Der Sommer der Wildschweine - Birgit Vanderbeke - E-Book

Der Sommer der Wildschweine E-Book

Birgit Vanderbeke

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Beschreibung

Die ersten Ferientage verbringen Milan und Leo mit ihren Jobs im Netz. Doch nach einem heftigen Sommergewitter gibt es keins mehr: Der Strom ist weg, Wasser ist weg, die Straßen sind überflutet. Ein Nachbar versorgt sie mit dem Nötigsten und schickt sie zu einem alten Ehepaar, das ein bisschen Landwirtschaft betreibt und Angorakaninchen züchtet. Ihre Wolle, davon versteht Leo was, ist fantastisch. Man kann nur hoffen, dass die beiden Alten nicht auch von den Wildschweinen heimgesucht werden, die in diesem Sommer die Gegend verwüsten. Scharenweise kommen sie aus den Cevennen bis hinunter in die Dörfer und Gärten. In den Bergen wird nach Schiefergas gebohrt. Und die Tiere sind die ersten, für die das Konsequenzen hat. – Milan und Leo wird klar, dass die Krise, die sie im idyllischen Languedoc hinter sich lassen wollten, noch lange nicht zu Ende ist. Und es stellt sich die Frage, ob sie je in ihr altes Leben zurückkehren werden.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-96603-0

Mai 2015 © 2014 Piper Verlag GmbH, München Covergestaltung: Kornelia Rumberg, www.rumbergdesign.de Covermotivmotiv: Herbert Kehrer/Getty Images (Kastanien), CGTextures (Hintergrund) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Es gibt meine Erinnerungen, und es gibt die Erinnerungen der anderen, an die ich mich erinnere, weil sie mir erzählt worden sind. Wenn ich sterbe, verschwinden sie für immer. Das finde ich sehr traurig. Ich würde gerne mehr über die Menschen

Es war der Sommer der Wildschweine.

Und es war der Sommer, in dem alles anders wurde.

Wenn man genau überlegt, was in diesem Sommer passiert ist: eigentlich nicht viel. Jedenfalls uns nicht.

Aber manchmal muss gar nicht viel passieren, und dennoch steht hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und tatsächlich stand hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und vielleicht war das gut so.

Aber es ist gefährlich.

Im Laufe des Sommers hat der Boden unter unseren Füßen angefangen, sich zu bewegen, es gab erst leise und dann immer stärkere tektonische Reibungen, Zerrungen, Deformationen, irgendwelche lithosphärischen Vorgänge, kein Erdbeben natürlich, kein Vulkanausbruch, nur eben dass der Boden, auf dem du stehst, keine sehr stabile Grundlage für deine Schritte mehr ist, wir haben alle vier angefangen zu schwanken, obwohl Johnny und Anouk anfangs gar nicht dabei waren, und dazu kamen auch noch die Wildschweine.

Solche tektonischen Vorgänge gibt es in jedem Leben, in Ihrem sicherlich auch. In unserem Leben haben wir uns gewissermaßen daran gewöhnt, dass von Zeit zu Zeit die Erde bebt, und dann überlegst du: Erdbeben oder Weltuntergang. Seit wir denken können, schwankt uns immer mal wieder der Boden unter den Füßen, dass wir denken, das war’s jetzt, Weltuntergang, weil demnächst die Miete fällig ist oder der Winter kommt. Mit dem Winter ist das Heizen dran, und sonderbarerweise bebt die Erde nur selten im Sommer, jedenfalls unter unseren Füßen, sondern immer ab Oktober, November, wenn das Heizen demnächst dran ist, es hat mit der Weltwirtschaft zu tun, die gern nach den Sommerferien und noch lieber nach den Wahlen zusammenkracht, und gewählt wird meistens im Herbst, jedenfalls in den Ländern, die entscheiden, wann die Weltwirtschaft zusammenkracht. Bei den anderen bebt die Erde im Grunde rund ums Jahr, also können sie auch wählen, wann sie wollen, das hat mit der Weltwirtschaft nichts zu tun, aber nach unserer Erfahrung jedenfalls bricht die Weltwirtschaft kurz vor dem Winter zusammen, auch wenn sich so ein Zusammenbruch oft schon im Sommer ankündigt; allerdings sind im Sommer immer alle, die so einen Zusammenbruch logistisch organisieren müssen, in Urlaub; es ist eine Menge Logistik nötig, damit örtliche Zusammenbrüche nicht nur einzelne Länder und Volkswirtschaften erwischen, sondern die Wirkung möglichst weltweit durchschlägt, und natürlich müssen die Typen, die mit dem Zusammenbruch, Abteilung globale Logistik, also flächendeckend, befasst sind, im Sommer genauso in Urlaub fahren wie alle anderen Menschen auch, wie die Parlamentarier und Premierminister, die Kanzler und Studienräte und wer sonst noch so im Sommer in Urlaub fährt, um sich anschließend frisch erholt und frohgemut dem Zusammenbruch logistisch widmen zu können, dass er ordnungsgemäß zustande kommt, bevor im Winter das Heizen dran ist und wir uns fragen, wie wir die nächste Miete zahlen sollen.

Aber diesmal war es keine Weltwirtschaftskrise mit den üblichen tektonischen Verwerfungen, es war etwas anderes. Schon wegen der Wildschweine.

Alles fing harmlos an. Es war unser erster Urlaub seit ewig.

Seit der Bretagne, sagte Milan.

Seit Tunesien, sagte ich.

Tunesien zählt nicht, sagte Milan, und in gewisser Weise hatte er recht, weil wir last minute nach Tunesien gefahren waren, als wir alle nach der Lungenentzündung gerade so halbwegs wieder auf den Beinen standen und uns mühsam daran gewöhnen mussten, noch am Leben zu sein, es war ein ekelhafter März, nass und ganz ohne Sonne, Johnny war gerade mal drei und die Kleine noch nicht auf der Welt.

Charter zählt nicht, Charter ist das, wo die Leute schon beim Abflug Bermudashorts anhaben; im Flugzeug fotografieren sie mit ihren Handys die Wolken, saufen sich einen an, und bei der Landung wird geklatscht.

Also seit der Bretagne. Da war Johnny auch noch nicht auf der Welt, da waren wir noch zu zweit.

Weißt du noch, die Kuhwiese mit den Schafen und Ziegen, sagte Milan.

Und ob, sagte ich.

VW-Käfer, defekte Bremsen, irgendwo in der Pampa und trotzdem nicht weit von Paris. Wir schlittern von der Autobahn runter, es ist schon dunkel, wir sind die ganze Strecke von Frankfurt am Stück gefahren; Milan tritt die Bremse durch, und nichts tut sich, ich sage, ausrollen lassen, einfach nur langsam ausrollen lassen, und der VW rollt in eine Wiese aus, in eine stockrabenschwarz dunkle Wiese.

Man braucht eigentlich gar kein Zelt, um draußen zu schlafen, sagte Milan, jedenfalls wenn’s nicht regnet.

Es regnete nicht. Es war warm, und über uns war ein samtschwarzer Himmel mit Sternen.

Braucht man nicht, sagte ich, obwohl ich noch nie unter den Sternen geschlafen hatte und nicht sicher war, ob man es tun könnte.

A la belle étoile, sagte Milan, als wir in unseren Schlafsäcken lagen. Milan konnte Französisch, weil seine Großmutter Französin war und kein Wort Deutsch konnte.

Es war ganz still.

Rotwein hatten wir keinen, den hatten wir unterwegs noch kaufen wollen, aber nicht an der Tankstelle, sondern wo Richtiges, in einem Weingut womöglich, und dann war kein Weingut gekommen, natürlich nicht, weil es an der Autobahn keine Weingüter gibt, und wir waren durchgefahren, bis die Bremsen hin waren.

Am nächsten Morgen schien die Sonne, als wir aufwachten. Es war neun Uhr. Um uns herum standen erst zwei und dann, nachdem wir die Augen vor Schreck ziemlich schnell aufgekriegt und die Lage erfasst und durchgezählt hatten, siebenundzwanzig Kühe. Die Schafe und Ziegen haben wir gar nicht erst gezählt.

Ich glaube, wir sollten dann mal, sagte Milan und sprang aus unserem Schlafsack, der eigentlich aus zwei alten Armeeschlafsäcken vom Flohmarkt bestand, die wir mit den Reißverschlüssen zu einem Doppelschlafsack verbunden hatten, in dem wir machen konnten, was wir wollten.

Wir sollten dann mal zügig, sagte Milan. Bevor noch der Bauer auftaucht.

Und während im nächsten Ort ein Garagiste begeistert die Bremse an unserem VW-Käfer reparierte und es nicht fassen konnte, dass eine echte antike Coccinelle bei ihm gestrandet war, aßen wir, wie es sich für Frankreichurlauber gehört, Croissants und tranken den schlechtesten Milchkaffee unseres Lebens.

H-Milch, sagte Milan nach seinem ersten Schluck, um mich zu warnen, aber es war schon zu spät.

A la belle étoile haben wir in diesem Sommer noch öfter geschlafen, weil Gregor und Maja unausstehlich waren, sich die ganze Zeit nur langweilten und das Ferienhaus in der Bretagne mit ihrer Unausstehlichkeit und Langeweile angefüllt war, weil in dem Haus und in der Bretagne und wahrscheinlich überhaupt in ganz Frankreich nichts los war. Sobald ihnen klar geworden war, dass nichts los war und auch nichts los sein würde, wurden sie vor Langeweile unausstehlich.

Es ist kaum zu glauben, hat Milan abends oft gesagt, wie schlechte Laune so ein Haus füllen kann, es gibt keine Ecke, in die sie nicht reinkriecht.

Sogar in unser Schlafzimmerchen kroch die schlechte Laune von Gregor und Maja, wie können Menschen nur auf Dauer so schlecht gelaunt sein, und schließlich haben wir meistens gegen Mitternacht unseren Doppelschlafsack genommen und sind auf den Kartoffelacker neben dem Haus gegangen.

Eigentlich haben wir in dem Sommer meistens à la belle étoile geschlafen, allerdings mit Rotwein, den wir im Fünfliterkanister gekauft hatten, Cabernet Sauvignon stand auf der Zapfsäule in der Cave Coopérative.

Blödsinn, hatte Milan gesagt, Cabernet Sauvignon. Hast du jemals von bretonischem Wein gehört?

Jedenfalls war es Rotwein, jedenfalls haben wir à la belle étoile geschlafen und in unserem Doppelschlafsack gemacht, was wir wollten, und dann wurde Johnny geboren, und mit Ausnahme der Chartertour nach Tunesien ein paar Jahre später haben wir nie wieder Urlaub gemacht.

Der Ziegenbauer im Westerwald zählt nicht, obwohl es da immer sehr schön war: ein Wochenende hier, ein paar Brückentage dort, Fronleichnam und einmal zu Ostern.

Seit der Bretagne also.

Diesmal fuhren wir nicht in die Bretagne, sondern ins Languedoc, weil Jeremiah von dort kommt. Jeremiah ist einer von den Technikern, die Milan engagiert, wenn er für Sunset zu tun hat, und irgendwie hat er eigentlich meistens mit Sunset zu tun. Jeremiah kommt aus Fontarèche, das ist ein kleines Provinzkaff da unten, und er wird sicher auch wieder dorthin ziehen, wenn er erst einmal in Rente ist, sagt er, aber solange steht das Haus leer. Es ist das Haus seiner Familie, und weder seine Schwester noch er können im Augenblick viel damit anfangen: Ferien über Ostern und Weihnachten, im Sommer kümmert sich eine Immobilienagentur um die Vermietung, die Schwester lebt in Paris, geschieden, nicht direkt in Paris natürlich, kein Mensch lebt direkt in Paris, das ist ganz und gar unbezahlbar, also Issy, Ivry, Aubervilliers, was weiß ich, und da wird sie auch bleiben, weil es im Languedoc keine Arbeit gibt. Im Languedoc wird im März gewählt, in ganz Frankreich im Frühling.

Den Unterhalt für das Haus schaffen sie mit der Vermietung, das kommt Pi mal Daumen auf null raus. Man glaubt nicht, was so ein leeres Haus kostet. Zweitwohnsitzsteuer, Strom, Alarmanlage, um die Wartung kümmert sich die Agentur, die dafür saftig kassiert: die Oleanderhecke gießen, Rasen mähen, Oliven schneiden, den Pool versorgen, den die Eltern vor dreißig Jahren haben bauen lassen, weil sie hofften, die Kinder blieben, aber die Kinder sind natürlich nicht geblieben, kein Mensch bleibt wegen eines gechlorten Wasserlochs in einem Kaff, in dem es keine Arbeit gibt, und jetzt kümmert die Agentur sich darum, ums Chlor, dass die Filter gereinigt und alle paar Tage die Skimmer geleert werden, im September wird alles auf Winterbetrieb gestellt, und dann fallen auch schon die Blätter; ab November muss gelegentlich die Heizung angestellt werden, selbst bei leeren Häusern ist im Winter das Heizen fällig, solche leeren Häuser werden leicht feucht, das kostet; die Putzkolonne, wenn am Samstag die einen Gäste morgens abreisen, und am Nachmittag kommen die nächsten.

Wenn du Glück hast, kommen am Nachmittag schon die nächsten, sagt Jeremiah. Wenn nicht, steht das Haus wochenweise sogar im Sommer leer.

Am Vorabend unserer Reise hatte Milan noch ein Telefonat mit Dennis.

Dennis ist der Chef von Sunset, und bei Dennis ist es so: Erst kümmert er sich um nichts, dann fällt ihm plötzlich das Techno-Event in Harvestehude ein, von dem er Milan noch kein Wort verraten hat, und dann muss alles ganz schnell gehen – Stühle organisieren, möglichst wieder von diesem tschechischen Verleih, der nur drei Euro nimmt, Party- und Eventbedarf, die Bühne mit Standsicherheitsnachweis wie beim letzten Mal, aber lieber nicht die mit dem Giebeldach, obwohl die größer ist, aber sie sieht so popelig aus und ist auch noch teurer als die Tonnenbühne; nein, für die Contac 175 reicht das Budget nicht aus; Ton, Beleuchtung, LED oder Laser, Kamera, Technik, Slide-Show, Screen-Filling, mengenweise Wasserflaschen, es ist überall heiß bei Techno-Events, ausreichend Behindertenparkplätze, das ganze Programm.

Oder die Knott-Immobilien Consulting will mit sechshundert Gästen ihr zehnjähriges Jubiläum begehen, spätestens übermorgen; aber nicht mit dem obligaten Buffet, das allen schon zum Halse raushängt, Tomaten, Mozzarella, Basilikum und so weiter, Hühnchenbrust in allen Variationen, sondern stilgerecht; schlicht, aber stilvoll. Austern mal nicht gleich, ach, Ihnen fällt dazu schon was ein.

Ein Incentive mit Portweinverkostung steht am Wochenende an, eine drittklassige Hollywood-Hochzeit, Kitsch as Kitsch can, aber sie zahlen, ohne hinzugucken. Und wenn Milan sagt, mal ehrlich, Dennis, das weißt du doch nicht erst seit gestern, schiebt Dennis alles auf den Kunden.

Du kennst doch die alte Knott, diesen Drachen. Hast du doch mal kennengelernt, kannst du dich nicht erinnern? Knott junior seine Schwiegermutter, sagt er und versucht dann noch, Milan die Ausgaben für die Techniker zu drücken.

Es war ein mittleres Wunder, dass Milan überhaupt freibekommen hatte, er selbst vermutete, es hinge mit Dennis’ eigenen Reiseplänen und dem Jakobsweg zusammen, den er in diesem Sommer gehen wollte, aber kurz vor der Reise rief er natürlich an.

Ich hörte Milan telefonieren.

No way, sagte er. Oh nein, absolut nicht. Da kannst du ganz sicher sein.

Dann kam er wieder rüber und packte seine Sachen weiter ein.

Und, sagte ich.

Wenn du mich fragst, sagte Milan, und ich sagte, tu ich.

Dann ist das nichts als reiner Sadismus, sagte Milan.

Oder einfach nur Blödheit, sagte ich.

Milan schwieg.

Nach einer Pause sagte ich vorsichtig: Kann dich den Job kosten.

Und wenn schon, sagte Milan.

Dennis ist wirklich ein Trottel, sagte ich, und Milan sagte, das hatten wir schon.

Milan fährt seit zwanzig Jahren zweigleisig, und immer wenn ihn etwas den Job gekostet hat, wenn die Stadt ihre Aufträge nicht bezahlt hat, wenn er wo rausgeflogen ist, hatte er noch etwas anderes in petto, Messebau, die Lautsprecherboxen, inzwischen läuft sein Blog, und er verdient mit »Sound and Fury« gelegentlich richtig Geld. Ich habe es genauso gemacht, weil es schwachsinnig gewesen wäre, nicht mehrgleisig zu fahren, wo alle paar Jahre ein Erdbeben, eine Krise kommt und Existenzen zunichtemacht, zumal Existenzen mit Kindern im Gepäck, und unsere beiden Kinder waren jetzt zwar groß und standen auf eigenen Füßen, aber genau das mit den Füßen wurde in diesem Sommer ein echtes Problem, weil darunter – zunächst unter unseren Füßen – diese tektonischen Bewegungen anfingen, diese lithosphärischen Vorgänge, die im Languedoc entstanden und sich bis nach New York erstreckten, bis unter die Füße von Anouk, die sonderbarerweise am Vorabend unserer Reise unruhig war, und beinah hätte es sogar Krach gegeben, während Johnny aus Manchester anrief, um uns kurz zu sagen, dass Manchester die scheußlichste Stadt der Welt sei, aber das wüssten wir ja schon, und im Übrigen fahrt vorsichtig.

Johnny sitzt in Manchester nur in der Warteschleife, weil Deborah dort sitzt und vermutlich noch nicht weiß, dass sie auch in der Warteschleife sitzt, weil Johnny den Teufel tut, seiner Frau rundheraus ins Gesicht zu sagen, dass er demnächst sehen wird, wie er schleunigst aus Manchester rauskommt, egal wohin, zur Not nach China oder Korea.

Es ist komisch mit unseren Kindern: Als Johnny dreizehn war, schaffte er es zum ersten Mal per Computersimulation, einen der zweidimensionalen Saurier aus einem seiner Saurierbücher zum Leben zu erwecken, 3-D. Er war von klein auf besessen davon, alles Zweidimensionale aus dem platten Zustand räumlich zu kriegen, und wegen seines dreidimensionalen Ticks war klar, dass es ihn in die IT-Branche verschlagen würde. Wohin sonst. Additive Manufacturing heißt das heute.

Zum Glück hat es ihn in die IT-Branche verschlagen, sagt Milan, wenn ich mich beschwere, dass ich kein Wort von dem verstehe, womit Johnny sein Geld verdient, weil ich nur die Sprache studiert habe, die in Romanen oder Gedichten oder überhaupt in Büchern steht, und natürlich die, mit der ich beim Bäcker meine Brötchen einkaufen kann, solange es den Bäcker noch gibt, während Johnny Vertices extrudiert und auf U- oder V-Value-Positionen herumpixelt, Root, Head, Body, Tip or Tail, und jedenfalls überall auf der Welt eine globale Programmiersprache hat, mit der er wahrscheinlich sogar in China und Korea seine Brötchen kaufen kann, auch wenn’s dort gar keinen Bäcker gibt. In China und Korea gab’s überhaupt noch nie Bäcker, jedenfalls bis vor Kurzem. Hier gab’s eigentlich immer Bäcker, aber seit auch in China gebacken wird, gibt’s hier kaum noch welche.

Zum Glück hat es Johnny in die IT-Anwendung verschlagen, zum Glück für ihn und für uns auch, denn ohne Johnny und seine Programmiersprache wären wir aus der letzten Krise wohl kaum mit einem blauen Auge davongekommen. Es war Johnny, der die geniale Idee mit der 3-D-Pullover-Software hatte, und es war Anouk, die den Namen dafür fand: Einer für alle.

Die Titelidee war geklaut, aber es war klar, dass Anouk gar nicht merkte, dass sie geklaut war.

Anouk hatte Elizabeth Zimmermann entdeckt.

Wundern Sie sich nicht, dass Sie Elizabeth Zimmermann nicht kennen. Sie können sie eigentlich gar nicht kennen, auch wenn sie eine der größten Ikonen aller Zeiten ist, aber da kommen Sie natürlich nicht drauf, solange sie nicht übersetzt ist.

Anouk las Elizabeth Zimmermann im Original. Sie las Tag und Nacht, und wenn sie nicht las, probierte sie aus, was sie gerade gelernt hatte. Elizabeth Zimmermann ist die Größte. Nicht nur für Anouk. Sie ist eine echte Tricoteuse, aber natürlich kennt sie kein Mensch, weil kein Mensch sie übersetzt, weil kein Mensch mehr strickt und kein Mensch mehr über die Revolution nachdenkt, also auch nicht über die Tricoteusen. Anouk sprach ehrfürchtig nur noch von EZ und lernte, während sie EZ las, nebenbei Englisch. Auch das, ohne es zu merken, so wie Generationen von Kindern Englisch gelernt haben, während ihre Lehrer in Urlaub waren, einfach weil Generationen von Kindern Harry Potter lesen wollten, bevor es ihn auf Deutsch oder Finnisch oder Chinesisch gab und man sich wunderte, warum es ihn dann später überhaupt auf Deutsch und Finnisch und Chinesisch gab, weil kein Verlag ihn eigentlich haben und übersetzen wollte. Genau wie Elizabeth Zimmermann.

Anouk strickt, seit Milans Firma kurz vor der Jahrtausendwende pleitegegangen war, also praktisch, seit sie drei oder vier war und wir auf Milans Kredit saßen und nicht genau wussten, wie wir das Geld an die Bank zurückzahlen und weitermachen sollten. Es hatte damals eines von den mittleren Erdbeben gegeben, die eine mathematische Menge A Menschen die Existenz kosten und – wie das bei Erdbeben immer so ist – eine andere mathematische Menge B Menschen stinkreich machen, und die Gesetze dieser Erdbeben gehen immer gleich: Die Menge A ist ein exponentielles Vielfaches der Menge B.

Wir gehörten, genau wie Sie vermutlich auch, zur ersten Kategorie, auch wenn es uns nicht gleich die Existenz gekostet hat, aber es war knapp, weil ab irgendwann nicht nur die Kommunen, sondern alle anfingen zu sparen, und natürlich sparten sie überall. Milan hat Industriedesign gemacht, und in gewisser Weise macht er das immer noch, nur leider nicht mehr für seinen eigenen Laden.

Ende der Leseprobe