3,99 €
Kurz nach ihrer Vermählung wird Melanie Caspary im Trauzimmer des ›Romanischen Haus‹ niedergestochen und einen Tag später Michael Ziegler der Kompagnon ihres Ehemanns in seiner Wohnung in Heidelberg ermordet. Nicole Wegener und ihr Team vom K11 in Offenbach stoßen auf Differenzen im Umfeld des Bräutigams Heiko Caspary; ebenso wie Kriminalhauptkommissar Zimmermann von der Heidelberger Polizeidirektion. Doch auch die Senioren-Soko in Seligenstadt ist eifrig bei der Sache.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2022
Rita Renate Schönig
Ein tiefer Stich
Seligenstädter Krimi
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Ein tiefer Stich
Zum Inhalt:
Seligenstadt, Donnerstag / 04. Juni – 07:40 Uhr
Seligenstadt, Freitag / 05. Juni - 06:30 Uhr
Offenbach, Samstag 06. Juni – 07:05 Uhr
Seligenstadt, Sonntag / 07. Juni – 04:45 Uhr
Die Geschichte zum ›Romanischen Haus‹
Impressum neobooks
8. Teil der Serie
Seligenstädter Krimis
Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Teile des gesprochenen Textes sind im Seligenstädter Dialekt verfasst und daher, die Grammatik betreffend, nicht regelkonform.
Kurz nach der Vermählung wird Melanie im Trauzimmer im ›Romanischen Haus‹ niedergestochen.
Später kann sie nur sagen, dass es eine unbekannte Frau gewesen war.
Im Umfeld des aus Heidelberg stammenden Bräutigams, Heiko Caspary, stoßen Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener und ihr Team auf diverse Unstimmigkeiten. Geldgier, Rache und Zorn – alles ist möglich.
Einen Tag später wird Michael Ziegler, Casparys Kompagnon ermordet.
Kriminalhauptkommissar Zimmermann aus Heidelberg schaltet sich in die Ermittlungen ein.
Aber auch die Senioren-Soko in Seligenstadt bleibt nicht untätig.
Impressum
Texte © Copyright by
Rita Renate Schönig
Bildmaterialien © Copyright by
Rita Renate Schönig
Postfach 1126
63487 Seligenstadt
Mailadresse: [email protected]
Homepage: www.rita-schoenig.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert, in einem Abrufsystem gespeichert, in irgendeiner Form elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
Ständige Protagonisten:
Ermittlerteam Präsidium Offenbach K11
Nicole Wegener, Erste Kriminalhauptkommissarin
Harald Weinert, Kriminalhauptkommissar
Lars Hansen, Kriminalhauptkommissar
Dietmar Schönherr, Kriminaloberkommissar
Andreas (Andy) Dillinger, Kriminaloberkommissar, Lebenspartner von Nicole
Staatsanwaltschaft:
Falk von Lindenstein und Felix Heller
Gerichtsmedizin:
Dr. Martin Lindner (Doc) und Viktor Laskovic
Kriminaltechnik:
Kai Schmitt, Kriminaloberkommissar
Lutz Berger, Kriminaloberkommissar
Wiebke Pannkok, Kriminalkommissarin
Seligenstädter Polizeistation:
Josef Maier, Polizeihauptkommissar/ Dienststellenleiter
Hans Lehmann, Polizeioberkommissar
Berthold Bachmann, Polizeikommissar
Saskia Ehrlich, Polizeikommissarin
Philipp Reichenbach, Polizeianwärter
Senioren-SoKo:
Helene Wagner, Freundin von Nicole Wegener
Herbert Walter, Lebensgefährte von Helene
Ferdinand und Bettina Roth, Freundevon Helene
und Herbert
Gundula (Gundel) Krämer, Nachbarin
Georg (Schorsch) Lenz, ehemaliger Nachbar
Brigitte Diaz, Freundin von Schorsch
Felix und David Körner, Nachbar-Jungs
Speziell diesem Roman zugeordnete Protagonisten:
Melanie Steiner, Ehefrau von Heiko und Opfer
Heiko Caspary, Ehemann von Melanie
Angelika und Peter Steiner, Eltern von Melanie
IsabellBreuer, Freundin von Melanie
Simon Breuer, Ehemann von Isabell
Dr. Leonhard Frankfurter, Rechtsanwalt von
Peter Steiner
Michael (Michi) Ziegler, Kompagnon von Heiko
Jasmin Caspary, Ex-Frau von Heiko
Svenja Lorenz, frühere Freundin von Heiko
Katrin Koch, Mitarbeiterin von Heiko
Scotty, Inhaber von Scotty’s Bar
Antonia (Toni), Angestellte und Freundin von Scotty
Thomas Burger, Chef des Party-Food-Catering
Mia Burger, Aushilfe
Hannah Funke, Aushilfe
Suzanna Frey, Aushilfe
Erklärungen:
Strafrecht § 139 StGB:
Wenn man von der Planung bestimmter, besonders schwerwiegender Straftaten erfährt, zum Beispiel von einem geplanten Mord, einem Raub oder einer Brandstiftung, muss man dies dem von der Straftat Bedrohten oder einer Behörde mitteilen.
Eine Besonderheit der Nichtanzeige geplanter Straftaten ist es, dass der § 139 StGB einige Ausnahmefälle bereithält. Ist in den Fällen nach § 138 die Tat nicht versucht worden, so kann von Strafe abgesehen werden.
DNA und DNS.
Bei der DNS handelt es sich um die deutsche Schreibweise für Desoxyribonukleinsäure. DNA steht für die englische Schreibart bzw. Übersetzung.
KT – Kriminaltechnik.
KTU – kriminaltechnische Untersuchung
Seligenstädter Ausdrücke:
Bankert – unehelicher Knabe
Dreggwatz – schmutziger Zeitgenosse
Lange hatte Melanie diesen Tag herbeigesehnt und heute war es endlich soweit. Aber ausgerechnet jetzt, machte sich Nervosität in ihr breit. Sollte sie es wirklich wagen?
Ihr Blick fiel auf das Kleid, das in einer Schutzfolie verpackt an der offenen Schranktür hing. Glatter Seidensatin, mit durchsichtigen langen Ärmeln, die ihre etwas zu kräftigen Arme verdecken sollten. Ein schlichtes Kostüm für die standesamtliche Trauung hätte es auch getan und ihre üppige Figur vielleicht besser kaschieren können. Aber, weil Heiko geschieden war, würde es keine kirchliche Hochzeit geben, weshalb Melanie auf ein traditionelles weißes Hochzeitskleid bestanden hatte.
Der einzige Farbtupfer war ein Collier ihrer Großmutter. Die goldene Kette mit roten Rubinen besetzt – schon lange in der Familie und von einer Generation zur anderen weitergereicht – erfüllte somit als etwas Altes das erste Detail des Hochzeitsbrauchs. Zusätzlich unterstrichen die Steine das karminrot ihrer Haare.
Das Kleid war neu und die Ohrringe, die zur Halskette passten, von ihrer Mutter geborgt. Ein blaues Strumpfband und eine Silbermünze in ihrem Schuh als Silver-sixpence rundeten den vierten und fünften Bestandteil der Tradition ab.
Ebenso schlicht wie ihr Kleid würde die Feier, beziehungsweise das anschließende gemeinsame Mittagessen ausfallen. Das war aber ganz in Melanies Sinn. Wie oft hatte sie erlebt, dass wenn der Schönste Tag im Leben einem Rummel glich, das Paare sich spätestens nach einem oder zwei Jahren wieder getrennt hatten Das sollte keinesfalls passieren. IhrJa-Wort vor der Standesbeamtin würde für immer gelten.
Andererseits war, wegen der augenblicklichen Corona-Lage, ohnehin nicht an ein ausschweifendes Fest zu denken. Im Trauungssaal im ›Steinernen Haus‹ waren nur die engsten Familienangehörigen zugelassen. Für weitere Gratulanten, wie Freunde, Nachbarn, Bekannte und Arbeitskollegen, wurde im Rathausinnenhof, von einem Catering-Service, Champagner und Appetithäppchen gereicht.
Ob überhaupt jemand aus der Steuerkanzlei kommen würde? Im Grunde legte Melanie keinen Wert darauf. Sie hatte noch nie ein enges Verhältnis zu ihren Kolleginnen und Kollegen, obwohl sie mit den meisten seit fast neun Jahren zusammenarbeitete. Gewiss lag es an ihr selbst. Zu oft hatte sie es abgelehnt, auf einen Feierabend Absacker in ein Lokal mitzukommen und letztendlich wurde sie nicht mehr gefragt. Dagegen hatte sie das Gefühl, dass immer häufiger hinter ihrem Rücken über sie getuschelt wurde. Bestätigt wurde ihre Annahme als sie von ihrer bevorstehenden Hochzeit erzählte und ein Foto von Heiko zeigte.
Wie konnte sie den an Land ziehen?, hörte sie die Bemerkung einer ihrer Kolleginnen und eine andere meinte kichernd: Vielleicht sieht er schlecht oder er steht auf etwas mehr Frau.
Das Gelächter klang ihr jetzt noch in den Ohren und schmerzte.
Im Laufe der Jahre hatte sie schon sämtliche Diäten ausprobiert, mit dem Ergebnis, dass sie Wochen später wieder das gleiche Gewicht auf die Waage brachte oder sogar ein noch höheres. Danach kam der Frust und sie schob in sich hinein, was ihr zwischen die Finger kam – vor allem auf Schokolade; darauf konnte sie am wenigsten verzichten.
Hinzu kam, dass ihre Mutter ihr Problem nicht erkannte und sich freute, wenn ihre Tochter kräftig zulangte; wie sollte sie auch? Angelika Steiner war selbst kein Leichtgewicht, wogegen ihr Ehemann Peter, trotz seines Bauchansatzes aber mit seinen 1 Meter 80 und 85 kg nahezu schlank wirkte.
Melanie schaute zu dem Foto auf ihrem Schminktisch. Es war ein Selfie und zeigte sie und Heiko bei einem Spaziergang über die ›Alte Brücke‹ in Heidelberg. Darunter glitzerten die sanften Wellen des Neckars und die Sonne schien aus einem strahlend blauen Himmel. Im Hintergrund war die Schlossruine zu sehen. Sie erinnerte sich gerne an diesen Tag Anfang August im vergangenen Jahr. Zum ersten Mal hatte sie bei Heiko übernachtet.
Die gemütliche 2-Zimmer-Dachgeschosswohnung mit einem kleinen Balkon bot einen weiten Blick über die Stadt. Für eine alleinstehende Person reichten die verwinkelten 57 qm sicher aus, nicht aber für zwei, weshalb eine größere Wohnung gefunden werden musste. Nur in der sogenannten Studentenstadt, in der Wohnraum knapp bemessen war, nicht leicht. Zusätzlich erschwert wurde die Wohnungssuche durch das 2009 gegründete ›Netzwerk Mittelstandsoffensive‹, wodurch sich verschiedene Unternehmen in der Stadt niederließen.
Aber Heidelberg reagierte zügig mit zahlreichen Förderprogrammen und unterstützte Bürger und Bürgerinnen in ihrem Wunsch möglichst erschwinglich und gut wohnen zu können. Trotzdem dauerte es lange, bis Melanie und Heiko die für sie passende Wohnung gefunden hatten: Altstadtlage und nicht weit vom Neckar entfernt. Allerdings war der Mietpreis enorm hoch.
Es klopfte und ohne ein HEREIN abzuwarten, kam Angelika Steiner durch die Tür.
»Guten Morgen, mein Liebes. Schon aufgeregt? Natürlich bist du das«, plapperte sie munter drauf los. »Jede Braut ist am Tag ihrer Hochzeit angespannt. Trotzdem solltest du jetzt raus aus den Federn. Es ist kurz nach acht und Frühstück steht bereit. Zudem kommt deine Friseurin in einer Stunde.«
Obwohl Melanie in der Einliegerwohnung im Haus ihrer Eltern ihr eigenes Reich hatte, schneite ihre Mutter immer wieder unangemeldet herein. Wiederholt hatte sie Angelika gebeten, dass zu lassen; worauf diese eingeschnappt fragte, ob sie telefonisch einen Termin vereinbaren sollte, wenn sie ihrer Tochter etwas zu sagen hatte.
Bevor Melanie Heiko kennenlernte, war das zwar ärgerlich aber kein riesiges Problem, als dass sie es auf einen Streit hätte ankommen lassen. Doch seit etwa drei Monaten kam ihr Verlobter freitagabends und blieb über Nacht, bis er am Samstagnachmittag wieder in sein eigenes Zuhause nach Heidelberg zurückfuhr.
Immerhin war Angelika in diesen Stunden nicht ein einziges Mal in das Refugium ihrer Tochter eingedrungen und auch bei den gemeinsamen Mahlzeiten hielt sie sich – unüblich für ihr ansonsten mitteilsames Geplapper – dezent zurück.
Anders Peter Steiner, der schon bei Heikos erster Übernachtung fragte: Warum bleiben Sie nicht bis Sonntag? und setzte misstrauisch nach: Oder warten Frau und Kinder am Wochenende auf Sie?
Im ersten Moment war Heiko zusammengezuckt, hatte aber dann lächelnd geantwortet, dass er weder Familie noch eine andere Freundin außer Melanie hätte, nur eine geschiedene Frau, die seine Anwesenheit gewiss nicht herbeisehnte, umso mehr seine monatlichen Überweisungen. Erklärend fügte er hinzu, dass ihm als Mitinhaber einer Werbeagentur nur der Samstag und Sonntag bliebe, um spezielle Aufträge zu erledigen, für die im Tagesgeschäft die Zeit fehle.
Dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, verriet er nicht.
Daraufhin gab Peter Steiner ein Brummen von sich, was bedeutete, dass er mit der Antwort nicht zufrieden war, hakte aber im Beisein von Heiko nicht weiter nach. Beim Abendbrot brachte er das Thema dann erneut zur Sprache und löste damit eine heftige Auseinandersetzung mit seiner Frau aus.
Angelika hatte den Freund ihrer Tochter sofort ins Herz geschlossen und verteidigte ihn, als wäre es ihr eigener Sohn.
So ein netter, zuvorkommender und gebildeter junger Mann und dabei noch so attraktiv, erinnerte sich Melanie, fast ein wenig eifersüchtig – war Heiko doch nur 10 Jahre jünger als ihre Mutter, dagegen 14 Jahre älter als sie selbst.
Vielleicht war es auch nur der Tatsache geschuldet, dass Melanie endlich ebenfalls einen Mann gefunden hatte, nachdem ihre beste Freundin Isabell voriges Jahr geheiratet hatte und nun hochschwanger zur Hochzeit kommen würde. Dass eine Partnervermittlung im Internet im Spiel war, wusste Angelika Steiner nicht. Ebenso ahnte sie nicht, dass ihre Tochter ihren Traummann gleichfalls bei solch einer Agentur kennengelernt hatte, wozu Isabell sie überredet hatte.
Zuerst mit gemischten Gefühlen, rechnete Melanie anfangs dennoch nicht wirklich mit Zuschriften und war erstaunt, als schon nach nicht einmal einer Stunde Antworten von drei Männern eintrafen – darunter Heiko Caspary. Sein äußeres Erscheinungsbild gefiel Melanie auf Anhieb, ebenso seine zurückhaltende Art und die gewählte Ausdrucksweise. Aber dann setzte ihre Skepsis ein.
Was wollte ein so attraktiver Mann von ihr? Dem müssten die Damen doch reihenweise zu Füßen liegen. Warum trieb so einer sich auf den Seiten einer Partnervermittlung herum? Ob er womöglich ein Betrüger oder gar Heiratsschwindler war? Viel zu oft wurde berichtet, dass Frauen – egal, in welchem Alter – umgarnt und letztlich um ihr Geld gebracht wurden. Sie brach den Kontakt ab.
Aber Heiko gab nicht auf. Er meldete sich immer mal wieder, in unregelmäßigen Abständen. Nicht drängend und nicht so, dass Melanie sich darüber ärgerte. Es schmeichelte ihr sogar, bis er fragte, ob sie Curvy-Model sei. Das ließ sie erneut aufhorchen. Sie hatte ihm nie ein Foto zugeschickt, das sie in ganzer Körpergröße zeigte. Woher wusste er, wie sie aussah? Dann fiel ihr ein, dass sie Fotos von sich und Isabell auf den bekannten sozialen Netzwerken gepostet hatte.
Trotzdem stellte sie Nachforschungen zu Heikos Marketing-Agentur an und fand heraus, dass er die Firma mit einem Partner betrieb, gut dastand und keinerlei Auffälligkeiten aufwies. Dafür schämte sie sich im Nachhinein. Vielleicht würde sie es Heiko irgendwann beichten ... oder auch nicht. Auf jeden Fall war Geld nicht der Grund, weshalb er ihre Nähe suchte.
Seinen Mitinhaber Michael Ziegler hatte sie mittlerweile ebenfalls kennengelernt, konnte ihn aber nicht so richtig einschätzen und ging deshalb auf sein Du-Angebot nicht ein.
»Was ist?« Angelika Steiner setzte sich auf das Bett ihrer Tochter und nahm ihre Hand. »Jede Braut hat kurz vor ihrer Heirat Bammel.«
Melanie zuckte mit den Schultern. »Jetzt ist es eh zu spät.«
»Es ist niemals zu spät, eine Entscheidung zu korrigieren. Wenn du es dir anders überlegt hast, sagen wir alles ab.«
»Damit Papa triumphieren kann?« Melanie lachte. »Kommt überhaupt nicht infrage. Außerdem lieben wir uns ... Heiko und ich.«
»Na dann, raus aus den Federn.« Angelika lächelte und zog ihrer Tochter die Decke weg. »Apropos Entscheidung ... Wie soll das nach der Heirat weitergehen?«, fragte sie beiläufig, mit den Rücken zu Melanie stehend, während sie über das Brautkleid strich. »Ich meine ..., ihr habt zwar eine Wohnung gefunden, aber, du hast noch immer keine Anstellung in Heidelberg.«
»Richtig. Obwohl Heiko sich bemüht, entsprachen weder die Aufgaben in einer dortigen Kanzlei meinen Vorstellungen, noch das Gehalt. Und bevor das nicht 100-prozentig passt, werde ich in der Steuerkanzlei nicht kündigen. Ich möchte mein eigenes Geld verdienen und nicht auf Kosten von Heiko leben. Deshalb bleibt vorerst alles beim Alten und ihr müsst mich weiterhin ertragen.« Melanie lachte, schwang die Beine aus dem Bett. »Jetzt werde ich erst einmal duschen.«
Angelika sah ihrer Tochter hinterher. Auch wenn sie es nie zugeben würde, machte sie sich, ebenso wie ihr Ehemann, ihre Gedanken. Ob dieser gut aussehende Heiko wirklich der Richtige war? Sie konnte nur hoffen und beten, dass er ihrem Engel nicht wehtat.
Sie öffnete das Fenster zum Garten und sog die für Juni doch recht frische Morgenluft ein. Laut Wetterbericht sollen bis zum späten Vormittag 17 Grad erreicht werden und die Sonne scheinen. Was wollte man mehr? Es würde ein schöner Tag werden.
Noch im Halbschlaf konnte er das Geräusch zuerst nicht zuordnen. Dann registrierte er, es war sein Handy, das in bestimmten Intervallen diese nervenden Töne von sich gab. Er tastete auf dem Beistelltisch neben seinem Bett nach der Nervensäge. Als er schließlich das Telefon in der Hand hielt, langsam blinzelnd die Augen öffnete und die Nummer erkannte, maulte er zuerst verärgert: »Was soll das, mitten in der Nacht?«
Dann las er die Nachricht: ALLES LÄUFT NACH PLAN. NUR NOCH WENIGE STUNDEN UND UNSER NEUES LEBEN BEGINNT.
Schlagartig änderte sich seine Laune. Endlich.
Mit einem erleichterten Seufzer ließ er sich auf das Kissen zurückfallen, starrte eine Weile an die Decke und dachte über seine Zukunft nach.
Ein Leben in Luxus und Freiheit erwartete ihn. Alles, was er sich erträumt hatte würde bald in Erfüllung gehen, selbst wenn es noch einige Wochen oder Monate dauern sollte. Diese Zeitspanne würde er auch noch aushalten.
Mit einem euphorischen Gefühl schwang er seine Beine aus dem Bett.
Seligenstadt, Donnerstag – 08:30 Uhr
Auf die Übernachtung in einem Hotel hatten seine zukünftigen Schwiegereltern bestanden. In diesem Punkt, dass es sich für den Bräutigam nicht schickt, die Nacht vor der Hochzeit bei seiner Braut zu verbringen, waren sich Angelika und Peter Steiner zum ersten Mal einig.
Heiko und Melanie fanden das oldschool und lächerlich, willigten aber um des lieben Friedens willen, ein. Ein weiteres Zugeständnis war, dass er direkt zum Ort der Trauungszeremonie kommen sollte. Es brächte Unglück, wenn der Bräutigam die Braut vor dem Ja-Wort im Brautkleid sehen würde, wurde er von Angelika am Vorabend belehrt. Angesichts der brummigen Miene ihres Ehemanns, hatte Heiko eher den Verdacht, dass sie nur ein hitziges Gespräch zwischen ihnen beiden vermeiden wollte und dadurch die Heirat platzen könnte.
Andererseits konnten er und Michael Ziegler, sein Geschäftspartner – an diesem Tag auch sein Trauzeuge – zusammen zum Ort der Zeremonie fahren. Somit war sichergestellt, dass Michi nicht zu spät kam. Aber wie Heiko seinen Kompagnon kannte, würde er ihn wecken müssen; zumal der am gestrigen Abend etwas zu tief ins Glas geschaut hatte. Zwischen den Drinks stellte er ihm immer wieder die Frage ob er sich das mit dem Heiraten und – bis dass der Tod euch scheidet – auch genau überlegt hätte.
Jetzt, drei Stunden vor dem Termin auf dem Standesamt, fragte Heiko sich tatsächlich das Gleiche. In den letzten Jahren war er mit nicht wenigen Frauen zusammengekommen. Anfangs suchte er diese amourösen Abenteuer aus einem Reflex heraus, einer Art von Revanche an seiner Ex Jasmin, die ihn nach Strich und Faden betrogen hatte. Und nach der Scheidung als er tun und lassen konnte, was er mochte, war es ihm zur Gewohnheit geworden. Zu keiner Zeit hatte er in Erwägung gezogen, noch einmal eine Ehe einzugehen – bis sie auftauchte – die Frau seiner Träume. Nur einige Monate später wurde Svenja zu seinem Albtraum. Ständig rief sie an, wollte wissen, wo er sich gerade befand, was er tat und mit wem. Letztlich fühlte er sich derart eingeengt und unter Druck gesetzt, sodass er die Beziehung beendete – und zwar durch eine SMS. Nicht die feine englische Art und feige noch dazu; das wusste er selbst.
Nach einer kurzen Zeit der Stille – er hatte schon gehofft, Svenja hätte sich damit abgefunden – bombardierte sie ihn von Neuem mit Anrufen und Kurznachrichten und das heftiger als je zuvor. Er wechselte seine Handynummer, woraufhin sie Nachrichten an seine Büroadresse schickte. Nachdem er darauf nicht reagierte, drohte sie seine weiblichen Angestellten – sie war fest davon überzeugt, dass er mit jeder ein Verhältnis hatte – zu attackieren, sollte er nicht zu ihr zurückkehren.
Ihren verbalen Warnungen folgte ein Päckchen, in dem ein Feuerwerkskörper in dem Moment explodierte, als eine Mitarbeiterin es öffnete. Zum Glück kam sie mit dem Schrecken davon.
Folglich bedrängte Michi ihn, Anzeige zu erstatten.
Daraufhin wurde Svenja wegen Bedrohung, versuchter Körperverletzung und Stalking verurteilt. Aufgrund ihrer psychischen Instabilität – der Gutachter nannte es bipolare Störung – kam sie mit einer Bewährungsstrafe davon, musste aber eine Therapie antreten.
Nach diesem Vorfall zog Heiko sich immer mehr in sich zurück. Um mit der erneuten Enttäuschung fertig zu werden arbeitete er oft bis spät in die Nacht und fast jedes Wochenende hindurch und schlug sämtliche Einladungen aus.
Und wiederum war es Michi, der ihn anschubste.
Du musst endlich wieder unter Leute und du brauchst ein Date. Nicht alle Frauen sind so wie Jasmin oder Svenja. Wenn du Schiss hast, versuches bei einer Online-Partnervermittlung. Dort kannst du dir die Damen erst einmal anschauen und mit ihnen chatten.
Zuerst fand Heiko den Vorschlag absurd, dennoch dachte er immer häufiger darüber nach. Schließlich meldete er sich auf einer dieser Seiten an und war überrascht, als er sah, wie viele Leute aus allen Schichten der Bevölkerung dort unterwegs waren. Bei einigen fragte er sich, hauptsächlich bei gutaussehenden Frauen, wieso sie auf diesem Weg versuchten, einen Partner kennenzulernen. Andererseits tat er das ja auch und lernte Melanie kennen.
»Oh, schon kurz nach acht«, murmelte Heiko erschrocken, mit erneutem Blick auf sein Handy.
Er wollte frühzeitig, vor allen anderen am ›Romanischen Haus‹ ankommen; auf jeden Fall vor seinem zukünftigen Schwiegervater, mit dem er noch immer per Sie war, um ihm endgültig den Wind aus den Segeln zu nehmen. Außerdem musste er wenigstens eine Kleinigkeit essen, auch wenn er jetzt den Eindruck hatte, keinen Bissen herunterzubekommen.
Er sprang aus dem Bett und stieß gegen das Foto auf dem Beistelltisch. Er und Melanie bei einem Spaziergang in Heidelberg. Gerade noch rechtzeitig bekam er es zu fassen, bevor es umfiel.
Hoffentlich kein schlechtes Omen.
Wegen seines augenblicklich aufgetretenen Aberglaubens schüttelte er den Kopf und strich mit den Fingern über das lächelnde Gesicht, das ihn umrahmt von einer kupferroten Mähne anlächelte.
Auf dem Weg ins Bad waren seine eigenen Befürchtungen im Hinblick auf die bevorstehende Hochzeit wie weggefegt. Dieses Mal würde alles gut werden.
»Bis, dass der Tod uns scheidet«, murmelte er.
Unter der Dusche pfiff er doch tatsächlich den Hochzeitsmarsch und als er seine nassen Haare mit einem Handtuch frottierte, lächelte er sein Spiegelbild an.
Seligenstadt, Donnerstag / 09:50 Uhr
»Peter, jetzt hör auf, so ein mürrisches Gesicht zu machen. Sieht unsere Tochter nicht hinreißend aus?
Wie eine Prinzessin.« Angelika tänzelte wie ein Schwarm Schmetterlinge um Melanie herum.
Die Friseurin hatte deren lange Haare kunstvoll hochgesteckt und zusätzliche weiße Sterne eingearbeitet. Anschließend hatten sie Melanie ihr ins Hochzeitskleid geholfen.
Jetzt stand sie im Wohnzimmer und Peter Steiner bekam feuchte Augen, ohne dass er dagegen ankämpfen konnte. »Du siehst aus wie ein Engel«, presste er mühsam hervor. »Ich wünsche dir von Herzen, dass du glücklich wirst. Darf ich dich umarmen?«
»Natürlich Papa«, antwortete Melanie und versuchte, tapfer ihre eigenen Tränen zurückzuhalten – schon damit das halbstündige Make-up nicht für die Katz gewesen war.
Sie ging auf ihren Vater zu und drückte ihn fest an sich. »Du wirst immer meine erste große Liebe bleiben«, flüsterte sie in sein Ohr.
»Ich weiß«, murmelte Peter Steiner zurück. »Aber musste es ausgerechnet ein Kerl sein, der aussieht wie einem Modemagazin entsprungen? Hättest du nicht einen kleinen Pummeligen mit Glatze heiraten können?«
Melanie lächelte und strich ihrem Vater über seinen angehenden Kahlkopf. »Was das betrifft, so reicht vorerst einer in der Familie.«
»Was habt ihr beide zu tuscheln?«, fragte Angelika mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Das ist nur so ein Papa-Tochter-Ding«, erwiderte Melanie strahlend.
Endlich waren alle Unstimmigkeiten beseitigt und es würde ganz sicher der schönste Tag in ihrem Leben werden.
Zu Heikos Überraschung war Michi nicht mehr in seinem Zimmer. Stattdessen fand er ihn im Frühstücksraum des Hotels an einem Tisch sitzend und telefonierend.
»Schon so früh auf, altes Haus«, begrüßte er ihn. »Damit hätte ich nicht gerechnet.«
Michael Ziegler zuckte zusammen. »Mensch Heiko, hast du mich erschreckt.«
Er beendete mit »Alles klar soweit«, das Gespräch.
»Mit wem hast du telefoniert? Doch nicht etwa mit einer deiner Freundinnen? Um diese Zeit dürfte noch keine von denen wach sein.«
»Ich habe nur kurz im Büro angerufen. Wollte hören, ob alles in Ordnung ist«, antwortete er und legte das Handy auf den Tisch. »Und bereit für den Zweitanlauf?« Schmunzelnd griff er nach seiner Tasse und führte sie mit leicht zittriger Hand an seinen Mund.
»Man könnte meinen, du würdest heute heiraten«, feixte Heiko, ohne auf die Bemerkung zu seiner ersten Ehe einzugehen. Ernst und seinen Kompagnon besorgt anschauend fuhr dann fort: »Ist alles ok? Du bist ein bisschen blass um die Nase.«
»Ja, klar. Ich habe gestern Abend etwas zu tief ins Glas geschaut und jetzt Kopfschmerzen.« Michi lächelte schief.
»Das kann man wohl sagen. Kommst du mit zum Frühstücksbuffet? Was ich dort im Vorbeigehen gesehen habe, ist sehr ansprechend.«
Heikos Befürchtung, keinen Bissen herunterzubekommen, hatte sich beim Anblick des reichhaltigen Angebots in Luft aufgelöst. Jetzt verspürte er sogar enormen Hunger.
»Möchten Sie Kaffee oder lieber Tee?«, wurde er mit einem freundlichen Lächeln von der herbeieilenden Servicekraft gefragt.
»Kaffee bitte ... und davon viel. Wissen Sie, ich heirate in zwei Stunden, da muss ich wach sein.«
»Oh, eh ... dann ... herzlichen Glückwunsch«, erwiderte die junge Frau etwas irritiert und eilte zu ihrer Kollegin. »Wurde das Hochzeitsessen von Herrn Caspary nicht heute Morgen abgesagt?«
»Ja, soviel ich weiß schon«, kam die Antwort. »Wieso fragst du?«
»Ach nur ... egal. Vielleicht hat er sich ja nur kurzfristig für eine andere Location entschieden.«
Seligenstadt, Donnerstag – 10:20 Uhr
Als Heiko in die Palatiumstraße einbog, sah er auf den ersten Blick, dass es hier keine Möglichkeit zum Parken gab. Deshalb rollte er weiter durch die schmale Straße, lenkte seinen schwarzen SUV durch die Große Fischergasse, die alles andere als groß oder breit bezeichnet werden konnte, zum Parkplatz am Mainufer.
»Zum Glück kennst du dich hier schon recht gut aus«, sagte Michi, öffnete die Beifahrertür und blickte mit gerunzelter Stirn zum Fährschiff, das auf der anderen Seite des Mains ablegte. »Ist hier außer deiner Hochzeit noch etwas Sensationelles angesagt, oder weshalb strömen so viele Leute ins Dorf?«
Heiko lachte. »Nicht, dass ich wüsste. Aber die Bayern kommen gerne zum Einkaufen oder auch nur zum Bummeln rüber. Und ein guter Rat von mir: Nenne Seligenstadt bloß nicht Dorf, zumindest nicht im Beisein der alteingesessenen Einwohner, das könnte Ärger geben.«
»Ich hatte nicht vor, mit einem Einheimischen groß Konversation zu machen«, entgegnete Michi und wollte mit langen Schritten in die Gasse einbiegen, die sie soeben mit dem Wagen durchfahren hatten.
»Wir gehen hier entlang.« Heiko dirigierte ihn durch die Große Maingasse. An der Kirche angekommen, zeigte er zur imposanten Fassade und seufzte. »Gerne hätte ich in dieser Basilika geheiratet. Sie soll zu einer der bedeutendsten Kirchenbauten der Karolingerzeit gehören und vor etwa 1200 Jahren erbaut worden sein und ...«
»Junge, was nicht ist, ist nicht«, bremste Michi leicht angesäuert Heikos leidenschaftliche Schwärmerei für historische Bauwerke.
Er selbst bevorzugte den klaren Stil der Neuzeit und hatte absolut kein Interesse an alten Gebäuden, jeglicher Art. Einige Wochen zuvor hatte er sich eine Eigentumswohnung in einem noch im Bau befindlichen Wohngebiet in Heidelbergs aufstrebender Südstadt gesichert. Der Kaufpreis überstieg zwar seine Mittel, aber die Bank zeigte sich im Hinblick auf die Finanzierung äußerst großzügig, als er angab Mitinhaber der Marketing-Agentur Construction & Design KG zu sein.
Im Gegensatz dazu war Heiko nicht begeistert, als er es herausfand und beinahe hysterisch reagierte.
Du benutzt unsere Firma als eine Art Visitenkarte? Das geht so nicht. Bilde dir bloß nicht ein, dass ich, falls etwas schiefgeht, dir deinen Anteil aus dem Betriebsvermögen auszahle. Du kennst die Vereinbarungen, setzte er belehrend mit schulmeisterlich erhobenem Zeigefinger nach.
Natürlich kannte Michi den Vertrag. Er hatte ihn damals Hals über Kopf, wie es seine Art ist, unterschrieben. Wobei er davon ausging, dass Heikos Konzept nicht aufgehen würde und er, bei einer Insolvenz seinen 30-prozentigen Anteil zurückerhielt. Aber nach nur einem Jahr rissen sich namhafte Unternehmen, sogar aus dem Ausland, um eine Zusammenarbeit mit ihrer Firma und Heiko schuftete bis zum Umfallen. Michi machte kaum Überstunden und schon gar nicht am Wochenende, da ging er lieber auf Tour durch Heidelbergs Klubs und Bars.
Anfangs, nach seiner Scheidung, zog Heiko noch mit und trank auch öfter einen über den Durst, bis Svenja auftauchte und ihn wieder auf Kurs brachte, so jedenfalls sah es aus. Dass sie nicht ganz dicht im Oberstübchen war, stellte sich erst eine Weile später heraus. Daraufhin verschanzte Heiko sich noch mehr hinter seiner Arbeit und sein Büro wurde quasi zu seiner zweiten Wohnung. Und nicht nur das, er verlangte, dass sich alle gleichermaßen ins Zeug legten, ganz besonders von ihm, Michi. Aber so hatte er das nicht geplant. Deshalb schlug er Heiko vor, sein Glück bei einer Partnervermittlung zu probieren, wenn er sich schon nicht traute, Auge in Auge einer Frau gegenüberzutreten. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass sein Kompagnon so schnell eine Beziehung einging und sogar heiraten wollte – vor allem so ein Pummelchen. Das war jedoch nicht der ausschlaggebende Grund, weshalb Michi gegenüber der Hochzeit skeptisch eingestellt war.
Vor einigen Tagen fand er zufällig auf Heikos Schreibtisch einen Ehevertrag. Darin stand, dass, falls ihm etwas passieren sollte, seine Geschäftsanteile auf seine zukünftige Frau übergingen.
Zum einen ärgerte sich Michi maßlos, dass Heiko nicht einmal mit ihm darüber gesprochen hatte, zum anderen bedeutete das enormen Stress, falls ihm tatsächlich irgendetwas zustoßen würde. Als Steuerfachangestellte würde Melanie in kurzer Zeit herausfinden, dass einige der Werbeaufträge von ihm manipuliert worden waren, und das durfte keinesfalls passieren!
Und dann hatte er eine Idee, die zwar riskant, aber auch genial war. Trotzdem fröstelte er nun im Rückblick.
»Was ist?«, fragte Heiko, ihn von der Seite anschauend.
»Ach nichts. Na ja – es ist ...«, druckste er herum. »Ich frage mich noch immer, warum diese schnelle Heirat? Du kennst die Frau doch kaum. Ich habe Bedenken, dass dir wieder das Herz gebrochen wird, so wie ..., na du weißt schon.«
»Das wird nicht passieren. Melanie ist nicht so wie ...« Heiko sog geräuschvoll die Luft ein und stieß sie wieder aus. »Sie ist die Richtige, glaub mir, ich weiß es. Ist das der Grund, warum ihr euch noch immer siezt? Das wird sich heute hoffentlich ändern.« Er lachte und klopfte seinem Partner auf die Schulter.
Mittlerweile waren sie wieder in der Palatiumstraße angekommen und im Innenhof des Rathauses wuselten die Leute vom Catering-Service herum und dazwischen gab die hochschwangere Isabell, die Freundin von Melanie, mit geröteten Backen kräftig Anweisungen.
»Ach, du ... eh ... ihr seid schon hier?« Sie hauchte Heiko rechts und links einen Kuss auf die Wange. Michi begrüßte sie mit einem kurzen Händedruck.
»Simon ist oben.« Sie deutete zu der Räumlichkeit über den steinernen Torbögen, in der die Trauung stattfinden würde.
»Du scheuchst hier alle ziemlich durcheinander. Solltest du dich nicht schonen? Nicht, dass uns dein Sohn die Schau stiehlt«, sagte Heiko.
»Keine Sorge. Er ist erst in drei Wochen dran. Und wenn er nach seinem Vater kommt, lässt er sich noch mehr Zeit.« Isabell lachte.
Heiko schmunzelte ebenfalls. Er hatte Simon Breuer, ihren Ehemann, einen erfolgreichen Bauingenieur vor einigen Monaten kennengelernt und sofort stimmte die Chemie zwischen ihnen. Beide hatten ein Faible für altertümliche Gebäude und so war schnell ein Gesprächsthema gefunden.
Genauso könnte es mit seinem zukünftigen Schwiegervater laufen, der sich schon aus beruflichen Gründen mit historischen Häusern befasste. Aber da waren wohl noch einige Hürden zu nehmen.
»Kommst du mit?«, fragte Heiko seinen Kompagnon.
Michi lehnte mit einer Handbewegung ab. »Ich schaue schon mal, was es im Anschluss an die Trauung alles Leckeres gibt.« Mit den Augen folgte er einer zierlichen jungen blonden Frau, die momentan zwei Tabletts balancierend an ihm vorbeihuschte.
»Du bist mein Trauzeuge. Also halte dich zurück; nicht, damit mir Klagen kommen.«
»Bis jetzt hat sich noch keine beklagt«, konterte Michi mit einem breiten Grinsen im Gesicht und folgte der Frau mit ausholenden Schritten. »Darf ich Ihnen das abnehmen?«, hörte Heiko ihn, bevor er selbst die aus dunklem Holz bestehende Treppe, die sich an die Wand des Nachbarhauses schmiegte und zum Trauzimmer führte, nach oben eilte.
Die Hände in den Hosentaschen seines blauen Anzugs versenkt, betrachtete Simon Breuer fasziniert die rustikale Ausstrahlung des Raums. Als er hörte, dass die Tür geöffnet wurde, drehte er sich um. »Ah, der Bräutigam. Beeindruckend meinst du nicht auch?«
»Ich muss gestehen, ich war noch nie zuvor hier«, antwortete Heiko. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass das ›Romanische Haus‹ das älteste weltliche Steinhaus im Landkreis Offenbach sein soll und von 1186 bis 1187 als Wohnhaus im Stil der Romantik errichtet wurde.«
»Jetzt hast du mich noch neugieriger gemacht. Gibt es darüber Fachliteratur?«
»Ich kann mir denken, dass in den Stadtarchiven etwas dazu vermerkt ist. Die befinden sich genau hier gegenüber.« Heiko zeigte durch das Fenster über den Innenhof zum gegenüberliegenden Gebäude. »Wir könnten einen Termin vereinbaren und uns kundig machen.«
»Das müssen wir unbedingt und so bald wie möglich. Du weißt, dass mich alle alten Bauten faszinieren.«
»Kommt ihr? Es geht gleich los?« Heftig schnaufend hielt Isabell sich am Türrahmen fest.
»Oh Gott, ausgerechnet jetzt.« Mit wenigen Schritten war Simon bei seiner Frau. »Wir müssen sofort ins Krankenhaus!«
»Weshalb? Ach so, nein.« Sie lachte. »Unser Nachwuchs ist noch nicht soweit. Er macht sich nur ab und zu durch Tritte bemerkbar. Besonders dann, wenn ich Treppen laufe, wie gerade eben.«
Simon atmete hörbar auf. »Dann solltest du das lassen.«
»Wie soll das gehen? Ich sehe hier keinen Aufzug.« Isabell runzelte die Stirn. »Ich wollte euch nur mitteilen, Melanie ist angekommen und – sie sieht hinreißend aus. Die Trauung beginnt in zehn Minuten.«
Seligenstadt, Donnerstag / 11:45 Uhr
Die Trauungszeremonie verlief letztendlich feierlicher, als Melanie es sich vorgestellt hatte. Sie waren das zweite von insgesamt drei Paaren, die sich an diesem Tag trauten, weshalb sie eher mit einem schnellen Ablauf gerechnet hatte. Aber zur Einleitung erzählte die Standesbeamtin ein wenig über die Räumlichkeiten, in denen sie sich befanden und, dass das ›Romanische Haus‹ Ende der 12. Jahrhunderts erbaut wurde. Zu der Zeit wären Fachwerkhäuser, wie sie in der Altstadt bis zum heutigen Tag zu finden sind, die übliche Bauweise gewesen. Ein Wohnhaus aus Stein hingegen war eine sehr kostspielige Angelegenheit, die sich nur hohe Würdenträger leisten konnten, weshalb die Seligenstädter auch heute noch stolz vom ›Steinernen Haus‹ sprechen. Es hieße, es sei das Amtshaus eines Vogtes von Kaiser Friedrich Barbarossa gewesen.
Melanie kannte die Historie, weil ihr Vater – ein Architekt, dessen Spezialgebiet die Restaurierung von Fachwerkhäusern war – ihr schon in ihrer Kindheit die Geschichte erzählt hatte. Auch wusste sie, dass nach einer aufwendigen Sanierung durch die Stadt 1986 das Gebäude den Denkmalschutzpreis des Landes Hessen erhielt.
Aber Simon, der Mann ihrer Freundin Isabell und Heiko ihr Bräutigam hörten umso aufmerksamer zu. Letzterer war sogar derart mitgerissen, dass er erst mit der Frage: Wollen Sie die hier anwesende Melanie zur Frau nehmen? in die Wirklichkeit zurückfand.
Der Brautvater Peter Steiner runzelte die Stirn und Angelika war auch erst wieder beruhigt, als Heiko ihrer Tochter den goldenen Ehering an den Finger steckte und zusätzlich einen Diamantring.
Hierüber schien auch Melanie überrascht, weil sie wusste, dass es sich um den Ring von Heikos Mutter handelte, die vor fünf Jahren mit Mitte achtzig verstarb, einige Jahre nach seinem Vater.
Merkwürdigerweise vermisste Heiko, wie er jetzt feststellte, seine Eltern heute mehr als bei seiner ersten Heirat. Umso erfreuter war er über die Umarmung seiner Schwiegermutter, die eigentlich wegen Coronanicht hätte sein dürfen, ebenso wie der feste Händedruck seines Schwiegervaters. Dem dazu die Worte: »Wir sollten uns jetzt endlich duzen«, doch etwas schwer über die Lippen kamen.
Nachdem das frisch getraute Paar die Glückwünsche der engsten Angehörigen entgegengenommen hatten stiegen sie die Treppe hinab in den Rathausinnenhof, wo sie von einer größeren Menge an Menschen mit Beifall empfangen wurden.
Zu Melanies Überraschung hatten sich die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen eingefunden und ihr Chef stürmte auch gleich auf sie zu. Er wollte ihr gerade die Hand schütteln, erinnerte sich aber im letzten Moment an die zurzeit geltenden Abstandsregeln. Stattdessen machte er eine leichte Verbeugung und händigte ihr einen Umschlag aus, mit der holprigen Erklärung, dass sich sämtliche Angestellten der Kanzlei beteiligt hätten.
Das hingegen bezweifelte Melanie, bedankte sich aber höflich.
Im Laufe der nächsten halben Stunde wurde das Paar von Nachbarn und Bekannten beglückwünscht und x-mal mussten sie ihre Gläser erheben, bis die Leute allmählich den Innenhof des Rathauses verließen.
Mittlerweile hatten die Mitarbeiter des Catering-Service begonnen ihre Utensilien zu ihrem Transporter, der mit rückseitig offener Tür nun in dem schmalen Durchgang zur Palatiumstraße parkte, einzuräumen.
»Wo steckt der Kerl nur?«, brummte Heiko verärgert und sah sich um. »Wir sollten jetzt langsam losfahren. Ich gehe hoch ins Trauungszimmer. Sucht ihr hier unten.«
»Nein lass mal«, hielt Melanie ihn zurück. »Ich glaube, ich habe meinen Brautstrauß oben vergessen.« Sie raffte ihr Kleid und lief flink die Stufen hinauf, bevor Heiko sie aufhalten konnte. Gleichzeitig hoffte er, dass Michi nicht genau jetzt sich mit der jungen Frau vom Catering-Service dort vergnügte. Andererseits, wenn es so wäre, hatte er es verdient, erwischt zu werden.
Die Tür zu dem Raum, in dem sie ihr Ehegelübde gesprochen hatte, stand offen und Melanie trat vorsichtig ein. Sie hatte angenommen, dass die Standesbeamtin sich für die nächste Trauung vorbereitete, doch niemand war hier. Der Strauß mit weißen und bordeauxfarbigen Rosen lag auf dem Tisch, obwohl sie hätte schwören können, dass sie ihn in der Hand hielt, als sie die Treppe hinuntergegangen war.
Melanie lächelte. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Sie war verheiratet, und zwar mit dem Mann, den sie so lange gesucht und die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte. Jetzt verstand sie den Sinn hinter der Aussage: Der schönste Tag im Leben.
Sie nahm den Strauß und drehte sich mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen ein paar Mal im Kreis bis ihr schwindlig wurde. Als sie ihre Augen wieder öffnete, stand eine Frau vor ihr. Woher kam sie so plötzlich? Obwohl noch leicht schummerig, erkannte sie, es war nicht die Standesbeamtin, aber, dass von der Fremden etwas Bedrohliches ausging.
»Oh! Ich habe Sie nicht gehört. Ich möchte nur meinen Strauß ...« Unsicher hielt sie das Gebinde vor sich, als sie aus den Augenwinkeln das Messer sah.
»Was soll das?«
Wortlos aber mit einem spöttischen Lächeln stach die Frau zu.
Zuerst spürte Melanie nur einen heißen brennenden Schmerz in ihrer Brust, dann in ihrem gesamten Körper. Weitere Stiche in den Bauch erlebte sie eher wie Boxhiebe. Sie krümmte sich, tastete rückseitig zum Tisch, an dem sie vor etwa einer Stunde die Eheurkunde unterschrieben hatte und brach davor zusammen. Neben ihr sauste das Messer auf den Boden und blieb hin und her vibrierend in den Holzdielen stecken.
Die Frau – konturlos und nebelhaft das Gesicht – beugte sich zu ihr herab, griff nach ihrer Hand und entfernte sich wie in Zeitlupe. Melanie versank in Dunkelheit.
Heiko lief den gesamten Innenhof ab und rüttelte an sämtlichen Türen. Alle waren verschlossen. Er wandte sich an einen jungen Mann, der die Stehtische zusammenklappte.
»Ich suche meinen ... eh Freund, etwa Eins-fünfundachtzig groß, schulterlange wellige dunkle Haare. Haben Sie ihn vielleicht gesehen? Nicht, dass er hier aus Versehen eingeschlossen wird«, fügte er schief lächelnd hinzu.
»Hm. Passt auf den Typ, dem eine meiner Angestellten ein Glas Champagner über den Anzug geschüttet hat – versehentlich natürlich.« Das Grinsen im Gesicht des Mannes sprach eher für das Gegenteil. »Er ging Richtung Toilette.« Er deutete auf das Gebäude neben der Einfahrt zur Tiefgarage. »Ob er allerdings noch dort ist ...? Keine Ahnung.«
Minuten später verließ Heiko verärgert das WC und stieß fast mit einer Frau zusammen, die aus der Tür kam auf der »Damen« stand.
»Sorry«, sagte er, doch die Frau eilte stumm den Kopf schüttelnd und den Blick auf das Straßenpflaster geheftet, an ihm vorbei. Heiko sah ihr nach, bis sie um die Ecke in die Römerstraße verschwand und ging zurück zu seinen Schwiegereltern, die sich mit Isabells Eltern unterhielten.
»Wo bleibt dein Freund?«, fragte Peter Steiner brummend, das Wort Freund besonders betonend. »Ich will nicht zu spät kommen. Das macht keinen guten Eindruck.«
Heiko zuckte mit den Schultern. Ihm war es ebenso peinlich. Immer diese Frauengeschichten. Nicht einmal heute konnte er sich zusammenreißen, dachte er.
»Ich habe ihn nicht gefunden. Wenn er in zwei Minuten nicht hier ist, fahren wir ohne ihn.«
In diesem Moment stürmte Michi aus der Tür des Hochzeitszimmers und die Treppen herab.
»Einen Notarzt! Sofort! Es geht um Leben und Tod!«, hörten sie ihn schreien.
Er blickte sich hektisch um und rannte auf Heiko zu.
»Es ist etwas ganz Schlimmes passiert. Melanie ... sie ... Alles ist voller Blut.«
Seligenstadt, Donnerstag / 12:35 Uhr
»Jetzt hot der Steiner Peter nur die oa Dochter un des war so e schee Braut, un dann des.«
Georg Lenz, allerseits bekannt als Schorsch, schüttelte ungläubig den Kopf.
Er und Brigitte kamen während ihres Spaziergangs am Rathausinnenhof vorbei, wo gerade eine Hochzeitsfeier stattfand. Für die beiden eine willkommene Abwechslung, sah man von den Tötungsdelikten ab, die in den letzten Jahren in dem zuvor friedlichen Städtchen zugenommen hatten und an deren Aufklärung sie einen erheblichen Anteil hatten. Zumindest sah Schorsch das so und berichtete in der Seniorenresidenz stolz von ihren Erfolgen.
Britschitt, wie er seine Freundin nannte, kommentierte seine Ausführungen stets bloß mit einem nachsichtigen Lächeln.
»Da bekommt der Satz: Bis, dass der Tod uns scheidet, eine ganz andere Dimension. Die beiden waren nicht mehr als eine Stunde verheiratet«, sagte sie jetzt und: »Carlo und ich hatten, trotz der aufreibenden Arbeit im Weingut und fünf Kindern, wenigstens eine schöne lange Zeit.«
An ihrem ins Nichts gerichteten Blick erkannte Schorsch, dass sie wieder in Erinnerung an ihren verstorbenen Mann Carlo versank und spürte wiederholt ein Unbehagen.
Weder er noch alle anderen damaligen Jungspunde konnten mit dem leidenschaftlichen Chilenen mithalten, in den sich das hübscheste Mädchen der Stadt damals verliebt hatte – vor Jahrzehnten nicht und auch heute noch nicht. Aber, er hatte es zumindest geschafft, dass sie beide jetzt Tür an Tür in der Seniorenresidenz wohnten. Na ja, eigentlich war es nicht direkt sein Verdienst – mehr Zufall, doch das war für Schorsch unbedeutend.
Eine kleine Weile standen sie schweigend nebeneinander, bis er sagte: »Wie is des nur bassiert? Host de ebbes gesehe?«
»Nein. Ich sah nur, dass die Braut die Treppe hochging, zum Trauungssaal. Danach hatte ich alle Mühe, dich von den Schnittchen fernzuhalten.« Brigitte schaute Schorsch streng an.
»Och, des wär doch üwerhaupt net uffgefalle, wenn isch mir do oans stibitzt hätt.«
»Das mag ja sein, aber wir waren nicht eingeladen und zudem ist es eine Straftat«, wies sie ihn zurecht. »Früher nannte man es Mundraub; heute sogar Diebstahl. Außerdem musst du doch noch immer satt sein von den Rouladen, die es heute zum Mittagessen gab.«
»Ja, schon. Endlich hots emol widder was Gescheites zu esse gegewe und net nur Kadoffelbrei un Gelweriewe un so e forztrocke Frikadell dezu. Mer kennt moane, die glaawe, mir hätte all koa Zeh mehr im Mund. Dobei hoab isch mir domols sogar Goldkrone mache losse. Die halte mich aus, bis isch sterb.« Zur Bestätigung zeigte er stolz sein Gebiss und hämmerte mit dem Zeigefinger auf seinen Zähnen herum.
»Mach den Mund zu«, forderte Brigitte und schüttelte den Kopf.
»Isch kennt emol den Josef froache, was der un soi Hilfssheriffs schon rauskrieht hawe.«
»Um Gottes willen! Untersteh dich. Du bleibst schön hier. Außerdem kommt dort die Kriminalpolizei.« Sie machte eine Kopfbewegung hin zu der mit forschem Schritt heraneilende Nicole Wegener und einem ihrer Kollegen.
Das brachte Schorsch dazu, sich schnellstens in die andere Richtung zu drehen.
»Ui, do mache mer uns besser vom Acker. Wir misse ja aach noch de Helene und em Herbert von dem Mordanschlach verzähle.«
Seligenstadt, Donnerstag / 13:10 Uhr
»Ich bin fertig! Tasch, Handy, Geld – alles dabei. Wir könne jetzt los«, sagte Herbert und steckte schon mal den Haustürschlüssel von außen ins Schloss.
»Hast du auch an die Maske gedacht?«, fragte Helene und zog ihre Jacke über.
»Och, muss des sein? Ich krieg kaum Luft unter dem Ding«, murrte er.
»Ja, das muss sein«, erwiderte sie und reichte ihm eine der medizinischen Gesichtsmasken, die auf der Ablage an der Garderobe lagen. »Du hast doch gehört, wie gefährlich dieses Virus ist. Und wenn sich alle an die Vorschriften halten, haben wir die Krise schnell wieder hinter uns.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang«, murmelte Herbert und hoffte, dass sie nicht bald auch noch Ohrstöpsel tragen müssten. Sein Gedankenblitz brachte ihn zum Grinsen.
»Was ist so lustig?«, fragte Helene prompt.
»Och nix.«
»Du schmunzelst über nichts? Mitunter bist du schon ein wenig absonderlich. Muss ich mir Sorgen machen?«
»Musst du nicht. Und nur weil ich mal grinse, bin ich noch lange net absonderlich«, erwiderte er murrend. »Bestenfalls ungewöhnlich und des is nix Schlimmes – im Gegenteil.«
Ihr kleiner Disput wurde durch Rufen ihrer Namen und hektisches Winken von zwei vom Erscheinungsbild mehr als unterschiedlichen Personen unterbrochen.
»Die Brigitte und de Schorsch. Ja, was wolle die jetzt?«, stellte Herbert mehr an sich selbst gerichtet die Frage.
»Gut, dass wir euch noch erwischen.« Nach Luft ringend kam eine große stattliche Frau Anfang der achtzig in einem rotgemusterten Kleid und mit einem bunten Tuch um den Kopf vor ihnen zum Stehen. »Moment, geht gleich wieder.« Sie legte eine Hand auf ihren üppigen Busen und schnaufte tief.
Mittlerweile war Schorsch, schmächtig, mindestens zehn Zentimeter kleiner und glatzköpfig, auch angekommen. »Musst de immer so renne?«, schimpfte er. »Du waaßt doch, dass isch net mehr so gut kann.« Er atmete ebenfalls rasch und unregelmäßig und stützte sich mit gebeugtem Rücken auf seinen Gehstock.
»Ist etwas passiert?«, fragte Helene besorgt, während Herbert brummte: »Was gibts? Wir wolle grad zum Einkaufe.« Er schaute die beiden erwartungsvoll an.
»No ja, isch denk, dass e Leich schon wischtisch is«, antwortete Schorsch.
»Keine Leiche«, berichtigte seine Begleitung sofort. »Gott sei Dank lebt die junge Frau noch.«
»Von was und von wem redet ihr?«, wollte jetzt auch Helene wissen.
»Im ›Romanischen Haus‹ wurde eine Braut kurz nach der Trauung mit einem Messer angegriffen. Stellt euch das mal vor«, erklärte Brigitte.
»Ach, dann sind die dahin gefahre«, brachte Herbert das vor einer halben Stunde unüberhörbare Martinshorn eines Rettungswagens folgerichtig in Bezug. »Aber warum kommt ihr deshalb zu uns?«
»Weil des die Dochter von dem Steiner Peter is. Des is der, der sisch uff die alte Häuser in de Altstadt spezili ... eh ... Wie heest des?« Schorsch suchte Blickkontakt mit Brigitte. Als sie nicht augenblicklich antwortete, winkte er ab. »Was isch saache will: Der guckt, dass die Fachwerkhäuser in de Altstadt widder so uffgebaut wern, wie des von dem histerische Amt vorgeschriewe is.«
»Das historische Amt für Denkmalschutz«, verbesserte Helene.
»Ja genau des moan isch.«
»Peter Steiner ist Berater des Amtes für denkmalgeschützte Häuser«, setzte sie erklärend nach. »Er war oftmals in der Nachbarschaft zur Stelle, wenn es um deren Sanierung ging.«
»Ja, des weiß ich auch«, erwiderte Herbert. »Ich versteh trotzdem net, warum ihr uns des erzählt«, richtete er die Frage hauptsächlich an Schorsch. »Die Braut lebt doch noch. Vielleicht ein Unfall – beim anschneide von der Hochzeitstorte?«