Tod am Schachenbrunnen - Rita Renate Schönig - E-Book

Tod am Schachenbrunnen E-Book

Rita Renate Schönig

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Beschreibung

In der Nacht zum 21. Dezember, dem keltischen Fest Yule, führen fünf Jugendliche am ›Schachenbrunnen‹ ein Ritual durch. Sie wollen einem Familiengeheimnis auf die Spur kommen. Am darauffolgenden Morgen wird eine Frau an diesem Brunnen tot aufgefunden. Weitere Nachforschungen der Jugendlichen fördern noch mehr Geheimnisse zutage. Das Team um Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener hat Martin Appel, einen häufig verurteilten Straftäter und Ex-Lebensgefährten der Toten, im Fokus. Ebenso die Senioren-SoKo. Sie haben Martin Appel auch bald aufgespürt und sogar beinahe festgesetzt. Aber eben nur beinahe.

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Rita Renate Schönig

Tod am Schachenbrunnen

Regionalkrimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Tod am Schachenbrunnen

Montag – 21. Dezember 2020 / 23:45 Uhr

Dienstag – 22. Dezember 2021 / 00:15 Uhr

Mittwoch / 23. Dezember 2021 – 07:45 Uhr

Donnerstag – 24. Dez. 2021 / 03:45 Uhr

Freitag – 25. Dezember 2020 / 09:30 Uhr

Samstag – 26. Dez. 2020 / 14:50 Uhr

Die Geschichte zum ›Schachenbrunnen‹

Die Geschichte zum ›Schachenkreuz‹

Darstellung zum ›Löffeltrinker‹

Vita:

Impressum neobooks

Tod am Schachenbrunnen

9. Teil der Serie

Seligenstädter Krimis

Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Teile des gesprochenen Textes sind im Seligenstädter Dialekt verfasst und daher, die Grammatik betreffend, nicht regelkonform.

Zum Inhalt:

Esther und Noah Blum treffen sich mit ihren Freunden Ryan, dessen Bruder Kieran und Sophia, seiner Freundin, in der Nacht zum 21. Dezember am ›Schachenbrunnen‹.

Sie wollen einem Familiengeheimnis auf die Spur kommen und führen ein okkultes Ritual zum keltischen Fest zur Wintersonnenwende Yule durch.

Am darauffolgenden Morgen wird Ramona, die Ex-Frau von Paul Lange und Sophias Mutter, genau an diesem Brunnen tot aufgefunden. Weitere Nachforschungen der fünf Jugendlichen fördern noch mehr Geheimnisse, sowohl in der Familie von Esther und Noah Blum, als auch in der von Sophia, zutage.

Im Team um Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener gerät Martin Appel, ein häufig verurteilter Straftäter und Ex-Lebensgefährte von Ramona, in den Fokus. Die Festnahme des Verdächtigen gestaltet sich jedoch als schwierig.

Ebenso macht sich die Senioren-SoKo mit Eifer an die Arbeit. Sie haben Martin Appel auch bald aufgespürt und beinahe festgesetzt. Aber eben nur beinahe.

Impressum

Texte © Copyright by

Rita Renate Schönig

Bildmaterialien © Copyright by

Rita Renate Schönig

Postfach 1126

63487 Seligenstadt

Mailadresse: [email protected]

Homepage: www.rita-schoenig.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert, in einem Abrufsystem gespeichert, in irgendeiner Form elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

Ständige Protagonisten:

Ermittlerteam Präsidium Offenbach K11

Nicole Wegener, Erste Kriminalhauptkommissarin

Harald Weinert, Kriminalhauptkommissar

Lars Hansen, Kriminalhauptkommissar

Dietmar Schönherr, Kriminaloberkommissar

Andreas (Andy) Dillinger, Kriminaloberkommissar Lebenspartner von Nicole

Staatsanwaltschaft:

Falk von Lindenstein und Felix Heller

Gerichtsmedizin:

Dr. Martin Lindner (Doc) und Viktor Laskovic

Kriminaltechnik:

Kai Schmitt,Kriminaloberkommissar

Lutz Berger, Kriminaloberkommissar

Wiebke Pannkok,Kriminalkommissarin

Seligenstädter Polizeistation:

Josef Maier, Polizeihauptkommissar/ Dienststellenleiter

Hans Lehmann, Polizeioberkommissar

Berthold Bachmann, Polizeikommissar

Saskia Ehrlich, Polizeikommissarin

Philipp Reichenbach, Polizeianwärter

Hobby-SoKo:

Helene Wagner, Freundin von Nicole Wegener

Herbert Walter, Lebensgefährte von Helene

Ferdinand und Bettina Roth, Freundevon Helene

und Herbert

Gundula (Gundel) Krämer, Nachbarin

Georg (Schorsch) Lenz, ehemaliger Nachbar

Brigitte Diaz, Freundin von Schorsch

Felix und David Körner, Nachbar-Jungs

Speziell diesem Roman zugeordnete Protagonisten:

Katharina und Thomas Blum, Eltern von

Esther und Noah sowie der entführten Charlotte

Viktoria und Andrew Thompson (Nachbarn) Eltern von Ryan und Kieran

Sophia Lange, Freundin von Kieran

Paul Lange, Vater von Sophia

Julius und Regina Bauer, Vermieter

Ramona Lange, Mutter von Christina

Luise Fellbach, Nachbarin von Ramona und Christina

Martin Appel, Ex-Lebenspartner von Ramona

Robert Mielke, Bewährungshelfer

Franziska Ungerer, (Franzi) findet die Leiche

Johannes Friedmann, Landwirt

Erklärungen in alphabetischer Reihenfolge:

BZR – Bundeszentralregister

DNA und DNS. Bei der DNS handelt es sich um die deutsche Schreibweise für Desoxyribonukleinsäure.

DNA steht für die englische Schreibart bzw. Übersetzung.

EMA – Einwohnermeldeamt

KT – Kriminaltechnik

Persiko – Sauerkirschlikör (beliebt in den 70er-Jahren).

Plattmakers – Frikadellen (plattdeutsch)

PP – Polizeipräsidium

Steppenhexe – ein Ausdruck für die in Westernfilmen durch die Stadt rollenden Grasbündel.

Trachtengruppe – scherzhaft für die uniformierte Polizei.

Der Satz: Herein, wenn’s kein Schneider ist, wurde abgeleitet von: Herein wenn’s nicht der Schnitter (der Tod) ist. Verständlich, dass der Tod kein gern gesehener Gast ist.

Die Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main I ist eine Vollzugsanstalt des Landes Hessen, in der, überwiegend Untersuchungshaft an erwachsenen männlichen Gefangenen vollzogen wird. Sie ging historisch aus dem Strafgefängnis Frankfurt-Preungesheim hervor.

Montag – 21. Dezember 2020 / 23:45 Uhr

Endlich konnte sie es wagen. Ihr Ehemann Thomas und ihr 14-jähriger Sohn Noah schliefen. Esther, ihre Tochter war bei ihrer Freundin Sophia und würde vermutlich auch dort übernachten.

Ob das allerdings so stimmte oder sie die Nacht bei einem Freund verbrachte, wusste Katharina nicht. Und selbst wenn, konnte sie nichts dagegen tun. Esther war 18 Jahre alt. Zudem wurde die Distanz zwischen ihnen beiden in letzter Zeit immer größer. Gespräche kamen kaum noch zustande. Wohingegen die Blicke aus den zusammengekniffenen Augen ihrer Tochter in den vergangenen Monaten beinahe verachtend waren. Warum das so war, entzog sich Katharinas Kenntnis.

Lass sie, hatte ihre Nachbarin und Freundin Vicki gesagt. So sind Teenager in dem Alter. Das gibt sich wieder.

Nun hatte Vicki – eigentlich Viktoria – gut reden. Ihre Söhne Ryan und Kieran machten kaum Ärger; dafür sorgte schon ihr Ehemann Andrew. Stur, aber gerecht gab der gebürtige Schotte die Werte seiner Vorfahren an seine Abkömmlinge weiter. Dazu gehörten Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, eine positive Lebenseinstellung, Humor sowie Feiern – spontan und ohne bestimmten Anlass.

Entsprechend war aus einer Nachbarschaft eine enge Freundschaft geworden. Katharina konnte nicht zählen, wie oft sie in den letzten Jahren im weitläufigen Garten der Thomsons zusammengesessen hatten oder am großen Kamin im Wohnzimmer.

Umso mehr bedrückte es sie, dass sie trotz aller Vertrautheit ihr Geheimnis nicht mit ihnen teilen konnte. Thomas, ihr Ehemann wollte ohnehin nicht darüber reden.

Besonders heute, am Geburtstag von Charlotte, hätte sie die Hilfe und den Zuspruch einer Person gebraucht, die ihr nahestand. Aber wie immer war sie allein mit ihrem Schmerz.

Die Kapuze ihrer Daunenjacke tief ins Gesicht gezogen, schlich Katharina aus dem Haus. Es war stockdunkel und die Temperatur auf unter sechs Grad gefallen. Ihre Finger fühlten die Kerze und das Feuerzeug in der einen Seite ihrer Jackentasche und in der anderen das Handy und den Haustürschlüssel.

Sie eilte die nur zu ihrer linken bebaute Straßenseite entlang. Vor den Bahnschienen, bevor der Westring in die Giselastraße überging, bog sie nach rechts in den Schachenweg ab. Vor ihr lagen ausgedehnte mit Reif überzogene Felder. Dazwischen, einer Insel gleichend, eine Großgärtnerei mit Wohnhaus.

Aus der Ferne drangen gedämpft die Geräusche der Autobahn, ansonsten war es totenstill und die Nacht so schwarz, wie es in ihrem tiefsten Inneren leer war.

Sie zog ihr Smartphone hervor und schaltete die Beleuchtung ein. Nach etwa 100 Meter erreichte sie die Weggabelung. Geradeaus hieß die schmale Straße jetzt Babenhäuser Weg. Sie blieb aber auf ihrem Weg.

Am ›Schachenkreuz‹ angekommen, öffnete sie das Türchen des Jägerzauns, der das kleine Areal umgab und legte ihr Handy auf den Steinsockel des steinernen Feldkreuzes. Ehrfürchtig hob sie den Blick zu der nun angestrahlten Figur des Jesus am Kreuz und kniete sich auf den harten und eiskalten Sandstein.

Nach zwei Versuchen hatte sie es mit zitternden Händen geschafft, die Kerze anzuzünden.

Sie senkte den Kopf.

Kannst du mir je verzeihen, stellte sie ohne die Lippen zu bewegen und zum tausendsten Mal dieselbe Frage. Doch auch heute erhielt sie keine Antwort – weder von dem Leidenden – noch von ihrer Charlotte.

Aber war da nicht ein ganz leiser Gesang ... irgendwo weit entfernt?

Katharina streckte ihren Kopf, lauschte in die Richtung, in der sie meinte, die Melodie zu hören. Doch außer dem fernen Rauschen der im hohen Tempo über die A3 rasenden Autos war da nichts.

Hör auf damit, schimpfte sie sich, sonst wirst du noch paranoid. Eine Stimme in ihr sagte: Bist du das nicht schon?

Trotzdem wanderten ihre Gedanken wie so oft in den letzten Jahren zu dem Tag als Charlotte verschwand. Sie erinnerte sich genau, als wäre es gestern gewesen.

Es war der 23. Juni 2002, ein Samstag. Sie schob den Kinderwagen mit ihrer kleinen Tochter auf eben diesem Feldweg entlang. Obwohl die Temperatur am Vormittag bei knapp 23 Grad lag und die Sonne sich oftmals hinter einer Wolke verbarg, bestand eine hohe Luftfeuchte. Am Nachmittag sollte es noch schwüler werden und vereinzelt regnen. Trotzdem ging sie weiter. Sie hatte Angst, wenn sie stehen bliebe, würde die Kleine wieder anfangen zu schreien.

Hauptsächlich nachts gab Charlotte keine Ruhe. Sobald alles still wurde, drehte sie so richtig auf, sodass Thomas vor zwei Monaten ein Feldbett in der Garage aufgeschlagen hatte, um wenigstens ein paar Stunden schlafen zu können.

Beide waren mit den Nerven am Ende und es gab öfters Streit, auch an diesem Morgen.

Kaum hatten sie ihr Frühstück beendet wobei Katharina höchstens zweimal in ihr Brötchen gebissen hatte, schrie Charlotte schon wieder aus Leibeskräften.

Thomas' Blick, genervt und gleichzeitig vorwurfsvoll, bedurfte keiner Worte. Die hinter ihm zuschlagende Tür sagte alles.

Müde und mit Tränen in den Augen schlurfte Katharina ins Kinderzimmer und je näher sie kam, desto wütender wurde auch sie.

»Kannst du nicht endlich mal Ruhe geben!«, schrie sie, kaum dass sie vor dem Gitterbettchen stand.

Charlotte verstummte und starrte sie aus ihren blauen Augen an, aus denen dicke Tränen über die geröteten Wangen liefen. Einen Augenblick später verzog sie das Gesichtchen, brüllte erneut und lauter als zuvor.

Mit einem langen Seufzer hob Katharina das Kind hoch und schlagartig kehrte Ruhe ein. Auch beim anschließenden Windelwechsel blieb Charlotte still.

»Ich mache dir jetzt dein Fläschchen und danach gehen wir beide spazieren. Was hältst du davon?«

Sie küsste die Kleine auf die Stirn und drückte sie an sich.

Doch kaum in der Küche angekommen, setzte das Schreikonzert wieder ein.

Katharina versuchte, während sie das Kind im Arm hielt und die vorbereitete Babyflasche erwärmte, das ohrenbetäubende Geschrei auszublenden, drehte das Radio auf und sang lautstark mit Kylie Minogue I Should Be So Lucky.

Plötzlich erschien ihr der Song wie eine Mahnung. Sollte sie nicht glücklich sein? Andere Paare wünschten sich Kinder, bekamen jedoch keine.

Sicher, so früh hatten sie den Nachwuchs nicht geplant. Sie war gerade mal 19 und Thomas 21 Jahre alt. Aber sie liebten sich und wollten für immer zusammenbleiben; das hatten sie sich in der ersten Nacht, die sie zusammen verbrachten, geschworen.

Nur fragte sich Katharina häufiger, ob sie beide sich dieses Versprechen vorschnell gegeben hatten und wirklich einhalten könnten.

Sie sah Charlotte an. Die lächelte und gab ein fröhliches Glucksen von sich aber kein Geschrei.

Das blieb so auf der gesamten Strecke, die Katharina den Kinderwagen vor sich herschiebend zurücklegte. Sie war derart in ihren Gedanken gefangen, dass sie nicht bemerkte wie sie Bahnschienen überquerte und auf dem Schachenweg angekommen war.

Kurz vor dem ›Schachenkreuz‹ war Charlotte sogar eingeschlafen. Aufgrund dessen setzte Katharina sich dort auf die Bank unter dem riesigen Baum und gönnte sich selbst eine kleine Pause.

Verträumt schaute sie nach oben zu den im lauen Wind säuselnden zarten Blätter und den Vögeln, die durch die Äste flogen.

Ansonsten war es still ... einfach nur still.

Katharina schloss die Augen, atmete tief und bedauerte, dass Thomas nicht bei ihr war.

In der nächsten Minute war sie eingeschlafen.

Geweckt wurde sie durch den, jetzt um einige Nuancen kühleren Wind und dem zusätzlich eingesetzten Nieselregen. Erschrocken sprang sie auf und beugte sich in den Kinderwagen.

Noch benommen von den seltsamen Traumbildern, die sie heimgesucht hatten, konnte sie zuerst nicht begreifen, was sie sah – genauer gesagt, was sie nicht sah.

Charlotte! Sie war weg!

Hektisch suchte Katharina die Umgebung ab, lief den Weg entlang, über die Felder und Wiesen im immer stärker niederprasselnden Regen. Es schien, als ob außer ihr kein Mensch mehr auf der Erde wäre.

Weder ihre eigene Suche noch später die der Polizei waren erfolgreich. Ihre Tochter blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Eine Zeit lang hatten die Beamten der Kriminalpolizei sogar sie und Thomas in Verdacht, mit dem Verschwinden von Charlotte zu tun zu haben.

Sie stellten ihre Wohnung – damals lebten sie im Obergeschoss eines Zwei-Familien-Hauses in Altstadtnähe – auf den Kopf und durchleuchteten ihr gesamtes Leben inklusiv das ihrer Freunde und Bekannten. Auch Thomas’ Arbeitskollegen blieben davon nicht verschont.

Obwohl Katharina ihrem Mann nicht zutraute, dass er ihrer gemeinsamen Tochter etwas angetan haben könnte, bohrten sich unschöne Gedanken wie eine bösartige Geschwulst in ihren Kopf.

Ebenso erging es Thomas ihr gegenüber. Aber keiner von ihnen hatte den Mut, den anderen anzusprechen. Zu groß war die Angst vor dem, was dabei herauskommen würde.

So lebten sie nebeneinander her und versuchten – jeder auf seine Art – mit dem Schmerz umzugehen.

Zwei Jahre später kam Esther auf die Welt. Der Unterschied zu Charlotte hätte nicht größer sein können. Das stets lächelnde Mädchen war Thomas' Sonnenschein und brachte, nach seinem Empfinden, das Glück ins Haus Blum zurück. Obwohl sie die Schwester natürlich nicht ersetzen konnte.

Katharina hütete die Kleine wie ihren Augapfel und mit der Geburt von Noah, vier Jahre danach, schien die Familie wieder intakt.

Dann bemerkte Thomas, dass seine Frau sich an jedem 21. Dezember in der Nacht davonschlich. Er hätte ihr nicht folgen müssen, um zu wissen, wohin sie ging. Dennoch tat er es immer wieder heimlich und fand sie stets kniend am Feldkreuz.

Dienstag – 22. Dezember 2021 / 00:15 Uhr

Ob die Magie ihre Wirkung zeigte und, wenn ja, wann? Esther, Noah und Sophia hofften es. Ryan war fest davon überzeugt, während sein Bruder Kieran es einfach nur cool fand, weil seine Freundin Sophia sich als Medium zur Verfügung gestellt hatte.

Alle hatten sie die letzten Monate heimlich damit verbracht, die reichhaltig vorhandene Literatur von Kierans und Ryans Vater zu lesen. Außerdem hatten die beiden ihren Freunden allerlei Geschichten über die Anderswelt erzählt, mit denen sie durch ihren Dad bestens vertraut waren.

Für Andrew Thompson, den gebürtigen Schotten, war die Welt in Ordnung, wenn er abends vor dem Kamin sitzen, Whisky trinken und in die züngelnden Flammen sehen konnte. In den Sommermonaten – die begannen bei ihm schon mal Ende März – wurde der Grill im Außenbereich zur offenen Feuerstelle. Dort ließ sich der Feierabend genauso fabelhaft verbringen. Und je mehr Lebenswasser Andrew genoss, desto leichter sprudelten die Legenden von Geistern, Feen und sonstigen mystischen Wesen aus seiner Heimat über seine Lippen.

Interessiertes Publikum hatte er bei Ryan und Kieran, seinem eigenen Nachwuchs, aber auch bei Esther und Noah, den Kindern von Katharina und Thomas Blum, ihren Nachbarn, gefunden. Mit offenen Mündern hatten sie stets fasziniert seinen Erzählungen gelauscht.

Andrew, ein Mann wie ein Baum, muskulös und mit einem markanten Gesicht glaubte selbst fest an seine Geschichten, weshalb er sie derart authentisch vorbrachte, dass er oftmals sogar die Erwachsenen in seinen Bann ziehen konnte.

Und immer endete er mit dem Satz: Wer diese Magie nicht beherrscht, soll die Toten in Ruhe lassen und nicht herausfordern.

Seine Frau Viktoria, in einer bodenständigen deutschen Familie aufgewachsen, gab nichts auf diese Legenden, auch wenn es durchaus sagenumwobene Orte in den schottischen Highlands gab. So manch uralter Friedhof hatte ihr ab und an eine Gänsehaut eingebracht. Dennoch war sie felsenfest davon überzeugt, dass es mystische Wesen nicht gab und ebenso wie die Sichtungen über Loch Ness dem überreichlichen Alkoholgenuss geschuldet waren.

Noch weniger glaubte sie an die geheimnisvollen Fähigkeiten von Menschen, die mit dem Geist eines Verstorbenen in Kontakt treten konnten.

Das Einzige, was sie zu dem Thema beizusteuern vermochte, waren Süßigkeiten an Halloween bereitzuhalten, falls Kinder an der Tür klingelten und Süßes oder Saures grölten. Das war es aber auch schon.

Folglich verlegten Ryan und Kieran ihre Vorbereitungen für das Ritual auf die Zeit, in der sie ihre Mutter bei der Arbeit wussten. Fragen gingen sie somit aus dem Weg und Ausreden ebenfalls.

Weit schwieriger war es, spätabends heimlich aus dem Haus zu gelangen und ebenso mitten in der Nacht wieder zurückzukehren.

Die beiden hatten zwar ihr eigenes Reich unter dem Dach des Einfamilienhauses, wohin eine außen liegende Treppe führte; dennoch war das Risiko hoch, erwischt zu werden. Wobei sie mehr Angst vor ihrem Vater hatten, als dass sie ihrer Mutter in die Arme liefen.

Das unbemerkte Abhauen war ihnen in dieser Nacht schon mal geglückt und das Ritual hatten sie exakt nach den Vorschriften durchgeführt.

Nun war der Rauschzustand, bei dem Cannabis seinen Anteil hatte, fast verflogen und kalte Nachtluft kühlte die glühenden Gesichter.

Kieran sammelte die weißen Gewänder ein und packte sie in die Satteltasche von Sophias Fahrrad. Ihre Blicke trafen sich im Schein der auf dem jeweiligen Sattel liegenden Taschenlampen und Kieran meinte noch immer das lodernde Feuer in ihren Augen zu sehen. Zu gerne hätte er herausgefunden, wie lange der Zustand der Trance, in der Sophia sich noch vor einigen Minuten befand, anhielt und sich auf ihren gesamten Körper auswirkte. Aber heute war das nicht möglich: denn außer seinem Bruder wusste niemand der anderen von ihrer Beziehung.

Die Geheimhaltung hatte für beide etwas Prickelndes. Fast so, wie das Ritual, das sie soeben vollzogen hatten.

Zu seiner Überraschung formte Sophia mit ihren Lippen ein lautloses »Bis später« und steckte den Gürtel aus Beifußzweigen geflochten, um eventuelle Angriffe aus der Anderswelt abzuwenden, in ihren Rucksack. Dann drehte sie sich Esther und Noah zu.

Die Geschwister waren damit beschäftigt die Kerzen auf dem Brunnenrand zu löschen und in eine Metallbox zu packen.

Insgesamt fünf Kerzen hatten sie verwendet – für jeden von ihnen eine, versehen mit der persönlichen Sigille sowie jeweils einem der Zeichen für Erde, Feuer, Wasser, Luft und Metall ... den fünf Elementen.

Zwar galten bei den Kelten nur die ersten vier Symbole als wirklich bedeutsam, aber Sophia meinte, weil es dazu keine exakt nachweisliche Überlieferung gab, könnte es nicht schaden einen Gegenstand aus Metall mit hinzuzunehmen.

Für Erde und Luft sorgte die Natur ringsum und die Kerzen standen für das Feuer. Wasser brachte Kieran in Flaschen mit und Sophia fünf Keramikschalen sowie einen Dolch, den sie auf einem Antikmarkt erworben hatte und der zumindest so aussah, als stamme er aus längst vergangener Zeit.

»Seid vorsichtig. Ihr dürft das ausgelaufene Wachs auf dem Stein nicht entfernen«, mahnte sie die Geschwister.

Erschrocken zuckte Noahs Hand zurück. Er stand noch ganz unter dem soeben Erlebten und der Nachwirkung des Rauschmittels.

Im Gegensatz zu fast all seinen Freunden hatte er bisher nie Haschisch geraucht und weigerte sich zuerst. Doch seine Schwester und vor allem Sophia bestanden darauf. Es würde die Sinne schärfen, sagten auch Kieran und Ryan. Und die mussten es ja wissen, weil sie Profis waren, kultische Dinge betreffend und es in den Büchern stand.

Also nahm er einige Züge des wiederholt reihum gereichten Joints.

Nach wenigen Minuten veränderte sich tatsächlich sein Wahrnehmungsvermögen – nur anders als bei seinen Freunden.

Während deren ständig zyklische Wortfolge einer leisen Melodie glich, bewegte er lediglich seine Lippen. Stattdessen verfolgte er wie gebannt Sophias Bewegungen.

Zuerst streckte sie die Arme in die Höhe, legte den Kopf in den Nacken und drehte sich langsam im Kreis. Dabei murmelte sie die Spruchformel, wie sie in den Büchern für dieses Ritual vorgeschrieben war, wurde immer schneller in ihren Drehungen, bis sie schließlich auf den Waldboden sank. Für eine kurze Dauer blieb sie mit gesenktem Kopf und über den Beinen nach vorn gekreuzten Armen so sitzen, während Esther, Ryan und Kieran die Wortwiederholungen ununterbrochen fortsetzten.

Die Position, in der Sophia sich befand, erinnerte Noah an den sterbenden Schwan aus Tschaikowskys Ballett ›Schwanensee‹, in das seine Lehrerin die gesamte Klasse vor einem Jahr geschleppt hatte. Und fast wäre er wie der Prinz in der Aufführung zu ihr gerannt, um sie zu retten. Doch in diesem Augenblick erhob sie sich mit einer eleganten Drehbewegung.

»Aber verrät uns das nicht?«, fragte Esther.

»Ach, woher denn?«, antwortete Sophia. »Einem Spaziergänger sagt es nur, dass hier Kerzen standen. Andererseits, wer kommt hier schon her?« Sie gähnte. »Es war anstrengender als erwartet. Ich bin fix und alle. Macht es dir was aus, heute zu Hause zu schlafen?«

Was sie Esther nicht sagte, war, dass sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Doch jedes Mal, wenn sie sich umsah, tropfte lediglich der Regen von den Blättern der Bäume. Vielleicht war es auch nur das ungewöhnliche Zeremoniell und der Joint. Trotzdem mochte sie heute Nacht lieber Kieran neben sich im Bett als ihre Freundin einen Meter entfernt auf der Couch.

Im ersten Moment war Esther enttäuscht; stimmte aber schnell zu. Immerhin hatte Sophia das alles nur für sie getan. Alleine die Vorbereitung hatte einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch genommen genauso wie die von Kieran und Ryan.

Von grundlegender Bedeutung für Esther war jedoch, dass sie weder von den Jungs noch von Sophia ausgelacht worden war, als sie den Wunsch äußerte, eine derartige zeremonielle Handlung vorzunehmen. Nun hoffte und betete sie, dass das Ritual den gewünschten Erfolg bringen würde.

Was für ein Schauspiel wurde ihm in der letzten Stunde geboten. Eine Mischung aus Illusion, Drama und Romanze. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet.

Jetzt waren endlich alle weg. Nur sie war noch da. Alleine, weinend, verletzt und – ja zitternd.

Total durchnässt trat er hinter dem dicken Stamm hervor, überquerte den schmalen Waldweg und näherte sich so leise wie möglich der Bank, auf der sie saß.

Kaum berührte er ihre Schultern, drehte sie sich mit einem kurzen, aber durchdringenden Schrei herum. Sie sprang auf, rannte stolpernd die wenigen Schritte zum Brunnen.

Er folgte ihr, versuchte sie mit sanften Worten zu beruhigen. Doch sie schrie weiter.

Als er sie erreicht hatte, schlug sie ihm mit ihrer Handtasche ins Gesicht. Er wurde wütend, packte sie an beiden Armen, schüttelte sie.

»Warum siehst du nicht ein, dass ich nur dein Bestes will. Ich will doch nur, dass du mit mir kommst.«

»Lass mich endlich in Ruhe! Verschwinde! Hau ab!«

»Das kann und will ich nicht. Du gehörst zu mir.«

»Niemals – niemals – niemals«, hallte das Wort in seinem Kopf nach, obwohl sie längst an der Ummauerung des Brunnens lag und ihn mit offenen starren Augen ansah.

Dienstag / 00:20 Uhr

Katharinas Kniegelenke schmerzten und waren steif geworden; zudem fror sie. Mit einer Hand stützte sie sich am oberen Sockelende ab und erhob sich umständlich. Ein letztes Mal schaute sie zu dem Gekreuzigten auf. Wie immer erwiderte er ihren Blick teilnahmslos und im wahrsten Sinne ... wie in Stein gemeißelt.

»Ich komme wieder. Solange bis ich Charlotte gefunden habe«, flüsterte sie die gleichen Worte wie seit Jahren. Und jedes Mal klang es fast wie eine Drohung. Dann machte sie sich mit schweren Schritten auf den Heimweg.

Genau so leise, wie sie sich davongeschlichen hatte, schlüpfte sie jetzt durch die Haustür. Die Schlüssel legte sie fast geräuschlos auf das Schränkchen in der Diele und hängte ihre Jacke an einen Haken daneben. Danach entledigte sie sich ihrer Stiefel und ging auf Strümpfen in die Küche, um einen Tee zuzubereiten.

»Warst du schon wieder dort?«, empfing sie die tiefe Stimme von Thomas.

Sie zuckte erschrocken zusammen.

Ihr Mann saß im Dunkeln am Küchentisch. »Wann hört das endlich auf?«

»Wenn Charlotte wieder hier ist«, antwortete sie scharf. »Oder, wenn ich weiß, was mit ihr geschehen ist«, fügte sie sanfter hinzu und schaltete den Wasserkocher ein.

Thomas seufzte, stand auf und bewegte sich auf seine Frau zu.

»Kathy. Bitte! Lass das sein. Es sind 20 Jahre her. Du machst dich kaputt und das kann ich nicht länger mit ansehen. Ich liebe dich doch.«

Er wollte sie in die Arme nehmen, aber Katharina wich zurück.

»Ach, auf einmal?«, giftete sie ihn an. »Wie kommt’s, nach all den Jahren?«

»Ich dachte, irgendwann kommst du damit klar und ...«

»Damit klarkommen?«, unterbrach sie ihn heftig. »Ich kann nicht glauben, was du gerade von dir gibst. Hörst du dir eigentlich selbst zu?«

Hatte Katharinas Tonlage sich in den letzten Sekunden um eine Oktave erhöht, schrie sie jetzt beinahe.

»Du willst doch nicht etwa sagen, dass ich Charlotte vergessen soll?«

»Bitte, nicht so laut. Noah schläft oben«, mahnte Thomas.

Katharina hob den Blick zur Zimmerdecke.

»Es wird Zeit, dass die Kinder es erfahren«, sagte sie nun leiser. »Ich trage diese Schuld so lange schon mit mir herum. Dieses Damoklesschwert schwebt seit Jahren über unserer Familie. Mit niemandem kann ich darüber reden. Auch du weichst mir immer wieder aus. Nun kann ich nicht mehr! Nein, stimmt nicht – ich will es nicht länger. Verstehst du?«

Katharina schaute zu ihrem über einen Kopf größeren Ehemann auf.

»Ich habe unserer Tochter nichts angetan ... hätte ich niemals. An dem Tag als sie ... Als sie verschwand«, setzte sie neu an, »da ist Charlotte eingeschlafen, kaum, dass ich ein paar Meter gelaufen war. Sie schlief auch noch am Feldkreuz. Deshalb wollte ich ... Ich merkte nicht ...«

»Kathy! Bitte, nicht. Quäl dich doch nicht. Du hast das schon so oft erzählt und ich glaube dir ... hab ich immer.« Thomas schloss seine Frau in die Arme und jetzt ließ sie es geschehen.

»Du konntest nichts dafür. Es war genauso meine Schuld. Aber, der neue Job und mit 21 Jahren Vater ... Ich fühlte mich überfordert und dann, als das passierte, schämte ich mich und machte mir Vorwürfe, dass ich dich nicht besser unterstützt habe und dir alleine die Verantwortung für unsere Tochter überlassen hatte.«

Trotz der nur durch die Neonleuchte unter der Spüle gering erhellten Küche, sah Katharina Tränen über das Gesicht ihres Mannes laufen.

»Meinst du denn wirklich, ich wüsste nicht, dass du immer am Geburtstag von Charlotte zu dem Ort gehst, an dem sie ... verschwunden ist?«, sagte er, mit erstickter Stimme. »Es zerreißt mir jedes Mal das Herz. Und ja, du hast recht, unsere Kinder sollen endlich wissen, dass sie eine Schwester hatten ... aber erst nach den Feiertagen.«

Dienstag / 00:35 Uhr

In Höhe der Mittelbeune verabschiedete Sophia sich von ihren Freunden und radelte in die als Odenwaldring bezeichnete menschenleere Straße. Die Straßenlaternen spendeten gerade mal so viel Licht, dass es kaum von einer Lampe zur anderen reichte.

»Ich sollte sie begleiten«, sagte Kieran. »Es ist immerhin weit nach Mitternacht.«

»Mach das. Ich komme schon ganz gut alleine zurecht«, antwortete Ryan.

Sein Schmunzeln – in der Dunkelheit von Esther und Noah nicht zu erkennen – bezog sich nicht darauf, dass er mit seinen 16 Jahren problemlos auf sich aufpassen konnte. Vielmehr hatte er die Blicke, die sich Sophia und sein Bruder zugeworfen hatten, eindeutig interpretiert.

Am Anfang stritt Kieran ab, dass zwischen Sophia und ihm etwas lief und versuchte es mit Ausreden; erzählte von Freunden, die er zwei- bis dreimal in der Woche besuchte.

Ryan fragte nur, ob er ihn für bescheuert hielt, versprach aber gleichzeitig die love affair, wie er die Beziehung ironisch nannte, geheim zu halten – für eine Gegenleistung.

Er hatte zwar keine Freundin, mit der er sich treffen wollte, vergaß aber gerne mal die Zeit, wenn er bei seinem Kumpel am Computer spielte.

Seitdem ging, dank der von Kieran eingebauten Zeitschaltuhr, Punkt zehn Uhr abends in der Dachgeschosswohnung das Licht aus.

Schnell hatte Kieran seine Freundin eingeholt. Wenig später schoben sie ihre Fahrräder durch das Gartentor und in die Garage, die zweckentfremdet mit allerlei Gerümpel bis in die letzte Ecke zugestellt war.

Die Eigentümer – ein kinderloses Ehepaar, beide weit über achtzig – besaßen schon jahrelang kein Auto mehr und nutzten den Raum als Zwischenlager für alles, was entsorgt werden sollte ... aber nie wurde.

Sophia lebte mit ihrem Vater in der 3-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses, seit sie denken konnte. Ihre Mutter soll – stimmten die Gerüchte – mit einem dubiosen Typen abgehauen sein. An ihr, der damals sieben Monaten alten gemeinsamen Tochter, sollte sie offenbar genauso wenig Interesse gezeigt haben wie an ihrem Ehemann oder der Fortsetzung ihrer Ehe.

Seitdem wurde Sophia von ihrem Vater und dessen Schwester aufgezogen. Als diese vor zwei Jahren verstarb, wechselte Paul Lange bei der Werkschutzfirma von der Tagschicht in die Nachtschicht.

Anfangs fand Sophia das nicht sehr prickelnd. Das ständige Gefühl überwacht zu werden, passte ihr gar nicht. Sie erkannte aber auch schnell die Vorteile. Sie konnte bis spät in die Nacht tun und lassen, was immer ihr gefiel. Geradezu ideal für eine Jugendliche, die das Leben in vollen Zügen genießen wollte.

»Ich brauche jetzt erst einmal eine heiße Dusche«, sagte sie zu Kieran und entledigte sich noch auf dem Weg ins Badezimmer ihrer Kleidung. »Ich bin ganz durchgefroren. Du nicht auch?«

»Doch schon. Aber meinst du nicht, dass die beiden oben«, er zeigte zur Decke, »davon wach werden und ...?«

»Werden sie nicht«, erwiderte Sophia. »Die schlafen längst tief und fest. Außerdem sind sie schwerhörig. Nun beeil dich. Das Wasser ist schön warm.«

Eine Viertelstunde später lagen sie aneinandergekuschelt in Sophias Bett.

»Es sah wirklich so aus, als würdest du dich in Trance befinden«, sagte Kieran und fuhr mit seinem Zeigefinger über Sophias Hals. »Ich denke, du hast alle überzeugt. Und mich hat es angemacht.«

»Das habe ich gerade bemerkt. Aber ...« Ruckartig setzte Sophia sich auf. »Was willst du damit sagen, ich hätte die anderen überzeugt? Glaubst du, ich hätte nur so getan?«

»Na komm. Du glaubst doch nicht wirklich an diesen Hokuspokus.« Kieran grinste sie im Schein der Nachttischlampe an. »Das sind nur Gruselmärchen, die mein Dad nach einigen Whiskys immer wieder gerne erzählt. Als Kind fand ich das aufregend. Aber jetzt ...? «

»Hast du das Ganze nur mitgemacht, um mich ins Bett zu bekommen?« Sophias Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Na ja.« Kieran sah etwas beschämt in die andere Richtung. »Du hast mir schon immer gefallen. Nur traute ich mich nicht, dich anzusprechen. Und dann plötzlich waren wir eine Clique, du, Esther, Noah und Ryan und ich; seit dem Abend am Main.«

Er drehte Sophia den Kopf zu. »Bist du mir jetzt böse?«

Sie sank zurück aufs Kissen und starrte stumm an die Zimmerdecke.

Nur zu gern erinnerte sie sich an diesen warmen Abend im Juni, an dem sie zusammen am Main Strand – einer improvisierten Strandbar ohne Sand, dafür Asphalt – zusammengesessen und Cocktails getrunken hatten.

Und ja, Kieran hatte recht. Sie hatte ihn zuvor nie wirklich wahrgenommen. Für sie war er ein gleichaltriger Junge, mit dem sie in dieselbe Klasse ging, aber keiner mit dem sie Sex haben wollte. Sie schwärmte für Männer, die älter waren.

Jedoch an dem Abend zeigte Kieran sich von einer Seite, die sie bisher nicht an ihm gekannt hatte. Er war witzig, ohne albern zu sein, und brachte alle zum Lachen – außer Esther.

Sie stierte die ganze Zeit aufs Wasser, beteiligte sich kaum an den Gesprächen und nippte nur ab und zu an ihrem Getränk, in dem die Eiswürfel längst geschmolzen waren.

Und dann platzte sie mit der Frage heraus: Glaubt ihr an Geisterbeschwörung oder, dass man mit Toten Kontakt aufnehmen kann?

Augenblicklich waren alle baff.

Kieran fand als Erster die Sprache wieder und fragte zurück, wie sie denn darauf kommen würde.

Da berichtete Esther, dass sie am Tag zuvor von einer Frau vor der Schule einen Brief – eigentlich war es ein Zettel – in die Hand gedrückt bekommen hatte. Bevor sie fragen konnte, was das solle, wäre die eilig über die Straße in Richtung der Kleingartenanlage gelaufen.

Esther holte den Brief aus ihrer Tasche und legte ihn auf den Tisch. Sophia grapschte sofort danach und begann zu lesen. Schon nach zwei Sätzen lachte sie spöttisch.

Das ist doch Bockmist! Die Alte ist garantiert nicht ganz dicht ... total abgedreht. Oder glaubst du das etwa?

Esther dagegen nickte ernst und erzählte von einem Fotoalbum, das sie vor einigen Tagen auf dem Wohnzimmertisch gefunden und darin eine Aufnahme entdeckt hätte, auf der ihre Mutter ein Baby im Arm hielt. Unter dem Foto stand der Name Charlotte und geboren am 20.12.2000.

Darauf angesprochen, hätte ihre Mutter erst herumgestottert und dann behauptet, es sei das Kind einer früheren Freundin und vermutlich gestorben. Auf die Frage, weshalb sie diese Fotografie aufhob, wenn sie doch überhaupt keinen Kontakt mehr zu dieser Freundin hatte – denn gesehen hatte Esther diese Frau noch nie – bekam sie nur zur Antwort, das wäre eine lange Geschichte.

Alleine das ausweichende Verhalten ihrer Mutter kam ihr merkwürdig vor. Außerdem war Esther ihre zunehmende Traurigkeit aufgefallen, traute sich aber nicht, sie anzusprechen.

Zuerst dachte sie, ihre Eltern hätten Eheprobleme ... wollten sich vielleicht sogar scheiden lassen. Aber dann wieder schien es als wäre alles in Ordnung. Und jetzt dieser Brief, den ihr die Unbekannte zugesteckt hatte, obwohl sie zugeben musste, dass der Inhalt wirklich verwirrend klang. Das Einzige, was sie dem Text klar entnehmen konnte, war, dass die Schreiberin wollte, dass die Wahrheit endlich ans Licht kam.

Ryan und Noah waren sofort Feuer und Flamme. Wenn auch nur, weil es sich nach einem spannenden Abenteuer anhörte. Hingegen Kieran dem Ganzen von Anfang an skeptisch gegenüberstand und Esther vorschlug, eher noch einmal mit ihrer Mutter zu reden; zudem sie jetzt den Brief vorzeigen könnte.

Und wenn sie ihn einfach zerreißt, vibrierte deren Stimme noch immer in Sophias Erinnerung und der Vorwurf an sie alle: Hätte ich mir ja denken können, dass ihr das für ein Hirngespinst haltet.

Ich nicht, hatte Sophia ihr versichert und dass, wenn sie es wirklich wollte, sie sich als Medium zur Verfügung stelle.

Das brachte die anderen dazu, sie mit offenen Mündern anzustarren.

Was keiner von ihnen wusste: Schon als Kind hatte sie manchmal zukünftige Ereignisse sehen können, die dann auch irgendwann eintraten. Ihr Vater wollte davon nichts wissen, wurde sogar ärgerlich und tat es damit ab, dass sie eine zu große Fantasie besäße. Ihre Tante sagte jedoch, dass ihre Mutter diese Gabe, wie sie es nannte, ebenfalls hatte. Das müsste aber ihrer beider Geheimnis bleiben. Vor allem mit ihrem Vater sollte sie nie wieder darüber reden.

An jenem Abend am Mainufer schmiedeten die fünf den Plan. Und in den nächsten Monaten sammelten sie sämtliche Information, die dem World Wide Web zu entlocken waren. Zusätzlich wälzten sie heimlich die Bücher der alten Sagen und Riten, die zuhauf im Regal bei den Thompsons standen.

Dabei wurde klar, der beste Zeitpunkt mit Seelen von Verstorbenen Kontakt aufzunehmen – sollte diese Charlotte wirklich tot sein – wäre der 21. Dezember, der bei den Kelten Yule oder die Mutternacht genannt wurde.

Heute Nacht hatten sie das Ritual durchgeführt und Sophia meinte tatsächlich eine Art von Energie gefühlt zu haben. Dennoch kamen ihr jetzt, als sie neben Kieran lag, Zweifel. Gleichzeitig hatte sie Gewissensbisse wegen Esther. Sie hoffte so sehr, dass diese Kulthandlung dazu beitrug, endlich Licht in das Dunkel zu bringen, das wie ein Schatten über ihrer Familie zu hängen schien.

»Nein, ich bin dir nicht böse«, sagte Sophia nun zu Kieran. »Alles kommt, wie es kommen muss und die Zeit bestimmt, wann.«

»Oh auch noch philosophische Anwandlungen. Wenn das unser Dad wüsste, bekämst du glatt eine Eins im Ethikunterricht.«

Sophia drehte sich ihm zu und küsste ihn. Sie hatte sich in diesen Jungen mit den braunen sanften Augen und den rotbraunen welligen Haaren verliebt.

»Lass uns einfach nicht mehr darüber reden, sondern die Zeit besser nutzen. Und vor allem, halte deinen Vater aus unserem Bett raus.«

»Das lässt sich machen«, antwortete Kieran und beugte sich über Sophia.

Ryan schlich durch den hinteren Teil des Gartens, die Taschenlampe auf den Rasen gerichtet. Den Bewegungs-melder an der Außentreppe hatte Kieran ebenfalls außer Kraft gesetzt, sodass das Haus völlig im Dunklen lag.

So geräuschlos wie möglich stieg Ryan die Stufen hinauf. Auf halber Strecke zuckte sein Kopf zum Nachbarhaus. In der Küche der Blums ging Licht an. Verdammt!

Esther und Noah hatten zwar ebenfalls ihre Zimmer im Dachgeschoss, mussten dazu aber ins Haus.

Hektisch fischte Ryan nach seinem Handy.

Sekunden später flüsterte er: »Alarm! Eure Eltern sind wach.«

»Schiet«, kam es von Esther zurück.

Die Geschwister hatten gerade ihre Räder im Geräteschuppen hinter dem Haus abgestellt.

»Was jetzt? Wenn wir noch länger hier rumstehen, gibt das eine fette Erkältung.«

Noah beugte sich nah über das Handy seiner Schwester. »Wir gehen in die Gartenlaube und du gibst uns ein OK, sobald die Lage wieder clean ist.«

»Weißt du, wie das hier auf der Treppe zieht?«, zischte Ryan zurück.

»Mitgefangen mitgehangen«, erwiderte Esther leise kichernd. »Also halt die Stellung.« Sie beendete das Gespräch.

Geduckt liefen die beiden über die jetzt durch einen schwachen Streifen vom Küchenfenster aus beleuchtete Gartenfläche. Am Gartenhäuschen angekommen, stellten sie fest, dass die Tür mit einem massiven Einhängeschloss verriegelt war.

»Merde!«, fluchte Noah. »Zurück zum Schuppen?«

»Was sonst«, fauchte Esther gereizt.

Die Arme um ihre Körper gewunden saßen die Geschwister eine Weile schweigend auf umgedrehten Farbeimern, in denen Restbestände der im Frühjahr in rot und grün gestrichenen Gartenhütte enthalten waren.

»Wie lange dauert das denn noch?«, murrte Noah. »Weshalb sind die nicht längst im Bett, wie immer?«

»Mann!«, fauchte Esther. »Bist du noch immer bekifft oder warum stellst du eine derart dumme Frage.«

»Ach ja, stimmt, ihr Geburtstag.« Noah nickte. »Mir ist tatsächlich noch ein bisschen schummerig. Bist du sicher, dass ich jetzt nicht abhängig werde?«

»Von einem Joint? Mach dich nicht lächerlich.« Esther stieß genervt die Luft aus.

Erneut herrschte für einige Minuten Stille zwischen ihnen.

Dann sagte Noah: »Warum glaubst du, haben sie uns nie was erzählt? Ob sie ihr etwas angetan haben und sie ist echt tot? Das würde bedeuten, dass wir unser Leben lang mit Mördern unter einem Dach gelebt haben.«

»Spinnst du jetzt total?« Esther gab ihrem kleinen Bruder eine Kopfnuss. »Egal, was damals abgelaufen ist – aber ihrem eigenen Kind etwas antun ...? Nein! Dazu sind sie nicht imstande.« Energisch schüttelte sie den Kopf.

»Warum bist du eigentlich so versessen zu erfahren, was mit ihr geschehen ist?«, bohrte er nach. Dabei zog er mit seiner Schuhspitze Kreise in die gestampfte Erde.

»Ich will einfach die Wahrheit wissen; weil ich finde, dass wir ein Recht darauf haben!«, erwiderte Esther. »Kapierst du noch immer nicht? Sie haben uns belogen ... all die Jahre«, fügte sie mit so viel Wut in der Stimme hinzu, dass Noah erschrocken aufblickte.

»Ja schon. Aber es ändert doch nichts. Vorausgesetzt Sophia hatte wirklich Kontakt mit ihr und die ganze Show heute Nacht war echt, wird sie wohl kaum irgendwann vor der Tür stehen und sagen: Hallo, hier bin ich wieder?«

»Du glaubst nicht wirklich an das, was du vor nicht einmal einer Stunde erlebt hast, stimmt‘s?«

»Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher«, gab Noah zu.

Mittlerweile hatte sich der Nebel in seinem Kopf gelichtet und auch sein Blick war wieder klarer.

»Auf jeden Fall hatten wir einen echt krassen Abend. Sophia war richtig geil.«

»Du verdammter Arsch!« Esther sprang auf und stieß dabei den Eimer um, auf dem sie gesessen hatte. Der rollte gegen eine mit dem Stiel auf dem Boden stehende Harke. Die fiel um und ihre Zinken bohrten sich nur Zentimeter neben Noah in die Erde.

»Oh! Das tut mir leid. Bist du ok?«, fragte Esther wie gelähmt und mit zitternder Stimme.

Ebenso geschockt schaute Noah von der Harke zu seiner Schwester und dann an sich herab.

»Ich ... ich glaube ... ja.«

In dem Augenblick vibrierte das Handy in Esthers Hosentasche.

Umständlich zog sie es hervor und war kaum imstande mit ihren zitternden Fingern über das Display zu wischen.

»Ich glaube, ihr könnt es jetzt wagen«, hörte sie Ryans Stimme. »Das Licht ist seit 10 Minuten aus.«

Dienstag / 06:55 Uhr

Gähnend betrat Kieran die Küche, ein kaum verständliches »Morgen«, an seine Mutter gerichtet auf den Lippen. Er schnappte sich einen Becher und goss Tee ein.

»Na, wieder spät geworden gestern?« Viktoria Thompson stellte einen Teller mit frisch aus dem Toaster gehopsten Weißbrotscheiben auf den Tisch. Und ohne eine Antwort abzuwarten, sagte sie: »Du solltest es nicht auf die Spitze treiben. Oder nimmst du ernsthaft an, dein Vater hat nicht bemerkt, dass du öfters mitten in der Nacht heimkommst?«

Erschrocken hielt Kieran, nach einer Toastscheibe greifend, in der Bewegung inne.

»Jetzt guck nicht so. Er war auch mal jung und ist nicht bescheuert. Und ich ebenfalls nicht.«

Viktoria Thompson war eine ungewöhnlich aufgeschlossene Frau. Durch ihre zwar abgebrochene therapeutische Ausbildung aufgrund der zu frühen Schwangerschaft und ihrem späteren Job bei der nachmittäglichen Jugendbetreuung wusste sie nur zu gut, wie Heranwachsende ticken. Hinzu kam ihre positive Ausstrahlung und sie konnte zuhören. Allerdings klappte das meist besser bei fremden Kindern.

»Er hat es dir nur durchgehen lassen, weil du schon 18 bist und gute Noten heimbringst«, sagte sie jetzt zu ihrem Sohn. »Und natürlich erwartet dein Dad, dass du ein bravouröses Abitur ablieferst.« Viktoria schmunzelte.

»Deinen Einfall mit der Zeitschaltuhr fand er übrigens nicht sehr originell.«

Übergangslos fragte sie: »Eier und Speck?«

»Eh ... Ja, danke.«

»Ich auch«, meldete sich Ryan von der Tür aus, streckte sich und murmelte ebenfalls: »Guten Morgen.«

»Bei dir sieht das allerdings anders aus, mein Sohn«, wandte Viktoria sich mit ernstem Gesichtsausdruck Ryan zu.

»Was sieht bei mir anders aus?«, fragte er noch schlaftrunken zurück. »Von was sprecht ihr?«

»Wir sind aufgeflogen. Dad weiß Bescheid«, setzte Kieran seinen Bruder in Kenntnis. »Das mit der Zeitschaltuhr«, fügte er hinzu. Nur um sicherzugehen, dass Ryan nicht auf die Idee kam, dass es um ihre nächtliche Aktion ginge.

»Ach?« Der plumpste auf seinen Stuhl.

»Um euren Vater auszutricksen, müsst ihr schon früher aufstehen«, antwortete Viktoria, platzierte vor jedem ihrer Söhne einen Teller mit Spiegelei und knusprig gebratenem Speck.

»Ist Dad in der Schule?«, fragte Ryan und tunkte mit gebeugtem Kopf, als befürchtete er, dass sein Vater auftauchen könnte, die Spitze seines Toasts in das Eigelb.

»Was denkst du denn? Gestern haben die Weihnachtsferien begonnen. Trotzdem hat dein Vater noch allerhand zu tun und Direktor Licht hat für heute Nachmittag eine Lehrerkonferenz angesetzt«, erwiderte Viktoria, schenkte sich einen Kaffee ein und setzte sich zu ihren Söhnen an den Tisch.

Obwohl sie schon fast 20 Jahre mit einem Teetrinker und Porridge vertilgenden Schotten verheiratet war, brauchte sie ihre zwei bis drei Tassen Koffein am Morgen.

»Was ist? Machst du mal wieder eine Diät oder weshalb guckst du jedem Bissen hinterher, der in meinem Mund verschwindet?«, beschwerte sich Kieran.

»Nein!« Viktoria lachte. »Das mit dem Fasten habe ich erst einmal aufgegeben; zumindest bis nach Weihnachten.«