Klosterbrot - Rita Renate Schönig - E-Book

Klosterbrot E-Book

Rita Renate Schönig

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Beschreibung

Am Morgen, nach den historischen Zunft–und Handwerkermarkttagen wird ein junger Mann tot unterhalb der Mühlräder der Klostermühle gefunden. Schnell stellt sich heraus – es war Mord. Wie kommen Bettina und Ferdinand Roth, Bewohner eines der Häuser im Klosterhof der ehemaligen Benediktinerabtei, an den Rucksack des Toten? Was hat ein dubioser Nachtklubbesitzer aus Aschaffenburg mit der Sache zu tun? Inwiefern ist ein Apotheker aus Alzenau in den Fall verwickelt? Fragen, die Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener und ihr Team klären müssen. Parallel dazu stellen Helene und Herbert ihre eigenen Ermittlungen an. Dabei werden sie von Gundel, Sepp und Schorsch, mehr oder weniger hilfreich unterstützt.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Rita Renate Schönig

Klosterbrot

Regionalkrimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt:

Klosterbrot

Sonntag, 22. Mai 2016 / 11:30 Uhr

Montag, 23. Mai 2016 / 07:35 Uhr

Dienstag 24. Mai 2016 / 07:10 Uhr

Mittwoch, 25. Mai 2016 / 09:50

Donnerstag 26. Mai 2016 / 07:30 Uhr

Freitag 27. Mai 2016 / 02:15 Uhr

Samstag 28. Mai 2016 / 28. Mai 2016

Helenes Koch - und Backrezepte

Seligenstädter Ausdrücke zur Weiterbildung:

Impressum neobooks

Inhalt:

3. Fall aus der Krimireihe

Seligenstädter Krimi

von

Rita R. Schönig

Am Morgen, nach den historischen Zunft – und Handwerkermarkttagen wird ein junger Mann tot unterhalb der Mühlräder der Klostermühle gefunden. Schnell stellt sich heraus – es war Mord.

Wie kommen Bettina und Ferdinand Roth, Bewohner des Klosterhofs der ehemaligen Benediktinerabtei, an den Rucksack des Toten? Was hat ein Apotheker aus Alzenau mit der Sache zu tun?

Fragen, die Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener und ihr Team klären müssen.

Erneut stellen Helene und Herbert ihre eigenen Ermittlungen an. Dabei werden sie von Gundel, Sepp und Schorsch, mehr oder weniger hilfreich unterstützt.

Die Autorin:

Rita Renate Schönig

Geboren 1955 in Seligenstadt, verheiratet.

Erlernter Beruf: Industriekauffrau. Bis 1998 tätig in einem mittelständigen Industrieunternehmen (Einkauf)

Von 1998 bis 2015 selbstständig im Einzelhandel.

Seit Juni 2015 eigene Praxis für energetisch therapeutische Behandlungen „Raum der Harmonie“

Autorenstudium von 2002 bis 2006

Klosterbrot

Ein Regionalkrimi mit den typisch urigen Charakteren einer historischen Kleinstadt mit einer Menge Humor. Teils in hessischer Mundart geschrieben und deshalb nicht immer mit der deutschen Rechtschreibung konform.

Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum

Texte © Copyright by

Rita Schönig

Bildmaterialien © Copyright by

Rita Schönig

Mailadresse:

[email protected]

www.rita-schoenig.de

ISBN 978-3-7467-6917-2

Oktober 2018

überarbeitet2021

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert, in einem Abrufsystem gespeichert, in irgendeiner Form elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

Sonntag, 22. Mai 2016 / 11:30 Uhr

„Ja, Schorsch, Gundel, wo bleibt ehr dann? Guckt, do sinn noch Plätz frei.“

Sepp drängte zielstrebig mit seinem Rollator durch die Menschenmassen auf eine Bank zu, die im Schatten der großen Linde stand. Die längst dort sitzenden Leute – Besucher des Zunft - und Handwerkermarktes, auch Auswärtige – bedachte er mit misstrauischem Blick.

Ein erleichtertes „Hach“ ausstoßend, ließ Sepp sich auf die äußerste Kante der Holzbank fallen. Es folgte ein Vibrieren der Sitzgelegenheit sowie eine flüchtige Aufwärtsbewegung derselben. Das entlockte der einzigen Frau, die am anderen Ende auf dieser Seite saß, ein erschrockenes „Huch“.

Sepp nahm es mit einem Grinsen zur Kenntnis. „Isch sitz.“

„Ja, des sehn mer“, erwiderte Schorsch. „Un wie solle mir do jetzt noi komme?“

„Jetzt steh halt nochmal auf. Oder soll ich etwa über die Bank klettern?“, maulte Gundel.

„Solang de net üwer misch kletterst. Ihr misst doch sowieso erst was zu esse hole. Isch halt euch derweil die Plätz frei.“

„Ach, müssen wir?“ Gundel presste die Lippen zusammen, erkannte aber schnell, dass Sepp, aufgrund der groben Bepflasterung des Klosterhofs, sein Essen niemals unfallfrei an den Tisch bringen würde.

„Na gut. Was hätte der Herr denn gerne?“

„E Bratwoscht, Pommes un e Bier“, orderte Sepp.

„Aha. Und was ist mit Cholesterin?“, fragte Gundel, bestens um Sepps Krankheitsbild informiert.

„Derfst de aach mitbringe.“ Er lachte. „Heut lass isch‘s mir gut gehe. Wer waas, wie loang noch. Kannst mir ja später was von doine Hausmittelchen gewe.“

Nachdem Gundel und Schorsch auf der Suche nach einem Bratwurststand unterwegs und aus Sepps Blickfeld entschwunden waren, schaute er sich um.

Ach is des schee. Wie lang war isch schon net bei dem Zunft - und Handwerkermarkt? Misse schon a paar Johr her soi, überlegte er.

Eine Frau in der typischen Seligenstädter Tracht – schwarzer Rock mit am Saum bestickten Klatschmohn, Kornblumen, Margeriten und Ähren, darüber eine rote Schürze – lief lachend an ihm vorbei. Hinter ihr tanzte ein bunt gekleideter Possenreißer. Eine andere weibliche Person, in der Kleidung einer Magd, trug einen Korb mit duftenden Brezeln.

Als gelernter Dachdecker war Sepp früher selbst bei dem Rummel dabei. Mit mittelalterlichem Handwerkszeug hatte er aufmerksamen Besuchern gezeigt wie Schindeln gebrochen wurden um damit ein Hausdach zu decken.

Ob der Stand noch immer do hinne am Ferdi soim Haus is?, sinnierte er nun. Gleich newedroa warn die Schmiede, die die Gäul beschlache hawe. Da muss isch unbedingt nochher hie.

Vor zwei Jahren, als der letzte Zunft - und Handwerkermarkt stattfand, konnte Sepp kaum hundert Schritte laufen. Jetzt fühlte er sich so gut wie nie zuvor.

Des Zeusch von de Gundel is werklisch besser als jede Arznei von dene Dokter. Hoffentlich kimmt die Elfi net irschendwann dahinner.

„Ja Sepp. Was machst denn du hier?“, ertönte eine Stimme hinter seinem Rücken. „Mit dir hätte ich hier jetzt aber nicht gerechnet. Schön, dich zu treffen.“

Sepp sah auf. „Ei, Ferdi. Ja, do guckst de, gell? Mit mir muss mer immer rechne.“ Er lachte spitzbübisch. „Grad hoab isch an disch gedenkt. Komm hock disch e bissje her, bis die annern komme; sinn Esse hole. Wie geht’s euch, dir und doiner Bettina?“

„Ach, soweit geht es uns gut. Die Zipperlein, die im Alter kommen, gehen auch wieder. Man muss halt geduldiger sein.“

„Wem seechst de des? Bin letzt Johr 90 geworde. Da is mer halt koan Jungspund mehr.“

„Trotzdem finde ich es gut, dass du dich nicht hängen lässt. Ich habe dich neulich bei den Kräuterbeeten gesehen und dir nachgerufen. Hast mich aber wahrscheinlich nicht gehört. Und bis ich hinkam, warst du, flink wie ein Wiesel, schon wieder weg.“

Ferdinand Roth lachte und schlug Sepp auf die Schulter.

Der erschrak. „Bei de Kräuterbeete?“

„Ja, dich und den Schorsch, erst letzte Woche.“

„Ach so, ja dort. Des ist unser Runde. Dorch en Klostergadde un dann widder üwern Kercheplatz zurick.“

„Tach, Ferdi“. Schorsch stellte ein Getränkekörbchen auf den Tisch. Hinter ihm trippelte Gundel heran.

„Guckt amol, wen ich getroffe hab“, sagte Sepp erleichtert, dem Thema Kräuterbeete keine weitere Aufmerksamkeit widmen zu müssen.

„Ach, ich dachte du wärst mit deiner Tochter der Elfi hier und mit deinem Schwiegersohn.“ Ferdi erhob sich rasch und streckte Schorsch die Hand entgegen. „Schön, dich zu sehen.“

Gundel hingegen wurde von Ferdinand Roth nur mit einem kurzen Kopfnicken bedacht.

„Also, ich muss dann auch wieder. Ich guck mich mal nach unserem Mittagessen um. Erspart der Bettina heute das Kochen. Bestimmt wartet sie schon.“

„Ja mach des“, äußerte Sepp. „Des biet sich ja aach o bei euch. Habt ja nur riwer zu spucke.“

Ferdinand Roth nickte und weg war er.

„Na, der hatts awer jetzt eilisch“, bemerkte Schorsch. „Ja, jetzt steh halt amol uf“, forderte er Sepp auf.

Unterdessen hatte Gundel das Tablett, das sie bei einem der Essensstände ausgeliehen hatte, auf dem Tisch abgestellt. Sepp schielte auf die kulinarischen Köstlichkeiten, die sie mitgebracht hatte.

„Ach, is des e Mattebrot?“

„Ja, Klosterbrot, einmal mit Quark und Schnittlauch und einmal mit Quark und Salz.“

„Un des sinn die Selischstädter Pfannekuche.“ Schorsch deutete auf seinen Teller.

„Ja, des tät ich aach esse.“

„Nix da.“ Gundel klopfte Sepp auf die Finger, die direkt den Weg zu ihrem Brot einschlugen.

„Du wolltest Bratwurst mit Pommes und die isst du auch jetzt.“

„Mer kennt ja nachher noch amol zu dem Stand mit dem Klosterbrot gehe“, meinte der und fuhr sich bei dem Gedanken mit der Zunge über die Lippen. „De Daach is ja noch lang. Außerdem will ich unbedingt noch zu dene Dachdecker. Stehn die eischentlich noch do hinne, vorm Haus vom Ferdi? Hab ich jetzt glatt vergesse, den danach zu froache.“

Sonntag / 21:25 Uhr

Das hier hatte so rein gar nichts mit einem normalen Bruch zu tun. In seiner noch frischen, etwa sechsmonatigen Laufbahn als Einbrecher, stieg er gewöhnlich in Häuser von wohlhabenden Bürgern ein und bediente sich der Dinge, von denen er dachte, dass sie wertvoll sein könnten.

Sebastian mochte es ganz bestimmt nicht in die Privatsphäre anderer Leute einzudringen. Aber er hatte Schulden und keine Wahl. Zudem stand die Sicherheit seiner Freundin auf dem Spiel. Sollte er sich weigern, wäre Charlene dran, drohte der Boss. In seinen verschiedenen Nachtlokalen fände sich genügend Arbeit für ein junges Mädchen. Was diese Arbeit bedeutete – er wollte es sich nicht vorstellen.

Folglich nutzte Sebastian seine natürliche Begabung. Schlösser zu knacken war für ihn stets ein Kinderspiel. Er entwickelte sich fast zum Profi. Aber dann wurde er leichtsinnig und der Apotheker erwischte ihn. Noch immer spürte er die kräftige Pranke in seinem Nacken. Doch anstatt ihn den Bullen zum Fraß vorzuwerfen, schlug er einen Deal vor.

Jetzt war er in einem Spezialauftrag für den alten Knacker unterwegs. Zugegeben, die Entlohnung war fürstlich. Ein großzügiges Entgelt für einen vergleichsweise leichten Einbruch. Einzig auf die beiden Wachleute musste er ein Auge haben. Aber er kannte deren Gewohnheiten. Er war selbst jahrelang bei der Truppe, bis er entlassen wurde.

Trotz eines angeborenen Herzfehlers war Sebastian sportlich fit und die mannshohe Mauer, die den Klostergarten vom sogenannten Katzenhöfchen trennte, war für ihn ein Kinderspiel.

Ebenso stellte das Türschloss zur Klosterapotheke kein großes Hindernis dar. In null Komma nix hatte er es geknackt. Jetzt war er in einem rechteckigen Raum, an dessen Ende ein massiver Tresen aus Holz stand, dahinter ein fast deckenhohes Regal bestückt mit diversen Töpfen in unterschiedlicher Größe. Rechtsseitig sah er drei weitere kleinere Kammern. Durch etwa 80 Zentimeter hohe Glasscheiben zwischen den Türrahmen waren sie für Besucher als nicht zugänglich gekennzeichnet.

Im einem der Räume reichte eine altmodische Schrankwand aus Schubfächern bis unter die Decke. Der andere ähnelte mit seiner steinernen Kochstelle und dem Kaminabzug darüber fast einer Küche. Daneben befanden sich allerlei Schöpflöffel und jede Menge Becher und Schalen. Alter Krimskrams, der Sebastian absolut nicht interessierte. In den dritten Raum schaute er gar nicht erst hinein. Er widmete sich seiner eigentlichen Aufgabe, der Glasvitrine und dem Exemplar seiner Begierde – vielmehr das seines Auftraggebers.

Für einen kurzen Moment überlegte er, das Glas einfach einzuschlagen, verwarf diesen Gedanken aber schnell. Erstens würde es Lärm verursachen, zweitens wollte er die Vitrine wieder so verschließen, als wäre nichts passiert – Ganoven-Ehre. Außerdem hatte er genügend Zeit. Die Übergabe sollte um 23 Uhr an der Orangerie sein. Jetzt war es zwanzig Minuten nach zehn. Warum der Alte selbst hierherkommen wollte, hatte Sebastian gefragt. Er hätte den Wälzer auch in die Villa bringen können.

Weil ich es so will, war die Antwort.

Nach drei Versuchen gab das Schloss der Vitrine auf. Die Auswahl war begrenzt, wie er zuvor schon festgestellt hatte. Zwei antike Schwarten, sowie ein dünneres Exemplar. Trotzdem holte er den Zettel aus seiner Jackentasche. CAZOPHYLACIUM - Medico-Physicum. Nur diesen einen alten Schinken sollte er mitgehen lassen, sonst nichts. Sebastian steckte den Wälzer – er war schwerer als vermutet – in seinen schwarzen Rucksack und verschloss die Vitrine wieder.

Draußen war ein leichtes Grollen zu hören. Ausgerechnet heute hatte die Wettervorhersage einmal recht. Verdammter Mist!

So unauffällig, wie er gekommen war, verließ er die Räumlichkeit und setzte mit einem gekonnten Sprung über die Mauer. Die ersten dicken Tropfen fielen. Sekunden später schüttete es wie aus Eimern. Er schaute sich um. Die Bretterbuden der Aussteller wären eine Möglichkeit sich vor dem Platzregen zu schützen. Wenn nicht schon seine ehemaligen Kollegen von der Security-Firma auf die gleiche Idee gekommen waren. Er musste also vorsichtig sein.

Sein Handy vibrierte in seiner Hosentasche. KLOSTERMÜHLE – SOFORT, lautete die SMS.

Klostermühle? Wieso jetzt schon und warum dort? Der Treffpunkt war doch die Orangerie.

Dicht an der Hauswand, rannte er am Eingang der Klosterverwaltung vorbei, spähte um die Ecke und hastete im Schatten der Holzhütten zu der riesigen Linde mitten auf dem Gelände. Ihre, um diese Jahreszeit belaubten und tief nach unten hängenden Äste, boten ebenfalls Schutz vor der Nässe.

Er spurtete weiter, rutschte aber aus und schlug hart auf dem groben holprigen Kopfsteinpflaster auf. Der Rucksack flog in hohem Bogen über die Mauer vor den Zugang des bewohnten Teils der Klostermühle. Nach einer Schrecksekunde rappelte Sebastian sich auf und humpelte zum überdachten Eingang der Mühle. Schnaufend lehnte er sich gegen die Wand.

Zeitgleich löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit. Eine Gestalt, gekleidet mit einem langen dunklen Kapuzenmantel stand, wie dem Erdboden entsprungen, plötzlich vor ihm; riesig, bedrohlich und – ein Blitz zuckte durch den schwarzen Nachthimmel – ohne Gesicht.

Genauso einer sitzt oben in einem der Räume, erinnerte sich Sebastian an einen kurzen Besuch, irgendwann vor einem Jahr, in der ehemaligen Klosterabtei.

In seinem Kopf pochte es und es rauschte in seinen Ohren. Er fasste sich an seine linke Brust. Sein Herz raste.

Was zum Teufel geht hier …?

Er spürte noch die Hand an seinem Hals und schnappte nach Luft. Erfolglos. Der Druck wurde heftiger und ihm schwindelig.

Den Sturz über die Mauer in die Mühlräder bekam er nur noch halbwegs mit. Sein letzter Gedanke galt der Gestalt ohne Gesicht. Seine Frage: Warum blieb unbeantwortet.

Sonntag / 22:10 Uhr

Endlich war Ferdinand eingeschlafen. Leise und unbemerkt verließ sie das Haus. Erste Tropfen fielen aus den Wolken, die schnell am noch nicht ganz dunklen Nachthimmel aufzogen. Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören. Trotzdem huschte Bettina zu der großen Linde gegenüber. Unter den schützenden Ästen des alten Baumes war sie geborgen und fühlte sich gleichzeitig frei. Hier konnte sie atmen und ihren Gedanken nachhängen, ohne ständig von Ferdinand beobachtet oder umsorgt zu werden.

Sicher meinte er es gut und sie hätte sich keinen verständnisvolleren Ehemann wünschen können, gerade damals, als sie nach den Fehlgeburten in diese tiefe Depression fiel. Aber in den letzten Jahren drohte sie an seiner Fürsorge, die schon fast einer Bevormundung gleichkam, zu ersticken.

Wann immer sie konnte, lief sie deshalb in der Nacht im Klosterhof umher oder saß versteckt hinter der Mauer, die zum Eingangsbereich des bewohnten Teils der Klostermühle führte; oder auch wie jetzt, zu dem großen Baum. Sie kannte alle Möglichkeiten, sich neugierigen Augen zu entziehen. Selbst Ferdinand fand sie nicht, wenn sie nicht wollte.

Was war das?

Bettina hatte etwas gesehen, was eigentlich nicht sein konnte. Sie zwickte sich in den Arm. Nein, sie träumte nicht. Keine zehn Meter von ihr entfernt, huschte der schwarze Mönch über den Klosterhof.

Natürlich wusste sie, dass es sich nur um eine gruselige Geschichte handelte, die Eltern im Mittelalter vermutlich ihren Kindern erzählten, damit diese sich nicht nach Einbruch der Dunkelheit in der Stadt herumtrieben.

Warum läuft jemand in einer solchen Verkleidung über den Klosterhof?, fragte sie sich, während sie sich hinter ihrer Linde versteckte. Gehört derjenige zu den Ausstellern, die sich in historischen Gewändern unters Volk gemischt hatten? Oder machen sich die Burschen, die die Buden und Zelte der bewachen sollen, einen Scherz?

Bettina schüttelte den Gedanken ab. Sie hatte die beiden von der Firma, die für die Sicherheit beauftragt worden war, beobachtet. Sobald die ersten Regentropfen fielen, hatten sie sich in den Durchgang zum Katzenhöfchen verkrochen. Außerdem sind die Burschen nicht annähernd so groß wie dieser Hüne.

Sie tastete sich hinter dem dicken Stamm entlang – jede Vertiefung in der Borke war ihr mittlerweile vertraut – und wagte einen Blick.

Die schwarz gekleidete Gestalt huschte unter die Überdachung des Eingangs der Mühle und verschmolz umgehend mit der Dunkelheit. Nur Sekunden später löste sich vom Verwaltungsgebäude der Klosteranlage ein weiterer Schatten. In geduckter Haltung lief er direkt auf Bettina zu. Sie drückte sich noch enger an ihren Baum, wäre am liebsten in ihn hineingekrochen.

Was ist hier los, heute Nacht?

Der Mann, klein und schlank, wie sie jetzt erkannte, stoppte an der anderen Seite des Stammes, nur einen halben Meter von ihr entfernt. Dann rannte er weiter in Richtung der Mühle. Doch plötzlich schlitterte auf dem nassen Pflaster, stolperte und fiel. Der Rucksack, den er über seine Schulter geworfen hatte, entglitt seinen Händen, flog durch die Luft bis hinter die Mauer, zum Wohnbereich der Mühle.

Er rappelte sich wieder auf und humpelte weiter. Kaum, dass der Mann die schützende Überdachung an den Mühlrädern erreicht hatte, zerteilte ein Blitz die Nacht. Im gleißend hellen Licht sah Bettina, wie sich eine Hand aus der Dunkelheit heraus um dessen Hals legte. Einen Augenblick später war es zappenduster und von den Gestalten nichts mehr zu sehen. Nur ein Geräusch, wie wenn ein prall gefüllter Sack Korn ins Wasser fällt, durchdrang die Stille.

Doch Bettina wusste instinktiv, es war ein Mensch, der jetzt zwischen den Mühlrädern lag, während der Mann im Mönchsgewand über den Hof eilte und aus ihrem Blickfeld verschwand. Gerade wollte sie die Sicherheit des Baums verlassen, als er erneut auftauchte und zur Mühle huschte. Oder war es ein anderer, ebenso hünenhafter Mensch? Sie war sich unsicher.

Eine ganze Weile trieb sich die Gestalt dort herum und schien nach etwas zu suchen. Jetzt blitzte und donnerte es in immer kürzeren Abständen. Bettina beobachtete, wie der Hüne zum Tor rannte, das zur Aschaffenburger Straße hinausging.

Trotz ihrer Heidenangst, die sie mehr zittern ließ als ihre durchnässte Kleidung, eilte sie zur Klostermühle. Jetzt wollte sie wissen, was sich in dem Rucksack befand, für das es sich vermutlich zu morden lohnte.

In dem Augenblick, als er seinen Wagen starten wollte, rannte ein großer und kräftig gebauter Kerl aus dem Tor, durch das er keine fünf Minuten zuvor selbst gekommen war. Reflexartig duckte er sich tiefer in die Polsterung – obwohl sinnlos. In Statur und Volumen stand er dem Mann in nichts nach, der an der Klostermauer entlang eilte. Trotz der schwachen Straßenbeleuchtung erkannte er ihn.

Hat der mich gesehen? Selbst wenn – in der Verkleidung konnte er mich nicht erkennen.

Ein Blick zur Rückbank beruhigte ihn. Dort lag die schwarze Kutte, nass und zerknittert. Er betätigte den Anlasser, rollte langsam die Aschaffenburger Straße hinunter und bog in die Bahnhofstraße ein.

Montag, 23. Mai 2016 / 07:35 Uhr

Ferdinand Roth trat aus seinem Haus, blickte in den grau verhangenen Himmel und gähnte. Er hatte das Gefühl höchstens vier Stunden geschlafen zu haben. Zumindest regnete es nicht mehr. Wieder einmal, ging es dem 68-Jährigen durch den Kopf, war der Wettergott den Betreibern des alle zwei Jahre stattfindenden Zunft - und Handwerkermarktes, gewogen gewesen.

Bei angenehmen 24 Grad hatten die Leute ihr Handwerk den interessierten Gästen präsentieren können. Jetzt standen die Buden, Zelte und Gerätschaften, die im Laufe des Tages abgebaut und wegtransportiert werden sollten, in der Nässe.

Als alteingesessener Bürger liebte Ferdinand sein Seligenstadt über alles; ebenso die Festivitäten, die in regelmäßigen Abständen stattfanden. Trotzdem freute er sich darauf, dass spätestens heute Abend wieder Ruhe im Klosterhof einkehrte. Allein schon wegen seiner Bettina, die häufig nachts aus dem Haus huschte und im Hof herumschlich.

Zwei Fehlgeburten in den ersten Jahren ihrer über nunmehr 45-jährigen Ehe führten bei ihr zu Schlafstörungen und riefen sogar später eine Depression hervor und er versuchte alles um Bettinas Krankheit geheim zu halten. Mit den entsprechenden Arzneimitteln aus einer Apotheke in Alzenau, besserte sich ihr Zustand im Laufe der Jahre tatsächlich; worüber sich keiner mehr freute als er. Dennoch galt sein Interesse in letzter Zeit gleichermaßen den alternativen Heilungsmethoden mit weit weniger Nebenwirkungen. Aber, auch wenn die Wirksamkeit von pflanzlichen Medikamenten von verschiedenen Personen bestätigt wurde, käme es ihm niemals in den Sinn, im Internet derartige Präparate zu bestellen. Deshalb fasste Ferdinand sich vor einigen Wochen ein Herz und sprach den Apotheker an.

Zu seinem Erstaunen war dieser hocherfreut über das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde und versicherte ihm, sich darum zu kümmern, bat nur um etwas Zeit. Um Bettina nicht unnötig aufzuregen, erzählte Ferdinand ihr vorerst nichts von diesem Gespräch, freute sich aber jetzt schon, sie damit überraschen zu dürfen.

Noch müde aufgrund des Schlafmangels trottete er am Parkplatz vorbei, der linksseitig an die Klostermühle grenzte. Ein weiterer Vorteil, gegenüber den knappen Parkmöglichkeiten in der gesamten Altstadt. Genauso, wie die kurzen Wege zu Geschäften, die zur Grundversorgung nötig waren, wie die Bäckerei, die er vorhatte jetzt aufzusuchen.

„Ferdi, Ferdi!“ Seine Nachbarin Klara Kuhn – eine kleine mollige Frau von 1,56 Meter – prallte beinahe gegen ihn. „Du glaubst nicht was passiert ist. Da … da liegt einer im Mühlrad. Ich glaube der ist tot.“ Sie japste nach Luft und schaute zu dem fast 1,90 großen Hünen auf.

Noch bevor Ferdinand reagieren konnte, tauchte Hans Wilke der Gärtner der Klosteranlage mit seinem Gehilfen auf. Seit drei Jahrzehnten war der 56-jährige Landschaftspfleger für die floristische Gestaltung sowie für die Nutzgartenfläche der ehemaligen Benediktinerabtei verantwortlich, die ihrerseits unter der Verwaltung der staatlichen Schlösser und Gärten stand.

„Morgen Ferdi. Da liegt einer zwischen den Mühlrädern. Ich glaube der ist tot. Ich habe gerade die Polizei verständigt.“

„Wie kann denn so etwas passieren?“, fragte Ferdinand, immer noch nicht begreifend, was ihm mitgeteilt wurde. „Da kann doch keiner so einfach reinfallen.“

„Vielleicht besoffen“, mutmaßte der Gärtnergehilfe, ein stämmiger und muskulöser, 20-jähriger Bursche mit schwarzen kurzen Haaren und stechenden dunklen Augen.

Hans Wilke warf ihm einen Du-musst-es-ja-wissen-Blick zu. Er wurde mit diesem Jungspund einfach nicht warm.

Der Junge ist unzuverlässig, kommt ständig zu spät, hat keinen Zugang zur Gärtnertätigkeit und trinkt, äußerte er sich vor einiger Zeit gegenüber Ferdinand.

Klara Kuhn zog ihre Strickjacke enger um ihren Körper. „Also, ich geh‘ jetzt wieder ins Haus. Ist doch recht frisch geworden, nach dem Gewitter heute Nacht. Ich bin kurz vor elf aufgewacht. Danach habe ich kaum mehr ein Auge zugetan. Zum Glück war die Wasserzufuhr seit gestern Abend abgestellt“, äußerte sie – für Ferdinand Roth und Hans Wilke vorerst zusammenhanglos – und deutete auf die Mühlräder. „Sonst wäre der Ärmste im wahrsten Sinne des Wortes vielleicht auch noch zerquetscht worden. Wenn ihr mich fragt, ist der künstliche Wasserzulauf sowieso die reinste Energieverschwendung.“

Auf Zustimmung hoffend blickte sie zu Hans Wilke. Der zuckte nur mit den Schultern. Das war nicht seine Sache. Er wusste aber, worauf die Anwohnerin anspielte und sich immer mal wieder wegen des Geräuschpegels darüber beschwerte. Der kleine Bachlauf, es war eigentlich nur ein Rinnsal, konnte die Mühlräder aus eigener Kraft nicht bewegen. Deshalb wurde eine zusätzliche Pumpe eingesetzt, um Wasser aus der benachbarten Zisterne in den Zulauf zu leiten.

„Naja, ihr wisst ja, wo ich zu finden bin, falls die Polizei fragt.“ Klara Kuhn eilte auf ihr Haus zu und Ferdinand Roth um die etwa 20 Zentimeter hohe ummauerte Einfassung des Bachlaufs herum.

Es hätte ihn nicht im Geringsten gewundert, wenn da einer drüber gestolpert wäre, aber über die Mauer in die Mühlräder? Er schüttelte verständnislos den Kopf und beugte sich über die höchste Stelle, der in Abstufungen gebauten Sandsteinmauer.

Herr im Himmel entfuhr es ihm. Vor dem Ersten, der insgesamt drei Mühlenräder lag, in grotesker Position, mit dem Gesicht nach unten, eine männliche Gestalt.

Sofort machte sich ein Gedanke in Ferdinands Kopf breit. Hatte Bettina etwas damit zu tun?

Vergangene Nacht hatte er nicht aufgepasst. Er war einfach auf der Couch eingeschlafen. Später fand er Bettinas nasse Kleidung auf dem Boden im Badezimmer.

Nein, ganz bestimmt nicht, versuchte er sich selbst zu beruhigen.

„Kennst du den Mann?“, fragte Hans Wilke.

„Woher sollte ich den kennen?“, antwortete Ferdinand hastig und strich mit einer Hand über seinen fast kahlen Kopf. Von seinem früher vollen dunklen Haar war nur ein flaumiger Kranz übrig. „Außerdem liegt der mit dem Gesicht nach unten.“

„Hätte doch sein können“, brummte der Gärtner.

„Wo sind eigentlich die jungen Männer, die den ganzen Kram hier bewachen sollen?“

„Die stehen dort.“ Hans Wilke zeigte zur Rotkastanie gegenüber der Klostermühle. „Sie haben den Mann gefunden, gerade als wir hier ankamen.“

„Gefunden?“ Ferdinand Roth runzelte die Stirn. „Hätten vielleicht mal besser aufpassen sollen. Beobachtet haben die sonst nichts?“, fragte er zögernd.

Hans Wilke zuckte erneut mit den Schultern. „Frag‘ sie.“

Ferdi überlegte einen kurzen Moment, entschied sich aber dagegen.

Montag / 08:05 Uhr

Josef Maier, seit einigen Monaten Polizeihauptkommissar und Dienststellenleiter der Polizeistation Seligenstadt, schaute, wie zuvor Ferdinand Roth über die Ummauerung.

Betrunken, gestürzt? Ein Unfall? Oder absichtlich gestoßen? – überlegte auch er.Dann ließ er seinen Blick weiter über den Klosterhof gleiten und blieb an den jungen Männern haften, die jetzt auf der Bank unter dem Kastanienbaum saßen.

„Sind das die Leute von der Security?“, wurde Hans Wilke, zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde, gefragt.

Der nickte. „Sie haben den Mann gefunden und stehen noch immer mächtig unter Schock.“

In Windeseile hatte sich der Leichenfund herumgesprochen, und nicht nur bei den Bewohnern der Klosteranlage. Aus der Altstadt drängten zahlreiche Schaulustige durch das kleine Tor, neben dem Klostertorportal in den Klosterhof. Weshalb Josef Maier seine Kollegen anhielt, die Leute vom Gelände zu entfernen und den Ort des Geschehens durch ein rot-weißes Flatterband abzusperren.

Und, als wäre das nicht genug, verlangten nun auch die Aussteller Einlass, um ihre Stände abzubauen und ihre Siebensachen aufzuladen. Kleintransporter und Wagen mit Anhängern schoben sich Zentimeter für Zentimeter dichter vor dem schmiedeeisernen Klostertor.

Der 59-jährige Polizeihauptkommissar seufzte. Rudelbildung. Auch das noch.

Er schritt auf die Meute zu und drückte sich, seinen gewaltigen Bauch vorausschickend, durch die seitliche Pforte und damit die, von der Polizeiaktion noch immer nicht beeindruckten Personen, auf den Freihofplatz zurück. Wie von ihm vorausgeahnt kam es dort schon zu unschönen Wortgefechten, sowohl unter Fahrzeugführern als auch den neugierigen Fußgängern, die sich zwischen den Fahrzeugen durchschlängelten.

Beide Hände erhoben, brüllte er: „Den Platz räumen. Sofort!“ Für einen Sekundenbruchteil herrschte Stille. Danach hob das Gezeter umso heftiger an und Maier wurde von allen Seiten verbal, wie auch körperlich bedrängt. „Leute, so seid doch vernünftig“, versuchte er es erneut.

„Komm da weg. Die fahrn dich glatt übern Haufe oder lynche dich“, schrie Herbert Walter ihm ins Ohr und zog den Polizeichef aus der Gefahrenzone zu Helene, die vergleichsweise sicher vom Bürgersteig aus den Aufruhr beobachtete.

„Hier darf keiner rein“, fuhr Maier die beiden schärfer an, als er eigentlich wollte. „Auch ihr nicht.“

„In der Klostermühle wär e Leiche gefunde worde? Stimmt des, Josef?“

Der Polizeihauptkommissar nickte. „Deshalb dürft ihr da jetzt nicht rein“, wiederholte er. „Wir haben alles abgesperrt und warten auf die Spurensicherung und auf die Kollegen der Kriminalwache.“

„Weiß man denn schon wer es ist?“, erkundigte sich Helene.

„Ja, wie denn? Der Mann liegt mit dem Gesicht nach unten vor dem Mühlrad.“

„Ach. Dass es ein Mann ist, steht aber schon mal fest?“, bohrte Herbert weiter.

„Sieht auf den ersten Blick so aus“, murmelte Maier.

„So ein Unglück aber auch“, sagte Helene. „Gestern waren alle noch so fröhlich und jetzt ...“

„Ach ja, hatte ich fast vergessen“, wurde sie von Josef Maier unterbrochen. „Bis vor ein paar Jahren, warst du auch dabei. Hast geholfen die berühmten Seligenstädter Pfannkuchen zu backen.“

„Ja, was is jetzt?“, schrie einer der Fahrer aus dem geöffneten Seitenfenster seines Autos. „Könnt ihr euer Kaffeekränzje net woannerst halte?“

„Des ist auch heut‘ noch eins von Helenes Spezialitäten“, bestätigte Herbert. Gleichzeitig machte er eine abfällige Geste in die Richtung des Quenglers. „Vielleicht war’s ja einfach nur en Unfall“, brachte er das Gespräch wieder auf den Toten zurück. „Betrunke und über die Mauer gefalle.“

„Möglich. Jetzt muss ich mich erst mal darum kümmern.“ Josef Maier deutete zu der aufgebrachten Menschenmenge. „Du siehst ja, was hier los ist. Man mag nicht glauben, dass es sich um erwachsene Leute handelt.“

„Wart‘ des habe wir gleich“, sagte Herbert und rief laut in die Menge. „Leut‘, so geht des jetzt aber net. Wir wolle doch net, dass noch einer unter die Räder kommt, oder? Die Fußgänger gehe jetzt mal da rüber und setze sich dort hin.“ Er zeigte auf die Bestuhlung der nahen Gaststätten. „Dann seid ihr schon mal aus em Weg und unser Polizei kann des Durcheinander auflöse.“

Unter vernehmbarem Protest befolgten die Leute tatsächlich Herberts Anweisungen. Josef Maier staunte. Im Anschluss gelang es ihm, den Ausstellern klarzumachen, dass ein Abbau Ihrer Hütten sowie die Abholung ihrer Habseligkeiten zum jetzigen Zeitpunkt nicht machbar ist. Auf die zwangsläufig folgende Frage, wann die Zufahrt zum Klosterhof wieder möglich wäre, zuckte der Polizeihauptkommissar mit den Schultern. „Vielleicht heute Nachmittag – vielleicht auch erst heute Abend.“

Die Reaktion war entsprechend griesgrämig. Immerhin gab es beim Rangieren und Abfahren keinen Blechschaden oder Schlimmeres. Allein dafür war Maier schon dankbar und nickte Herbert zu.

Aus dem Kronengässchen heraus beobachtete ein großer und kräftiger Mann in einem hellgrauen Anzug das Treiben. Seinen ebenfalls grauen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen.

Kaum war er heute Morgen erwacht, nach weniger als drei Stunden Schlaf, hatte er nur einen Gedanken im Kopf. Ich muss herausfinden, wieso das schiefgegangen ist und was überhaupt passiert ist.Und, wer zum Teufel war der Kerl in der seltsamen Verkleidung und warum hatte der den König angegriffen?

Nachdem er mehrmals in der Nacht und auch heute Morgen erfolglos versucht hatte die Nummer des Prepaid-Handys, die er auf einen Zettel aufgeschrieben hatte, zu erreichen, machte er sich erneut auf den Weg nach Seligenstadt. Etwa um 8 Uhr 30 parkte er seinen schwarzen Citroën auf dem Parkdeck am Kloster ... gegenüber dem Friedhof. Die kurze Strecke zum Klosterhof legte er schnell zurück. Schon am Tor zur Aschaffenburger Straße erkannte er, dass dort etwas nicht stimmte. Er ging weiter zum Freihofplatz. Auch hier herrschte Chaos. Und, wie er hörte, gab es eine Leiche.

Also doch. Sebastian König war tot. Aber wo befindet sich das Exponat? Bei der Polizei?

Was sollte er jetzt tun?

Montag / 08:55 Uhr

Gerade als auf der Straße wieder Normalzustand herrschte, traf der Rettungswagen ein und dahinter zwei Fahrzeuge der Kriminalwache. Josef Maier öffnete eigenhändig das Klosterportal, dirigierte die Kollegen zum Tatort und schloss das Tor sofort wieder.

Herbert und Helene hatte er zwischenzeitlich aus den Augen verloren, wunderte sich aber nicht im Geringsten, als er die beiden zusammen mit Ferdinand Roth, nahe der Mühle stehen sah.

„Du hast eine Wasserleiche, Josef?“, wandte sich der Kriminaltechniker, kaum aus dem Fahrzeug gesprungen, an Josef Maier.

„So ist es, Kai.“

„Wo?“

„Dort unten, am Mühlenrad.“

Kriminaloberkommissar Kai Schmitt schaute über die Mauer. „Ach du Schande. Das wird eng. Kein Wunder, dass du auf uns gewartet hast.“ Er schmunzelte und schielte auf Josef Maiers Bauchumfang. „Aber ich denke, das geht ohne die Feuerwehr; wir kriegen das alleine hin.

Lutz“, rief er seinem Kollegen zu. „Wir brauchen eine Leiter.“ Gleichzeitig schoss er die ersten Aufnahmen aus der Vogelperspektive.

„Was machen die hier?“, wandte er sich erneut an Maier. Seine Frage betraf Ferdinand, Helene und Herbert. „Zivilisten am Tatort – nicht gut.“

„Ich wohne hier“, antwortete Ferdinand Roth geschwind.

„Und wir wollte ihn grad mal besuche“, sprang Herbert auf den Wagen auf. „Aber wir gehe auch jetzt gleich wieder. Wir wolle ja keine Spur ‘n vernichte.“

„Und wir gucke auch gern Krimis, was?“, konterte Kai Schmitt und zog eine Grimasse.

…und mischen uns auch gerne mal in die Polizeiarbeit ein, fügte Josef Maier gedanklich hinzu.

Der Mord an der jungen Frau, die letztes Jahr in der Noth Gottes Kapelle gefunden wurde sowie die Festsetzung deren Freund – eines kleinen Drogendealers – durch Herbert und Helene, waren ihm noch gut parat. Ebenso die Sache mit den Leichenfunden einige Jahre zuvor.

„Hallo Lutz“, grüßte Maier Kommissar Berger. Er kam mit der Leiter unter dem Arm an.

„Dann lass ich euch mal arbeiten.“

Mit weitausholenden Schritten ging der Polizeihauptkommissar jetzt auf die Security-Leute zu. Die saßen noch immer, die Kapuzen ihrer Jacken über den Kopf gezogen wie die sprichwörtlichen begossenen Pudel unter der Kastanie.

„So, und nun zu Ihnen meine Herren. Wie kommt es, dass Sie von dem Vorfall nichts bemerkt haben? Sie sind doch für die Sicherheit hier verantwortlich?“

„Wir sind für die Buden verantwortlich“, antwortete einer der beiden lapidar.

„Und genau das haben wir getan, die ganze Nacht“, bekräftigte der andere.

„Aha. Bedeutet, wenn einer über die Mauer ins Mühlenrad fällt, gehört das nicht mehr zu eurem Aufgabengebiet? Oder wie soll ich das verstehen?“

„Nein … eh, doch …“, stotterte der Zweite. „Muss passiert sein, als wir am anderen Ende waren.“

„Der Hof ist auch sehr groß. Da kann man schon das eine oder andere übersehen“, entgegnete Maier spitz. Er bemerkte, wie ihm die Galle hochkam. „Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich?“, schnauzte er die jungen Männer lauter als beabsichtigt an.

Die Kriminaltechniker und das Notarztteam hoben erschrocken die Köpfe. Genau wie Helene und Herbert sowie Ferdinand Roth. Die drei standen jetzt unweit des Taubenhauses. In ausreichendem Abstand entfernt vom Tatort und Josef Maier, aber immer noch nahe genug, um dessen Befragung mithören zu können – zumindest größtenteils.

„Entweder ihr seid selbst betrunken in irgendeiner Ecke gelegen oder einer von euch oder ihr beide habt etwas mit dem Tod des Mannes zu tun“, bedrängte er die Zwei.

„He, Mann. Mal ganz langsam.“

Der Stämmigere machte einen Schritt auf Josef Maier zu. Der wich jedoch keinen Zentimeter vor dem zwar gut durchtrainierten, aber wesentlich kleineren Burschen zurück.

„Wir haben nichts, aber so was von null, damit zu tun.“

„Ich hätte gerne mal Ihre Ausweise.“

„Wieso das denn?“

„Weil ich von der Polizei bin und weil ich es sage. Den Arbeitsauftrag Ihrer Firma möchte ich auch einsehen. Könnte ja sein, dass Sie nicht die sind, für die Sie sich ausgeben.“

„Den habe ich nicht dabei. Du?“, stellte der Stämmige die Frage an seinen Kollegen.

Der schüttelte den Kopf und reichte Maier seinen Ausweis. „Hab nur die hier dabei“, sagte der andere nun und zeigte außer seinem Personalausweis, eine Visitenkarte. „Sie können dort gerne anrufen.“

„Da können Sie sicher sein. Lukas Reimann?“, las Josef Maier halblaut. „Und Sie sind Jonas Fischer?“

Die beiden nickten.

„Seit wann arbeiten Sie bei dem Sicherheitsdienst?“

„Seit einem Jahr. Mann! Wir brauchen die Kohle. Wenn Sie jetzt dort anrufen, wird der Alte viele Scheiß-Fragen stellen und annehmen wir hätten uns volllaufen lassen. Dann sind wir unsere Jobs los.“

Maier steckte die Ausweise zwischen die Seiten seines Notizbuchs. „Tja, dumm gelaufen, würde ich mal sagen.“

Die jungen Männer warfen sich einen kurzen Blick zu. „Mann. Eh ... Herr Polizeibeamter.“

„Josef Maier. Polizeihauptkommissar.“

„Herr Polizeihauptkommissar“, versuchte Lukas Reimann einen zweiten Anlauf. „Wir haben schon etwas gesehen. Aber, das ist sowas von abgefahren. Das glaubst du uns sowieso nicht.“

„Versuchs“, ging Maier kurzfristig ebenfalls zum DU über. „Ich bin katholisch erzogen.“

„Also, das war so. Gestern Abend, so kurz nach 10 Uhr, es fing gerade zu regnen an, weshalb wir uns dort hinten verkrochen hatten.“

Er zeigte zum Torbogenhaus, von dem aus es linksseitig ins Klostercafé ging und rechter Hand der Eingang zur einstigen Klosterapotheke war.

„Wir sitzen also da eine Zeit lang auf den Stufen. Plötzlich donnert und blitzt es auch noch. Und genau im Blitz sehen wir plötzlich einen Kerl in einem dunklen Kapuzenumhang, direkt dort vor der Mühle.“

„Dann war da noch so ein Geräusch, als wenn jemand oder etwas im Wasser aufschlägt“, fiel Jonas Fischer ein. „Dann wieder stockfinster und von dem Kerl ist nichts mehr zu sehen. Wie vom Erdboden verschluckt.“

Sein Kollege nickte zustimmend. „Genau so war’s. Ich schwör ‘s.“

„Ganz im Ernst, ihr beiden. Wieviel hattet ihr getrunken? Oder hattet ihr sogar gekifft?“ Maier runzelte die Stirn.

„Hab‘ ja gleich gesagt, dass du uns nicht glaubst.“ Lukas Reimann schrappte mit seiner Schuhspitze im feuchten Gras.

„Wir trinken nicht und wir kiffen nicht, jedenfalls nicht bei der Arbeit“, bekräftigte Jonas. „Ansonsten wäre Ende Gelände mit dem Job. Unser Boss kennt da keine Gnade. Erst vor zwei Monaten musste einer gehen, weil der Alte ihn mit einem Bierchen erwischte. Und der Sebastian war schon einige Jahre in dem Betrieb.“

„Und daran haltet ihr euch?“

Die jungen Männer nickten einvernehmlich.

„Also gut. Gehen wir den Ablauf von gestern Abend mal durch. Wann habt ihr euren Dienst angetreten?“

„Achtzehn Uhr“, gab Lukas bereitwillig Auskunft.

„Aber viele der Aussteller blieben noch bis zwanzig Uhr hier, haben ihr Zeugs zusammengeräumt und anschließend noch einen gehoben. Die wollten wohl so wenig wie möglich an Ballast nach Hause schleppen.“ Jonas Fischer grinste.

„Ja“, stimmte sein Kumpel zu. „Da ging’s heftig ab. Und die fuhren danach alle mit ihren Karren weg.“

„Und ihr habt da wirklich nicht mitgebechert?“, hakte Maier noch einmal nach. Auf Reimanns vorwurfsvollen Ton, bezüglich der Fahrtüchtigkeit der Aussteller, ging er nicht ein.

„Nein“, war die knappe Antwort der beiden.

„Wir begannen dann, unsere Runden zu drehen. Und kurz nach 8 Uhr war dann auch der letzte, mehr oder weniger betankt abgedüst“, setzte Jonas Fischer seinen Bericht fort. „Danach – keine besonderen Vorkommnisse – wie es so schön heißt. Bis auf den Typen im Kapuzenmantel, der auf einmal vor der Mühle stand.“

Lukas Reimann nickte. „Wir sind ja Einiges gewohnt, Halloween-Partys und Ähnliches. Da triffst du auf auf die schrägsten Typen, Mann, das glaubst du nicht. Aber der Kerl war echt unheimlich.“

„Die Gestalt mit der Kapuze stand also genau vor der Mühle?“

„Kapuzenmantel“, berichtigte Jonas Fischer. „So bis zum Boden. Und direkt im Blitz. Sonst hätten wir den doch gar nicht gesehen. War ja fast stockdunkel ... vorher und nachher. Die Funzeln an den Gebäuden bringen nicht viel; schon gar nicht, bei so einem Gewitter. Könntet ihr mal auswechseln.“

„Und dieses Platschen – habt ihr das vor oder nach dem Blitz gehört?“

„Ich denke, das war vor dem Blitz“, antwortete Lukas Reimann.

Die Männer tauschten erneut einen kurzen Blick.

„Ja, was jetzt? Denkt ihr oder wisst ihr das?“

„Also, ich glaub‘ das war vorher, oder Lukas?“

„Kann mich nicht genau erinnern. Ging alles zu schnell.“

„Und warum habt ihr nicht gleich nachgesehen, was da passiert sein könnte?“

„Na ja.“ Lukas Reimann trat von einem Fuß auf den anderen. „Wir haben dem, was wir da gesehen haben selbst nicht so richtig getraut.“

Oder ihr hattet die Hosen gestrichen voll, dachte Josef Maier.

Lautes Hupen unterbrach seine Befragung und er blickte über seine Schulter. Längs vor dem Klosterportal parkte ein dunkles Fahrzeug mit zuckendem Blaulicht auf dem Dach.

„War’s das, Meister?“, fragte Jonas Fischer. „Können wir jetzt gehn? Wir haben noch nicht gefrühstückt.“

„Nein!“, antwortete Maier knapp. „Das sind die Kollegen von der Kripo. Die haben bestimmt noch Fragen an euch.“

Aus den Augenwinkeln heraus sah er Helene und Herbert im Gespräch mit Ferdinand Roth und dessen Nachbarn.

Josef Maier passte das überhaupt nicht. Aber, was sollte er machen? Roth wohnte nun mal hier im Klosterhof. Und Helene und Herbert konnte er nicht verbieten, mit den Bewohnern zu reden.

Na ja, heute vielleicht schon. Jetzt eh zu spät.

„Was hältst du davon, Ferdi?“, fragte Herbert. „Meinst du, die von der Sicherheitsfirma könnte was damit zu tun habe?“

„Schwer zu sagen“, antwortete Ferdinand mit hochgezogenen Augenbrauen. „Eigentlich machen die Burschen einen ganz patenten Eindruck. Aber man kann sich natürlich auch täuschen.“

„Ich frag‘ mich nur, warum die nix gemerkt habe“, sinnierte Herbert weiter. „Der Mann muss doch, bevor er da rein gestürzt is, irgendwie dort hingekomme sein. Und du hast auch nix gehört?“

Ferdinand Roth schüttelte den Kopf. „Nach dem ganzen Trubel am Wochenende, du weißt ja was da immer los ist, bin ich irgendwann auf der Couch eingeschlafen. Nicht mal mehr den Schluss vom Tatort-Krimi habe ich mitbekommen. Als ich dann so gegen halb zwölf aufgewacht bin, bin ich ins Bett gegangen.“

Dass Bettina offenbar mal wieder das Haus verlassen und er es nicht einmal bemerkt hatte, erwähnte er nicht.

„Dann lass uns doch mal mit deinen Nachbarn snacken“, schlug Helene vor und ging auf die Gruppe zu, die sich mittlerweile zusammengefunden hatte.

„War es ein Unfall? Was ist passiert?“, stürmten sofort die Fragen auf sie, Herbert und Ferdinand gleichermaßen ein.

„Ich glaube nicht an einen Unfall“, warf Klara Kuhn ein. Jetzt mit einem Popeline-Mantel bekleidet, kam sie ebenfalls zu der kleinen Gruppe hinzu.

„Wir wissen es noch nicht“, antwortete Herbert. „Nur, dass es en Mann is.“

„Da kannst du nicht einfach so hinabstürzen. Dafür ist die Mauer zu hoch. Den hat jemand gestoßen“, beharrte Klara und nickte in die Runde.

„Hoffentlich ist es keiner der Freiwilligen, die beim Zunft- und Handwerkermarkt helfen“, warf einer der Nachbarn ein. „Das werden sowieso jedes Jahr weniger. Bald werden solche Veranstaltungen überhaupt nicht mehr stattfinden können. Die Jugend interessiert sich doch kaum noch dafür. Irgendwann sind die Freiwilligen alle weg – und was dann?“

„Na, so kannst du das aber auch nicht sagen“, wandte Klara ein. „Ich habe am Wochenende eine ganze Menge junger Leute gesehen, die sich engagieren.“

„Muss net unbedingt einer von hier sein. Kann auch einer aus em Umland sein“, beendete Herbert die, seiner Meinung nach nicht relevante Diskussion, bevor sie ausufern konnte. „Vielleicht findet die Polizei einen Ausweis bei ihm.“