immer übersieht man dich. Wie kannst du ihn bloß so lieben, so rückhaltlos, so ohne Eifersucht oder Schmerz lieben? Die Antwort, ihm ebenso vertraut, stellte sich unmittelbar ein. Weil die Götter dir ein reines und großzügiges Herz geschenkt haben, so wie sie Hori ein geringes Maß an Selbstbewußtsein mitgegeben haben, das ihn vor übertriebener Eigenliebe bewahrte.

Die Diener traten aus dem Rachen des Grabes, um eine weitere Fracht zu holen. Hori tauchte erneut in die Dunkelheit ein. Hoch oben am Himmel kreisten zwei Adler. Khamwaset nickte ein.

Einige Stunden später wachte er auf dem Lager in seinem Zelt auf, erhob sich, während sein Leibdiener Kasa ihn mit Wasser benetzte und sofort wieder trockentupfte, und ging vors Zelt, um nach dem Fortgang der Arbeiten zu sehen. Der Wall aus Erde, Sand und Schotter neben dem Grabeingang war zusammengeschrumpft, und Männer waren immer noch damit beschäftigt, den Rest an Ort und Stelle zu schaufeln. Hori hockte mit Antef, seinem Diener und Gefährten, im Schatten eines Steins und unterhielt sich mit ihm; ihre Stimmen klangen zwar klar, aber nur unverständlich herüber. Ib und Kasa zogen gemeinsam die Schriftrolle zu Rate, welche die Liste der Grabbeigaben verzeichnete, die um den toten Prinzen herum aufzustellen waren, und Pentawer, der sah, daß sein Herr die Zeltplane beiseite schob, eilte herbei, ein Bündel Schriftrollen unter dem Arm. Noch mehr Bier und ein Teller mit Honigkuchen wurden aufgetragen, doch Khamwaset machte eine abweisende Geste.

«Geh und sag Ib, daß ich zur Opferung der Gaben für das Ka des Prinzen bereit bin, sowie ich einen letzten Blick hineingeworfen habe», sagte er. Pentawer folgte ihm in respektvollem Abstand unter dem bronzefarben gewölbten Himmel zurück zum nunmehr kleinen Eingangsschacht. Die Wüste leuchtete im Abendlicht rosafarben auf, und lange Schatten legten sich über sie.

Als Khamwaset sich den Arbeitern näherte, wichen diese zurück und verneigten sich. Khamwaset schenkte ihnen keine Beachtung. «Du kommst mit, falls ich noch irgendwelche Kommentare zu machen gedenke», warf er seinem Schreiber zu, und schon zwängte er sich durch den halbgeschlossenen Eingang und tastete sich vorwärts.

Das letzte Licht der Sonne folgte ihm und umzüngelte seine Füße mit farbigen Flammen von einer solchen Dichte, daß Khamwaset glaubte, sie greifen zu können. Sie drangen jedoch nicht bis zum Sarkophag vor, der tief in dem beengten kleinen Raum stand, und Pentawer blieb dort stehen, wo immer noch Licht auf seine Palette fiel. Khamwaset überschritt die nahezu greifbare Grenzlinie zwischen dem matten Schein der untergehenden Sonne und dem ewigen Schatten der Ruhe, hielt inne und blickte sich um. Die Sklaven hatten gute Arbeit geleistet. Der Schemel, der Stuhl, die Tische und das Bett hatten ihre ursprüngliche Form und ihren Platz wiedergewonnen. Neue Amphoren standen ordentlich an den Wänden entlang aufgereiht. Die Uschebtis waren gesäubert worden. Der Boden war von dem Unrat, den die unbekannten Grabräuber hinterlassen hatten, befreit und danach gefegt worden.

Khamwaset nickte, ging zum Sarkophag vor und steckte einen Finger unter den geöffneten Deckel. Er bildete sich ein, daß die Luft, die daran vorbeistrich, kälter war als jene im übrigen Grab, und zog seinen Finger hastig zurück, wobei er mit den Ringen an seiner Hand über den harten Granitstein kratzte. Beobachtest du mich? fragte er sich. Versuchen deine alten Augen vergebens, die dichte Dunkelheit über dir zu durchdringen, um mich zu finden? Mit der Hand fuhr er langsam über die dünne Staubschicht, die sich im Laufe der Äonen angesammelt hatte, unsichtbar und sanft von der Decke herabgeschwebt war, um sich dort, bis heute ungestört, abzulagern. Keiner seiner Diener würde je einen Sarkophag säubern, und dieses Mal hatte er vergessen, es selber zu übernehmen. Was ist das wohl für ein Gefühl, dereinst mit vertrockneter, runzliger Haut und mit bandagierten Knochen unbeweglich dort unten zu liegen, in der Obhut der blicklosen Augen meiner eigenen Uschebtis, nichts zu hören und nichts zu sehen?

Eine ganze Weile stand Khamwaset versonnen da und versuchte, jene Atmosphäre aus Pathos, Fremdheit und der Unerreichbarkeit einer Vergangenheit, die ihn stets verspottete und ihm etwas von einfacheren, größeren Zeiten zuraunte, in sich aufzunehmen, während die letzten roten Strahlen der Sonne sich zu einem dunklen Violett verfärbten und immer schwächer wurden. Ihm war nicht klar, wonach er bei seinen Streifzügen zwischen den stummen Überresten aus der Vergangenheit eigentlich suchte. Vielleicht suchte er nach dem Sinn des Atems in seiner Brust oder seines Herzschlags, nach einem Sinn, der die Offenbarungen der Götter übertraf, die er gleichwohl liebte und verehrte. Gewiß war dies das Bedürfnis, jenen namenlosen Durst zu stillen, der seit seiner Kindheit nicht nachgelassen hatte und der, als er noch jünger war, Tränen aus irgendeiner geheimnisvollen Quelle in ihm hervorbrechen ließ, die von Einsamkeit und Verlassenheit sprach. Aber selbstverständlich bin ich nicht einsam, ich bin nicht unglücklich, sagte er sich, während Pentawer zwar höflich, doch ermahnend hinter ihm hüstelte. Khamwaset spürte, wie die Botschaft des Vergänglichen ihn gefangennahm, und versuchte dagegen anzukämpfen. Ich liebe meine Familie, meinen Pharao, mein schönes und gesegnetes Ägypten. Ich bin reich, erfolgreich und führe ein erfülltes Leben. Es stimmt nicht, daß … Es hat nie gestimmt, daß … Abrupt drehte er sich um, bevor eine Woge der Niedergeschlagenheit ihn überwältigen konnte.

«Nun gut, Pentawer. Laß das Grab versiegeln», sagte er brüsk. «Ich mag den Geruch dieser Luft nicht. Du etwa?» Pentawer schüttelte den Kopf und stieg hastig den Schacht hinauf, während Khamwaset ihm langsam folgte. Das ganze Unternehmen hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, ein Gefühl der Sinnlosigkeit. Die Schriftrollen und die Grabmalereien bringen mir nur totes Wissen, dachte er, als er aus der Grabstätte ins Freie trat, an den sich verneigenden Sklaven vorbeiging und wiederum das Knirschen ihrer Schaufeln im Sand vernahm. Alte Gebete, alter Zauber, vergessene Details zur Abrundung meiner Geschichte des ägyptischen Adels, doch nichts, was mich dem Geheimnis des Lebens näher bringen könnte. Wo steckt die Schriftrolle des Gottes Thoth? Welche dunkle, verstaubte Nische verbirgt diesen Schatz?

Die Nacht war hereingebrochen. Am milden, samtenen Himmel waren inzwischen einige Sterne aufgegangen, und das Geplapper und Gelächter seines Gefolges belebte sich im Schein der entzündeten Fackeln. Khamwaset hätte am liebsten alles sofort stehen- und liegengelassen. Nachdem er Ib einen Wink gegeben hatte, betrat er sein Zelt. Eine Öllampe, die einen sanften gelben Schein verbreitete, flackerte nun neben seinem Feldbett, und er bemerkte den Duft von frischem Parfüm. Ib trat näher und verbeugte sich. «Sag Hori, er soll sich nun ankleiden», sagte Khamwaset, «und bring mir mein Priestergewand des Sem. Die Altardiener sollen die Weihrauchgefäße holen und sich bereithalten. Sind die Opfergaben eingesegnet worden?»

«Ja», antwortete Ib. «Prinz Hori hat die Gebete verrichtet. Möchtest du dich vor dem Einkleiden noch einmal waschen, Hoheit?» Von einer plötzlichen Erschöpfung ergriffen, schüttelte Khamwaset sein Haupt.

«Nein. Ruf einen Altardiener her, und dann vollziehe ich die rituelle Reinigung. Das wird reichen.»

Er wartete schweigend. Kasa erschien mit dem weiten, gelbschwarz gestreiften Priestergewand des Sem, das er ehrfurchtsvoll auf seinen ausgestreckten Armen trug. Er wartete mit gesenktem Blick, als der Altardiener dem Prinzen einen silbernen Krug mit parfümiertem Wasser hinhielt und ihm beim Auskleiden behilflich war. Khamwaset begann feierlich mit der rituellen Waschung, wobei er die entsprechenden Gebete murmelte, auf die der Junge im Wechsel antwortete, und die süßlich duftenden Weihrauchfähnchen begannen sich zwischen den Zeltwänden zu kräuseln.

Schließlich war Khamwaset bereit. Der Altardiener verbeugte sich, nahm den Wasserkrug und entfernte sich, und Khamwaset streckte seine Arme aus, während Kasa ihm das lange Gewand überwarf. Beide Männer traten vor das Zelt. Dort wartete Hori in seiner Rolle als Priester des Ptah; in der Hand hielt er die längliche Weihrauchschale, aus der graue Fähnchen emporstiegen, und die als Opfergaben vorgesehenen Nahrungsmittel für das Ka des Prinzen, in dessen Grabstätte sie höflich eingedrungen waren, lagen auf flachen Serviertellern aus Gold.

Die kleine Prozession formierte sich und schritt mit würdevoller Anmut zum inzwischen unsichtbaren Grabeingang. Die Sklaven hatten sich in den Staub geworfen. Khamwaset schritt aus, übernahm von seinem Sohn die Weihrauchschale und stimmte die Gebete zum Schutz des Toten und zur Anweisung an das Ka an, jene nicht zu strafen, die es gewagt hatten, die geheiligte Ruhestätte aufzustören. Inzwischen war es finster geworden. Khamwaset beobachtete, wie seine beringten langen Finger im Schein der Fackeln glitzerten, während sie die altehrwürdigen Worte mit respektvollen und beschwichtigenden Gesten ehrfürchtig unterstrichen. Eine solche Zeremonie hatte er schon mehr als hundertmal ausgeführt, und nicht einmal hatte ihn der Fluch eines Toten getroffen. Vielmehr glaubte Khamwaset, diese umsichtige Wiederherstellung der Ordnung und die Opfergaben hätten bewirkt, daß ihm und jenen, für die er sorgte, der Segen des Kas der bereits vor langer Zeit verstorbenen prinzlichen Wesen zuteil wurde.

Die Zeremonie war bald zu Ende. Die Schlußworte fielen flach in die warme Dunkelheit. Schließlich kniete Khamwaset neben Hori nieder, um entkleidet zu werden, und erhob sich, während Kasa ihm den weißen Rock um die Taille wickelte und ihm sein aus Lapislazuli und Jaspis gearbeitetes Lieblingspektoral auf die Brust legte. Seine Augen waren schlaftrunken. «Kommst du heim?» fragte er Hori, nachdem Kasa gegangen war, um die Sänftenträger zu rufen.

Hori schüttelte das Haupt. «Nur wenn du möchtest, daß ich Pentawer bei der Durchsicht unseres heutigen Fundes helfe, Vater», antwortete er. «Die Nacht ist so lau, und Antef und ich möchten gern angeln gehen.»

«Nimm einen Leibwächter mit», sagte Khamwaset, ihn unwillkürlich ermahnend. Hori lächelte und entfernte sich.

Vom Plateau in Sakkâra bis in die Stadt Memphis war es ein langer Weg. Er führte hinunter zu den imposanten Palmenhainen und über den Bewässerungskanal, der nun wenig mehr war als ein glattes, tiefschwarzes Band aus tiefer Dunkelheit, das hin und wieder die Lichter der prinzlichen Eskorte zurückwarf. Khamwaset, der in seiner gepolsterten, mit Quasten geschmückten Sänfte schaukelte, drehte sich um, damit er in die sanfte Nacht hinaussehen konnte, und dachte wie so oft über den besonderen Charakter dieser Stadt, seiner Stadt, nach. Memphis war eine der ältesten Städte Ägyptens und ihre heiligste. Hier wurde der Gott Ptah, der Schöpfer des Universums, bereits seit zweitausend Jahren verehrt. Hier hatte eine lange, ununterbrochene Folge von Königen ihr unantastbares Leben verbracht, so daß jeder Stein eine Aura von Anmut und Würde ausstrahlte.

Die Weiße Mauer des Menes, die das alte Herz der Stadt umschloß, war noch zu erkennen, doch bot sie kaum eine Oase der Ruhe, da Reiche und Arme aus dem ganzen Land sie aufsuchten.

Reisen war ein nationales Freizeitvergnügen, dem man nachging, wenn man es sich leisten konnte. Khamwaset lächelte vor sich hin, als die Sänftenträger die Palmenpflanzungen betraten und der Himmel von einem Wald aus steifen, federnartigen Wedeln verdunkelt wurde, die sanft im Dunkeln rauschten. Die Geschichte war lebendig geworden – nicht etwa die Geschichte, in die er sich selbst mit solch zielstrebiger Entschlossenheit vertiefte, sondern die Geschichten von Eroberungen und Herrschern, von Wundern und Tragödien der alten Könige. Reiseführer tummelten sich auf den Marktplätzen von Memphis und bemühten sich, Vornehme vom Lande wie auch wohlhabende Händler gleichermaßen zu schröpfen im Austausch gegen ebenso prickelnde wie fragwürdige Geschichten aus der Vergangenheit, die sie mit den saftigen, wenn auch höchst dubiosen Palastskandalen der letzten tausend Jahre garnierten. Männer hoben Steinsplitter auf und ritzten damit ihren Namen und häufig genug auch ihre Kommentare in die Weiße Mauer, in den Außenhof des Ptah-Tempels, ja sogar in die Tempeltore der Könige im alten Ankh-Tawy-Bezirk.

Khamwaset hatte seit kurzem stämmigen Hurritern die Überwachung der Denkmäler in der Stadt übertragen. Er hatte befohlen, daß sie den Missetätern, die sie erwischten, eine leichte Prügelstrafe verabreichten, und sein Vater, der erhabene Ramses, hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt. Vermutlich deswegen, weil Ramses sich nicht übermäßig darum kümmert, mutmaßte Khamwaset, als sich die Palmenreihen lichteten und der dunkle Nachthimmel über ihm wieder auftauchte. Zu sehr ist Ramses damit beschäftigt, seine eigenen Monolithe für die Nachwelt zu errichten und sich das Werk seiner Vorfahren zu seinem eigenen Ruhm anzueignen.

Lieber Vater, dachte Khamwaset, wobei er stillvergnügt in sich hineinlachte, du bist unbarmherzig, arrogant und hinterlistig, kannst aber auch von einer vornehmen Großzügigkeit sein, wenn es dir beliebt. Mir gegenüber hast du dich mehr als großzügig gezeigt. Ich möchte gerne wissen, wie viele Beschwerden du seitens der edlen fremdländischen Verunstalter unserer Wunder erhalten hast. Das gemeine Volk in Memphis besteht zu drei Vierteln aus Fremden, die von unserer starken Wirtschaft und unserer leistungsfähigen Verwaltung angetan sind. Ich wünschte mir, daß du sie nicht so sehr mögen würdest.

Er bemerkte, daß die barfüßigen Sänftenträger harten Grund erreichten, und bald darauf wurde die Nacht vom orangenfarbenen Leuchten der Stadt erhellt. Sie befanden sich hinter dem ruhigen Ankh-Tawy-Bezirk. Die dunkel aufragenden Tempel wurden nur gelegentlich von dem winzigen Punkt der Fackel eines Priesters belebt, der zu seinen nächtlichen Verrichtungen ging. Hinter den rückwärtigen Eingangstoren und den aufsteigenden Säulen lag der Bezirk des Ptah, vom mächtigen Haus des Gottes überragt, und dahinter lag der Bezirk des Pharaos mit dem Palast, der häufig vernachlässigt, häufig von nachfolgenden Pharaonen seit undenklichen Zeiten wiederaufgebaut worden war und den Ramses zur Zeit prächtig erneuern und erweitern ließ. Vom Bezirk des Pharaos führten zwei Kanäle zum Nil. Zwischen den lärmenden Kais und Lagerhäusern hatten sich die Baracken der Ärmsten ausgebreitet.

Die Weißmauer-Zitadelle erhob sich nun zur Rechten, und Khamwaset erhaschte mit flüchtigem Blick ihre mächtige Erscheinung, bevor die Träger aus ihrem Schatten hervortraten und sich zum nördlichen Bezirk begaben, wo sein Anwesen und das vieler anderer Vornehmer lag. Bei diesem Bezirk handelte es sich um eine abgeschlossene Stadt, die vom Lärm und Gestank der südlichen Vorstadt weit entfernt war, in der die Fremden – Kanaaniter, Hurriter, Keftiu, Khatti und andere Barbaren – vor den Schreinen von Baal und Astarte beteten und lärmend ihren Geschäften nachgingen.

Khamwaset besuchte die fremdländischen Vornehmen häufig auf deren Domänen, welche die anmutigen, friedvollen Enklaven des nördlichen Bezirks widerspiegelten. Sein Vater betraute ihn mit vielen Regierungsgeschäften, besonders hier in Memphis, wo Khamwaset sich niedergelassen hatte. In seiner Eigenschaft als höchst geschätzter Arzt des Landes wurde er oft zu den Semiten gerufen, doch er mochte sie nicht. In seinen Augen waren sie wie schmutziges Wasser, das sich im klaren, reinen Fluß der Gesellschaft seines Landes ausbreitete, indem sie seltsame Götter anbeteten und die Verehrung untergruben, die den treuen und mächtigen Gottheiten Ägyptens zustand, und das Gift exotischer Kulturen, eine verderbte Moral sowie billige Geschäfte mit sich brachten. Baal und Astarte waren bei Hofe in Mode gekommen, und semitische Namen gab es im Überfluß, sogar in rein ägyptischen Familien aller Schichten. Gemischte Heiraten waren an der Tagesordnung. Der liebste und engste Freund des Pharaos, ein stiller, hagerer Mann namens Ashahebsed, war Semit. Khamwaset war daran gewöhnt, seine wahren Gefühle zu verstellen, und daher fiel ihm dies nicht schwer. Mit diesem Mann, der es nunmehr vorzog, daß man ihn unter dem Namen Ramses-Ashahebsed kannte, hatte er häufig geschäftlich verhandelt und nichts anderes getan, als ihn milde zu beleidigen, indem er sich weigerte – ausgenommen bei Schriftstücken –, den Vornamen «Ramses» zu verwenden.

Der Tempel der Neret versank hinter ihm in der Finsternis, und seine offensichtlich ermüdeten Träger wurden langsamer. Das Licht der Fackeln strahlte jetzt heller, denn die Bewohner des nördlichen Bezirks konnten es sich leisten, Lichtträger einzustellen, die ihre Runde durch die Straßen machten. Khamwaset rückte seine Polster zurecht und hörte auf die Anrufe der Nachtwächter sowie die Antworten der Soldaten. Gelegentlich schickte sein Herold Ramoses eine Warnung voraus, und Khamwaset konnte beobachten, wie die Entgegenkommenden sich in den Staub der Straße warfen, um den Boden mit der Stirn so lange zu berühren, bis die Sänfte vorübergezogen war. Doch nur wenige Menschen waren unterwegs. Die meisten waren zu Hause, saßen zu Tisch oder schickten sich an, am Abend Freunde zu besuchen. Das Nachtleben der Stadt war noch nicht erwacht.

Khamwaset vernahm die Stimme eines seiner eigenen Träger, und quietschend öffnete sich die Eingangspforte. Die Männer seiner Leibwache salutierten an ihrem Posten vor der hohen Mauer aus Lehmziegeln, als er an ihnen vorüberzog, und die Pforte fiel dumpf ins Schloß. «Setzt mich hier ab», rief er. «Ich will zu Fuß gehen.» Die Sänfte wurde zu Boden gelassen, und er stieg aus, nickte Ramoses und seinen Soldaten zu und ging den Weg hoch, der den hinteren Garten säumte und wiederum andere Wege kreuzte – einer führte zu den Gebüschen und zu den Fischteichen, von denen lediglich dunkle Flecken zur Linken zu sehen waren, einer zu den Küchen, Getreidespeichern und Arbeitshütten seiner Diener, und einer zu dem kleinen, aber komfortabel eingerichteten Haus, in dem Khamwasets Konkubinen lebten. Es gab nicht viele, und nur selten suchte er ihr Reich auf oder beorderte eine von ihnen an sein Lager. Seine Frau Nubnefret organisierte deren Leben so, wie sie den Familienhaushalt führte, mit strenger Tüchtigkeit, und Khamwaset ließ sie gewähren.

Der Weg verlief nun im Schatten einer Hauswand, bog um die Ecke und verweilte an der Vorderseite unter den weißen Eingangssäulen mit den hellrot und hellblau gemalten Vögeln, die Palmwedel und Flußgras in ihren spitzen Schnäbeln hielten. Der Weg schlängelte sich weiter über Khamwasets sorgfältig gepflegten Rasen und zwischen den Sykomoren hindurch bis hin zu den weißen Wasserstufen und dem stillen, geschwind dahinschießenden Fluß. An der Kreuzung hielt Khamwaset einen Augenblick inne, sog die Luft ein und wandte seinen Blick zum Nil. Die Überschwemmungszeit Echet ging zu Ende. Der Fluß, ein rollender brauner Strom der Fruchtbarkeit, führte noch immer viel Wasser, doch nach der alljährlichen Überschwemmung war er wieder in sein Bett zurückgekehrt, und die Bauern hatten damit begonnen, auf dem gesättigten Schlammboden die Saat auszubringen. Die wiegenden Palmen, welche die Entwässerungskanäle säumten, die dornigen Akaziensträucher und die Sykomoren glänzten im Kleid ihrer neuen, hellgrünen Blätter, und in Khamwasets Gärten hatten die lebhaften Blumenbüschel in einer betörenden Fülle zu blühen begonnen. Khamwaset vermochte sie im Moment zwar nicht zu sehen, doch ihr Duft hüllte ihn ein.

Er beobachtete das frühe Licht des Neumonds, das gereizt auf dem Fluß funkelte und silberne Splitter in die Dunkelheit streute, während die Nachtbrise die erstickten Triebe am Ufer bewegte und die Äste emporhob. Die Stufen zum Wasser lagen verlassen und einladend da, und er beneidete Hori, seinen Sohn. Gewiß lehnte der sich jetzt auf dem Boden seines Ruderbootes zurück, mit Antef an seiner Seite, die Angelruten am Boot befestigt, während sie zu den Sternen emporblickten und schwatzten. «Heute abend würde ich mich gerne auf dem Fluß treiben lassen», sagte Khamwaset zu seinem geduldigen Gefolge, «doch ich nehme an, ich muß nach meiner Abwesenheit erst einmal nach dem Rechten sehen.» Insgeheim dachte er, daß ihm eine Fahrt auf dem Fluß nicht gut bekommen würde. Er war unerklärlicherweise erschöpft. In den Lungen spürte er noch immer die stickige Luft und den Staub der Grabkammer, und auch seine Hüften schmerzten ihn. Eine Massage würde ihm guttun. «Ramoses», wies er seinen Herold an, «sag meiner Gemahlin, daß ich heimgekommen bin und meine Gemächer aufgesucht habe. Sobald Pentawer auch eingetroffen ist, möchte ich sämtliche Briefe aus dem Delta durchsehen, die während meiner Abwesenheit eingetroffen sind. Bestelle Ib, daß ich sofort zu essen wünsche, und Kasa kann mit der Massage so lange warten, bis ich mit Pentawer zu Ende bin. – Amek?» Der Oberst seiner Leibgarde trat näher und verbeugte sich. «Ich gehe heute abend nicht mehr aus. Du kannst die Soldaten abtreten lassen.» Ohne irgendeine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging ins Haus.

Die weite Eingangshalle empfing ihn mit wohltuender Kühle. Der Boden war mit schwarzen und weißen Platten gefliest, die verputzten Wände zeigten Malereien, die ihn und seine Familie bei der Vogeljagd in den Sümpfen, beim Angeln oder beim Ruhen unter Sonnenschirmen im Garten darstellten. Die Farben – darauf hatte er beim Ausmalen seines Hauses bestanden – beschränkten sich auf das traditionelle Weiß, Schwarz, Gelb, Blau und Rot, und die wenigen Möbelstücke, die für seine Gäste bereitstanden, waren schlicht, doch solide aus libanesischem Zedernholz gefertigt und mit Intarsien aus Gold, Elfenbein und Lapislazuli verziert.

Es war ihm gelungen, sich hierbei über die Proteste seiner Frau hinwegzusetzen. Sie hatte es nicht zulassen wollen, daß ihre Gäste den Eindruck gewannen, der mächtige Prinz und Sem-Priester Khamwaset, Sohn des Pharaos, in Wahrheit aber inoffizieller Herrscher über Ägypten, lege einen ärmlichen Geschmack an den Tag, doch nach einer heftigen Auseinandersetzung war sie ihm ausnahmsweise einmal unterlegen.

«Ich bin ein königlicher Sohn Ägyptens», hatte Khamwaset ihr schließlich entgegengeschleudert, «und Ägypten hat seit unzähligen Hentis der Welt in sämtlichen Angelegenheiten der Mode, der Verwaltung und der Diplomatie ein Beispiel gegeben! Meine Diener sind ausnahmslos Ägypter, und meine Familie wird von ägyptischen Soldaten bewacht, nicht etwa von fremden Söldnern! Mein Heim ist ein ägyptisches Heiligtum und kein semitisches Bordell!»

«Dein Heim ist ein ägyptisches Mausoleum», hatte Nubnefret kühl geantwortet, unbeeindruckt von der überraschenden Gereiztheit ihres Gatten, «und ich mag es nicht, als Gattin von Khamwaset, der Mumie, bekannt zu sein. Der Eindruck, den wir auf fremdländische Würdenträger machen, ist wunderlich und vielleicht sogar beleidigend.» Mit einem Achselzucken hatte sie ihr Kleid höher auf ihre starken Schultern geschoben und eine Hand zu den gelb emaillierten Blumen aus massivem Gold an ihrem Hals geführt.

«Und ich mag nicht, daß man sieht, wie meine Frau mit der polyglotten Kloake protzt, zu der Ägypten verkommen ist!» hatte Khamwaset aufbrausend zurückgeworfen. «Sieh dich nur selbst an, Nubnefret! Du bist eine Prinzessin aus reinstem, vornehmem Geblüt, und doch trippelst du in so vielen Rüschen und Volants umher, daß du einer jener Mohnblumen gleichst, die jedermann eilends in seinem Garten anpflanzt, bloß weil sie aus Syrien kommen. Und dann diese Farbe! Purpurrot! Einfach gräßlich!»

«Du bist ein alter, quakender Frosch», hatte Nubnefret spitz erwidert. «Ich trage, was mir gefällt. Irgendeiner muß ja schließlich auf die äußere Erscheinungsform achten. Und bevor du sagst, daß du aus königlichem Geblüt und daher über solch kleinliche Erwägungen erhaben seist, möchte ich dich daran erinnern, daß ich schließlich die Frauen der Khatti, Syrier und Libyer unterhalten muß, während du mit ihren Männern Geschäfte machst. Ägypten ist ein internationales Zentrum und kein provinzielles Notstandsgebiet. Wenn diese Frauen mein Haus verlassen, sollen sie wissen, daß du eine Macht besitzt, die man nicht unterschätzen sollte.»

«Das wissen sie längst», hatte Khamwaset barsch zurückgegeben, wenngleich er sich beruhigt hatte. «Ohne mein Wohlwollen könnten sie nichts erreichen.»

«Und ohne meine hervorragenden Organisationskünste erreichst du nichts.» Wie gewöhnlich hatte Nubnefret das letzte Wort behalten. Mit königlich wiegenden Hüften und ihren hoch aufgerichteten herrlichen Brüsten war sie aus dem Raum hinausgesegelt, und Khamwaset hatte das Rascheln ihres plissierten Kleides und das Klappern ihrer goldenen Sandalen mit deprimierter Belustigung vernommen. Sie war furchteinflößend, zärtlich und die eigensinnigste Frau, die er je kennengelernt hatte.

Grübelnd ließ er die Empfangshalle hinter sich und schlug den rechten Gang zu seinen Gemächern ein. Was die Empfangshalle betraf, so hatte seine Frau zwar stillschweigend eingewilligt, sich dafür aber im übrigen Haus schadlos gehalten, so daß Khamwaset sich manchmal vorkam, als lebte er in einem Kaufmannsladen. Kostbarkeiten, Nippsachen und seltsame, nutzlose Dinge aus aller Herren Ländern verschandelten die Zimmer; selbstverständlich waren sie geschmackvoll arrangiert, denn Nubnefret war im besten aller Haushalte groß geworden. Ihrem Gatten jedoch, der von stillen inneren Räumen und der kühlen Nüchternheit der Vergangenheit träumte, verschafften diese Dinge ein Gefühl der Platzangst.

Nur sein Arbeitszimmer war ihrem Zugriff entzogen. Hier regierte seine eigene Unordnung, wenn auch das angrenzende Archiv der Schriftrollen von Pentawer gewissenhaft geführt wurde. Hierhin konnte Khamwaset flüchten, und hier konnte er Frieden finden. Er schritt an den geschlossenen Türen vorbei und auf seine Schlafgemächer zu, wo ein schläfriger Diener auf seinem kleinen Schemel hockte, und ging weiter in sein Arbeitszimmer. Mehrere Lampen aus feinstem Honigalabaster verbreiteten dort ein goldenes Licht. Sein Stuhl, unter dem Schreibtisch hervorgezogen, erwartete ihn, und er wollte sich gerade mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung darauf niederlassen, als Ib anklopfte, eintrat und sich verneigte. Er stellte ein Tablett auf dem Schreibtisch ab und nahm das Leinentuch ab, das die Speisen bedeckte. Zum Vorschein kamen dampfende farcierte Gans, gebratener Inet-Fisch, frische Gurken und eine bauchige Weinflasche, die Khamwasets eigener Winzer versiegelt hatte und die aus seinem Weinberg vor den Toren von Memphis stammte. Khamwaset machte ihm ein Zeichen, daß er allein zu sein wünsche, und griff herzhaft zu. Er war beinahe mit dem Essen fertig, als man ihm Pentawer meldete. Beklommen sah Khamwaset dem Schreiber zu, der mehrere Rollen auf den Schreibtisch legte. «Sag mir nichts», sagte er aufstöhnend. «Die Heiratsverhandlungen sind wieder mal abgebrochen worden.»

Während seiner Verbeugung gelang es Pentawer irgendwie, noch zu nicken. Behende setzte er sich auf den Boden, kreuzte die Beine und legte seine Palette quer über die Knie. «Ich befürchte, daß dem so ist, Hoheit! Soll ich dir die Schriftrollen verlesen, während du zu Ende ißt?» Statt einer Antwort schob Khamwaset ihm eine Schriftrolle zu und widmete sich wieder dem Stapel warmer Pinienkuchen.

«Beginne!» befahl er.

Pentawer entrollte sie. «Vom Erhabenen Stier des Maat, Sohn des Seth, User-Maat-Rê, Setep-en-Rê Ramses, Grüße an seinen Lieblingssohn Khamwaset. Deine Anwesenheit im Palast in Piramses ist umgehend erforderlich. Einem Brief unseres Abgesandten Hui zufolge, der sich noch immer am Hofe Hattusils aufhält, bedarf die Tributangelegenheit der Khatti deiner sofortigen Aufmerksamkeit. Eile nordwärts auf den Schwingen des Shu.» Pentawer blickte auf. «Sie ist mit dem königlichen Siegel versiegelt», fügte er hinzu und ließ die Rolle sich mit einem leichten Rascheln aufrollen. Er legte sie neben sich ab und nahm seinen Pinsel. «Möchtest du antworten, Hoheit?»

Khamwaset tauchte seine Finger in die Wasserschale, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Der Krieg zwischen den Khatti und Ägypten war vor mehr als achtundzwanzig Jahren beendet und der offizielle Friedensvertrag vor zwölf Jahren unterzeichnet worden. Die letzte, in Kadesch ausgetragene Schlacht hätte beinahe das Ende Ägyptens bedeutet. Infolge falsch informierter Spione, schlecht aufgestellter Militärdivisionen und unfähiger Befehlshaber hatte sie aus einer Abfolge kleiner, doch gehäufter Katastrophen bestanden. Indes ließ Ramses nicht davon ab, sie auf all seinen Bauten und schamloserweise auch auf all seinen Tempeln als glänzenden Erfolg für Ägypten und einen vernichtenden Schlag gegen die Khatti darstellen zu lassen. In Wirklichkeit aber hatten die Khatti die geballte Macht der ägyptischen Armee aus einem geschickt gestellten Hinterhalt heraus angegriffen. Aus der Schlacht war kein Sieger hervorgegangen. Keine der beiden Seiten hatte einen Streifen Boden dazugewonnen.

Als sich nach vierzehn Jahren die Gemüter abgekühlt hatten, war das Große Abkommen unterzeichnet, versiegelt und in Karnak ausgestellt worden. Noch immer beharrte Ramses darauf, Kadesch als einen Sieg Ägyptens und eine Niederlage der Khatti zu betrachten und das Abkommen daher als einen Akt der verzweifelten Unterwerfung von Seiten Muwattalis'.

Muwattalis' Sohn Hattusil bot Ramses nun eine seiner Töchter an, um die freundlichen Beziehungen zwischen den beiden großen Mächten zu festigen, doch für den arroganten Ramses – der nie irgend etwas anzuerkennen bereit war, das nach der Schwäche eines Herrschers aussah, der ebenfalls als Gott galt – war diese Geste lediglich ein Zeichen der Beschwichtigung und der Unterwerfung. Die Khatti hatten vor kurzem unter einer katastrophalen Trockenheit gelitten und waren geschwächt. Sie befürchteten, Ägypten könnte ihre vorübergehend mißliche Lage ausnutzen und beginnen, ihr Land auszuplündern. Aus diesem Grund waren sie mehr als begierig, Ramses mit einer diplomatischen Heirat an das Abkommen zu binden.

Schlimmer noch war, so überlegte Khamwaset, als er in Gedanken eine Antwort an seinen Vater zu formulieren begann, daß Hattusil in seinem Drang, seinem königlichen Bruder die Hand zu reichen, Ramses eine schier unermeßliche Mitgift – Gold, Silber, verschiedene Erze, Pferde ohne Zahl, Vieh, Ziegen und Schafe zu Zehntausenden – versprochen hatte. In der Tat war es Khamwaset und dem kichernden ägyptischen Hof so vorgekommen, als wäre Hattusil bereit, mit ganz Khatti und seiner schönen Tochter in Ägypten einzuziehen. Ramses hatte zugestimmt. Dies war ein Tribut für die Niederlage des Vaters in Kadesch.

«Hoheit?» sagte Pentawer leise.

Khamwaset besann sich wieder. «Verzeih mir, Pentawer. Du kannst beginnen. Die übliche Grußformel, denn ich kann mich nicht damit abgeben, hier die gesamte Liste der Titel meines Vaters korrekt wiederzugeben. Danach: ‹In Angelegenheiten der Aufforderung meines gnädigen Herrn werde ich so rasch wie möglich in Piramses erscheinen, um beim Vorantreiben der beabsichtigten Hochzeit deiner Majestät behilflich zu sein. Falls deine Majestät mir, deinem unwürdigen Sohn, den offiziellen Austausch gegenseitigen Vertrauens und die Verhandlungen über die Mitgift überläßt und damit aufhört, die Schleimsuppe mit deinen eigenen heiligen, doch unzweifelhaft streitsüchtigen Meinungen weiter aufzuwärmen, so kann bald eine leidliche Suppe aufgetischt werden. Meine Liebe und Verehrung gilt dir, Sohn des Seth, mit dieser Schriftrolle.›» Khamwaset lehnte sich zurück. «Gib sie Ramoses, damit er sie einem Kurier übergibt. Am besten einem langsamen und unfähigen.» Pentawer lächelte kühl, während er mit seinem Pinsel noch über den Papyrus fuhr. «Wirklich, Hoheit, mußt du wirklich so schreiben, so … so …»

«Freimütig?» sagte Khamwaset, die Frage ergänzend. «Du wirst nicht dafür bezahlt, den Ton meiner Briefe zu kritisieren, du Unverschämter, sondern nur dafür, sie zu schreiben, und zwar Zeichen für Zeichen. Jetzt wollen wir ihn versiegeln.»

Pentawer erhob sich, verneigte sich steif und legte die Schriftrolle auf den Schreibtisch.

Khamwaset hatte soeben das Siegel vom Wachs gelöst, als sich die Tür ohne Ankündigung öffnete und Nubnefret in den Raum stürmte. Pentawer verneigte sich sofort und zog sich zurück. Nubnefret beachtete ihn nicht, ging auf ihren Gatten zu und setzte ihm einen nichtssagenden Kuß auf die Wange. Wernuro, ihre Leibdienerin, hielt sich demütig im Hintergrund, den Kopf gesenkt. Nubnefret weiß, wie sie die Angehörigen ihres Personals im Zaum hält, dachte Khamwaset zum hundertstenmal, als er ein Lächeln verbarg und sich erhob.

«Ich sehe, daß du schon gegessen hast», bemerkte seine Gemahlin. Sie trug eines jener weiten Kleider, die sie gerne am Abend anlegte, wenn keine Gäste anwesend waren; das bauschig gefaltete, scharlachrote Leinentuch hatte sie um ihren wohlgeformten Körper drapiert und auf einer Seite an einem Gürtel mit Goldquasten befestigt. Ein schweres Ankh baumelte an ihrem rechten Ohrläppchen und stieß sanft gegen ihr exquisit geschminktes Gesicht, als sie zu Khamwaset hochblickte. Ihre Perücke hatte sie abgelegt, und ihr rötlichbraunes, kinnlanges Haar rahmte ihren großen, mit orangenfarbener Henna geschminkten Mund und ihre grün bestäubten Augenlider auf eine vollkommene Weise ein.

Sie war fünfunddreißig Jahre alt und stand noch immer in der Blüte ihrer Schönheit, trotz der feinen Fältchen, die – wie Khamwaset wußte – sich unter dem schwarzen Kohol fächerförmig über ihre Schläfen ausbreiteten, und trotz der leichten Furchen zu beiden Seiten ihrer einladenden Lippen. Aber ihre Üppigkeit war etwas, das sie als unwesentlich abgetan hätte, wäre sie sich dessen bewußt gewesen. Energisch, tüchtig und voll gesunden Menschenverstands, umsegelte Nubnefret die Riffe und Untiefen der Haushaltsführung, bildete Diener aus, führte für ihren Ehemann ein gastliches Haus und zog die Kinder mit der vollendeten Leichtigkeit einer Frau groß, die mitten im Leben steht. Khamwaset gegenüber verhielt sie sich äußerst loyal, und dafür war er ihr dankbar. Er wußte, daß sie ihn von ganzem Herzen liebte, wenngleich sie über eine scharfe Zunge verfügte und ihn bei dem von ihr choreographierten Familientanz vorsichtig in Bewegung hielt. Zweiundzwanzig Jahre lang waren sie nun schon sicher und angenehm verheiratet.

«Hattest du heute Glück, Khamwaset?»

Er schüttelte seinen Kopf, da er wußte, daß sie ihn aus schierer Höflichkeit und nicht etwa aus Interesse gefragt hatte. In ihren Augen handelte es sich bei seinem Steckenpferd um einen für einen Prinzen aus königlichem Geblüt unwürdigen Zeitvertreib. «Ganz und gar nicht», antwortete er, indem er die Stelle berührte, auf die sie ihn geküßt hatte. Sie kam ihm von ihrer frisch aufgetragenen Henna feucht vor. «Das Grab war zwar alt, aber sowohl eingesickertes Wasser wie auch die Verwüstungen der Grabräuber haben Schaden angerichtet. Es ist unmöglich abzuschätzen, wann diese beiden Katastrophen geschehen sind. Pentawer hat ein paar Schriftrollen näher in Augenschein genommen und sie inzwischen bestimmt schon in das Archiv aufgenommen, aber ich bin so klug wie zuvor.»

«Das tut mir leid», antwortete sie mit aufrichtigem Bedauern, wobei sie einen Blick auf die Schriftrolle in Khamwasets Hand warf. «Gibt es eine Nachricht vom Delta? Ärger im Hochzeitsparadies?» Sie grinsten einander an. «Vielleicht sollten wir nach Piramses ziehen, bis die Pläne des Pharaos vollendet sind. Mit deinem vielen Hin und Her hast du unsere Barke arg strapaziert.»

Khamwaset empfand plötzlich eine große Zärtlichkeit für sie. Der kaum erkennbare sehnsüchtige Unterton in ihrer Stimme war ihm nicht entgangen. «Das würde dir gefallen, nicht wahr?» sagte er freundlich. «Weshalb nimmst du Hori und Sheritra nicht für einen oder zwei Monate mit nach Norden? Mein Vater braucht mich nicht die ganze Zeit über, Nubnefret. Die Angelegenheiten Ägyptens sind – bis auf die Heiratsverhandlungen – im Augenblick reine Routinesache, und ich kann mir erlauben, einige der Projekte weiterzuverfolgen, die ich in Sakkâra begonnen habe.» Er wies auf seinen Stuhl, und sie sank darauf nieder und begann, die Essensreste durchzusehen. Ihm fiel ihr starrsinniger Gesichtsausdruck auf. «Meine Architekten und ich arbeiten an neuen Plänen für den Friedhof der Apis-Stiere», fuhr er fort, «und ich habe zwei Restaurierungen in Arbeit, die eine an der Pyramide des Osiris Sahurê und die andere am Sonnentempel des Neuser-Rê. Ich …»

Sie hob ihre Hand, in der sie ein Stück der inzwischen kalten Gans hielt, winkte ihm zu und steckte es schnell in ihren Mund. «Seit langem schon habe ich es mir abgewöhnt, mich über die Beharrlichkeit zu empören, mit der du tote Steine deiner lebenden Familie vorziehst», sagte sie beherrscht. «Wenn du nicht nach Piramses gehst, dann bleiben wir mit dir hier. Du weißt, daß du dich sehr einsam fühltest, wenn wir dich deinen Dienern überlassen würden.»

Das traf zu. Khamwaset ging auf seinen Schreibtisch zu und hockte sich auf die Kante. Er kreuzte die Arme vor der Brust. «Dann laß die Diener ein paar Sachen packen, und komm morgen mit mir. Vater braucht noch einen Diplomaten, der die verworrene Lage, die ohne Zweifel nur er zu verantworten hat, wieder ins Lot bringt. Ebenso zweifellos wird er mich bitten, ihn zu untersuchen und ihm Heilkräuter zu verabreichen, und auch alle anderen, die er mag, werden meine Dienste beanspruchen. Übrigens möchte ich gerne Mutter besuchen.»

Nubnefret kaute nachdenklich. «Nun gut», sagte sie schließlich. «Hori möchte sicher auch mitkommen, doch Sheritra mag nicht bei Hof verkehren. Was sollen wir mit ihr machen, Khamwaset?»

«Sie ist nur schüchtern», antwortete er. «Das vergeht mit dem Alter. Wir müssen ihr Zeit lassen und nett zu ihr sein.»

«Nett!» schnaubte Nubnefret. «Sie ist bereits zu sehr verwöhnt worden, sowohl von Hori wie auch von dir. Sogar jetzt wartet sie darauf, daß sie dir gute Nacht sagen kann, aber ich habe ihr gesagt, sie solle nicht damit rechnen, daß du heute abend noch bei ihr vorbeikommst.» Sie leckte die Finger ab und schnippte dann mit ihnen. Sofort erwachte Wernuro zum Leben, huschte zum Schreibtisch, tauchte das Leinentuch, das zuvor die Speisen abgedeckt hatte, in die Wasserschale und begann damit, die fettigen Finger ihrer Herrin vorsichtig abzuwischen.

«Wieso denn nicht?»

«Weil eine Nachricht aus dem Frauenhaus des Pharaos hier eingetroffen ist. Eine der Konkubinen ist erkrankt und verlangt nach deiner Visite.» Sie erhob sich aus dem Stuhl und ging auf die Tür zu. «Gute Nacht, mein Gemahl.»

«Gute Nacht, Nubnefret. Schlaf gut.» Nach einem kurzen Befehl von ihr wurde die Tür aufgerissen, der Türdiener geleitete sie unter Verbeugungen hinaus, während Wernuro ihr in drei Schritten Abstand folgte. Nun war Khamwaset allein.

Widerwillig verließ er sein Arbeitszimmer und ging in sein Archiv. Vor einer großen Truhe blieb er stehen und öffnete den schweren Deckel. Ein angenehmer Dufthauch von getrockneten Kräutern durchwehte den Raum. Er trug einen kleinen Kasten in sein Büro zurück und rief nach Kasa und Pentawer. «Ramoses», ermahnte er den obersten Herold, der auf seine Rufe hin herbeigeeilt war, «überbringe Amek meine Entschuldigung, falls er sich bereits zur Ruhe begeben hat, aber ich brauche dringend zwei Leibwächter. Ich muß in die Stadt gehen.»

Eine Stunde später wurde er in Memphis unter Verbeugungen respektvoll in das Frauenhaus des Pharaos geleitet. Es war groß, aber luxuriös eingerichtet und bestand aus eleganten Zimmerfluchten für die vielen Frauen, an denen Ramses einen Gefallen gefunden, die er erworben und ebenso häufig vergessen hatte. Während der überwiegenden Zeit führten sie ein müßiges Leben, hielten sich verfügbar und hatten keine andere Beschäftigung als zu tratschen, zu zanken, sich um ihre Luxuskörper zu kümmern und die Eigenschaften ihrer fernen Herren miteinander zu vergleichen, doch einige von ihnen führten ihre eigenen Geschäfte in Memphis und Umgebung. In Begleitung einer ordnungsgemäßen Eskorte durften sie das Haus verlassen und konnten ihren eigenen Besitz hegen oder einem Kleingewerbe nachgehen. Manche überwachten das Weben von Flachs zu Leinen, manch einer gehörte ein Weinberg oder ein Bauernhof, und einige wenige trieben einen blühenden Handel über Land und über See mit fremdländischen Exotika.

Khamwaset interessierte sich für keine einzige von ihnen, er hatte nur die ärztliche Heilkunde im Sinn.

Er grüßte den Hüter des Hauses in einem barscheren Ton als beabsichtigt, und der Mann warf sich sofort zu Boden und drückte seine Stirn auf Khamwasets Sandalen, eine jahrhundertealte Geste, die als Zeichen höchster Unterwerfung galt, während er sich wortreich dafür entschuldigte, dem großen Prinzen Ungemach zu bereiten. Khamwaset bedeutete ihm unwirsch, er solle sich aufrichten.

«Der Pharao will nicht, daß ein Lehrling eine seiner Frauen untersucht», sagte er, als sie einen Gang entlangschritten, der in regelmäßigen Abständen von fein gegliederten Holztüren mit delikaten Verzierungen unterteilt war, die sämtlich fest verschlossen waren.

«Wer ist meine Patientin?» fragte Khamwaset. Der Hüter hielt vor der letzten Tür an, und Khamwaset blieb stehen, Pentawer und Kasa befanden sich hinter ihm. Die beiden Soldaten Ameks hatten sich getrennt, ein jeder hatte an einem Ende des Korridors Stellung bezogen.

«Eine junge Tänzerin der Hurriter. Der Mächtige Stier hatte sie vor einem Jahr tanzen gesehen und sie eingeladen, hierher zu kommen. Sie ist eine zierliche Person, sehr schön, und hat den anderen Frauen einige ihrer Tanzschritte beigebracht.» Er öffnete die Tür und zog sich respektvoll zurück. «Sie unterhält die Frauen ein wenig und verschafft ihnen zudem etwas Bewegung. Die meisten sind sehr träge.»

Khamwaset entließ ihn und betrat das Zimmer. Es war behaglich eingerichtet, ohne vollgestellt zu sein: Es gab ein gutes Ruhebett, ein paar Stühle und vereinzelte Kissen, einen verschlossenen Schrein sowie mehrere Garderobenkisten, die zweifellos die grellen Kleider der Tänzerin enthielten, und es gab eine weitere Tür, die offenbar zum Gemeinschaftsgarten hinausführte. Eine Sklavin saß auf einem Hocker beim Ruhebett und erzählte in einer fremden Sprache – in Hurritisch, wie Khamwaset vermutete – mit einer hohen, eintönig singenden Stimme eine Geschichte, und die kleine Patientin unter den Leinendecken lauschte ihr verzückt, wobei ihre schwarzen Augen das milde Licht der Öllampe widerspiegelten.

Als Khamwaset näher trat, gab sie der Dienerin einen knappen Befehl und versuchte, sich zu erheben, doch Khamwaset bedeutete ihr, sie solle liegenbleiben. «Förmlichkeiten im Krankenzimmer sind überflüssig, es sei denn, es handelt sich um ein Gesuch an die Götter», sagte er freundlich, während die Sklavin sich in eine Ecke zurückzog und Pentawer und Kasa ihre Posten einnahmen. «Nun, wo fehlt es denn?»

Das Mädchen starrte ihn eine ganze Weile an, so als hätte sie ihn nicht verstanden, und Khamwaset fragte sich, wie gut sie wohl Ägyptisch sprach, doch dann, nach einem Seitenblick auf seine Begleiter, warf sie ihre Decken zurück. Ihr zierlicher kleiner Körper war vom Hals bis zu den fein geschwungenen Knöcheln über und über von einem schlimmen roten Hautausschlag überzogen. Nach einem aufmerksamen Blick entspannte Khamwaset sich zwar erleichtert, aber auch enttäuscht – erleichtert, da er nicht über Gebühr in diesem Haus verweilen mußte, und enttäuscht, da es sich keineswegs um einen unüblichen oder interessanten Fall handelte. Mit einem Kopfnicken rief er den Hüter des Hauses zu sich. «Weist irgendeine der anderen Frauen ebenfalls Anzeichen eines solchen Hautausschlags auf?»

Der Mann schüttelte den Kopf. «Nein, Hoheit.» Diese Krankheit war also nicht ansteckend. «Und was ist mit ihrer Ernährung? Bekommt sie dasselbe zu essen wie alle anderen?»

«Viele der Frauen lassen sich ihr Essen getrennt zubereiten, so wie sie es mögen», antwortete der Hüter sogleich. «Das Mädchen ißt die Speisen aus der Küche des Frauenhauses, und ich versichere dir, Hoheit, daß die Mahlzeiten aus den besten Lebensmitteln und immer frisch zubereitet werden.» Khamwaset gab Pentawer mit einem Wink zu verstehen, daß es nicht erforderlich sei, irgend etwas aufzuzeichnen. «Das versteht sich von selbst», sagte er schroffer als beabsichtigt, da er auf einmal keine Lust verspürte, auf die Besorgnis des Mannes taktvoll einzugehen. «Der Ausschlag ist einfach zu behandeln. Rühre einen Balsam aus gleichen Teilen Zypressengras, Zwiebelklein, Weihrauch und Saft aus wilden Datteln an. Die Sklavin soll ihn zweimal am Tag auf dem ganzen Körper auftragen, und dann müßten der Juckreiz und die Rötung nach einer Woche verschwunden sein. Falls nicht, so gib mir Bescheid.» Er wollte sich gerade abwenden, als er spürte, wie eine Hand an seinem Rock zerrte. Er blickte nach unten. «Brauche ich nicht auch noch einen Zauberspruch, großer Prinz?» fragte die Tänzerin mit heller Stimme. «Willst du keine Zauberei bei mir anwenden?»

Khamwaset erwiderte den Blick aus diesen wachen schwarzen Augen mit einem Lächeln, und indem er ihre zarte Hand in die seine nahm, ließ er sich auf das Ruhebett nieder. «Nein, meine Beste, das ist nicht nötig», versicherte er ihr. «Es liegt keinerlei Hinweis auf eine von Dämonen verursachte Erkrankung vor. Vielleicht hast du zu lange in der Sonne gelegen oder bist in schmutzigem Wasser geschwommen, oder womöglich hast du auch nur eine Pflanze berührt, die dein Körper nicht mag. Keine Bange. Die Rezeptur, die ich dem Hüter gegeben habe, hat man vor vielen Jahren unter den erprobten Arzneimitteln im Osiris-Tempel in Abydos gefunden, sie wird mit Sicherheit helfen.»

Statt einer Antwort preßte sie seine Hand gegen ihre warmen weichen Lippen. Die sanfte Berührung durchfuhr seinen Körper. Er zog seine Hand hastig zurück und stand auf. «Sieh zu, daß du sofort eingesalbt wirst, damit du schlafen kannst», befahl er zuletzt, bevor er in den Gang verschwand, durch die Türen und den Garten zu seiner Sänfte stürmte.

Nachdem er Pentawer und die Soldaten entlassen und sich schließlich hinter die geschlossenen und bewachten Türen seines inneren Zimmers zurückgezogen hatte, ließ er sich von Kasa die schulterlange schwarze Perücke abnehmen, seine Lieblingsohrringe aus Türkis abschrauben und die Ringe und Armreife von Armen und Fingern abstreifen. Der Rock wurde abgewickelt und beiseite gelegt. Mit einem tiefen Seufzer der Müdigkeit und der Vorfreude ließ Khamwaset sich auf sein Ruhebett sinken, grub das Gesicht zwischen die weichen Kissen und spürte das warme parfümierte Olivenöl von Kasas Schüssel auf seinen Rücken tropfen. Er schloß die Augen. Eine lange Weile überließ er sich der Wohltat von Kasas kräftigen Händen, die ihm seine durch die Spannungen des Tages verhärteten Muskeln lockerten und fest über seine Gesäßbacken und seine Schenkel hinwegglitten. Dann sagte Kasa: «Verzeihung, Hoheit, aber du siehst weder gut aus, noch fühlst du dich gut an. Deine Haut kommt mir heute abend so vor wie Ziegenkäse. Und die Muskeln darunter werden schlaff und unansehnlich. Darf ich dir etwas verschreiben?»

Khamwaset kicherte, den Mund in die Kissen vergraben. «Der Arzt sollte also seinen eigenen Ratschlag annehmen?» sagte er. «Verschreibe mir etwas, wenn du willst, mein Freund, und dann werde ich dir sagen, ob ich Zeit oder Lust habe, deinen Ratschlag zu befolgen. Wie du weißt, bin ich siebenunddreißig Jahre alt. Auch Nubnefret nörgelt an meinem älter werdenden Körper herum, aber, offen gesagt, ich möchte ihm lieber keine Umstände machen, solange er mir bei der Verrichtung meiner Aufgaben dient und mir bei meinen Vergnügungen nicht in die Quere kommt.» Kasas zähe Finger gruben sich plötzlich in seine Muskeln, und Khamwaset konnte die Mißbilligung des Mannes fühlen.

«In alte Gräber hinein- und aus ihnen wieder herauszusteigen und auf die Pyramiden zu klettern verlangt von einem Mann Kraft und Geschmeidigkeit, die deine Hoheit nicht mehr hat», wandte er salbungsvoll ein. «Ich, der ich dich liebe, bitte dich, Amek zu befehlen, dich regelmäßig im Ringkampf, Bogenschießen und Schwimmen zu üben. Du weißt, Hoheit, daß du eine gute Verfassung vernachlässigst.»

Khamwaset war drauf und dran, eine barsche Antwort zu formulieren, als ihm plötzlich das Bild seiner kleinen Patientin, der Tänzerin, durch den Kopf schoß. Er hatte nicht bewußt ihren Körper abgeschätzt, sondern lediglich ihre Beschwerden, doch nun erinnerte er sich auf einmal an ihren flachen, straffen Bauch, die sanfte Zeichnung der Muskeln unter der Haut ihrer Schenkel und die sparsame Wölbung der Hüften. Das Bild bewirkte, daß er sich alt fühlte und melancholisch wurde. Ich bin müde, sagte er sich selbst. «Danke, genug, Kasa», brachte er heraus. «Stell das Öl beiseite. Schmink mir Gesicht und Hände ab und bring die Nachtlampe her. Und bestell bitte Ib, daß ich morgen früh durch keinerlei Geräusche gestört werden möchte, wenn er packt.» Er überließ sich den ruhigen, fachkundigen Diensten seines Leibdieners, bis er schließlich sah, wie die Tür geschlossen wurde. Nun war er allein mit dem freundlichen Flackern der winzigen Flamme, die in ihrem Krug aus Alabaster eingeschlossen war.

Während er die Kissen auf den Boden schob, langte er nach der Kopfstütze aus Ebenholz – Shu, der den Himmel stützt – und schob sie unter seinen Kopf. Er schloß wieder die Augen und begann, sich treiben zu lassen, immer noch gefangengenommen von der seltsamen Traurigkeit, die ihn mit der Erinnerung an die kleine Konkubine seines Vaters und deren ebenmäßigen Körper überkommen hatte. Weshalb setzt sie mir so zu? fragte er sich matt. Was besitzt dieses Mädchen, daß sie eine solche Quelle der Gedanken in mir heute abend zum Sprudeln gebracht hat?

Dann wußte er es auf einmal und war hellwach. Natürlich. Irgendwie hatte sie ihn an die erste Frau erinnert, die er gehabt hatte, ein Mädchen, nicht älter als dreizehn Jahre, mit langen, flinken Beinen und einem Ansatz fester Brüste, kaum mehr als dunkle Knospen, die unter dem Einfluß seiner fordernden Zunge faszinierend hart geworden waren. Er konnte sie jetzt schmecken, als hätte er sie eben erst besessen. Sie war eine der vielen kleinen Sklavinnen gewesen, die von den erlauchteren Dienern des Pharaos mit leichten Arbeiten beschäftigt wurden. Khamwaset, selbst kaum erst fünfzehn, war in die Festhalle des Palastes gegangen, um mit den mehr als dreihundert Gästen seines Vaters zu speisen. Er erinnerte sich noch an den unwiderstehlichen Duft der schmelzenden parfümierten Wachskegel, an den Geruch der schweren Büschel aus Lotosblumen überall und an das dröhnende Gelächter, welches die gefälligen Klänge der Musiker übertönte.

Das Mädchen hatte sich ihm genähert, verbeugt und auf die Zehenspitzen gestellt, um sein Haupt mit einem Gebinde aus Kornblumen zu bekränzen, und Khamwaset hatte gespürt, wie ihre nackten Brüste sanft über seine Brust strichen und wie ihr warmer Atem sein Gesicht einhüllte, bevor sie zurücktrat und sich wiederum verbeugte. Leicht berauscht hatte er sie später am Abend mit einem Tablett voll goldener Festgeschenke zwischen den Gästen hindurchhuschen sehen. Er war zu ihr gegangen, hatte ihr das Tablett weggenommen, es einem vorübergehenden Diener in die Hand gedrückt und sie ungeduldig in den Garten hinausgeführt.

Die Nacht war sehr nah und sehr schwarz gewesen, genau wie ihre Augen und ihr Dreieck aus seidenem Haar, das seine tastenden Finger unter ihrem dünnen Leinenrock heftig erkundet hatten. Hinter einem Busch hatten sie sich geliebt, gerade außerhalb der Hörweite eines Shardana-Soldaten der Palastwache, dann hatte sie gekichert, ihre Kleider wieder festgezurrt und war fortgerannt.

Sie hatten kein einziges Wort gewechselt, erinnerte sich Khamwaset, der die stillen Schatten an der Decke anstarrte und schwer atmete, als die Erinnerung sich breitmachte. Ganz bestimmt hatte sie gewußt, wer er war, aber er hatte sie weder gekannt noch sich um sie gesorgt. Mit den Sinnen zu empfinden war sein Ziel in jener Nacht, und nun ließ seine Erinnerung die Bewegung ihrer Muskeln unter seinen Händen wieder gegenwärtig werden, den leicht herben Geschmack ihrer Zunge an der seinen, ihre schwarzen, schwarzen Augen mit den von der Leidenschaft schweren Lidern, welche ihn tief anblickten, bevor er in den Strudel seiner eigenen Lust gerissen wurde.

Er hatte sie vergessen. Er hatte andere Mädchen gehabt – abends beim Fluß, in der Hitze trunkener Sommernachmittage hinter den Getreidespeichern und in seinen eigenen Räumen. Im Alter von sechzehn hatte er dann Nubnefret geheiratet, und vier Jahre später wurde er in das Amt des Sem-Priesters des Ptah in Memphis berufen. Er widmete sich seinem Lebenswerk, und die fordernden Botschaften seiner Sinne waren in jenem Maße seltener und schwächer geworden, wie stärkere Leidenschaften sie verdrängten. Trauer über das Vergangene, ja, das verstehe ich, dachte er, als er erneut versuchte, Schlaf zu finden. Doch die Leere? Der Verlust? Weshalb? Die einzige Leere, die ich wahrlich zu füllen trachte, ist diejenige, die auf die Schriftrolle des Thoth wartet, und wenn es den Göttern gefällt, dann finde ich sie und die Macht, die damit verbunden ist. Arme, kleine Hurriter-Tänzerin. Wie oft hat mein Vater ein Verlangen in dir geweckt? Sehnst du dich tagtäglich nach ihm, oder verscheuchst du das Feuer? Er glitt in einen Dämmerschlaf, und die Erinnerung folgte ihm nicht.

Kapitel 2

«Wie innig geliebt ist unser siegreicher Herrscher! Wie groß ist unser König unter den Göttern! Wie glücklich ist er, der achtunggebietende Herr!»

AM NÄCHSTEN MORGEN WACHTE ER SPÄT AUF. Ib hatte sich an seinen Befehl gehalten und die Geschäftigkeit der Reisevorbereitungen von seiner Tür ferngehalten, so daß er ungestört sein übliches leichtes Frühstück aus Obst, Brot und Bier zu sich nehmen und sich zum Badehaus begeben konnte. Unmut stieg bereits in ihm auf, als er vom steinernen Sockel hinuntertrat und seine Arme ausstreckte, damit Kasa ihn abtrocknen konnte. Er verspürte weder Lust, nach Norden zu fahren, noch Lust, behutsam die Klippen der Verhandlungen zu umschiffen, noch Lust, seinen Vater wiederzusehen. Immerhin würde seine Mutter ihn überschwenglich begrüßen, und er könnte sich auch die Zeit nehmen, den hervorragenden Archiven von Ramses einen Besuch abzustatten.

Nachdem er wieder in seine Gemächer zurückgekehrt war, setzte er sich so, daß sein Kosmetiker unter Kasas aufmerksamem Auge seine Fußsohlen und seine Handflächen mit Henna bemalen konnte, und während der orangenfarbene Auftrag trocknete, hörte er Pentawer zu, der ihm die Nachrichten des Tages vortrug. Es gab nur wenige. Einer der Briefe stammte von seinem Viehverwalter im Delta, der ihm mitteilte, daß zwanzig Kälber geboren und registriert worden seien. Die Schriftrolle, die ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ, war ein großes Exemplar, das Pentawer ehrerbietig auf den Tisch neben dem Ruhebett legte. «Die Pläne für den Bestattungsplatz der nachfolgenden Apis-Stiere sind fertiggestellt und warten auf deine Zustimmung, Hoheit», sagte er und lächelte, als er Khamwasets offensichtliches Wohlgefallen bemerkte, doch dieser ließ sie, nachdem er mit der Hand über die warme Papyrusrolle gefahren war, mit Bedauern ungelesen. Die Lektüre war ein Genuß, auf den er sich freuen könnte, wenn er heimkehrte.