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love-Scamming, trifft meist Menschen, die sich einsam fühlen. Auf der Suche nach Gleichgesinnten gelangen sie oftmals an Agenturen oder Personen, die es letztlich nur auf ihr Geld abgesehen haben. Agnes Kippenberger, Bewohnerin einer Seniorenresidenz, sucht nach Gleichgesinnten, die ihre Interessen teilen, und geht Gaunern ins Netz. Sie wendet sich an die Seligenstädter Privatermittler. Doch bevor die SE-PRI-SOKO richtig mit ihren Ermittlungen beginnen kann, wird die Leiche von René, dem Enkelsohn von Adam Gottlieb, an der Ecke des Klostergartens, unter der Sandsteinfigur des Erzengels Gabriel gefunden. Für die privaten Ermittler bedeutet das - zwei Verbrechen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Letzte Zahlung
Infos und Erklärungen:
Letzte Zahlung
Sonntag, 10. März 2024 / 08:10 Uhr – Seniorenresidenz
Montag, 11. März 2024 / 07:15 Uhr – Freihofplatz
Dienstag, 12. März 2024 / 07:10 Uhr, Polizeipräsidium Offenbach
Mittwoch – 13. März 2024 / 08:30 Uhr – PP Offenbach, Verhör von Tim Neureuther
Die Geschichte um die Statue von Erzengel Gabriel
Rezepte:
Vita:
14. Seligenstadt – Krimi
Die Handlung als auch die Protagonisten in diesem Roman entspringen ausschließlich meiner Fantasie, sind rein fiktiv und basieren nicht auf realen Personen oder Ereignissen.
Teile des gesprochenen Textes sind in Seligenstädter Mundart verfasst und daher, die Grammatik betreffend, nicht regelkonform.
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Impressum
Texte © Copyright by Rita Renate Schönig
Bildmaterialien © Copyright by Rita Renate Schönig
Kaiser-Karl-Straße 9
63500 Seligenstadt
E-Mail-Adresse: [email protected]
Homepage: www.rita-schoenig.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Buches darf reproduziert, in einem Abrufsystem gespeichert, in irgendeiner Form elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Art übertragen werden.
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Zum Thema:
Das love-Scamming, auch Romance-Scamming genannt, trifft meist Menschen, die sich einsam fühlen. Auf der Suche nach Gleichgesinnten gelangen sie oftmals an Agenturen oder Personen, die es letztlich nur auf ihr Geld abgesehen haben.
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Zum Inhalt:
Agnes Kippenberger, Bewohnerin einer Seniorenresidenz in Seligenstadt, sucht nach Gleichgesinnten, die ihre Interessen teilen und geht Gaunern ins Netz.
Ihre Freundin Leonore Funke rät ihr, die Seligenstädter Privatermittler um Hilfe zu bitten. Doch bevor die SE-PRI-SOKO richtig mit ihren Ermittlungen beginnen kann, wird die Leiche von René, dem Enkelsohn von Adam Gottlieb, an der Ecke des Klostergartens, unter der Sandsteinfigur des Erzengels Gabriel gefunden.
Für die privaten Ermittler bedeutet das - zwei Verbrechen. Während sich die Kriminalpolizei primär erst einmal nur um den Tod von René Gottlieb kümmert.
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Ständige Protagonisten– Ermittlerteam Präsidium Offenbach K11
Nicole Wegener, EKHK
Harald Weinert, KHK
Lars Hansen, KHK
Dagmar Dietz, KOK
Andreas (Andy) Dillinger, KHK
Patrick Rudolph, IT-Techniker, IKT-Polizeipräsidium
Staatsanwaltschaft:
Falk von Lindenstein und Felix Heller
Rechtsmedizin:
Dr. Martin Lindner (Doc)
Seligenstädter Polizeistation
Andreas Eberbach, PHK / neuer Dienststellenleiter
Hans Lehmann, POK
Berthold Bachmann, POK
Saskia Ehrlich, POK
Marie Schwan, PK
Hobby-Ermittler (SE-PRI-SOKO)
Helene Wagner, Freundin von Nicole Wegener
Herbert Walter, Lebensgefährte von Helene
Ferdinand und Bettina Roth, Freunde
Gundula (Gundel) Krämer, Nachbarin
Georg (Schorsch) Lenz, Nachbar
Hauptcharaktere - Speziell diesem Roman zugeordnete Protagonisten
René Gottlieb, Enkelsohn von Adam Gottlieb
Tim Neureuther, ehemaliger Betreuer im Seniorenheim
Klaus Senger, Pharmazie-Außendienstmitarbeiter
Bewohner des Seniorenheims
Adam Gottlieb
Agnes Kippenberger
Leonore (Lore) Funke
Sonja Fiehlmann
Personal / Seniorenresidenz
Eduard Lechner, Leiter der Seniorenresidenz
Jenny Haskamp, Betreuerin
Kevin Maiwald, Betreuer
Yasin Ahmad, Betreuer
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Bestattungen:
Aber auch heute noch kann man fast die gesamte Bestattung selbst durchführen, ohne dass dazu ein Bestatter benötigt wird. Die einzigen Aspekte einer Beerdigung, bei denen die Beauftragung eines Bestatters wirklich erforderlich werden könnte, sind die Aufbewahrung und der Transport des Leichnams. 01.03.2023
Beim Romance- oder Love-Scam handelt es sich um eine Form des Internetbetrugs, der sowohl Frauen als auch Männer gleichermaßen betreffen kann. Das Ziel der Täter ist zunächst durch eine geschickte Kommunikation eine Vertrauensbasis aufzubauen, um die Opfer letztendlich um Geld zu bitten. Die Betrügerinnen und Betrüger setzen alles daran, dass Gefühle der Liebe und der Zuneigung bei ihren Opfern entstehen.
Nach Strich und Faden betrügen heißt: dass jemand etwas besonders gründlich macht. Ursprünglich ging es dabei um Stoffe: Gewebe bestehen aus zwei sich kreuzenden Fäden – Strich und Faden.
Hessisch und Plattdeutsch zum besseren Verständnis:
Agnes wird von den alteingesessenen Seligenstädtern Oangnes ausgesprochen.
Uffzuch – Aufzug / Lift
Rundstücke - Brötchen
Auf seinen Rolli gestützt zuckelte Schorsch in den Gemeinschaftsraum der Seniorenresidenz, um zu frühstücken. Nach einem kurzen Rundumblick sah er seinen Kumpel Adam vor der Theke mit den aufgeschnittenen Tomaten, Gurken und dergleichen stehen. Er selbst würde niemals auf nüchternen Magen – und auch sonst nur im äußersten Notfall – das angeblich gesunde Grünzeug zu sich nehmen.
Adam hingegen schaufelte sich reichlich von dem Gemüse auf einen Teller und auf einen zweiten legte er je eine in Miniaturform abgepackte Portion Honig sowie sein geliebtes Apfelgelee. Wobei die meisten Bewohner wie auch Schorsch schwören würden, dass weder der Honig noch das Gelee ihre Namen verdient hätten. Einzig bei der in ebensolchen Minieinheiten verpackte Butter waren sich alle einig, dass es sich tatsächlich um diese handelte. Deswegen war er froh, seine Brötchen mit der von Gundel eigenhändig hergestellten Marmelade bestreichen zu können.
In einem Anfall von Wahnsinn – wie er selbst später seine Handlung betitelte – hatte er anfangs seine vier engsten Hausgenossen davon probieren lassen, dann aber festgestellt, dass für ihn nur noch ein kleiner Rest übrig geblieben war. Daraus hatte er gelernt und hütete seitdem seinen Schatz, indem er den Brotaufstrich morgens mit in den Frühstücksraum brachte und anschließend wieder in seiner Wohnung im Kühlschrank sicherte.
Heute brachte er im Körbchen seines Rollators zusätzlich zur Brombeermarmelade auch ein Glas Pfirsichmarmelade mit zum Frühstück, auf das er sich wie ein Schneekönig freute.
Er lud Brötchen und Butter auf einen Teller, ließ seinen Blick erneut durch den Raum gleiten und stellte fest, dass weder Agnes noch Leonore – die sich am Tag ihres Einzugs mit Lore vorstellte – sowie die neu hinzugekommene Sonja am Tisch saßen, den Adam und er sich mit den Damen teilte.
Er hielt Kevin, einen der Betreuer, der gerade vorbeikam, am Arm fest.
»Wo sin unsere drei Grazie? Die wern doch net des erste Mol verschlofe hawe?«, fragte er ihn.
»Nicht so laut!«, flüsterte er, sah sich unsicher um und zog Schorsch am Ärmel. Kurz vor dem Eingang zur Küche ließ er ihn wieder los. »Frau Agnes hatte heute früh einen Herzanfall. Wir mussten einen Krankenwagen rufen. Aber sie kommt am Nachmittag schon wieder zurück«, fügte er schnell hinzu, als er den entsetzten Ausdruck in Schorschs Gesicht sah. »Wir möchten nur keine Panik verbreiten. Deshalb beschwöre ich Sie, sagen Sie es nicht weiter.«
»Un wo is die Lore? Hot die desweesche aach en Herzkasper krieht?«, wollte Schorsch gleich darauf wissen.
»Nein, Frau Leonore, begleitete Frau Agnes.«
Im nächsten Augenblick verkündete Kevin deutlich lauter: »Ich bringe Ihnen gleich frischen Kaffee«, weil sich Sonja Fiehlmann – fast schulterlange, ungebändigte, gewellte rote Haare und gleichfarbige Brille – näherte.
Die Oangnes is doch noch net emol achtzig. Wieso krieht die en Herzkasper, überlegte Schorsch und griff sich reflexartig an die Herzseite.
»Ist alles in Ordnung?«, sprach Sonja ihn an. »Du bist ganz blass um die Nase.«
»Was? Ja, mir geht's gut«, antwortete er erschrocken, als sein Herzschlag sich spontan erhöhte. »Isch hoab nur net so gut geschloofe. Awer de Kevin bringt mir jetzt en extra starke Kaffee.«
»Na, ob das das Richtige ist.« Sonja presste die Lippen aufeinander.
Sie war vor zwei Monaten in der Seniorenresidenz eingezogen, nachdem sie, ihrer Aussage nach, ein Jahr zuvor Witwe geworden war und nicht mehr alleine in dem riesigen Haus, das sie und ihr Ehemann jahrzehntelang bewohnt hatten, bleiben wollte. Seitdem versuchte sie ihre Ratschläge bezüglich Ernährung und Gesundheit hauptsächlich an den Mann zu bringen, sodass jeder Bewohner, soweit möglich, ihr aus dem Weg ging.
»Du solltest eher einen grünen Tee trinken«, gab sie auch jetzt ihren Tipp an Schorsch weiter. »Aber ihr Männer, lasst euch ja nichts sagen. Bei meinem Willibald war das genauso. Er könnte noch leben, hätte er öfter auf mich gehört«, seufzte sie und nahm sich einen Joghurt aus der Kühltheke. Danach schlenderte sie mehrmals am heutigen Angebot der in mundgerechte Stücke aufgeschnittenen Früchte vorbei, bevor sie ihre Entscheidung traf und eine Schüssel befüllte.
Mittlerweile hatte auch Adam den Tisch erreicht und wurde von Schorsch mit: »Na, host de der widder Hoasefutter geholt?«, begrüßt.
»Gut für die Verdauung«, antwortete Adam, stellte sein Tablett ab und goss sich aus der bereits auf dem Tisch stehenden Kanne Grüntee in eine Tasse. »Du auch?« Er hielt die Teekanne hoch.
Schorsch schüttelte den Kopf. »Isch hab heut Nacht üwerhaupt net gut geschloofe und jetzt bin isch mied. De Kevin bringt mer gleich en starke Kaffee.«
»Wo bleiben Agnes und Lore? Die sind doch sonst immer schon vor uns hier. Machen die zwei heute vielleicht einen Ausflug und ich hab' das vergessen?« Während Adam das fragte, pikste er mit der Gabel ein Stück Gurke auf und führte es zu seinem Mund.
»Net so laut!«, zischte Schorsch und beugte sich über den Tisch. »Des derf doch koaner wisse.«
»Was, dass die beiden einen Ausflug machen?« Adam sah seinen Mitbewohner irritiert an.
»Red koan Kokolores. Ich moan doch, dass die Oangnes en Herzanfall gehoabt hot un ins Krankehaus musst. Un die Lore is halt mitgefahrn. Awer es war net so schlimm. Sie kimmt heut Mittag widder hoam – hot de Kevin gesacht.«
»Hatte ich nicht gesagt, dass Sie niemanden davon erzählen sollen, Herr Schorsch?«
Unbemerkt von den beiden war der Betreuer an den Tisch gekommen und hatte eine kleine Kanne Kaffee abgestellt, während das von Adam aufgespießte geviertelte Tomatenstück der Gurke folgen sollte, jetzt jedoch wieder auf seinem Teller landete.
»Dann habe ich also nicht geträumt, als ich heut Früh aufgeregte Stimmen gehört habe«, äußerte er sich mit einer plötzlichen ungesunden Blässe im Gesicht.
»Nein, haben Sie nicht«, bestätigte Kevin. »Aber bitte, bewahren Sie beide unbedingt Stillschweigen darüber«, mahnte er erneut.
»Ja, das weiß ich. Schorsch hat es mir gerade gesagt. Nur wie kann das sein? Ich meine – die Agnes hatte noch nie etwas mit dem Herzen?«, murmelte Adam.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Kevin. »Wir müssen die Diagnose aus dem Krankenhaus abwarten. Und bitte kein Wort zu irgendjemand.« Er bewegte seinen Kopf zu der herannahenden Sonja Fiehlmann und stürmte zurück in die Küche.
»Was meinst du?«, wandte Adam sich schnell noch Schorsch zu, »sollten wir einen Blumenstrauß für Agnes besorgen?«
»Warum? Die is doch noch am Lewe«, gab er zur Antwort, schlürfte von seinem Kaffee und setzte nach: »Der weckt werklisch Dode uff.«
Sonntag / 11:15 Uhr – Krankenhaus
Die ersten Stunden hatte Leonore Funke im Wartebereich der Klinik auf einem unbequemen Stuhl verbracht und sich mit drei Kaffees, bei denen es schien, dass eine Kaffeebohne nur mal kurz Hallo gesagt hatte, aus einem Automaten versorgt. Den Energieriegel, der eher einem harten Kaugummi ähnelte und bei dem sie Angst hatte, dass er für immer mit ihren Zähnen in Verbindung bleiben würde, hatte sie nach dem ersten Bissen im Abfalleimer entsorgt.
Jetzt saß sie neben dem Bett, in dem Agnes schon mit mehr Farbe im Gesicht als noch vor einigen Stunden, lag. Dennoch machte sie auf Leonore den Eindruck einer zerbrechlichen Porzellanpuppe.
»Magst du mir nicht sagen, was dich derart aufgeregt hat?«, fragte sie, während sie sanft über deren Hand streichelte.
Agnes, die ununterbrochen nur an die Decke gestarrt hatte, wandte Leonore den Kopf zu.
»Ich war so dumm. Wie konnte ich nur auf so einen hereinfallen? Ausgerechnet ich, die immer ...« Ihre Stimme brach ab.
»Was meinst du? Ich verstehe nicht ... auf wen bist du hereingefallen?«
»Bitte, Lore, sag es niemandem! Schwöre es mir! Wenn das in der Seniorenresidenz bekannt wird ... Obwohl – dort werde ich ohnehin ausziehen müssen. Das kann ich mir in Zukunft nicht mehr leisten.«
»Du redest wirres Zeug. Ich verstehe kein Wort. Also sag mir endlich, was los ist. Du weißt, dass ich meinen Mund halten kann. Und vielleicht kann ich dir helfen.«
»Das glaube ich eher nicht«, erwiderte Agnes. »Aber ich erzähle dir die ganze Geschichte von Anfang an.«
Was Leonore dann von ihrer Freundin erfuhr, machte sie einerseits traurig – andererseits erfasste sie eine gewaltige Wut.
»Diesem Kerl muss das Handwerk gelegt werden!«, brachte Agnes mit einem einzigen Satz diese Wut zum Ausdruck.
»Wie soll das gehen? Er wohnt in Spanien, zumindest, wenn das stimmt. Nun bezweifle ich sogar, dass er wirklich so aussieht, wie auf dem Foto, das er mir geschickt hat.«
»Jetzt musst du zuerst wieder ganz auf die Beine kommen. Danach sehen wir weiter«, antwortete Leonore mechanisch und hatte bereits eine, wenn auch vage Vorstellung, wie ihrer Freundin geholfen werden und wen sie darauf ansprechen könnte.
Ihre Gedanken wurden durch Klappern des Geschirrs unterbrochen. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
»Es ist schon kurz nach elf. Kein Wunder, dass mein Magen knurrt. Ich frage mal, wann du nach Hause gehen kannst«, sagte sie.
Fast an der Tür angekommen wurde diese resolut geöffnet und eine Pflegekraft, mit der Leonore wegen ihrer Anwesenheit bei Agnes bereits eine kleine Debatte hatte, betrat mit einem Tablett in der Hand das Zimmer. Ihr essigsaurer Blick verriet, was sie dachte. Mit dem Satz: »Oh, Sie sind immer noch da?«, brachte sie obendrein ihren Unmut gegenüber Leonore zum Ausdruck.
»Ja, und ich gehe auch nicht ohne meine Freundin«, entgegnete diese.
»Na, das wird ja wohl der Arzt entscheiden«, kam es verschnupft von der Pflegekraft zurück.
Sie stellte das Tablett auf den Beistelltisch und schwenkte die Tischplatte über das Bett. »So, Frau Kippenberger, jetzt essen wir erst einmal etwas Leckeres, damit wir wieder zu Kräften kommen.«
Agnes hob den Deckel, schaute auf grüngraue Erbsen, Kartoffelpüree, welches als Kleister hätte Karriere machen können, und eine Frikadelle mit übermäßigen Röstaromen.
»Ich denke, dieses Menü dürfen Sie gerne selbst verspeisen. Da gibt es ja sogar bei uns besseres Essen. Und dahin gehe ich jetzt zurück. Hilfst du mir beim Anziehen, Lore?«
Mit grimmigem Gesichtsausdruck schnappte die Pflegerin das Tablett und stürmte aus dem Zimmer.
Keine zwei Minuten später kam der Stationsarzt. »Ich hörte, Sie möchten uns verlassen, Frau Kippenberger?«
»So ist es«, bestätigte Agnes, entledigte sich des Patientenhemds und zog ihren BH und Unterhemd an. »Mir geht es wieder gut. Oder sagt Ihre Diagnose etwas anderes?«
»Nein. Ihre Blutwerte sind in Ordnung und auch das MRT hat keine Auffälligkeiten gezeigt. Es war zum Glück wohl doch nur ein kleiner Schwächeanfall. Trotzdem sollten Sie in Zukunft vorsichtig sein und sich bei Ihrem Hausarzt durchchecken lassen. Schließlich sind Sie ...«
»Ja, ich weiß selbst, dass ich nicht mehr die Jüngste bin«, beendete Agnes den Satz. »Und ja, Sie haben recht. Ich verspreche, mir einen Arzt zu suchen, um einen regelmäßigen Gesundheitscheck vornehmen zu lassen. Ihre Befunde kann ich ihm dann auch gleich aushändigen.«
»Wie? Sie haben keinen Hausarzt?«
»Nicht mehr. Mein Bisheriger ist vor drei Jahren verstorben. Ich war auf seiner Beerdigung«, erwiderte Agnes, während sie ihre rosafarbige Bluse von Leonore entgegennahm.
Der Stationsarzt schmunzelte. »Na, dann lasse ich Sie mit Ihrer Freundin mal alleine. Kommen Sie, wenn Sie fertig sind, ins Schwesternzimmer. Ich werde dafür sorgen, dass Sie Ihre Unterlagen erhalten.«
Mit einem »Alles Gute, Frau Kippenberger und natürlich auch für Sie, Frau Funke«, verließ er das Zimmer.
»Der war richtig nett«, äußerte Leonore und schaute zu der Tür, die der Arzt hinter sich zugezogen hatte.
»Nett oder nicht«, fauchte Agnes. »Ich habe die Nase voll von den Männern.«
Sonntag / 11:50 Uhr – Seniorenresidenz
Als die beiden Damen aus dem Taxi stiegen, kamen Jenny und ihr Kollege Kevin angerannt.
»Alles wieder in Ordnung, Frau Agnes?«, fragte er mit besorgtem Blick.
»Ja, danke. Mir geht es wieder gut. Es war nur ein kleiner Schwächeanfall«, antwortete sie mit den Worten des Arztes.
»Jetzt haben wir aber ordentlichen Hunger«, mischte Leonore sich ein, um weitere Fragen zu unterbinden. »Was gibts denn heute Gutes? Hoffentlich keine Erbsen.«
»Erbsen?«, wiederholte Jenny mit gerunzelter Stirn. »Nein. Als Vorspeise gibt es entweder einen gemischten Salat oder eine Karottensuppe und als Hauptgericht Rinderroulade und für unsere Vegetarier ...«
»Hört sich lecker an. Dann lass uns mal den Gourmettempel erstürmen«, wandte Leonore sich Agnes zu und hakte sich bei ihr unter. »Danach sehen wir weiter«, raunte sie ihr ins Ohr.
Kurz vor dem Gemeinschaftsraum, in dem diejenigen Bewohner, die keine Lust hatten, selbst zu kochen, ihre Mittagsmahlzeit einnahmen, hing der Geruch von Braten in der Luft.
Leonore stieß die Tür auf und marschierte, gefolgt von Agnes, geradewegs zu dem Tisch, an dem Schorsch tief über seinen Teller gebeugt ein Stück von der Roulade abschnitt und es sich umständlich – weil etwas zu groß geraten – in den Mund schob.
»Ihr kommt grad rischdisch«, bemerkte er kaum verständlich. »Des is heut widder mol saugut.«
»Wo ist Adam?«, wollte Leonore wissen und sah sich suchend um. »Er lässt sich doch so ein Festessen sonst nicht entgehen.«
»Der is von soim Enkel zum Esse abgeholt worde«, antwortete Schorsch und teilte mit seiner Gabel einen Kartoffelknödel in drei Hälften. »Wahrschoinlich brauch der Nixnutz mol widder Geld. Annernfalls lässt der sisch doch net blicke. Dass der Adam des noch immer net gemerkt hot ...« Schorsch schüttelte den Kopf, schob das Stück Knödel in seinen Mund und kaute genüsslich schmatzend.
»Es ist halt der Enkel«, entgegnete Leonore. »Du verstehst das nicht, weil du selbst ...«
»Na, was hätten die Damen gerne?«, wurde sie von Jenny unterbrochen. »Fleisch oder das vegetarische Gericht? Zucchinisuppe und Spinatlasagne mit Frischkäse und Tomaten.«
»Ich denke, wir nehmen beide die Roulade, aber vorab einmal Salat und einmal Suppe«, entschied Leonore für sich und Agnes, die kaum zwei Worte gesagt hatte, seit sie wieder zurück waren, jetzt aber nickte.
»Wenn de die Roulade dann doch net ganz schaffst ...?«, wandte Schorsch sich mit listigem Blick Agnes zu. »Isch helf dir.«
Entgegen Leonores Erwartungen, dass Schorsch tatsächlich den Großteil des Fleischgerichts abbekommen würde, verschlang ihre Freundin die komplette Portion und holte sich sogar noch einen Schokoladenpudding.
»Jetzt geht es mir wieder besser«, verkündete sie anschließend. »Kommt, wir machen einen Verdauungsspaziergang.«
»Isch net. Mir is e bissje flau im Maache un kalt is mir aach. Isch leech mich fer a Stindche uffs Ohr«, entgegnete Schorsch.
»Nix da! Dir tut ein Spaziergang auch gut. Weshalb isst du immer wieder die rote Grütze, obwohl du weißt, dass du sie nicht verträgst«, tadelte Leonore. »Außerdem müssen wir etwas mit dir besprechen.«
Ächzend und lustlos, aber auch neugierig, erhob sich Schorsch von seinem Stuhl.
Schon der Gedanke, aus den trotz der enorm gestiegenen Energiekosten gut geheizten Räumen des Hauses nach draußen zu müssen, ließ ihn frösteln.
»Isch muss mer awer erst moi Jack' hole. Draus is es verdammt kalt.«
Als er in seiner auf Gundula Krämers Drängen hin letzten Winter neu erworbenen dunkelgrünen Daunenjacke, die ihn an die mit Sonnenblumen bedruckte Steppdecke erinnerte, die früher über seinem Bett gelegen hatte, im Eingangsbereich des Seniorenwohnheims ankam, warteten die Frauen bereits auf ihn.
»Mein Gott! Das hat ja ewig gedauert«, moserte Agnes, eingepackt in eine rosafarbene Daunenjacke, während Leonore die letzten Zentimeter ihrer hellgrünen Jacke zuzog.
So ebbes schoint heutzudach werklisch jeder zu traache, ging es Schorsch durch den Kopf.
»Un jetzt? Wohie?«, fragte er immer noch mürrisch.
»Lass uns gleich hier runter bis zur Lügenbank gehen. Dort können wir uns ungestört unterhalten und sind windgeschützt«, schlug Agnes vor und deutete auf den asphaltierten Gehweg, der durch eine Öffnung in der einstigen Stadtmauer direkt vom Parkplatz vor der Seniorenresidenz zum Mainuferweg herunterführte.
Schlagartig kam Schorschs Erinnerung an den ähnlichen abschüssigen Weg neben der Mauer der ehemaligen Hans-Memling-Schule auf, den er nur mit Gundels Hilfe und dem raschen Eingreifen eines Touristen ohne bleibenden Schaden hatte bewältigen können. Deshalb merkte er jetzt an: »Des is awer schon e bissje steil fer misch.«
»Na gut, dann gehen wir durch die Große Fischergasse«, äußerte Agnes, als sie seinen besorgten Blick sah. »Aber beeil dich. Es ist doch ziemlich kalt.«
»Och, merkst de des aach schon?«, brummelte Schorsch und wickelte den Schal enger um seinen Hals. »Warum misse mer eischentlisch bis do hie laafe, wenn de nur was mit uns beredde willst? Des hätte mer doch aach in oaner von unsene Wohnunge mache kenne.«
»Es geht um eine ganz heikle Sache. Niemand von den anderen Bewohnern darf davon etwas mitbekommen – auch nicht das Personal«, antwortete Leonore für Agnes, die sich augenblicklich verlegen wegdrehte. »Es geht um die private Ermittlergruppe, bei der du bist. Was wir in den letzten Jahren so mitbekommen haben, seid ihr auch wirklich erfolgreich. Will sagen: Ihr habt schon viele Verbrechen aufgeklärt. Deshalb dachten Agnes und ich, du könntest uns bei einer Sache helfen, die nicht an die Öffentlichkeit kommen sollte.«
»Also, isch versteh bis jetzt nur Boahnhof.«
»Ehrlich gesagt, hatten wir daran gedacht, uns an Frau Krämer zu wenden, wollten uns aber zuerst mit dir unterhalten und fragen, was du davon hältst.«
Schorsch lächelte deutlich geschmeichelt. »Was is en eischentlisch bassiert? Habt ihr oam es Licht ausgeblase?«
»Was? Nein! Natürlich nicht. Ich bin nur ... ich war ...«, stotterte Agnes.
»Agnes hat da jemand kennengelernt und musste feststellen, dass derjenige es nur auf ihr Geld abgesehen hatte«, sprang Leonore ihrer Freundin bei. »Aber, das sollten wir nicht hier auf der Straße besprechen und schon gar nicht dort drin, wo die Wände Ohren haben.« Sie deutete auf das Wohngebäude hinter sich.
»Ach so ...« Schorsch grinste. »Ja do seid ihr bei de Gundel richtisch. Der is so ebbes aach schon emol bassiert. Also net direkt so ... awer ...« Zu spät wurde ihm bewusst, dass er fast zu viel verraten hatte und fügte schnell hinzu: »Die Gundel is dofir genau die Rischtisch.«
»Dann hast du nichts dagegen, dass wir jetzt gleich zusammen zu ihr gehen?«, hakte Lore nach.
Schorsch schüttelte den Kopf und marschierte zielstrebig voran.
Sonntag / 13:15 Uhr – Haus von Gundula Krämer
Gundel nahm die Spezialkekse aus dem Backofen, stellte das Blech auf ein Gitter und schnupperte daran. Noch waren die Kekse zu heiß, um sie zu probieren. Andererseits wusste sie, wie sie schmecken. Nur hatte die Lieferung ihrer Freundin aus den Niederlanden diesmal lange auf sich warten lassen und die Zutat, die dieses Gebäck so speziell machte, war seit Wochen aufgebraucht. Deshalb freute sie sich heute besonders auf eine Tasse Tee, ebenfalls eine Spezialmischung und einem – oder auch zwei – der Kekse.
Gerade als sie das Teesieb aus der Kanne zog, läutete es an ihrer Haustür.
Der wird doch nicht geahnt haben, dass ich heute backe, huschte der Gedanke durch ihren Kopf.
Ihre Befürchtung wurde bestätigt. Die Überwachungskamera zeigte Schorschs verzerrtes Gesicht, das er wie immer zu dicht an das Display hielt. Aber sie hatte auch den Eindruck, als wäre er nicht alleine, weshalb sie einen Moment zögerte und fragte, obwohl sie es besser wusste: »Waren wir etwa verabredet?«
»Noa, warn mer net. Awer mir hätte ebbes mit dir zu beredde – also isch un die Oangnes un die Lore«, erwiderte Schorsch, stieß die niedrige Pforte auf und schlurfte mit seinem Rollator den Weg zur Haustür entlang, während seine Begleiterinnen zögernd hinterherkamen.
»Ach? Na, dann kommt mal rein«, bat Gundel und fragte sich, was die beiden mit ihr zu besprechen hätten.
Natürlich kannte sie Agnes und Lore, wie all die anderen der Wohneinheiten, mit denen Schorsch in engerem Kontakt stand, doch ein längeres Gespräch hatte sie mit den Frauen noch nicht gehabt. Das lag vor allem an der rothaarigen Sonja Fiehlmann, die fast immer im Schlepptau der beiden auftauchte und Gundel – aus welchem Grund auch immer – mit der 77-Jährigen nicht so richtig warm wurde.
Zum Glück war sie jetzt nicht dabei.
»Oh! Hier rieschts awer gut«, rief Schorsch erfreut aus, als er im Wohnraum stand und den bekannten Geruch schnupperte. »Hast de Plätzjer gebacke?«, fragte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
»Kekse! Um diese Jahreszeit?« Leonores Augenbrauen wanderten fragend in Richtung ihrer in Falten gelegten Stirn.
»Ja. Warum nicht? Zum Nachmittagstee esse ich gerne mal ein Plätzchen«, erwiderte Gundel und hoffte, dass ihr Gebäck nur nach den allgemein bekannten Zutaten roch und nicht auch die spezielle Ergänzung preisgab.
An den Gesichtern der Damen konnte sie aber keine derartige Reaktion feststellen, weshalb sie fragte: »Möchten Sie einen Tee? Die Kekse sind leider noch zu heiß.«
»Ja, danke, gerne«, antworteten Agnes und Leonore gleichzeitig.
»Bis mer die erst Tass Tee gedrunke hawe, sin die bestimmt schon kalt«, äußerte Schorsch hingegen und voller Hoffnung doch noch in den Genuss des Gebäcks zu kommen.
Gundel ging nicht darauf ein und fragte die Frauen stattdessen, ob sie Milch und Zucker möchten. Als beide verneinten, goss sie ihren Gästen Tee ein und setzte sich ihnen gegenüber an den Tisch.
»Nun, was wolltet ihr mit mir besprechen? Womit kann ich helfen?«
»Wir müssten zuerst Ihre Zustimmung haben, dass Sie niemandem davon erzählen. Es ist eine etwas ... nun ja, eine heikle Angelegenheit«, begann Leonore.
»Solange keine von Ihnen einen Mord begangen hat ...«, erwiderte Gundel lachend.
»Mord!? Nein, um Gotteswillen! Das doch nicht«, antwortete Leonore. »Es ist so ...«
»Die Oangnes is uff so en Heiratsschwindler noigefalle. Un der hot ihr des ganze Geld abgeluchst«, gab Schorsch an. »Un weil mir doch schon viele Verbreche uffgeklärt hawe ...«
»Kein Heiratsschwindler«, widersprach Agnes, nahm einen weiteren Schluck Tee und sagte unvermittelt: »Der ist gut ... hat ein besonderes Aroma. Welche Sorte ist das?«
»Sie sagen es. Es ist etwas ganz Spezielles«, erwiderte Gundel, ließ sich aber nicht vom Thema abbringen. »Jetzt erzählen Sie in aller Ruhe, was geschehen ist.«
»Ich ... ich habe einen Mann kennengelernt ... über so ein Internetportal. In seinem Profil stand, dass er neunundsechzig Jahre alt und Witwer wäre und auf der Suche nach einer freundschaftlichen Partnerin sei. Er wohne in Dortmund – dort wurde auch ich geboren«, warf sie kurz dazwischen. »Und er hat die gleichen Interessen wie ich ... klassische Musik, Museumsbesuche und so weiter. Ich fand ihn sofort sympathisch. Seine Wortwahl hat mich beeindruckt. Er schien mir gebildet zu sein und ja ... ich war auch etwas geschmeichelt, denn ich bin ja schon neunundsiebzig – also zehn Jahre älter als er. Vor drei Monaten wollten wir uns zum ersten Mal treffen ... hier in Seligenstadt. Aber zwei Tage zuvor schrieb er mir, dass er einen Unfall mit seinem Auto gehabt hätte. Er wäre zwar nur leicht verletzt, aber sein Wagen wäre nur noch Schrott und um einen Neuen kaufen zu können, müsste er die Auszahlung aus einer seiner Kapitalanlagen abwarten. Das würde jedoch erst in drei Monaten möglich sein. Also habe ich angeboten, ihm einen Teil des Geldes zu leihen.«
Agnes machte eine kleine Pause, in der sie die anderen scheu ansah.
»Ja, ich weiß, dass das dumm von mir war, zumal man ständig vor solchen Machenschaften gewarnt wird. Aber im Nachhinein ist man ja immer schlauer.«
»Stimmt«, gab Gundel ihr recht.
Agnes nickte. »Ich weiß, Sie verstehen mich. Ihnen ist ja auch schon etwas Ähnliches passiert. Deshalb ...«
»Mir? Wie kommen Sie darauf?«, fiel Gundel ihr ins Wort.
»Na, weil Schorsch gesagt hat, dass ...«, mischte Leonore sich jetzt in das Gespräch ein, wurde aber ebenfalls mit einer abwehrenden Handbewegung und: »So ein Unsinn! Das war etwas ganz anderes«, unterbrochen. »Der Gauner hat sich in mein Haus geschlichen und wollte mich ausrauben«, fügte sie hinzu, während sie Schorsch einen finsteren Blick zuwarf.
»Du host dich awer doch aach mit dem geschriewe«, brummte er. »Also is des nix anneres.«
Auch nach den Jahren, die inzwischen vergangen waren, konnte er noch immer nicht verstehen, weshalb Gundel fremden Männern geschrieben hatte, wo er und damals auch noch Sepp genau gegenüber wohnten und sie drei immer eine Menge Spaß miteinander hatten.
In dem Zusammenhang fiel ihm wieder das gesellige Beisammensein in Sepps Garten ein, bei dem sie alle drei versehentlich zu viele von Gundels Plätzchen gegessen hatten und nach turbulentem Tanzen irgendwann auf den Rasen gesunken waren.
»Was grinst du so?«, wurde er von Gundel aus seinen Erinnerungen gerissen.
»Och nix Besonderes. Isch hoab nur grad an de Sepp gedocht un was mer alles so zusamme erlebt hawe.« Bei diesen Worten schielte er zu den Keksen, die seines Erachtens jetzt bestimmt schon soweit abgekühlt waren, dass sie wenigstens probiert werden konnten.
Gundel stöhnte. »Du gibst ja doch keine Ruhe.«
Sie holte einen Gebäckteller und legte ein Drittel der noch warmen Kekse darauf.
»Greifen Sie ruhig zu«, wandte sie sich an Agnes und Leonore. »Das ist ebenfalls ein Geheimrezept.«
Gleichzeitig dachte sie: Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Und vielleicht trägt das Spezialgebäck dazu bei, dass die Damen gesprächiger werden.
Mittlerweile witterte sie einen neuen Fall für die SE-PRI-SOKO und war mehr als neugierig, was die beiden noch so zu erzählen hatten.
»Darf ich fragen, um welche Summe es sich handelte?«, lenkte sie wieder in diese Richtung.
»Damals waren es zwanzigtausend Euro ...«, gestand Agnes.
»Ich nehme an, dabei blieb es nicht«, bohrte Gundel nach.
»Nein. Eine Woche später teilte er mir mit, dass er bei dem Unfall einen Radfahrer verletzt hätte und die Versicherung nur einen Bruchteil als Schadensersatz zahlen wollte. Also habe ich ihm noch einmal dreißigtausend Euro überwiesen«, gestand Agnes. »Letzte Woche wollte er hierherkommen und mir das Geld zurückgeben. Aber er kam nicht. Ich versuchte, ihn zu erreichen, aber weder antwortete er über E-Mail noch ging er ans Telefon. Und seit gestern ist sein Telefonanschluss blockiert.«
»Deshalb hot sich die Oangnes so uffgereescht, dass se heut moin sogar ins Krankehaus musst'«, brachte Schorsch sich nun ein und fügte mit hochrotem Kopf hinzu: »Dem Saukerl misse mer doch des Handwerk leesche.«
Mit etwas weniger Emotionen fragte Leonore: »Ist da überhaupt etwas zu machen? Agnes hat doch nur einen Namen, die Mail-Adresse und eine Telefonnummer.«
»Zumindest ist es einen Versuch wert«, äußerte Gundel und ließ sich die Daten geben. »Aber alleine kommen wir da nicht weiter. Ich muss die anderen aus unserer Gruppe informieren.«
»Oh Gott, nein! Das wollte ich doch vermeiden. Wenn das durchsickert ...«
»Da sickert nichts durch«, widersprach Gundel. »Wir von der SE-PRI-SOKO sind alle verschwiegen, davon kannst du ausgehen. Oh, Entschuldigung. Die vertrauliche Anrede ist mir einfach so herausgerutscht.«
»Kein Problem«, sagten die Frauen fast gleichzeitig und boten Gundel das Du an.
»Hauptsache, ihr könnt den Kerl ausfindig machen und Agnes bekommt vielleicht sogar einen Teil ihres Geldes wieder zurück«, fügte Leonore hinzu.
Gundel zog tief die Luft ein. »Das ... kann ich natürlich nicht versprechen. Aber wir werden unser Bestes tun.«
»Ich fühle mich schon viel entspannter«, äußerte Agnes und ihre Freundin nickte bestätigend.
Dass dies nicht nur der Hoffnung entsprang, jetzt mit der Hilfe der Seligenstädter privaten Sonderkommission rechnen zu dürfen, wussten die beiden selbstverständlich nicht.
Sonntag / 14:45 Uhr – Zuhause von Helene und Herbert
Auf Helenes Handy zeigte sich das Gesicht von Gundel und keine zwei Sekunden danach erfuhr sie den Grund ihres Anrufs.
»Wir müssen der Agnes irgendwie helfen. Ich schicke euch die E-Mail-Adresse und die Telefonnummer von diesem Gisbert Grabenstein. Angeblich soll er Architekt gewesen sein und jetzt im Ruhestand. Bei der Agentur habe ich schon versucht anzurufen, aber da meldete sich niemand und meine E-Mail wurde auch nicht beantwortet. Deshalb muss Herbert im Internet nach Hinweisen suchen. Er kennt sich ja doch besser aus als ich.«
»Ich muss überhaupt nix«, grummelte er leise vor sich hin.
»Was sagt er?«, erkundigte sich Gundel.
»Dass er sich gleich an den Rechner setzt«, antwortete Helene.
Zugleich schüttelte sie zum x-ten Mal den Kopf über die ständige Kabbelei und ihrer Meinung nach vorgetäuschte Antipathie zwischen den beiden, die, sobald es hart auf hart kam, in eine überquellende Hilfsbereitschaft ausartete.
»Schick uns auch die Internetadresse der Agentur«, fügte sie hinzu.
»Schon auf eurem Computer«, tönte Gundel und ein akustisches Signal gab den Eingang einer E-Mail bekannt.
Obwohl Herbert seine Verstimmung zum Ausdruck gebracht hatte, hockte er keine fünf Minuten später vor dem Rechner. Und kaum hatte er die Seite der Partnervermittlung aufgerufen, strahlten ihm die Gesichter einer Frau und eines Mannes entgegen; beide zwischen Mitte bis Ende sechzig. Darunter stand:
Lebensfreude – auch im Alter.
Sie suchen Personen mit gleichen Interessen in Ihrem näheren Umfeld?
Wir bringen Sie zusammen!
Aus Datenschutzgründen konnte Herbert aber nicht auf den Klientenkreis der Agentur zugreifen. Dazu sollte er zuerst ein Anmeldeformular ausfüllen. Aus seinem Blickwinkel, alles im grünen Bereich, deshalb gab er seinen Namen, Alter sowie Hobbys, sportliche Freizeitaktivitäten und den von ihm bevorzugten Musikstil an.
»Ernst Haft?«, fragte Helene neben ihm, gerade noch rechtzeitig, bevor er auf Senden drücken konnte. »Jeder einigermaßen logisch denkende Mensch merkt doch gleich, dass der Name ein Fake ist.«
»Dann schlag was vor!«
»Wie wäre es mit Peter Lustig? Den gab es wenigstens.«
»Haha! Äußerst lustig und originell«, hielt Herbert dagegen.
»Dann nimm Johann Grimm, ein Allerweltsname. Grimmig bist du eh ab und zu, mein Brummbär«, neckte Helene und kniff ihn sanft in die Backe. »Welche Interessen hast du angegeben?«, fragte sie sofort hinterher.
»Asiatische Kampfsportarten, Qigong, Tai-Chi und TCM.«
»Klingt ein wenig einseitig und ... brachial. Und das mit der traditionellen chinesischen Medizin würde ich weglassen. Zum einen könntest du, wenn du mit deinen Kenntnissen öffentlich hausieren gehst, Schwierigkeiten bekommen. Zum anderen könnte es Interessentinnen abschrecken. Was ist mit der musikalischen Richtung? Das wird doch auch abgefragt?«
»Du weißt ja, ich mag die Lieder aus den Sechzigern und Siebzigern – die Beatles, Rolling Stones, Bob Dylan, Elton John, Queen.«
Helene zog die Stirn in Falten und Herbert sagte: »Du hast en annere Plan – stimmts?«
»Es geht doch hauptsächlich um Frauen, die um ihr Geld gebracht werden. Sollte ich deswegen nicht eher nach einem Interessenspartner Ausschau halten?«
»Du hast recht. Auf die Art könne wir mehr Glück habe. Also lass uns ein Profil für dich ausarbeite.«
»Gib Charlotte von Amsinck ein, dreiundsechzig Jahre alt und verwitwet. Hobby: Theater und klassische Musik«, wies Helene ihn an.
»Oh, gleich adelig! Wie kommst du, ohne lange zu überlege auf so en Name? Gibts den üwerhaupt?«, wollte Herbert wissen.
»Die Familie von Amsinck war ursprünglich in den Niederlanden beheimatet, siedelte aber 1580 nach Hamburg über und gehörte seitdem zu Hamburgs Uradel. Es gibt auch eine Amsinckstraße und in Hamburg-Lokstedt einen Amsinckpark. Nachfahren sollen sogar noch in Deutschland und Amerika existieren. Und um deine Neugier zu stillen ... Meine Weisheit habe ich aus der Schule. Wir hatten einen Lehrer, der behauptet hatte, aus dieser Familie abzustammen, und deshalb immer wieder deren Geschichte erzählte.«
»War wahrscheinlich alles, was ihm gebliebe is«, erwiderte Herbert und fügte hinzu: »Ich schätze, der stammte aus der weniger reichen Ahnenlinie.«
»Vermutlich«, stimmte Helene zu. »Aber das ist jetzt nicht relevant. Nur, wer es auf das Geld einer älteren Dame abgesehen hat, beißt doch eher an, wenn er ein kleines Vermögen vermutet.«
»Du bist ja so schlau, mein Helenchen«, antwortete Herbert und schmiegte sein Gesicht für einen Moment an das von Helene. »Nur, was mache mer mit dem Foto? Wir sollte irgendeins aus dem Internet runterlade und e bissje bearbeite. Du willst doch net wirklich, dass ich eins von deine Fotos da einstelle?«
»Warum nicht? Nimm eins aus der Zeit, in der wir uns kennengelernt haben und hübsche es ein wenig auf. Kein Mensch wird mich dann wiedererkennen.«
»Das stimmt. Seitdem bist du, dank mir, sowieso mindestens zehn Jahr jünger geworde«, erwiderte er grinsend und machte sich sofort an die Arbeit, um nach einer halben Stunde seine Anstrengungen von Helene begutachten zu lassen.
»Und, was meinst de?«
»Schade, dass Photoshop nicht direkt auf der Haut angewendet werden kann«, seufzte sie und entschied sich für ein Foto, auf dem sie vor einer Eisdiele saß und einen großen Becher Erdbeereis vor sich stehen hatte. Ihre gelockten Haare – damals blond und länger – umspielten ihr noch mit weniger Falten heimgesuchtes Gesicht.
»Deine Vita hab ich auch schon bearbeitet.« Herbert holte aus der unteren Leiste des Bildschirms zwar realitätsferne, aber durchaus glaubwürdige Angaben hervor.
»Das hört sich gut an«, segnete Helene seine Arbeit mit einem Lächeln ab. »Ich bin gespannt, wann ich mit einem ersten Kontakt rechnen kann. Vielleicht meldet sich aber auch überhaupt niemand.«
»Ich glaub – da musst du net lange warte. Reiche Witwe werde immer bevorzugt. Siehst de ja an mir«, erwiderte Herbert lächelnd, drückte seine Helene. »Hab ich mir jetzt net a Stück von dem leckere Quarkkuche verdient, den du vorhin aus em Ofe geholt hast?«
»Hast du, sobald Bettina und Ferdinand hier sind. Ich habe die beiden bereits informiert.«
Sonntag / 15:10 Uhr – Seniorenresidenz
Als Agnes, Leonore und Schorsch zum Seniorenwohnheim zurückkamen, stießen sie auf Adam Gottlieb, der sich aus dem Sportwagen herausquälte, während sein Enkelsohn hinter dem Steuer seines tiefergelegten orangefarbenen Toyota saß, für dessen Ankauf – wie allen bekannt war – Adam das meiste Geld beigesteuert hatte und womöglich sogar die monatlichen Raten für den Kredit übernahm, auf seinem Handy herumdaddelte.
»Warum helfen Sie Ihrem Opa nicht?«, schrie Leonore den Sechsundzwanzigjährigen an.
»Moment«, erwiderte er, ohne den Blick vom iPhone zu nehmen.
Als Adam mithilfe der beiden Frauen schon fast aus dem Wagen raus war, stieg auch René aus. »Opi. Ich sagte doch, dass du warten sollst.«
Opi. Schorsch verzog angewidert das Gesicht. Der hot bestimmt widder e Menge Monete abgesahnt, war sein nächster Gedanke und der folgende: Isch kennt em jetzt grad mol de Hals umdrehe.
Rechts und links von Agnes und Lore untergehakt schlurfte Adam, der trotz der kühlen Temperaturen nur einen leichten Mantel trug, in kurzen Schritten auf den Eingang des Gebäudes zu.
Die Dreistigkeit, mit der René seinem Großvater das Geld aus der Tasche zog und wie er ihn behandelte, machte Schorsch wie auch Agnes und Leonore wütend, ebenso wie Sonja Fiehlmann. Sie kam gerade aus dem Eingangsbereich für betreutes Wohnen heraus und mit ihr der Geruch nach Zigarettenrauch. Offenbar hatte sie mal wieder dort gestanden und geraucht, obwohl das nicht gerne gesehen wurde. Allerdings interessierte sie das nicht sonderlich.
»Konnten Sie nicht ein Auto kaufen, in das Ihr Opa, wenn er es schon finanziert, besser ein- und aussteigen kann?«, pflaumte sie René in ihrer direkten Art an und steckte sich gleichzeitig ein Pfefferminz in den Mund.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, konterte er in gleicher Art.
Die anderen drei hielten sich zurück. Zum einen ließ Sonja sich ohnehin nicht den Mund verbieten und andererseits, weil sie alle derselben Meinung waren, sich allerdings nicht getrauten, sich mit dem 26-Jährigen anzulegen. Mit seinen fast kahl rasierten blonden Haaren und dem Fünf-Tage-Bart machte er auf die alten Leute keinen besonders vertrauensvollen Eindruck.
»Also dann bis zum nächsten Mal, Opi. Du bist ja in guten Händen«, rief René, sprintete leichtfüßig um seinen Wagen herum, schwang sich hinters Steuer und jagte mit aufheulendem Motor durch die enge Gasse davon.
Kopfschüttelnd schauten vier der fünf Personen hinterher, während Adam sich sichtlich erschöpft auf Schorschs Rollator setzte und mit gebrochener Stimme sagte: »Ich hab doch nur den einen Enkel.«
»Ich weiß.« Agnes seufzte und tätschelte seine Schulter. »Familie kann man sich leider nicht aussuchen.«
»Trotzdem solltest du dir nicht alles von dem Bengel gefallen lassen«, äußerte Sonja. »Wie viel hat er dir diesmal wieder abgeluchst? Na ja, geht mich ja nichts an«, lenkte sie ein, als Adam zusammenzuckte, um sich sofort an Schorsch und seine beiden Begleiterinnen zu wenden. »Wo kommt ihr drei eigentlich her? Es ist ja nicht gerade das schönste Wetter, um einen Spaziergang zu machen.«
»Wir mussten einfach mal an die frische Luft«, antwortete Leonore schnell und warf Schorsch einen verschwörerischen Blick zu.
»Ah ja. Wie wäre es nach all der frischen Luft mit einem Gläschen Cognac? Ich habe eine gute Flasche geschenkt bekommen.«
»Da saach isch net noa«, stimmte Schorsch sofort freudig zu.
»Danke für das Angebot. Vielleicht ein andermal. Ich denke, wir trinken lieber einen Kaffee und essen ein Stück Kuchen«, lehnte Agnes ab, klopfte Adam, der noch immer auf Schorschs Rolli saß, auf die Schulter und schob ihn zur Tür des Gemeinschaftsraums aus dem Yasin, das Handy am Ohr, heraus stürmte.
»Sorry!«, entschuldigte er sich und hastete durch die Eingangstür ins Freie, wo er ganz offensichtlich erregt weitertelefonierte.
Der 26-jährige gebürtige Syrer war seit Mitte des letzten Jahres in der Seniorenresidenz tätig. Freundlich und immer zur Stelle, wenn er gebraucht wurde. Ebenso wie sein Vorgesetzter, Herr Eduard Lechner, der Leiter der Einrichtung – er bezeichnete ihn mehr als einmal als echten Glücksgriff – hatten die Bewohner Yasin Ahmad sofort ins Herz geschlossen. Im Gegenteil zu seinem Vorgänger Tim Neureuther. Dieser war noch während der Probezeit wegen unangemessenen Verhaltens – im Sinne von frechen Bemerkungen und schnodderigen Antworten als auch – was noch schlimmer wog – des Einbruchs und Diebstahls in verschiedenen Wohneinheiten überführt und deshalb fristlos entlassen worden.
»Woas is en mit dem los?«, murmelte Schorsch vor sich hin, während er auf seinen Stock gestützt, den er immer zusätzlich an seinem Rolli mit sich führte, den Gemeinschaftsraum betrat.
»Ich denke, ein Pharisäer täte mir jetzt gut«, sagte Sonja. »Bei diesem kalten Wetter ist das gerade das richtige Getränk und beinhaltet wenigstens etwas Alkohol.«
»Könnte ich jetzt auch vertragen«, stimmte Leonore zu und Agnes schloss sich an.
»Mal sehen, ob wir Erfolg haben«, sagte Leonore und bewegte sich in Richtung Küche.
Kurz darauf war erregtes Stimmengemurmel zu hören. Und nur eine Minute später kam sie an den Tisch zurück und verkündete mit zufriedenem Gesichtsausdruck: »Wir bekommen unsere Pharisäer. Also fast.«
»Soll des heiße, die wolle uns net amol en Schluck Rum gönne?«, fragte Schorsch, presste seine Lippen aufeinander und sah erbost zur Küche.
Er hatte das Getränk letztes Jahr zum ersten Mal auf dem Adventsmarkt gekostet und wusste deshalb ganz genau, welche Zutaten dazu notwendig waren, und dass besonders der Rum nicht fehlen durfte.
»Der Rum ist nicht das Problem«, klärte Leonore ihn auf, »sondern der braune Zucker.«
»Ach so. No dann gehts ja«, kommentierte Schorsch mit einem erleichterten Atemzug.
***
Während Adam Gottlieb die Wagentür geöffnet und versucht hatte sich aus dem Wagen zu quälen, schrieb René hektisch eine kurze Nachricht in sein iPhone. Zu mehr kam er nicht, weil drei Bewohner gerade vor der Seniorenresidenz eintrafen und die beiden Frauen sofort auf seinen Opa zueilten, um ihm aus dem Auto zu helfen.
Im Grunde war es René recht. Er selbst fasste den alten Mann, der nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, nur sehr ungern an. Auch die Zeit, die er zwangsläufig immer mal wieder mit ihm verbringen musste, nervte ihn maßlos. Dennoch empfand er es als Frechheit, dass diese rothaarige Schnepfe ihn anpflaumte und auch noch die Dreistigkeit besaß, ihn belehren zu wollen, welchen Wagen er fahren sollte.
Schon allein deswegen und weil das gemeinsame Mittagessen heute absolut nicht so abgelaufen war, wie er sich das vorgestellt hatte, maulte er zurück, dass sie das nichts angehen würde. Anschließend wandte er sich, all seinen Zorn unterdrückend, seinem Opa zu.
»Opi. Ich sagte doch, dass du warten sollst.«
Statt einer Antwort sah Adam Gottlieb seinen Enkelsohn nur traurig aus seinen wässrigen blassblauen Augen an und schlurfte, eingehakt zwischen den Frauen zur Eingangstür.
René zuckte mit den Schultern. »Also dann bis zum nächsten Mal, Opi. Du bist ja in guten Händen«, rief er Adam zu und brauste, kaum eine Sekunde danach mit aufheulendem Motor durch die enge Altstadtgasse.
Als er die Bahnhofstraße hoch raste, beherrschte ihn nur noch ein Gedanke: Ich muss schnellstens zu Geld kommen.
Sonntag / 15:30 Uhr – Zuhause von Helene und Herbert
Nachdem Herbert zwei große Stücke Käsekuchen verputzt hatte und ihm das dritte durch Helenes strengen Blick verweigert worden war, schob er den Kuchenteller beiseite, wandte sich Bettina und Ferdinand zu und sagte: »Zu dem angebliche Gisbert Grabenstein, dem Agnes Kippenberger auf den Leim gegangen is, hab ich nix rausbekomme. Der is weder in Google zu finde noch is der in Facebook und auch net in Instagram unterwegs. Und um auf die Dade in der Agentur zugreife zu könne, wollt' ich mich selbst da anmelde. Aber Helene hatt' e bessere Idee. Kommt mit!«
Herbert eilte die Treppe hoch, immer auf der Hut, um nicht über die ihm vorausrennende Lizzy zu stolpern.
Sobald die Spaniel-Dame bemerkte, dass es ins Obergeschoss ging, peste sie los und stand als Erste vor der Tür zum Büro, hinter der sich ihr heiß geliebter Flokati Teppich befand, auf dem sie sich jetzt auch wieder nach drei Umdrehungen niederließ.
»Weil meist Frauen betroffen sind, haben wir beschlossen, dass es besser is, wenn ich Helene anmelde«, erklärte Herbert und öffnete eine Datei im Rechner. »Was meint ihr ...? Kann mer doch so lasse, oder?«
»Das Foto ist unbestritten eine Wucht«, ließ die dreiundsiebzigjährige Bettina ihrer Begeisterung freien Lauf, wandte sich ihrem Ehemann zu und fragte vorwurfsvoll: »Wieso bekommst du das bei den Aufnahmen von mir nicht hin?«
»Du willst doch immer authentische Fotos«, verteidigte sich Ferdinand.
»Mit authentisch meine ich, dass ich nicht in Position stehen muss. Aber nicht, dass jede Falte in meinem Gesicht zu sehen ist.«
Ferdinand enthielt sich eines weiteren Kommentars und widmete sich stattdessen Helenes vermeintlichen Profildaten.
»Eine vermögende, 62-jährige Witwe aus Hamburgs Uradel? Alle Achtung! Nicht kleckern, sondern protzen.« Er nickte anerkennend. »Wenn da keiner drauf anspringt, dann weiß ich auch nicht ...«
»Des war der Sinn«, stimmte Herbert ihm zu. »Deshalb hab ich Photoshop an die Grenze des Machbaren gelotst.«
»Jetzt übertreib mal nicht«, empörte sich Helene. »So schlecht sehe ich für mein Alter auch nicht aus.« Seufzend setzte sie nach: »Bislang hat es aber noch nichts gebracht.«
In dem Augenblick ging eine Nachricht der Agentur ein.
Guten Tag, Frau Charlotte von Amsinck.
Vielen Dank, dass Sie sich auf der Suche nach einem Partner, zwecks gleicher Interessen, unsere Agentur Lebensfreude – auch im Alter ausgesucht haben.
Es freut uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir bereits einen Klienten empfehlen können. Die Kontaktdaten sind im Anhang einsehbar. Umgekehrt haben wir Ihre Daten dem potenziellen Mandanten zugeschickt.
Und indem Sie unseren AGB zugestimmt haben, erhalten Sie die Freigabe zu unserer Webseite, auf der sie weitere Kandidaten finden.
Das Team der Agentur fürLebensfreude – auch im Alter
wünscht Ihnen viel Erfolg.
Anstatt wie üblich, sich namentlich zu verabschieden, tauchten nach oben steigenden Herzchen auf.
»Ziemlich gefühlsduselig«, meinte Helene. Dennoch hing sie Herbert im Rücken, während er den Anhang öffnete.
Der erste Klient, den die Agentur vorgeschlagen hatte, wohnte in Leipzig, war einundachtzig Jahre alt und Mathematiklehrer im Ruhestand. Er hatte weiße, halblange, schüttere Haare und einen zerzausten grauen Oberlippenbart. Auf dem Foto trug er eine robuste Outdoor-Jacke, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte und vermuten ließ, dass er sich lieber in der Natur aufhielt als in einem Konzertsaal.
»Wie kommen die darauf, dass der zu mir passen könnte?«, äußerte Helene beinahe hysterisch. »Lehrer hin oder her ... Was soll ich denn mit so einem ollen Zöbbel?«
Herbert grinste und dachte: Jetzt siehst de mal, was de an mir hast.
Auch Bettina verzog ihr Gesicht und schüttelte sich. »In erster Linie suchen wir nach diesem Gisbert Grabenstein; den Mann, der sich an Agnes Kippenberger herangemacht hat und nicht nach einem geeigneten Partner für Helene. Ich denke, den hat sie schon.«
Holla! Des will ich aber meine, stimmte Herbert gedanklich zu.
»Surf mal durch die Fotos der Kandidaten der Agentur und beschränke die Suche nach einem Mann in entsprechendem Alter«, schlug Ferdinand vor, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Herbert.
Je länger dieser die Datei ohne Erfolg durchstöberte, umso intensiver wurde der Schmerz, verursacht durch die hinter ihm stehende Helene, deren spitze Fingernägel sich in seine Schultern bohrten. Dennoch ertrug er die Tortur wie ein Mann. Der Mann, der er für sein Helenchen sein wollte.
Ein weiteres »Pling« melde eine neue Nachricht und die Nägel seiner Liebsten – so zumindest Herberts Empfinden – zogen sich aufgrund des Fotos langsam aus seiner Muskulatur zurück.
Er gab einen erleichterten Seufzer von sich und sagte, allerdings mit einem Hauch von Eifersucht: »Offenbar entspricht dieser Herr dem Niveau der gnädigen Frau.«
Guten Tag, Frau Charlotte von Amsinck.
Nach monatelanger Suche sieht es so aus, als hätte ich endlich eine Gleichgesinnte gefunden. Genau wie Sie liebe auch ich die klassische Musik, gehe gerne in Konzerte und Museen. Abgesehen davon – wenn ich das so sagen darf – ist mir Ihr ansprechendes Äußeres sofort ins Auge gefallen.
Ich würde mich sehr freuen, mich mit Ihnen austauschen zu dürfen.
Es grüßt Sie, Dr. phil. Franz Maria Zimmerling.
»Der trägt ja stark auf.« Bettina blähte die Backen auf und stieß die Luft mit hörbarem Prusten aus. »Warum nicht gleich Professor, Doktor, Doktor? Aber zumindest sieht er annehmbar aus«, setzte sie nach.
Der Allgemeinzustand des Kandidaten schien beiden Frauen zu gefallen.
»Der Titel sagt überhaupt nichts«, entgegnete Ferdinand, jetzt ebenfalls ein klein wenig verschnupft. »Doktor der Philosophie bedeutet nichts anderes, als dass der Mann – wenn es denn stimmt – in Sprach- und Kulturwissenschaften promoviert haben könnte.«
»Aber er macht einen sehr netten Eindruck«, widersprach Bettina.
Das Foto zeigte einen Mann mit randloser Brille, einem aufgeschlossenen Gesicht und blonden kurzen Haaren mit Geheimratsecken. Zudem war er glattrasiert. Der oberste Knopf seines Hemdes stand offen, was im Gegensatz zum Text einen legeren Ausdruck vermittelte.
»Der wäre schon eher mein Fall. Gib doch mal den Namen bei Google ein. Vielleicht steht da was über ihn«, forderte sie Herbert auf.
Mit einem erneuten Seufzer – ob aus Erleichterung oder aus Enttäuschung über ihre Bemerkung – eher mein Fall – kam er ihrer Forderung nach.
»Prof. Dr. phil. Franz Maria Zimmerling. Foto und Beruf stimmen mit dem überein, was er vorgibt zu sein und er sieht wirklich sehr charmant aus.«
»Nicht so eilig«, bremste Ferdinand die Schwärmerei seiner Frau für diesen Fremden. »Das könnte noch immer alles ein Fake sein. Denn das ist der Zweck des Liebe- oder Romance-Scamming – wie sich diese Form des Internetbetrugs nennt.«
»Genau«, stimmte Herbert ihm zu. »Deshalb falle so viele einsame Frauen drauf herein. Wer sagt denn, dass der Mann überhaupt auf der Suche nach einer Frau mit den gleichen Interessen ist? Vielleicht weiß er selbst gar nix davon – hast du doch vorhin selbst gesagt«, wandte er sich Helene zu, »und sein Foto und seine Biografie wurden einfach nur benutzt.«
»Erstens sind wir nicht einsam und zweitens haben wir doch nur festgestellt, dass der Mann nicht übel aussieht«, verteidigte sie sich und Bettina als sie bemerkte wie ihre beiden Partner reagierten. »Aber weil wir gerade bei dem Thema sind ... Ab und an ein Essen in einem gepflegten Lokal wäre ganz nett, anstatt alle naselang nur Pizza und Pasta.«
Sie zwinkerte ihrer Freundin zu.
»Angekomme«, antwortete Herbert spontan. »Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Wir müsse des Foto, des uns die Gundel von dem Gisbert Grabenstein geschickt hat, finde. Also teile wir uns auf – wie immer. Ihr könnt vom Wohnzimmer aus recherchiere«, wandte er sich den Frauen zu. »Ferdi und ich bleiben hier am Rechner. Oder wollt ihr hier ...?«
»Nein, ist in Ordnung. Wir gehen nach unten«, stimmte Helene zu und packte ihre Freundin am Arm.
Kurze Zeit später rief Bettina: »Das gibt es doch nicht!«
»Hast du ihn?«, fragte Helene. Sie war gerade dabei Tee aufzugießen und hielt in ihrer Bewegung inne.
»Ja, und nein. Das Foto, das Gundel geschickt hat, stimmt nicht mit dem Namen überein. Komm, sieh dir das an!«
Helene stellte den Wasserkocher zur Seite und trat zum Küchentisch.
»Na, das ist hochinteressant. Ich glaube, wir sind auf der richtigen Spur. Jetzt gilt es nur noch zu klären, welcher Name zu welchem Foto gehört.«
»Nur, wie sollen wir das herausfinden?«, entgegnete Bettina.
»Indem ich beide Mailadressen anschreibe«, erwiderte Helene. »Bin gespannt auf die Rückmeldung und vor allem, wer der Herren sich für wen ausgibt oder ob ein drittes Profil auftaucht.«
»Was macht ihr? Schreibst du etwa jemandem?«
»Dammich!« Helene zuckte zusammen. »Müsst ihr euch so anschleichen?«, wetterte sie gegen Herbert und Ferdinand.
»Wir haben das Foto von Gisbert Grabenstein gefunden. Aber sein Name passt nicht «, äußerte Bettina.
»Aha! Und des is der Agentur net aufgefalle?«, fragte Herbert ungläubig.
»Offenbar nicht«, murmelte Helene vor sich hin, während sie weiter auf die Tasten des iPads einhämmerte.
»Und da kam euch die Idee die Herren anzuschreiben?«, stellte Ferdinand anhand des Textes fest, den er wegen seiner Größe und ohne sich über Helenes Schultern beugen zu müssen, locker erfassen konnte.
»Na klar! Wie sonst können wir erfahren, wer zu welchem Foto gehört. Ganz davon zu schweigen, ob die Herren überhaupt wissen, dass sie von einer Agentur dazu benutzt werden, wohlhabende Frauen über den Tisch zu ziehen«, entgegnete Bettina.
»Ich weiß jetzt grad net mehr, ob des so e gute Idee war«, äußerste Herbert.
»Jetzt hab dich nicht so. Ich begebe mich ja nicht unmittelbar in Gefahr, wenn ich E-Mails schreibe.«
»Ich könnte mich ja bei der Agentur anmelden«, äußerte Bettina.
»Ich denke, dass das nicht nötig ist«, widersprach Ferdinand sofort. »Es genügt, wenn ...«
»Das ist eine sehr gute Idee«, wurde er von Helene unterbrochen. »Mit zwei von uns haben wir eine viel bessere Chance. Kannst du Bettinas iPad von hier aus einrichten?«, wandte sie sich an Herbert.
»Na klar, kein Problem.«
»Sollte ich da nicht ein Wörtchen mitzureden haben?«, mischte Ferdinand sich verhalten ein. Jedoch standen seine Chancen drei zu eins wie er den sechs Augen, die ihn anschauten, entnehmen konnte.
»Was gibt es da noch zu überlegen? Du willst doch auch, dass solchen Verbrechern das Handwerk gelegt wird«, entgegnete Bettina.
»Na gut.« Ferdinand nickte und Herbert hatte grünes Licht.
»Ist e Sach von Minuten«, versicherte er. »Zugriff auf euren Computer hab ich ja noch. Es sei denn, ihr habt euer Passwort geändert.«
»Nein, haben wir nicht. Aber vielleicht sollten wir das tun«, brummte Ferdinand.
»Ich bin gespannt auf die erste Reaktion und vor allem auf das Foto von mir«, ließ Bettina, schon ganz kribbelig, verlauten.
Sonntag / 16:30 Uhr – Seniorenresidenz
Innerhalb der letzten zwanzig Minuten hatten die fünf Senioren je zwei Pharisäer zu sich genommen, die nicht nur für ein wohliges warmes Gefühl im Magen sorgten.
Während Agnes, Lore, Sonja und Schorsch sich besonders angeregt unterhielten, saß Adam mit gesenktem Kinn auf seinem Stuhl und schnarchte leise.
»Ich denke, wir bringen ihn in seine Wohnung«, schlug Leonore vor und klopfte ihm sanft, dann etwas heftiger auf den Arm.
Nach drei bis vier Klopfzeichen hob er erschrocken den Kopf und brauchte einen Moment, um zu wissen, wo er sich befand.
»Magst du dich ein wenig ausruhen?«, fragte Agnes besorgt. »Wir begleiten dich gerne in deine Wohnung.«
Adam nickte und ließ sich von Leonore und Agnes aus dem Stuhl hochhelfen. Erneut eingehakt zwischen den beiden schlurfte er aus dem Raum.
Nun, mit Sonja alleine am Tisch, war es Schorsch ein wenig unangenehm. Nicht, weil er die Gesellschaft der Frau mit den roten, immer leicht wirren Haaren fürchtete. Im Gegenteil – ihre resolute Art gefiel ihm. Sie ließ sich von niemandem etwas vorschreiben und vertrat ihre Meinung ebenso wie Gundel, mit der er sich öfter kabbelte. Er konnte sich immer auf sie verlassen. Sie hatte ihn in seiner Trauer, als seine eigene Frau vor mehr als zwanzig Jahren verstorben war, aufgefangen und unterstützt. Genauso wie sie seinem ehemaligen Nachbarn und Freund, Sepp, in seinen letzten Stunden zur Seite gestanden hatte.
Aber Gundel wie auch Sonja konnten sehr hartnäckig sein, wenn es darum ging, Dingen auf den Grund zu gehen. Deswegen ahnte Schorsch, dass Sonja ihm, Agnes und Lore den langen Verdauungsspaziergang nicht abkaufte.
»Du siehst etwas angespannt aus. Geht es dir gut?«, stellte sie, wie er befürchtete, jetzt auch die Frage. »Komm schon, mir kannst du doch sagen, was dich bedrückt«, bohrte sie gnadenlos nach, als er nicht sofort antwortete.
»No ja. Des is weeche dem René. Der Nixnutz kimmt doch nur, wenn er mol widder Geld braucht un de Adam lässt sich jedesmol widder druff oi. Debei hot der doch aach nur noch soi Rente, nochdem fast des ganze Geld was er domols fer soi Haus gekrieht hot, fer die deuer Behandlung fer soi Dochter, die Mudder vom René, druff gegange is. Awer des waast de ja bestimmt.«
»Ja und nein«, gab Sonja zu. »Adam erzählte zwar irgendwann einmal, dass seine Tochter an einer seltenen Krankheit gelitten hatte, die nur in den USA behandelt werden konnte. Aber dass er dafür sein Haus verkaufen musste, das wusste ich nicht.«
»Isch will do aach nix weiter verzähle. Sonst heest's isch wär en Quasselkopp. Frach en selbst, wenn de des genau wisse willst. Ich leesch mich jetzt aach a bissja uffs Ohr. Mer seh'n uns dann heut ovend beim Esse.«
Schorsch erhob sich, so rasch es ihm möglich war und flüchtete auf seinen Rollator gestützt aus dem Gemeinschaftsraum.
Auch wenn er über Adam geplaudert hatte ... Den echten Grund, weswegen Agnes, Lore und er unterwegs waren, hatte er nicht verraten, und war ziemlich stolz auf sich.
Sonntag / 22:00 Uhr – Freihofplatz
Aufgrund der niedrigen Temperaturen und des Regens war der Freihofplatz um diese Uhrzeit wie ausgestorben. René war es nur recht. Er saß nahe der Klostermauer in seinem Toyota Supra und wartete auf Tim Neureuther – allerdings schon über eine Viertelstunde und langsam wurde ihm kühl.
Mit einer gewaltigen Wut im Bauch griff er nach dem Handy, um ihn zur Schnecke zu machen, als er aus den Augenwinkeln einen Schatten sah. Im selben Moment wurde die Beifahrertür aufgerissen und Tim ließ sich neben ihm auf den Sitz fallen.
»Du bist zu spät«, schnauzte René ihn an. »Ich frier' mir hier fast den Arsch ab. Hast du die Moneten?«
Tim wedelte mit dem Umschlag und grinste. »Allein schon wie der aus der Wäsche geguckt hat, war die Sache wert.« Er gab ein glucksendes Lachen von sich.
»Wenigstens hattest du deinen Spaß«, erwiderte René und riss den Umschlag auf.
»Das ist alles? Will der mich verarschen?«
Tim zuckte mit den Schultern, fragte aber sofort: »Wo bleibt mein Anteil?«
»Dein Anteil?« René lachte. »Na ja, ich will mal nicht so sein.« Er griff in den Umschlag und zog einen Fünfziger heraus. »Dafür, dass du dem Typ nur einen kleinen Schrecken eingejagt hast, dürfte das wohl reichen.«
Bevor Tim etwas erwidern konnte, sagte René: »Ich hab' neue Adressen auf deinen Laptop gespielt. Wenn du die Dämchen noch heute kontaktierst, gibts auch wieder Kohle – und ab jetzt ganz allein für dich.«
»Wie viele sind es?«
»Momentan zwei, aber da kommen eine Menge mehr. Die sind ja so was von naiv. Ohne groß darüber nachzudenken, geben die ihr Geld einem völlig Fremden, den sie nur übers Internet kennen. Wie dumm kann man denn sein?« Erneut gab René ein glucksendes Lachen von sich. »Da muss man doch einfach zugreifen«, setzte er nach.
Zweifelsfrei teilte Tim diese Sichtweise, besonders weil er dadurch zusätzliche Einnahmen hatte. Er musste aber auch eingestehen, dass diese Geldquelle ohne René nicht möglich gewesen wäre. Er hatte die Webseite der Agentur Lebensfreude – auch im Alter erstellt sowie das gesamte Konzept. Immer wieder lud er Fotos und Autobiografien verschiedenster Menschen bestimmter Altersgruppen aus dem Internet herunter, sortierte sie nach Geschlecht und Wunsch ihrer Freizeitgestaltung und stellte sie als potenziell interessierte Mitglieder auf der Seite der Agentur ein.
Tims Laptop hatte er so eingerichtet, dass er nur die entsprechenden Adressen anklicken und die individuell ebenfalls von René verfassten Texte an meist ältere Damen, die geködert werden sollten, absenden konnte.
Woher die Namen und E-Mail-Adressen kamen, verschwieg er Tim. Er sollte die Damen – oder manchmal auch Herren – lediglich bei Laune halten und nach einer gewissen Zeit, in der er ihr Vertrauen erlangt hatte, um Geld bitten, weil er sich angeblich aus irgendeinem Grund in einer finanziellen Zwangslage befand.
Dafür verlangte René nur einen kleinen Obolus von zehn Prozent der Einnahmen.
Warum, aber ab sofort nicht mehr.
Misstrauisch geworden fragte Tim: »Weshalb hast du mich heute eingespannt und nicht selbst ...«
»Das geht dich nichts an«, zischte René. »Sei froh, dass ich dir mit der Abzocke an den Alten ein risikoloses Zusatzeinkommen gesichert habe.«
»Ich will es aber wissen!«, beharrte Tim auf eine Antwort. »Wenn du eine andere, einträglichere Einnahmequelle aufgetan hast, will ich dabei sein, sonst ...«
»Drohst du mir etwa?«
Im fahlen Licht der Straßenlaterne erkannte Tim in Renés Gesicht pure Verachtung.
Dann lachte er aus vollem Hals und schüttelte den Kopf. »Der kleine Scheißer will mir tatsächlich drohen. Hast du vergessen, dass ich es war, der es dir ermöglicht hat, die Alten abzukassieren? Du kannst doch gerade mal die Tasten auf deinem Laptop bedienen. Also droh mir nie wieder! Hast du verstanden? Und nun raus aus meinem Wagen!«
Mit einer gewaltigen Wut im Bauch stieg Tim aus. Aber anstatt sich zu entfernen, rannte er um das Auto herum. Er riss die Tür auf, schlug René zweimal ins Gesicht und zerrte ihn aus dem Fahrzeug. »Glaubst du im Ernst, du könntest so mit mir umgehen? Keiner verarscht mich, hörst du? Keiner!«
Ein weiterer Schlag traf Renés Rippen. Er klappte zusammen und konnte sich gerade noch auf der Motorhaube abstützen. Dennoch spuckte er das Blut, das aus seinen aufgeplatzten Lippen und der Nase rann, Tim vor die Füße. Daraufhin versetzte der ihm mehrere Faustschläge in Magen und Oberkörper. Den Unterarm an Renés Hals gedrückt, drängte er ihn an die Klostermauer und raunte, dicht neben ihm: »Ich denke, du hast verstanden, dass du mich nicht loswirst.