Der Steinheimer Torturm - Rita Renate Schönig - E-Book

Der Steinheimer Torturm E-Book

Rita Renate Schönig

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Beschreibung

Auf einem Grundstück im Gewerbegebiet wird ein Toter gefunden. Die Recherchen von Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener und ihrem Team ergeben, es handelt sich um den Bruder des in Seligenstadt beheimateten Models Viktoria Vogt mit Verbindungen nach Litauen und zu den reichsten Männern im Ostblock.

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Rita Renate Schönig

Der Steinheimer Torturm

Regionalkrimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Steinheimer Torturm

Inhalt:

Impressum

Montag – 16. Sep. 2019 / 06:45 Uhr

Dienstag – 17. Sept. / 03:45 Uhr

Mittwoch – 18. Sept. 2021 / 08:14 Uhr

Donnerstag – 19. Sept. 2019 / 08:30 Uhr

Geschichte zum Steinheimer Torturm

Autoren Vita:

Danken möchte ich

Impressum neobooks

Der Steinheimer Torturm

7. Fall aus der Reihe

Seligenstädter Krimi

Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Teile des gesprochenen Textes sind im Seligenstädter Dialekt verfasst und daher, die Grammatik betreffend, nicht regelkonform.

Inhalt:

Auf einem Grundstück im Gewerbegebiet wird ein Toter gefunden. Der Schuss mitten in die Stirn entspricht der gleichen Vorgehensweise wie bei den Morden an zwei osteuropäischen Männern, deren Identität noch nicht geklärt werden konnte.

Die Recherchen des Teams um Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener ergeben, der Waffendiebstahl im MEK (Mobiles Einsatzkommando) und die Ermordungen, hängen zusammen.

In den Fokus der Ermittlungen rücken sowohl die Inhaber der Import/Exportfirma Petrow wie auch Viktoria Graf, ein Model, wohnhaft in Seligenstadt mit eigener Agentur in Litauen und Verbindungen zu den reichsten Männern im Ostblock.

Impressum

Texte © Copyright by

Rita Renate Schönig

Bildmaterialien © Copyright by

Rita Renate Schönig

Postfach 1126

63487 Seligenstadt

Mailadresse: [email protected]

Homepage: www.rita-schoenig.de

ISBN: 9783754917800

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert, in einem Abrufsystem gespeichert, in irgendeiner Form elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

Ermittlerteam – Präsidium Offenbach K11

Nicole Wegener, Erste Kriminalhauptkommissarin

Harald Weinert, Kriminalhauptkommissar

Lars Hansen, Kriminalhauptkommissar

Dietmar Schönherr, Kriminaloberkommissar

Andreas Dillinger, Kriminaloberkommissar und Lebenspartner von Nicole

Staatsanwaltschaft:

Falk von Lindenstein und Felix Heller

Gerichtsmedizin:

Dr. Martin Lindner (Doc) und Viktor Laskovic

Seligenstädter Polizeistation:

Josef Maier, Polizeihauptkommissar/ Dienststellenleiter

Hans Lehmann, Polizeioberkommissar

Berthold Bachmann, Polizeikommissar

Hobby-Soko – Seligenstadt:

Helene Wagner, ehemalige Vermieterin und

mütterliche Freundin von Nicole Wegener

Herbert Walter, Lebensgefährte von Helene

Ferdinand und Bettina Roth, Freunde von Helene und Herbert

Gundula (Gundel) Krämer, Nachbarin

Georg (Schorsch) Lenz, ehemaliger Nachbar

Brigitte (Britschitt) Diaz,Freundin von Schorsch

Hessische Ausdrücke

de Bibbs hole – eine Erkältung bekommen

wutzeferkelisch – schweinig

Montag – 16. Sep. 2019 / 06:45 Uhr

Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener wälzte sich seit etwa einer Stunde in ihrem Bett von rechts nach links, immer darauf bedacht Andy ihren Lebenspartner nicht zu wecken. In der Sekunde, in der sie entschied aufzustehen, klingelte ihr Handy. Das Display zeigte den Namen ihres Kollegen Weinert. Hastig schnellte ihr Arm unter der Decke hervor und gleichzeitig berührten ihre Füße den weichen Teppichboden.

Kaum hatte sie die Schlafzimmertür hinter sich zu-gezogen, sagte sie: „Harald, was gibts?“

„Guten Morgen, Nicole. Wir haben eine Leiche, im Gewerbegebiet Nord in Seligenstadt. Die Kollegen des KDD informierten mich gerade. Ich dachte, ich sage dir Bescheid, bevor du im Büro bist und wieder retour musst.“

Nicole schmunzelte. Manchmal hatte der 41-Jährige eine etwas antike Ausdrucksweise.

„Ich informiere Lars und fahre dann auch gleich los. Dietmar bleibt im Büro und wartet auf unsere Infos, damit er mit den Recherchen beginnen kann. Du wirst vermutlich eher vor Ort sein.“

„Nur, wenn du mir sagst wohin genau.“

„Ach ja. Nordring, Firma Petrow Import – Export. Josef und sein Team sind schon dort und sorgen für die Absperrung. Bis gleich.“

Kriminalhauptkommissar Weinert legte auf und hinter Nicole schlich Andy an die Kaffeemaschine, gähnte und fuhr mit einer Hand durch seine kurzen strubbeligen, nach allen Seiten abstehenden braunen Haare.

„Normal oder Espresso?“

„Normal mit Milch. Wird heute nicht mein Letzter sein“, antwortete Nicole und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Sorry, dass ich dich geweckt habe.“

„Hast du nicht. Ich habe seit Stunden nur noch geduselt.“

Weshalb er selbst ein Schlafproblem hatte, lag nicht an Nicoles ruhelosem hin - und herwälzen, sondern, weil er mit einem Konflikt zu kämpfen hatte und nicht wusste, wie damit umgehen.

Durch ihre gleichartige Tätigkeit war der gedankliche Austausch zu den akuten Fällen im heimischen Wohnzimmer zur Gewohnheit geworden und führte fast immer zum gewünschten Erfolg für beide Seiten.

Im Widerspruch dazu stand derzeit die Information, die Andy von einem Kollegen des MEK erhalten hatte, dem ein Verfahren drohte, er aber steif und fest behauptete unschuldig zu sein. Dass der Vorgang mit Nicoles noch immer nicht identifizierten Leichen und der Razzia in einem Offenbacher Wohnhaus in Verbindung stand, machte die Situation für den Kriminaloberkommissar nahezu un-erträglich; hatte er doch seinem Bekannten gegenüber Stillschweigen zugesagt.

Er stellte zwei Kaffeebecher unter den Automaten, holte die Milchtüte aus dem Kühlschrank und fragte: „Was ist passiert?“

„Eine Leiche im Gewerbegebiet Nord. Mehr weiß ich auch noch nicht. Harald und Lars sind unterwegs und Josef mit seinen Kollegen bereits vor Ort“, setzte Nicole ihn in Kenntnis und verschwand im Bad.

„Ich fahr dich“, rief Andy ihr hinterher.

„Ich denke, du wolltest dich um den Garten kümmern?“

„Mach ich ja auch. Kann aber sein, dass ich noch zur Gärtnerei muss und den Wagen brauche.“

Seit etwa neun Monaten war Kriminalhauptkommissar Andreas Dillinger beim Kriminaldauerdienst. Zuvor hatte er einige Jahre in den Katakomben, wie das Archiv des Polizeipräsidiums unter Kollegen allgemein genannt wurde, verbracht.

Dies resultierte nicht aus einer Strafversetzung heraus, sondern weil er – nach einem Polizeieinsatz, bei dem er physisch wie auch psychisch Schaden genommen hatte – sich selbst dorthin zurückgezogen hatte. Doch, seit er und Nicole ein Paar waren und er wieder direkten Draht zur Polizeiarbeit erlebte, hatte er immer öfter gespürt, dass ihm etwas fehlte.

Das Bedürfnis, in den aktiven Dienst zurückzukehren, veranlasste ihn schließlich sich zu bewerben.

Der Job im KDD war zwar nicht die erste Wahl, aber die bestmögliche Gelegenheit. Nur gingen seine Arbeitszeiten nicht mit denen Nicoles konform und wurde, mit nur einem Fahrzeug, für sie beide eine Herausforderung.

Gedanklich lag die Anschaffung eines Zweitwagens schon lange in der Luft, bloß hatten sie bisher keinen gemeinsamen Termin in den Autohäusern zustande-gebracht.

Wie sich jetzt wieder zeigte, gab es dafür dringenden Handlungsbedarf.

Nach einer kurzen Dusche und Zähneputzen, rannte Nicole ins Schlafzimmer, zog sich an und holte ihre Heckler und Koch P30 aus dem Safe. „Wir brauchen unbedingt ein zweites Auto!“

„Ja, besser wäre das“, stimmte Andy zu.

Montag / 07:15 Uhr

Nicole und Andy erreichten ihren Zielort. Blinkende querstehende Polizeifahrzeuge und Kollegen der Schutzpolizei verhinderten, dass Unbefugte das Gelände der Firma Petrow betraten oder verließen.

„Guten Morgen verehrte Kollegin. Oh, heute mit Privatchauffeur, chic. Hallo Andy.“ Polizeihauptkommissar Josef Maier, Chef der Seligenstädter Polizeidienststelle, reichte beiden die Hand.

„Wer kann, der kann“, ging Nicole schmunzelnd auf die Bemerkung ein.

„Ich will unseren Garten winterfest machen und brauche vielleicht den Wagen, um noch einige Dinge zu besorgen“, erklärte Andy.

„Tja, so ein Haus macht Arbeit. Davon kann euer Kollege bestimmt auch ein Lied singen.“ Maier nickte in die Richtung des ankommenden Fahrzeugs, dem kurz darauf Kriminalhauptkommissar Harald Weinert entstieg.

Seit vier Monaten bewohnten er, seine Lebensgefährtin Dr. Marion Haus und Emma, ihre mittlerweile 2-jährige Tochter, eine stilvolle Stadtvilla in Offenbach nur einige Straßen vom Polizeipräsidium entfernt. Ein wahrer Glücksfall für die kleine Familie.

Vor Emmas Geburt war Marion leitende Ärztin der psychiatrischen Abteilung in einer Einrichtung für >Betreutes Wohnen< in Bad Nauheim und deshalb die ideale Nachfolgerin eines in den Ruhestand gehenden Psychologen und Psychiaters in Offenbach. Nach nur einem kurzen Gespräch und einer Besichtigung der Praxisräume kauften Marion und Harald das noble Stadthaus; nicht ahnend, welche Arbeit sie sich mit dem großzügigen Anwesen aufhalsten.

„Wo ist die Leiche? Wer hat sie gemeldet?“, wollte Nicole wissen.

„Da vorne.“ Josef Maier zeigte zu einer Stelle, um die gerade ein Absperrband angebracht wurde. „Gefunden wurde der Tote von dem Mann dort. Er war mit seinem Hund Gassi und ...“

„Bitte, nicht schon wieder.“ Panisch schaute die Kriminalbeamtin zu dem Hundebesitzer, atmete aber erleichtert auf, nachdem sie weder den Zeugen noch seinen kleinen strubbeligen hellbraunen Vierbeiner erkannte.

„Nein, diesmal nicht. Wäre auch ein bisschen zu weit weg von seiner Wohnung im Klosterhof“, erwiderte Josef Maier. Er verkniff sich ein Grinsen.

Der Umstand, dass Ferdinand Roth und sein Hund in den letzten zwei Jahren Tote gefunden hatten, verursachte der Leiterin des K11 der Offenbacher Kriminalpolizei offenbar noch immer einige Bauchschmerzen.

Maier konnte das gut verstehen. Die selbst ernannte Senioren-Soko, der die Roths angehörten und Helene Wagner, Nicoles frühere Vermieterin und mütterliche Freundin sowie deren Lebensgefährte Herbert Walter, federführend vorstanden, stellten stets ihre eigenen Ermittlungen ein der Polizei ein und hatten sich dadurch auch schon mal in lebensbedrohliche Schwierigkeiten gebracht.

Gleichzeitig wunderte sich Maier, dankte aber Gott dafür, dass die betagten Sonderermittler nach dem Auffinden des toten Lehrers vor 10 Tagen sich einen Kurzurlaub gönnten.

„Wir sind zeitgleich mit den Kollegen vom KDD eingetroffen und konnten uns die Leiche schon mal ansehen“, sagte er.

„Einschussloch mitten in die Stirn“, teilte Polizei-kommissar Berthold Bachmann mit und näherte sich der Gruppe.

Hinter dem Absperrband lag der Getötete auf dem Rücken; seine offenen Augen leblos in den bewölkten Himmel gerichtet, aus dem die Sonne versuchte, die Oberhand zu gewinnen.

Kriminalhauptkommissar Harald Weinert reckte den Kopf und meinte: „Genau wie bei den anderen Opfern. Sieht erneut nach einer Hinrichtung aus.“

„Wissen wir wenigsten bei diesem Toten, um wen es sich handelt?“, fragte Nicole.

Josef Maier verneinte; dagegen eine Kollegin der Spurensicherung mit unverständlichem Gesichtsausdruck den Kopf schüttelte.

„Ich sehe hier kein Auto. Wie kam der Mann hierher?“, stellte Nicole unbeeindruckt ihre nächste Frage.

„Wundert uns auch“, erwiderte Maier. „Wir haben auf dem Gelände weder einen Wagen noch ein Motorrad oder Fahrrad gesehen, schauen uns aber gleich noch auf den benachbarten Grundstücken um, soweit sie nicht eingezäunt sind. Die Eingangstür ist abgeschlossen und Aktivitäten im Innenraum der Firma konnten wir bis jetzt keine feststellen“, fügte er an und bewegte sich auf seine Mitarbeiter zu, die gegenwärtig an ihre Fahrzeuge gelehnt standen.

Der Polizeihauptkommissar sah dieses legere Verhalten im Dienst nicht gerne und scheuchte sie mit entsprechend passenden Worten und Anweisungen auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz des Toten.

„Definitiv wurde er nicht hier erschossen“, sagte die Frau im weißen Arbeitsoverall. „Wenn es so wäre, müsste sehr viel mehr Blut um den Kopfbereich zu finden sein. Er wurde hier lediglich abgelegt.“

„Dachte ich mir auch schon“, antwortete Nicole mit einem bemühten Lächeln.

Harald sah auf seine Armbanduhr. „Kurz vor halb acht. Bei normalem Arbeitsbeginn sollte sich eigentlich mal jemand blicken lassen.“

„Der Zusammenhang, die Tötungsart betreffend, ist unverkennbar“, äußerte Andy. Auch er hatte sich den Toten angesehen. „Ebenfalls, dass die Opfer nicht am Fundort erschossen wurden. Nur wurden die beiden anderen im weiteren Umkreis von Offenbach gefunden. Der eine am Mainufer und der andere in einem Waldstück von Neu-Isenburg. Die zwei, von euch Festgenommenen haben wohl noch immer keine Aussagen gemacht?“

„Nein.“ Kriminalhauptkommissar Lars Hansen hatte sich unbemerkt genähert.

Er murmelte ein „Moin“ und biss gleichzeitig in ein Croissant.

Nach einem Schluck Kaffee aus einem Pappbecher, mit dem er den Happen runtergespült hatte, sagte er: „Den einen mussten wir nach 48 Stunden wieder laufen lassen. Die Indizien waren, was die aufgefundenen illegalen Waffen betrifft, nicht stichhaltig genug. Eine Verbindung zu den Morden konnten wir ihm sowieso nicht nachweisen.

Der andere gab die Beteiligung am Waffenschmuggel zu. Da waren die Spuren aber auch eindeutig und es half kein Leugnen – ansonsten, großes Schweigen. Nach Feststellung der Personalien setzten wir auch ihn auf freien Fuß, bis zum Prozessbeginn. Wir sind also noch keinen Schritt weiter.“

„Wo kommst du so plötzlich her? Und wo ist dein Wagen?“ Nicole schaute sich suchend um.

„Liegt an dem Elektroauto“, erklärte Lars schmunzelnd zwischen zwei Bissen und mit vollem Mund.

„Eine Neuanschaffung für unser Fitnessstudio. Wurde am Freitag geliefert.“

Alle sahen zu dem silbergrauen Wagen mit der seitlichen Aufschrift: Sport und Fun.

„Eure Muckibude scheint gut zu laufen“, erwiderte Andy und fügte hinzu: „Wir müssen uns auch mal wieder bei euch sehen lassen.“

„Soll das heißen, ich habe es nötig?“ Pikiert warf Nicole ihrem Lebenspartner einen strafenden Blick zu; erinnerte sich aber im selben Moment an die unschönen Pölsterchen, die ihr heute Morgen, trotz der Hektik, aufgefallen waren.

„Wir bieten jetzt auch Yoga-Kurse an – zum Runterkommen“, sprang Lars sofort auf den Zug auf und grinste.

„Das könnte bedeuten, dass ihr es hier mit Größerem zu tun habt“, lenkte Andy schnell ab und versuchte die Situation unter Kontrolle zu bringen.

„Damit meinst du aber jetzt nicht, dass die Russenmafia dahintersteckt?“ Lars verschluckte sich und hustete.

„Möglich. Aber ... nun ja ... es gibt eine Menge verschiedener Interessengruppen. Waffenhandel betrifft nicht nur die Privatwirtschaft.“

„Sprich nicht in Rätseln. Was willst du sagen?“ Zwischen Nicoles Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.

Ihr Lebensgefährte verhielt sich in den letzten Tagen mehr als merkwürdig – war wortkarg und stets mit seinen Gedanken im Nirgendwo. Sie witterte, dass er irgendetwas vor ihr verheimlichte, fragte aber nicht nach. Selbst war sie mit dem Toten an der Schule beschäftigt und deshalb angespannt.

„Ich erkläre euch, was ich meine“, sagte Andy im Flüsterton und schaute sich um.

„Im März 2015 wurde von unserer Bundesregierung die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei Lieferungen von kleinen und leichten Waffen in Drittländer ergänzt mit der ausdrücklichen Zusicherung, diese weder an andere Länder noch innerhalb des Empfängerlandes, ohne Zustimmung der deutschen Regierung weiterzugeben. Dazu gehörten auch Estland, Lettland und Litauen. Infolge dessen sind den Partnerländern die Hände gebunden, was den Aufbau neuer Fertigungslinien im eigenen Land betrifft. Aber wie wir alle wissen, ist Papier geduldig und Schlupflöcher sowieso allgegenwärtig.“

„Und wie soll dein politischer Gesichtsunterricht uns jetzt weiterhelfen?“, erkundigte sich Lars, sichtlich genervt.

„Nun ja. Ich habe erfahren, dass seit einigen Monaten beim MEK Waffen und Munition verschwinden. Obwohl der gesamte Komplex mit Kameras überwacht wird, konnten die Täter bis dato nicht ermittelt werden, weil, immer zur Tatzeit, die Überwachungsgeräte ausgeschaltet waren. Was darauf schließen lässt, dass ein Insider beteiligt sein muss.“

„Und daraus schließt du, dass wir es mit einer Waffenmafia zu tun haben und mit einem Maulwurf beim MEK“, warf Harald ein.

Andy nickte. „Einer von der Truppe ist nun in den Fokus der internen Ermittlungen geraten, behauptet aber steif und fest, nichts damit zu tun zu haben.“

„Lass mich raten, du kennst ihn und glaubst ihm und er hat dich um Hilfe gebeten.“

„Du hast nicht umsonst Psychologie studiert.“ Andy schmunzele und fuhr ernst fort. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich anlügt.“

„Und schon gar nicht, dass er auf die dunkle Seite der Macht geraten ist“, warf Lars dazwischen.

„Richtig.“

„Du willst damit sagen, der Diebstahl beim MEK und die beiden anderen Toten – das hängt alles zusammen?“ Nicoles Stirnfalte vertiefte sich.

„Könnte doch möglich sein. Es wird gemunkelt, dass die vermissten Waffen in Litauen und Lettland aufgetaucht sind“, warf Andy den Kollegen den nächsten Schnipsel zu. „Aber, wie gesagt: Was Genaues weiß niemand und handfeste Beweise fehlen; weshalb offiziell noch keine Untersuchung eingeleitet wurde – nur eine interne. Mein Bekannter oder Informant – wie immer ihr ihn nennen wollt – vermutet sogar, dass unsere Regierung in der Sache mit drinhängen könnte. Welche Wellen das in der Öffentlichkeit schlagen würde, brauche ich euch nicht zu erzählen.“

„Sorry, das klingt für mich nach Verschwörungstheorie.“ Lars rollte mit den Augen, trank den letzten Schluck des mittlerweile kalten Kaffees und sah sich nach einem Entsorgungsbehälter um.

„Wieso rückst du erst jetzt damit raus?“, fragte Nicole mit scharfem Unterton. Für sie machte die Theorie Sinn.

„Du weißt, dass mir die Staatsanwaltschaft im Nacken sitzt und wir nicht den kleinsten Anhaltspunkt haben wie und wo wir ansetzen können.“

„Euer Fall mit dem Lehrer war noch nicht abgeschlossen und ich hatte es ...“

„Entscheidest du jetzt, wie viele Straftaten wir gleichzeitig bearbeiten dürfen und können?“, zischte Nicole leise aber giftig.

„Ich hatte versprochen nicht darüber zu reden, bis ...“

„Und jetzt hast du die Freigabe, oder was?“

„Nicht wirklich. Aber ich setze mich mit dem Kollegen in Verbindung und rate ihm, mit euch in Kontakt zu treten.“

„Wenn du schon mit deinem Informanten redest“, erwiderte Nicole bissig, „dann frag ihn doch gleich mal, ob er bei der Identifizierung unserer Leichen behilflich sein kann. In POLAS waren die Männer nicht erfasst und Fotos, die wir der Presse hatten zukommen lassen, ergaben keinen Treffer. Der Doc hatte sich aber in der Art geäußert, dass es sich um Osteuropäer handeln könnte.“

„Er kennt sie nicht“, entgegnete Andy. „Hab schon gefragt. Aber vielleicht ihn.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Toten.

„Kann ich ein Foto des neuen Opfers meinem Kollegen zuschicken? Einen Versuch ist es jedenfalls wert.“

„Ja“, knurrte die Kriminalhauptkommissarin. „Dein Kontakt soll sich auf jeden Fall im Laufe des Tages bei uns melden; egal ob er unser Opfer kennt oder nicht. Ansonsten lernt er mich kennen.“

„Ich versuche mein Bestes.“ Andy drückte Nicole einen Kuss auf die Wange.

Die brummte irgendetwas Unverständliches.

„Bis heute Abend ist sie wieder ganz die Alte.“ Harald schlug seinem Freund auf die Schulter. „Wenn alles nichts nutzt, besorgen wir Croissants mit ordentlich Schoko-sahne.“

„Das habe ich gehört!“, rief Nicole und schmunzelte.

Montag / 07:35 Uhr

An der Ausfahrt vom Firmengelände wurde Andy von einem schwarzen Wagen der Nobelklasse geschnitten.

Der Fahrer sah ihn einen Moment verärgert an, bevor er in rasantem Tempo weiterfuhr und vor dem Gebäude der Firma Petrow stoppte. Aus dem Fahrzeug sprang ein circa Mitte 40-jähriger Mann mit dunkelblonden kurzen Haaren. Er eilte direkt zur Absperrung und auf die Kriminal-techniker zu.

„Was ist hier los? Was suchen Sie auf meinem Grund und Boden?“

„Und wer sind Sie?“ Lars versperrte mit seinen 1,95 Meter den weiteren Weg.

Einen Moment schien es, als ob der zehn Zentimeter kleinere muskulöse Mann gleich aus der Haut fahren würde, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle.

„Mein Name ist Darius Petrow. Ich bin der Inhaber dieser Firma.“ Er bewegte den Kopf zu dem Schild über dem Eingang. „Also, was geht hier vor? Weshalb wimmelt es hier von Polizei?“

„Wenn Sie mal schauen möchten?“ Nicole steuerte mit dem Mann zur Absperrung. „Kennen Sie den Toten?“

Petrow beugte sich über das Band, verharrte ein paar Sekunden und antwortete mit versteinerter Miene: „Ja. Das ist einer der Männer, die ab und an für uns arbeiten, aber nicht heute. Was tut er hier? Wie kommt er hierher?“

„Das wüssten wir auch gerne – und einiges mehr. Mein Name ist Wegener und das sind die Kollegen Weinert und Hansen – Kriminalpolizei Offenbach.“

Die Beamten hielten Herrn Petrow ihre Ausweise entgegen. Er schaute scheinbar nur bedingt interessiert. Zeitgleich wurde er durch einen zügig heranfahrenden schwarzen Sportwagen abgelenkt, der ebenfalls vor dem Gebäude parkte.

Eine auffallend hübsche, circa 1,70 Meter große und schlanke blonde Frau mit modischem Kurzhaarschnitt glitt aus dem Cabrio. Soweit der enge Rock ihres zartrosa Kostüms und die High Heels im gleichen Farbton das zuließen, kam sie angerannt.

„Ist etwas passiert?“, richtete sie ihre Frage direkt an Darius Petrow, bevor ihr Blick auf den Toten fiel. „Oh Gott, ist das ...?“

„Du musst dir das nicht ansehen.“ Er nahm ihren Arm und zog sie ein Stück zur Seite.

„Und Sie sind?“, fragte Harald. Er und Nicole drängten sich an Lars vorbei, der die junge Frau wie paralysiert anstarrte.

„Das ist Christina Graf“, antwortete Petrow schnell.

„Wir hätten ein paar Fragen an Sie beide. Können wir in Ihrem Büro reden?“ Nicoles Tonfall ließ kein Nein zu und der Firmeninhaber deutete den Beamten an, ihm zu folgen.

„Lars, wir benötigen schnellstmöglich Informationen von unseren Kollegen der KTU. Kümmere dich bitte darum und gib sie an Dietmar weiter. Und hör auf zu sabbern! Das ist peinlich.“

„Denk dran, du bist so gut wie verlobt“, setzte Harald mit einem Grinsen nach.

„Chris, kannst du einen starken Kaffee machen?“, bat Darius Petrow, kaum dass er die Tür zu seinem Büro aufgeschlossen hatte. „Ich denke, den können wir jetzt vertragen.“ Er zeigte zu einer hellen Ledercouch. „Bitte, setzen Sie sich“, wandte er sich den Kriminalbeamten zu.

Der Raum insgesamt machte eher den Eindruck eines luxuriösen Lofts als dem eines Arbeitszimmers. Die Wände, obwohl nur verputzt, waren in einem zarten Fliederton gestrichen und der Fußboden mit Industrielack in einem dunkleren Lila überzogen. Ein Großteil wurde von einem hellgrauen Teppich verdeckt. Die wenigen zeitgenössischen und farbenfrohen Grafiken wirkten hochpreisig.

Harald Weinert hatte den Eindruck, dass die Geschäfte bestens liefen. „Womit genau beschäftigen Sie sich, beziehungsweise Ihre Firma?“, stellte er deshalb sofort die Frage. „Import – Export klingt etwas vage, wenn ich das mal so formulieren darf.“

„Das geht den meisten Leuten so.“ Darius Petrow hatte auf einem Sessel gegenüber den Beamten Platz genommen. „Genau wie die Bezeichnung schon aussagt, betreiben wir Handel. Wir importieren verschiedene Wirtschaftsgüter aus Litauen und Lettland nach Deutschland und ebenso exportieren wir Produkte von Deutschland dorthin und in andere Länder. Wenn es Sie interessiert, führe ich Sie gerne durch die Lagerhalle; dann können Sie sich selbst ein Bild davon machten – was unsere Firma so treibt.“ Er lächelte. „Wir haben nichts zu verbergen. Bei uns ist alles so, wie es sein soll. Weder Probleme mit dem Finanzamt noch mit der Zollbehörde.“

„Das Angebot nehmen wir gerne an – später“, erwiderte Nicole. „Zuerst geht es um den Toten auf Ihrem Gelände. Wie heißt der Mann? Sie sagten, er arbeitet ab und zu für Sie?“

„Ja. Alexander Vogt. Er ist bei der Spedition angestellt, mit der wir zusammenarbeiten, wie weitere vier bis fünf Leute. Es ist so“, fuhr Petrow fort, als er das Stirnrunzeln auf den Gesichtern der Kriminalbeamten sah. „Mein Bruder, ich und Christina kümmern uns um die kaufmännischen Tätigkeiten wie Organisation, Buch-haltung und so weiter. Für das Verpacken und das Be- und Entladen unserer Waren benötigen wir Hilfe. Deswegen arbeiten wir mit einer Spedition zusammen, die uns sowohl ihre Leute zur Verfügung stellt, als auch die Transporte übernimmt. Natürlich läuft auch das alles im gesetzlichen Rahmen ab und zu vernünftigen Löhnen. Sie können gerne unsere Unterlagen einsehen. Die nächste Lieferung ist für die kommende Woche vorgesehen. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, was Herr Vogt hier ...?“

Für einen Augenblick verlor sich sein Blick im Nirgendwo. Dann fragte er: „Sollten wir nicht die Spedition benachrichtigen, in der Herr Vogt arbeitet ... eh, gearbeitet hat?“

„Das übernehmen wir“, schaltete Harald sich ein. „Wenn Sie uns Anschrift und Telefonnummer geben und einen Ansprechpartner nennen?“

„Ich drucke die Daten für Sie aus“, bot Christina Graf an. Sie hatte die ganze Zeit still vor dem Fenster gestanden und den Kriminaltechnikern draußen zugesehen.

„Danke, meine Liebe.“ Darius Petrow küsste sie auf die Wange. „Wir sind verlobt und werden demnächst heiraten“, setzte er die verwundert schauenden Kriminalbeamten in Kenntnis.

Im nächsten Augenblick wedelte er hektisch mit beiden Armen. „Ach herrje. Das hätte ich fast vergessen. Wir erwarten einen Geschäftsfreund. Chris, wann hat sich Herr Kudirka angesagt?“ Er umrundete seinen Schreibtisch, schloss eine Schublade auf und holte ein Notizbuch hervor.

Noch bevor er seinen Terminkalender aufgeschlagen hatte, antwortete sie: „Um 11 Uhr.“

„Meinen Sie, Ihre Leute sind mit der Arbeit fertig und die Leiche ... eh ... der Verstorbene ist abtransportiert, bis unser Geschäftspartner hier eintrifft?“ Darius Petrow sah die Beamten fast um Entschuldigung bittend an.

„Verstehen Sie mich nicht falsch. Aber was soll Herr Kudirka denken? Ein Toter auf unserem Grundstück ... bei seinem ersten Besuch hier. Mein Bruder Janis hat dieses aufstrebende Start-up-Unternehmen entdeckt, das sich auf elektronische Produkte spezialisierte und diese importieren möchte. Er war es auch, der den Termin vereinbarte.

Wissen Sie – die meisten Waren, die Lettland, Estland und Litauen aus dem Ausland beziehen, kommen aus Russland. Computer, Handys, Laptops und so weiter hingegen fast durchweg aus China. Aber die Bevölkerung schielt schon mal gerne in den Westen. USA liegt da ganz vorne.“

Darius Petrow machte eine kleine Pause. Dann sagte er: „Ich war zuerst nicht begeistert, doch dann dachte ich – warum nicht? Bis vor einiger Zeit lieferten wir hauptsächlich Maschinen und Zubehör für die Holz- und Metallverarbeitung. Es ist nicht schlecht, noch einen weiteren Geschäftszweig ...“

Die Darstellung der Geschäftsbeziehungen wurde durch ein zügig heranfahrendes Fahrzeug unterbrochen. Darius Petrow sprang auf und eilte zum Fenster.

„Oh! Das wird er doch nicht schon sein? Ach, Gott sei Dank, es ist Janis, mein Bruder.“

Eine schwarze Luxuslimousine parkte genau neben der des Unternehmers und ein Ende 30-jähriger, 1,80 Meter großer und athletischer Mann mit dunklen Haaren, an den Seiten extrem gekürzt zu einem sogenannten Buzz-Cut, hechtete aus dem Wagen.

Erschrocken warf er einen Blick zu den Kriminaltechnikern in ihren weißen Schutzanzügen und eilte dann mit langen Schritten auf den Eingang zu.

„Darius? Christina?“

„Wir sind hier. Mit uns ist alles in Ordnung, Janis.“

Der Jüngere der Petrow-Brüder stöhnte erleichtert auf. „Was ist da draußen los? Ich dachte schon ...“

Jetzt erst bemerkte er die Anwesenheit zwei weiterer Personen und stoppte seinen Redefluss.

„Das sind Frau Wegener und Herr Weinert“, erklärte Darius Petrow seinem Bruder. „Die Herrschaften sind von der Kriminalpolizei. Auf unserem Grundstück wurde ein Toter gefunden. Ich befürchte, es ist Alexander Vogt, einer der Männer, die ab und an für uns arbeiten“, setzte er nach.

„Alexander ist tot? Wie ...?“

„Er wurde erschossen“, teilte ihm Harald Weinert mit.

Janis Petrow nahm die Tasse von Christina entgegen, stellte sie aber auf dem kleinen Tisch neben der Sitzgruppe direkt wieder ab. Dann kramte er in seiner Jackettasche und holte eine Schachtel Zigaretten heraus.

„Entschuldigen Sie bitte, die brauche ich jetzt.“

Schon auf dem Weg nach draußen flammte das Feuerzeug auf.

Harald folgte ihm.

Janis Petrow rauchte hastig, ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und bewegte sich zur Absperrung.

„Ist schon Ok“, sagte Harald an die Kollegen der Spurensicherung gewandt und auch Lars auf sie zuging.

„Ja, das ist Alexander Vogt“, bestätigte Janis Petrow, nachdem er einen kurzen Blick auf den Toten geworfen hatte.

Oberkommissar Kai Schmidt von der Kriminaltechnik nickte. „Alexander Vogt, 34 Jahre alt, Wohnadresse Offenbach, Große Marktstraße. Hier sind die Papiere. Ausweis, Bankkarte, Führerschein und so weiter, circa hundert Euro in Scheinen und etwas Münzgeld. Alles noch vorhanden – nur kein Handy und auch keine Hausschlüssel.“

Er hielt einen Kunststoffbeutel in die Höhe. „Nehmen wir mit in die KTU und werden anschließend die Wohnung von Herrn Vogt durchsuchen – auch ohne Schlüssel“, fügte er schmunzelnd hinzu.

Harald nickte.

„Ein gezielter Kopfschuss“, fuhr Kai Schmidt fort. „Noch keine zwei Stunden her – nach den ersten Erkenntnissen. Aber man weiß ja nie, was unsere Leichenfledderer von der Rechtsmedizin noch so alles zum Vorschein bringen.“

„Kai, bitte!“ Harald schüttelte den Kopf.

„Oh sorry. Ging mal wieder mit mir durch“, entschuldigte der sich.

„Ihr Bruder sagte, dass heute kein Warentransport stattfände und der Mann eigentlich gar nicht hier sein sollte. Können Sie sich vorstellen, weshalb Herr Vogt trotzdem hier war?“, stellte Harald Weinert dem jüngeren Petrow die Frage, wohl wissend, dass der Ermordete nicht auf dem Grundstück zu Tode gekommen war.

„Keine Ahnung. Alexander kam immer mit dem Lkw, in den die Waren verladen und abtransportiert wurden.“ Janis zündete sich eine weitere Zigarette an, nahm ein paar Züge und drückte sie diesmal in einem links um die Ecke stehenden mit Sand gefüllten Behälter aus.

„Macht sich nicht gut – Kippen vor dem Eingang – wenn Besuch kommt.“ Er lächelte schief. „Wir erwarten heute Morgen einen Geschäftspartner aus Litauen. Ein Start-up-Unternehmen, das sich auf elektronische Produkte spezialisierte und diese durch uns importiert. Bis um 11 Uhr werden Ihre Leute doch längst weg sein ... und auch die Leiche, oder?“

Mit der Frage bestätigte er die Aussage seines Bruders. Harald Weinert meinte aber zu spüren, dass es Janis Petrow nicht in erster Linie um das Ansehen der Firma ging, sondern um die Situation allgemein.

„Ich denke schon“, antwortete er und folgte ihm, zusammen mit Lars zurück in die Büroräume.

Darius Petrow hatte soeben telefoniert und legte jetzt auf. „Das war Anas Vanagas“, wandte er sich an seinen Bruder. „Er fragte nach Herrn Kudirka. Er könne ihn auf seinem Handy nicht erreichen und wollte wissen, ob er schon bei uns eingetroffen ist.“

„Ich kümmere mich darum “, antwortete Janis und eilte erneut nach draußen, diesmal mit dem Handy am Ohr.

„Sie entschuldigen uns?“ Nicole zog sich mit ihren Kollegen auf den Flur zurück und Lars wiederholte mit leiser Stimme, was er von der Spurensicherung erfahren hatte.

„Dem Einschussloch nach handelt es sich um das gleiche Kaliber wie zuvor bei unseren beiden unbekannten Mordopfern.“

„Demnach könnten die Morde tatsächlich zusammenhängen, genau wie Andy sagte. Nur wurden bei den anderen Toten weder Papiere noch sonstige Hinweise auf deren Identität gefunden. Vielleicht wurde der Täter heute gestört“, fasste Harald zusammen. „Was meint ihr, sollen wir die Fotos der beiden nicht identifizierten Opfer den Brüdern Petrow zeigen? Womöglich sind sie ihnen bekannt.“

„Warum nicht“, antwortete Nicole. „Einen Versuch ist es allemal wert.“

Die drei betraten wieder Petrows Büro und wiederholt blieb Lars‘ Blick auf Christina Graf haften. Aber nicht, weil er von ihrem Äußeren fasziniert war, wie seine Kollegen vermuteten. Er meinte die Frau schon einmal gesehen zu haben, konnte es momentan nur nicht zuordnen.

„Sie werden verstehen, dass wir nach Ihren Alibis fragen müssen. Es geht um die Zeit zwischen sechs und acht Uhr heute Morgen.“

„Sie glauben doch nicht ...?“ Darius Petrow schaute betroffen.

„Dass Sie alle erst nach uns angefahren kamen, haben wir gesehen“, entgegnete Harald kommentarlos. „Aber wo waren Sie in den zwei Stunden zuvor?“

„Bedauerlicherweise war ich heute Nacht alleine. Chris war gestern Abend bei einer Freundin und hat bei ihr auch übernachtet. Entsprechend habe ich für die fragliche Zeit kein Alibi.“

„Geben Sie uns bitte Namen und Adresse Ihrer Freundin“, wandte Nicole sich an Christina Graf. „Und die Telefon-nummer.“

„Ja natürlich.“ Ohne zu zögern, schrieb sie die Daten auf einen Zettel und reichte den der Kriminalbeamtin.

Nicole stutzte, kaum, dass sie die Anschrift las. „Ihre Freundin heißt Viktoria Vogt und wohnt in Seligenstadt? Der gleiche Nachname wie das Opfer?“

„Alexander war Viktorias Bruder.“

„Wie bitte? Wieso sagen Sie das erst jetzt?“, entgegnete Nicole etwas zu laut. „Wir bemühen uns die Identität des Mannes da draußen“, sie fuchtelte mit ihrer rechten Hand und ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung des Fensters, „herauszufinden, und sie halten es nicht für nötig, uns zu sagen, dass Sie den Toten kennen?“

„Entschuldigung, aber ich ... Als ich ... als ich ihn da liegen sah ...“ Christina Graf war kaum zu verstehen und ihre Stimme zitterte. Darius nahm sie sofort wieder in den Arm.

„Viktoria wohnt im Haus ihrer Mutter – Magdalena Vogt“, fuhr sie kurz darauf fort. „Sie ist Model und hat seit einigen Jahren auch eine eigene Modelagentur, weshalb sie oft unterwegs ist. In der wenigen freien Zeit, die ihr bleibt liebt sie es unbeobachtet ausspannen zu können. Und wo kann man das besser, als zuhause bei seiner Mutter. Wann immer Vicky hier ist, treffen wir uns – so wie gestern. Gehen Sie bitte sorgsam mit Viktoria um.“

„Das versteht sich von selbst“, erwiderte Harald.

„Nicht wegen ihres Bruders“, kam es hart von Christina Graf zurück. „Die beiden haben sich seit Jahren nicht gesehen. Vicky wollte keinen Kontakt zu ihm. Alexander kam immer wieder mit dem Gesetz in Schwierigkeiten. Zuletzt saß er in Preungesheim, aufgrund schwerer Körperverletzung, hatte sie mir irgendwann erzählt. Sie können sich vorstellen wie erstaunt ich war, als er hier bei uns auftauchte. Er hatte ausgerechnet einen Job bei der Spedition gefunden, mit der wir zusammenarbeiten.“

„Haben Sie ab und zu mit ihm gesprochen?“, fragte Nicole.

„Nein. Ich bin ihm aus dem Weg gegangen. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben.“

„Der Mann machte einen brutalen Eindruck“, mischte sich Darius Petrow ein, um sogleich hinzuzufügen: „Aber an seiner Arbeit hatten wir nichts auszusetzen.“

Harald zeigte auf seinem Handy die Fotos der zwei, bis dato, unbekannten Leichen.

„Kennen Sie diese Männer?“

Nach einem kurzen Blick verneinten Darius Petrow und seine Verlobte.

„Um was ich Sie bitten wollte“, wandte sie sich erneut den Kriminalbeamten zu. „Also, die Nachbarn ... Ich meine, es wäre Viktoria peinlich und im Übrigen nicht gut für ihr Image und ihre Karriere, wenn die Anwohner mitbekämen, dass Polizei vor der Tür steht. Irgendwo lauert doch stets ein Reporter oder ein Fan. Und sie schläft gerne lange. Wenn Sie also bitte nicht vor 11 Uhr ...?“

„Sollen wir sonst noch etwas beachten?“, unterbrach Nicole leicht säuerlich. Mental setzte sie hinzu: Vielleicht frische Brötchen mitbringen?

„Ihr Bruder und Sie stammen beide auch aus Litauen?“, lenkte Harald das Gespräch sowie die Gedanken seiner Kollegin, die er ihrem Gesicht ablesen konnte, in eine andere Richtung.

„Ich drücke es mal so aus – unsere Wurzeln sind dort“, antwortete Darius Petrow. „Wir wurden hier in Deutschland geboren. Aber durch unsere Eltern und einer Großzahl dortzulande lebenden Verwandten sind wir mit unserem Herkunftsland glücklicherweise noch immer verbunden. Das ist auch der Grund, weshalb wir einheimische Produkte importieren wie Bernstein, Leinen, Wolle und Schwarzkeramik sowie Honig, Apfelkäse und Baumkuchen. Damit wollen wir unserem Heimatland wirtschaftlich unter die Arme greifen – sozusagen.“

„Handeln Sie auch mit Waffen?“

„Was? Nein, natürlich nicht. Ich bin Pazifist. Wie kommen Sie darauf?“ Darius Petrow sah die Kriminalbeamtin entsetzt an und schüttelte beinahe angewidert seinen Kopf.

Ist er tatsächlich beleidigt, fragte sich Nicole oder tut er nur so. „Bis unsere Leute dort draußen fertig sind, nehmen wir Ihr Angebot an, uns durch Ihre Lagerhalle zu führen.“

„Aber gerne.“ Der Firmenchef schien sofort wieder besänftigt. „Bitte, folgen Sie mir. Sie werden erstaunt sein.“

Lars rollte mit den Augen, weswegen Nicole ihm zuflüsterte: „Geh schon mal raus und befrage Janis Petrow nach seinem Alibi für heute Morgen.“

Erleichtert entfernte er sich. Den Jüngeren der Brüder fand er am Ende des Grundstücks, an einer Mauer gelehnt beim Telefonieren. Sobald er den Beamten auf sich zukommen sah, beendete er das Gespräch.

„Und, alles klar?“, erkundigte sich Lars.

Janis Petrow nickte.

„Ich müsste noch wissen, wo Sie in den Morgenstunden gewesen sind, zwischen sechs und acht Uhr.“

„Um halbsieben bin ich aufgestanden und gegen acht Uhr habe ich meine Wohnung verlassen. Oh je, da habe ich wohl schlechte Karten. Ich bin zurzeit solo und habe deshalb auch keine Zeugin.“ Sein Lächeln missglückte. „Ach vielleicht doch. Auf dem Weg hierher habe ich in einem Bäckerladen einen Kaffee getrunken und ein belegtes Brötchen gegessen.“

„Welche Bäckerei“, fragte Lars nach.

„Hier.“ Janis Petrow holte aus seiner Geldbörse eine Quittung. „Dürfen Sie gerne behalten. Kann ich eh nicht als Spesen geltend machen.“

Um kurz vor zehn verließen die Beamten das Gebäude und Josef Maier winkte sie zu sich. „Die Bestatter müssten gleich eintreffen und den Toten in die Rechtsmedizin verbringen. Den Finder der Leiche habe ich gehen lassen. Er sagte, er hätte einen Arzttermin, den er ungern verschieben wolle. Die Personalien haben wir. Es handelt sich um Franz Klein, wohnhaft in der Stettiner-Straße; ist hier um die Ecke, falls ihr noch Fragen habt.“

Montag / 07:50 Uhr

Heinz Klein hatte es eilig nach Hause zu kommen. Nicht wegen eines Arzttermins, wie er dem Polizeihauptkommissar vorgeflunkert hatte. Er zitterte so sehr, dass er kaum den Schlüssel ins Schloss der Haustür bekam.

„Herta! Stell dir vor, wir haben einen Toten gefunden.“

„Ach, Franz, bist du mal wieder unbeholfen.“ Herta Klein schüttelte den Kopf, als sie sah, wie ihr Mann versuchte, sich umständlich seiner Jacke zu entledigen.

„Ja, hast du nicht gehört? Rocky und ich haben eine Leiche entdeckt. Mein Gott, war das grauslich.“

Erschöpft und außer Atem stürzte der 77-Jährige in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ein Arm steckte noch immer in der Jacke, sodass seine Frau, die ihm helfen wollte, hinterher torkelte.

„Jetzt halt doch mal still“, moserte sie und befreite ihn aus dem zweiten Ärmel. Nachdem sie mit einem tiefen Seufzer und einem weiteren Kopfschütteln das Kleidungsstück ordentlich in der Garderobe aufgehängt hatte, schenkte sie Kaffee in die bereitstehenden Tassen und schob eine davon ihrem Heinz zu. „Hast du gerade etwas von einer Leiche gesagt, oder habe ich mich verhört?“

„Nein, du hast dich nicht verhört“, antwortete Franz, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. „Wir waren schon auf dem Rückweg, als Rocky plötzlich ganz unruhig wurde und auf das Gelände der Firma Petrow zog. Zuerst dachte ich, er hätte eine Katze aufgespürt. Aber dann sah ich, dass dort jemand liegt, und bin ein bisschen näher ran und ...“

„Du hast den hoffentlich nicht angefasst?“, fiel Herta ihrem Mann ins Wort.

„Natürlich nicht, was denkst du denn? Aber es hätte sich ja auch um einen Obdachlosen handeln können, der da rumliegt und eventuell Hilfe braucht.“

Herta nickte. „Ja, oder um einen, der nur so getan hätte, als ob er Hilfe bräuchte und dir eins über den Schädel gegeben hätte. Davon hört man ja öfters.“ Einen Augenblick sah sie sinnierend aus dem Fenster und dann sorgenvoll zu ihrem Mann. „Ich will mir gar nicht vorstellen, was dir hätte passieren können.“

„Ach na ja. Ich hatte doch Rocky dabei. Der hätte mich schon verteidigt. Stimmt’s Rocky?“ Heinz Klein kraulte seinem Hund – einem sogenannten Maltipoo – einer Kreuzung zwischen Malteser und Pudel, den Kopf.

Herta bezweifelte, dass Rocky, der in jedem Fremden einen potenziellen Kandidaten für Streicheleinheiten sah, aggressiv und bissfest aufgetreten wäre, kommentierte dies aber nicht.

„Ich habe auch gleich bemerkt, dass der tot ist. Mittig auf seiner Stirn war ein Loch. Der ist eindeutig erschossen worden.“

„Was?“ Herta Klein sprang auf. „Das sagst du erst jetzt? Der Mörder könnte noch in der Gegend sein. Vielleicht meint er, dass du ihn gesehen hast und bist in Gefahr.“ Hektisch schaute sie aus dem Küchenfenster, rannte dann, trotz ihrer Körperfülle wieselflink zur Haustür und verriegelte sie. „Das müssen wir der Polizei sagen. Wir brauchen unbedingt Polizeischutz. Bis die da sind, lassen wir alle Rollos runter und verhalten uns ganz still.“

Total fahrig griff sie zum Handy auf dem Tisch und tippte die 112 ein.

„Herta. Jetzt mach mal halblang. Du guckst eindeutig zu viele Krimis. Außerdem hast du den Notruf der Feuerwehr gewählt.“ Heinz riss seiner Frau das Telefon aus der Hand.

Aber schon meldete sich eine tiefe Männerstimme. „Freiwillige Feuerwehr Seligenstadt.“

„Entschuldigung. Falsch verbunden. Meine Frau wollte eigentlich die Polizei anrufen.“

„Beruhigen Sie sich. Ich kann Sie weiterleiten. Um was geht es?“

„Ach nichts. Das ist ... eh war ... nur ein Missverständnis. Nichts für ungut.“ Heinz drückte wie wild auf dem roten Punkt herum. Dennoch gelang es ihm nicht, das Gespräch zu beenden. Der Mann von der Feuerwache war noch immer in der Leitung und rief jetzt so laut, dass Herta mithören konnte.

„Hallo? Sind Sie noch dran? Brauchen Sie Hilfe?“

„Entschuldigen Sie bitte.“ Sie hatte das Handy wieder an sich genommen. „Es war meine Schuld. Bei uns ist alles in bester Ordnung.“

„Sagen Sie das jetzt nur, weil Ihr Mann neben Ihnen steht und Sie Angst haben? Sie müssen sich nicht ängstigen. Ich schicke eine Streife vorbei. Wie ist Ihre Adresse?“

Nun lachte Herta Klein aus vollem Hals, wobei ihr fülliger Körper bebte. „Wenn Sie mich sehen könnten, würden Sie das nicht annehmen. Eher müsste mein Mann Angst vor mir haben. Aber keine Bange, bei uns ist alles in Ordnung. Entschuldigen Sie nochmals die Störung. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

Noch immer herzhaft lachend umarmte sie ihren Heinz und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Auch er schmunzelte. Dass sie rein von ihrem körperlichen Äußeren so unterschiedlich waren und manche Leute hinter ihrem Rücken über sie tuschelten, war ihnen vom ersten Augenblick an egal und das schon seit mehr als 50 Jahren. Definitiv hatte sie im Laufe der Zeit – und vor allem nach der Geburt ihrer beiden Söhne – einige Kilos zugelegt, während ihr Heinz noch immer seine vergleichsweise schlanke Figur besaß.

Als Herta sich wieder beruhigt hatte, sagte sie: „Hoffentlich bekommen wir jetzt keinen Ärger wegen meinem hysterischen Anruf. Der Mann von der Feuerwehr kann bestimmt, anhand der Telefonnummer unsere Adresse ermitteln. Das ist heutzutage doch alles möglich.“

„Und wenn schon. Was soll passieren? Wir haben nichts verbrochen“, erwiderte Heinz Klein.

In diesem Augenblick schellte es. Erschrocken zuckte das Paar zusammen und schlich, Hand in Hand, in den Flur. Durch den Spion konnten sie niemand vor der Tür sehen. Dennoch wurde die Klingel erneut heftig malträtiert.

„Herta, Heinz! Seid ihr zu Hause?“

„Gundel?“, flüsterten beide in einem Atemzug. „Was will die denn hier?“

Verwundert drehte Herta den Schlüssel um und öffnete.

„Gott sei Dank, ihr seid wohlauf. Wo ist dein Heinz?“

Die 1,45 Meter kleine pummelige Gundula Krämer schaute mit, in den Nacken gelegten Kopf und runden Augen zu der 1,70 großen und kräftigen Herta auf.

„Na hier“, antwortete der Hausherr und streckte sich hinter dem Rücken seiner Frau. „Was ist denn los? Haben wir einen Termin verpasst?“

„Termin? Ach so, unsere Zeichenstunde. Nein, die ist nach wie vor am Mittwochnachmittag. Ich habe gehört, du hast eine Leiche gefunden, ist das wahr?“

„Geht das auch etwas leiser“, zischte Heinz Klein, drängte sich an seiner Frau vorbei und schaute rechts und links die Straße ab. „Woher weißt du davon? Und wieso so schnell?“ Hastig zog er Gundel in den Flur und schob sie in die Küche.

„Ja glaubst du, so ein Polizeiaufgebot bleibt unentdeckt? Außerdem wurdest du beobachtet, wie dich die Polizei vernommen hat. Ach Gottchen, schon wieder eine Leiche hier in unserer Stadt. Hört das denn gar nicht mehr auf. Der letzte Mord ist doch erst gerade mal eine Woche her. Die Einschläge kommen in immer kürzeren Abständen.“ Gundel setzte sich unaufgefordert auf den nächsten Stuhl. „Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich?“

„Nein, Kaffee ist alle. Wir haben aber auch keine Zeit.“ Herta Klein rollte mit den Augen und nahm die Warmhaltekanne vom Tisch.

„Wir müssen noch zum Arzt“, kam Heinz seiner Frau zu Hilfe.