Der Tod des Carlos Gardel - António Lobo Antunes - E-Book

Der Tod des Carlos Gardel E-Book

António Lobo Antunes

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Beschreibung

Alvaro ist ein besessener Bewunderer des argentinischen Tangosängers Carlos Gardel, unablässig lauscht er alten Aufnahmen seiner schmachtenden Stimme, zieht sich zurück in eine Welt, in die ihm keiner mehr folgen mag. Seine Familie bricht unterdessen auseinander, und als der Sohn an seiner Heroinsucht zugrunde geht, geraten alle Beteiligten in den Sog eines fatalen Kreisels aus Schuldgefühlen, Hoffnungslosigkeit und der Suche nach immer irrealeren Fluchtwelten … Intensiv und sprachgewaltig taucht der weltberühmte portugiesische Autor in die Abgründe und Alltagstragödien einer Lissabonner Familie ein und übersetzt die innere Spannung und die komplexen Bewegungen des Tangos in Literatur.

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Alvaro ist ein besessener Bewunderer des argentinischen Tangosängers Carlos Gardel, der in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Berühmtheit war. Unablässig lauscht er den alten Aufnahmen seiner schmachtenden Stimme und zieht sich zurück in eine Welt, in die ihm keiner mehr folgen mag. Seine Familie bricht unterdessen auseinander, und als der Sohn an seiner Heroinsucht zugrunde geht, geraten alle Beteiligten in einen fatalen Kreisel aus Schuldgefühlen, Hoffnungslosigkeit und der Suche nach immer irrealeren Fluchtwelten. Intensität und Wehmut, aber auch Schalk und Ironie bestimmen den Ton, Sprache wird zu Musik, indem sie die Wechsel und Spannungen des Tangos nachvollzieht, und die Stadt Lissabon erscheint in berückend schönen Bildern.

ANTÓNIO LOBO ANTUNES wurde 1942 in Lissabon geboren und hat Medizin studiert. Während des Kolonialkrieges war er als Militärarzt in Angola, arbeitete danach in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Sein mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes Werk ist in vierzig Sprachen übersetzt.

António Lobo Antunes

Der Tod des Carlos Gardel

Roman

Aus dem Portugiesischen vonMaralde Meyer-Minnemann

Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »A morte de Carlos Gardel« bei Publicações Dom Quixote, Lissabon.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 1994 António Lobo Antunes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Susanne Arndt, Shutterstock/Diferr

CP · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-30265-8V001

www.btb-verlag.de

Für Christian Bourgois mit freundschaftlicher Bewunderung

Inhalt

1. POR UNA CABEZA

Álvaro

Álvaro

Álvaro

2. MILONGA SENTIMENTAL

Graça

Graça

3. LEJANA TIERRA MIA

Claudia

Claudia

Claudia

4. EL DIA QUE ME QUIERAS

Nuno

Nuno

Nuno

5. MELODÍA DE ARABAL

Raquel

Raquel

Raquel

1. POR UNA CABEZA

Álvaro

Der Gnom kam, die Sportzeitung schwenkend, aus dem Kabäuschen neben der Toreinfahrt. Er wies uns an, hinter dem Krankenwagen zu halten, auf dessen Dach blaue Lampen blinkten, trat, indem er mit den Fingerknöcheln gegen die Zeitung schlug, zum Fahrer und fragte, von Wutkoliken verzerrt

– Rat mal, was wir für diesen Rachitiker vom Belenense gezahlt haben!

Die Bäume des Universitätsstadions (Pappeln, Weiden, Birken, vor allem aber Pappeln) bewegten ihre Zweige gegen den Himmel, eine Schlange Taxis summte an der Mauer, ein Ellenbogen tauchte mit einem Nichtwissen ausdrückenden Winken unter den Lampen des Krankenwagens auf, und der Gnom stopfte empört die Zeitung in die Tasche:

– Sag irgendeine Zahl, Mann, sag irgendeine Zahl: Rat mal, was wir für einen Krüppel hingelegt haben, der nicht mal für die Reservebank taugt.

Gestutzter Rasen und gestutzte Büsche glänzten im Licht, Gärtner schlossen kreisende Gartenschläuche an, Spatzen, Parkesstille, auf einem Mast ein roter Pfeil mit dem Wort Notaufnahme in metallischen Großbuchstaben, und plötzlich bemerkte ich das Krankenhaus. Meine Schwester hupte, und der an der Tür des Krankenwagens hängende Gnom bedeutete ihr mit Gesten, daß sie warten solle:

– Einen kleinen Augenblick, Madame, einen kleinen Augenblick. Erklär mir mal, wie man mit so ’ner Mannschaft einen Pokal gewinnen soll, Alfredo!

Das neunstöckige, ebenfalls von Pappeln, Weiden und Birken umringte Krankenhaus mit seinen Dutzenden von Fenstern. Die Fontänen der Rasensprenger ließen Glasstückchen in der Luft schweben. Der Ellenbogen streckte sich zum Gnom aus, der beleidigt zurücksprang:

– Na, ich möchte gern dein fröhliches Gesicht sehen, wenn die Meisterschaft losgeht.

Die Blätter zeichneten Flecke auf den Fußweg wie in der Avenida Gomes Pereira in meiner Kindheit (mein Großvater, mit Spazierstock, führte den Hund von Baumstamm zu Baumstamm), ich bemerkte das Krankenhaus, bemerkte plötzlich das Krankenhaus, und mein Herz welkte vor Entsetzen. Meine Schwester hupte noch einmal, und der Zwerg kam wütend angesegelt, dachte an leichengleiche Nachmittage auf der Fantribüne, auf den Knien die eingerollte Fahne:

– Zweihundert Millionen Escudos für einen Krüppel ohne linken Fuß, zweihundert Millionen Escudos für einen Lahmen aus Alcoitão. Dieser Eingang ist nur für das Personal des Hauses und für Notfallwagen, Madame, Sie müssen den Wagen auf der Straße abstellen.

Mein Großvater schloß das Tier in der Küche ein, zog den Bademantel über die Jacke, setzte sich mit den Patiencekarten ins Wohnzimmer, und Akazienpollen regneten auf seine Augenlider:

– Ich bin Ärztin, informierte ihn meine Schwester.

Bäume, dachte ich, seit Ewigkeiten hatte ich die Bäume nicht so angeschaut, und der Zwerg, der der Nachricht in der Zeitung keinen Glauben schenkte:

– Ärztin? Mein lieber Verein, der letzte Platz ist uns sicher. Ich kann mich nicht an Ihr Gesicht erinnern, haben Sie zufällig Ihren Ausweis dabei?

Das Krankenhaus heute wie im Jahre neunzehnhundertsiebenundfünfzig, als sie mir sagten, Wir werden dir die Aortaklappe austauschen, mein Junge. In dieser Nacht kam der Anästhesist in mein Zimmer, hörte mich ab und wollte wissen, ob ich rauche, auf dem gebohnerten Korridor hörte man Schritte, und ich, So, nun werde ich aufhören zu atmen, und das war’s dann. Der Ellenbogen munterte den Zwerg auf:

– Wir haben einen Holländer oder einen Bulgaren gekauft, beim UEFA-Cup werden wir sie alle abbügeln, und nun mach die Schranke hoch, der auf der Trage hatte einen Infarkt und dürfte jetzt sicher schon den Löffel abgegeben haben: Seit Olivais gibt er keinen Mucks mehr von sich.

Ich hörte die Schritte des Anästhesisten, wie damals, wenn ich als Kind im Bett die Schritte der Erwachsenen zwischen Wohnzimmer und Arbeitszimmer und Arbeitszimmer und Wohnzimmer in dem Haus hörte, in dem ich geboren wurde, und der Kanarienvogel im zugedeckten Käfig trillerte, der Kanarienvogel, der nur auf der Sitzstange herumtanzte und trillerte, wenn man ihn vor uns verbarg. Der Gnom hatte die Hände an die Schläfen gelegt wie einen Mützenschirm, drückte die Nase am Fenster des Krankenwagens platt und teilte dem Ellenbogen mit:

– Der sieht ziemlich tot aus, der rührt kein Härchen mehr.

Das Geräusch der Schuhe und das Geräusch des Oleanders, der Anästhesist notierte meine Antworten, und mein Großvater kämpfte gegen die Patience der Abendstunden, beide dem Hund gegenüber taub, der die Fliesen in der Küche mit seinen Krallen abschabte, gegenüber dem Hund, der nach dem Tod des Alten die Nahrung verweigerte und mit eingeknickten Beinen von Vorhang zu Vorhang jaulte. Der Veterinär hat ihn schließlich in einem Korb zur Kaliumspritze weggetragen, und der Gnom zu meiner Schwester, indem er ihr den Ausweis zurückgab:

– Entschuldigen Sie bitte, Frau Doktor, aber ich habe meine Anweisungen.

Hinter dem Pförtnerhäuschen nahm das Krankenhaus an Umfang zu und umringte uns mit Fenstern, als würden sich die Wände verneigen, um uns zu empfangen. Die Rasensprenger stellten Wasserpalmen auf, der Krankenwagen verschwand bei dem Pfeil, der Notaufnahme anzeigte. Keiner von uns sagte etwas, und ich dachte, Wer von uns beiden wird zuerst seinen Schmerz herausschreien? Am höchsten Punkt der Auffahrt weitete sich der Asphalt zu einem Rechteck, und da war ein Viertel mit Zigeunern, Bettlern und Leuten aus Afrika oben am Hang, eine Zufahrtsschleife der Autobahn nach Norden, eine Tür, die Pädiatrie angab, ein Windschutz, Plakate, auf denen junge Mädchen mit Tildenaugenbrauen einem rieten, leise zu sein. Wir gingen einen überdachten, von Studenten mit Kohlestreifen geschwärzten Gang hinunter, durchquerten einen Hof, in dem sich Kisten, Flaschenkästen und Kesselskelette häuften, im sechsten Stock die Station der ansteckenden Infektionskrankheiten mit den in der schattenlosen, wolkenlosen, vogellosen Elfuhrhelligkeit einbalsamierten Kranken, und in der zu den Boulevards und den Statuen Lissabons zugewandten Intensivstation drei Matratzen rechts, Sauerstoffflaschen, Infusionsflaschen, Elektrokardiographen, Apparate mit pulsierenden Zifferblättern. Auf der ersten Matratze links ein Kind, das mich starr wie eine Kröte oder eine Katze anblickte. Auf der zweiten ein Mann mit Schläuchen in den Nasenlöchern, dessen blaue Finger bis auf den Boden flossen. Eine Frau mit Kittel suchte ein Stethoskop unter Papieren und Laborergebnissen auf einem lackierten Tisch, und meine Schwester zu niemandem:

– Guten Tag

und die Frau, die sich das Stethoskop an den Hals klemmte und mit dem Fingernagel auf die Membran klopfte

– Guten Tag

und als sie sich zum Kind hinunterbeugte, dachte ich, während ich dabei zu einem Gärtner und einer Reihe Magnolien spähte, Ich will die Matratzen auf der rechten Seite nicht sehen. Ich will sie nicht sehen. Ich will sie nicht sehen. Die Sonne überholte das Gebäude in Richtung Tejo, und ich war mir sicher, daß auch meine Schwester sie nicht sehen wollte, die jetzt zum Kind ging, um nicht hinzuschauen, um sich am Hinschauen zu hindern

– Enzephalitis, sagte die Frau im Kittel und nahm das Stethoskop wieder ab. Seit mindestens einer Woche sagt es kein Wort.

Dies in jenem Zimmer des Schweigens, in dem es keinen Platz für Stimmen gab, die blauen Finger verkrampften sich, lockerten sich, verkrampften sich wieder, und die Frau, die dem Kind die Überdecke richtete

– Tetanus. Mit dem Tetanus ist das eine wahre Plage, ich habe im Nebenraum noch einen, der an die Maschine angeschlossen ist

und sie zeigte auf die Wand, die meine Schwester und ich uns zu sehen weigerten, und ich stellte mir einen weiteren Mann vor, dessen Fingerknöchel den Boden berührten und der durch elektrische Kiemen atmete, die ihm Luft in die toten Lungen bliesen. Meine Schwester wiederholte, um nicht mit mir zu sprechen, nicht den Schrecken mit mir zu teilen, den wir beide fühlten

– Tetanus?

und die Frau zeigte die Pappmappen, während sich die Helligkeit mit dem Herannahen der Mittagsstunde veränderte und mit purpurnen und lila und grünen Streifen durchzog, die von den nunmehr bis zum sechsten Stock sich erhebenden Birken hervorgerufen wurden:

– Tetanus. Sieben auf der normalen Station und hier nur zwei, denn die anderen sind ein Typhus und eine Hepati

und sie unterbrach sich, weil sie etwas Augenfälliges bemerkte, das ihr bislang entgangen war, und murmelte

– Verzeihen Sie

eine Frau im Kittel, keine Ärztin, eine Krankenschwester, obwohl sie kein Häubchen trug und keine runde Uhr wie ein Orden an ihrer Brust hing, eine Krankenschwester, die nach Vorstadt aussah, die man sich leicht ohne Begleitung in einem Programmkino vorstellen konnte, ein Wesen, das einsam die Abenddämmerung in einer kleinen Wohnung über einer Arbeiterkneipe erlebte

(ach, das Klirren der Flaschenhälse, ach, das Seufzen der Bierfässer, ach, der Klang der Karambolagen auf dem Tuch des Billardtisches gleich hinter der Theke)

eine Frau, die fünfzig Jahre Enttäuschungen verwittert hatten, die nicht mehr menstruierte, nicht mehr Frau war, die es aufgegeben hatte, mit Cremes und Make-up gegen das Alter zu kämpfen, ein Wesen, das der Agonie so nah oder genauso in ihr befangen war wie der Mann oder das Kind auf der linken Seite des Saals, denn auf der anderen Seite, dachte ich, gab es niemanden, keine Matratze, keinen Kranken, nur Putz, womöglich einen Schreibtisch oder einen Schrank mit Urinflaschen und Spritzen, da war niemand

da war niemand, versicherte ich

und merkte, daß ich laut gesprochen hatte, weil meine Schwester und die Frau sich mir zuwandten, so daß ich ein entschuldigendes Lächeln aufsetzte, als wollte ich ihnen beteuern, daß nichts war, daß ich mich geirrt hatte, daß ich gerade aufgewacht war und im Schlaf gesprochen hatte, daß ich eine dieser Regionen der Finsternis gezeigt hatte, die man aus Scham verbergen sollte, und bestand daher darauf

– Da ist niemand

und dennoch war dort jemand neben dem Typhus, der hin und wieder in die Bettlaken hustete, da war jemand, und ich würde ihn ansehen, wenn die Sonne im Westen dem Boden so nahe kam, daß die Pappeln, die Büsche und die Margeriten, die Stiefmütterchen und die Abendvögel in einem Strudel aus Blattrippen und Federn zum Fenster hereinwirbelten. Ich würde ihn ansehen und ihn nicht wiedererkennen, weil er so mager war, ich würde ihn ansehen, Flügel und Zweige und Pflanzenduft beiseite schieben, während die Gartenschläuche auf dem Linoleum Glastropfenfontänen ausstießen, die von Lila ins Violette und vom Violetten ins Gelbe wechselten, bis sie mit der Nacht verschmelzen und sich in ihr auflösen würden. Ich würde dich ansehen, ohne zu wissen, ob du mich auch siehst, obwohl du mich anstarrst. Die Frau schrieb in ein Heft, das Kind mit der Enzephalitis verfolgte mich mit seinen Krötenaugen, und ich leise

– Da ist niemand

ich schob den unausweichlichen Augenblick, in dem ich mich dir würde nähern müssen, hinaus, und ging fünfundzwanzig Jahre in der Zeit zurück, es war drei Uhr morgens an einem Sonntag, und du weintest, ich stand auf und ging vor Müdigkeit humpelnd zu deinem Bett, der Lichtschein der Straße gerann an den Fensterscheiben zu einem gekreuzigten Engel, und die Stimme deiner Mutter

– Ist was, Álvaro?

ich, lächerlich im riesigen Pyjama, ich habe immer in riesigen Pyjamas geschlafen

– Es ist nichts, schlaf weiter, es ist nichts.

Dein Mund stand offen, und du zittertest, der orangefarbene Engel wurde im Rhythmus deiner Schreie größer und kleiner, ich streckte die Hand aus und fürchtete, dich zu berühren, und deine Mutter

– Ist was, Álvaro?

aus der Tiefe des Dachbodens in der Rua dos Arneiros, den wir von einem Arzt gemietet hatten und in dem wir damals wohnten, drei Zimmer mit schiefen Fußböden und einem Zitronenbaum und einem Betontrog zum Wäschewaschen im Garten. Es war in dem Jahr, in dem ich Geld für den ersten Film aufzubringen versuchte, Schauspielerinnen interviewte und mit dem Produzenten, der genauso unerfahren war wie ich, über dessen Zweifel an der Finanzierung stritt, mein Futter waren französische Zeitschriften und Vorführungen mit amerikanischen Krimis im Olímpia und im Condes gewesen, zu denen noch die Unterrichtsstunden kamen, in denen ich deine Mutter am Schneidetisch kennengelernt habe, ein ernstes, blondes, zu ernstes, zu blondes Mädchen, dessen Zigaretten sich in langen Ascherollen verzehrten, und ich über deinem Bett so wie jetzt gleich, von der Vorstellung niedergeschmettert, dich in den Arm zu nehmen und dir den orangefarbenen gekreuzigten Engel, die Stadt zu zeigen

– Es ist nichts, schlaf weiter, es ist nichts

obwohl wir jetzt fern von dieser Nacht waren, obwohl es ein oder zwei Uhr mittags war und ich mich bemühte, dich nicht anzusehen. Ich hatte geheiratet, als ich eine Stellung in der Werbung bekommen hatte, die kaum für die Miete, den Strom und das Gas reichte, ich schrieb Geschichten, die ich nie verfilmen würde, und eines Morgens im Oktober übergab sich deine Mutter nach dem Aufwachen, und ich überraschte sie, als sie sich im Badezimmer anschaute

– Ich bin schwanger

und ich im riesigen Pyjama, der sich von allein auszog

– Wie bitte?

und deine Mutter im Kabuff aus Kacheln und Steingut:

– Ich bin schwanger, ich mag nicht rauchen, ich habe wahnsinniges Sodbrennen.

Ich erinnere mich an einen Tag, der anders war als der heutige, es regnete, die Kälte ließ meine Knochen verschimmeln, doch dann begriff ich, daß es nicht die Kälte war, die mich durchdrang, daß es das gesichtslose Antlitz war, das aus dem Spiegel heraustrat, und da begriff ich, daß ich einer Fremden ein Kind gemacht hatte, begriff, daß ich sie nicht mochte, ihr zu blondes Haar nicht mochte, ihre zu weiße Haut, den Tabak nicht mochte, der die letzten Winkel meiner Erinnerung durchdrang, die Kindheit, mein Großvater, der Hund, die Avenida Gomes Pereira, der Oleander

– Ist was?

– Es ist nichts, schlaf weiter, es ist nichts.

– Ist was?

– Ich liebe dich nicht mehr, verzeih, ich glaube, wir haben uns nie geliebt, ich glaube, ich habe dich nie gemocht

und das Gesicht suchte, einen Rest Erbrochenes am Kinn, nach meinem Bild hinter ihrem

– Wie bitte?

und ich im idiotischen Pyjama

– Ich habe dich nie geliebt, ich könnte sagen, daß ich dich mochte, daß ich dich immer noch mag, aber ich würde lügen, es war keine Liebe, es war etwas anderes, wir fühlten uns beide allein, und ich wußte nicht, was ich tun sollte, wir waren beide zu jung

und deine Mutter zum Spiegel, denn ich hatte aufgehört zu existieren, war zu einem Wirrwarr sich überlagernder Gesichtszüge geworden

– Und das hast du jetzt eben gerade herausgefunden?

wir beide im engen Badezimmer, wir beide unter der Lampe, die Handtuchhalter, Cremetiegel, Zahnbürsten in einem Becher im verchromten Halter zeigte, zwei gläsernen Pfannen, die an der Decke eine Dachluke bildeten, und deine Mutter

– Und das hast du jetzt eben gerade herausgefunden?

Ich wollte sie trösten, und es gelang mir nicht, es machte keinen Sinn, ich konnte es nicht. Ich sah, wie sie sich gequält krümmte, sah Flüssigkeit aus ihrem Hals rinnen, und Claudia, die ärgerlich war, weil sie sich schlecht fühlte, versetzte, beim Versuch, Würde und Atem zurückzugewinnen, schwindlig taumelnd einem Pantoffel einen Fußtritt. Ich streckte den Arm aus und sie

– Nein

und mein Arm ging schließlich in der Tasche des Pyjamas vor Anker, ein Wasserfaden fiel auf die Korkplatten, und deine Mutter erschien, von Brechreiz gewürgt, wieder im Spiegel:

– Stell einen Topf dahin, bevor alles naß wird.

Ich brachte einen Topf aus der Küche, die Pappeln kamen blättertuschelnd durchs Fenster herein, und gegenüber das Elendsquartier der Bettler, der Zigeuner und der Leute aus Afrika auf dem Scheitel der zur Praça de Espanha führenden Anhöhe. Der Regen pfiff im Topf, und ich, auf das kleine Möbel mit den Seifen, Shampoos und dem Toilettenpapier gestützt

– Ich wollte später mit dir reden, wenn ich es heute gesagt habe, dann, weil ich glaube, daß es vielleicht besser wäre, wenn wir nicht

und das Spiegelbild deiner Mutter, nur Augen und sich bewegende Kiefer

– Geh ins Wohnzimmer, verschwinde, raus hier.

Pappeln, Vögel und Weiden, die Matratzen auf der rechten Seite, die in den Raum vor mir traten, und ich spürte angstvoll die Kante des Möbels im Pyjama

– Ich rufe eine Hebamme an, Artur kennt eine, die ist richtig gut, und morgen oder übermorgen, gleich nach der Operation, die nicht lange dauert, zehn Minuten höchstens, du wirst kaum bluten, mußt du dich nicht mehr übergeben.

Ich mußte einen zweiten Topf holen und den ersten ausgießen, denn der Regen war stärker geworden, und durch eine Ritze zwischen den Brettern in der Decke rann an der Ecke der Dachluke ebenfalls Wasser. Wahrscheinlich passierte das gleiche in den anderen Zimmern des Dachbodens, waren der Teppichboden klitschnaß, die Bettücher klitschnaß, die Schuhe klitschnaß, die Speisekammer, die als Kleiderschrank diente, klitschnaß, und deine Mutter verschwand aus dem Rahmen, um hustend und sich schüttelnd ins Waschbecken zu tauchen

– Geh ins Wohnzimmer, verschwinde, raus hier

nicht wütend, nicht böse, voller Verachtung, während sie sich am Porzellanrand des Waschbeckens festhielt

– Raus hier.

Es regnete im Wohnzimmer, es regnete auf den Spieltisch, an dem wir aßen, es regnete auf die geflochtenen Stühle, es regnete auf das kleine rote Sofa, und ich trabte mit Töpfen, Kasserollen, Kesseln und Bratpfannen und Krügen von einem Wasserstrahl zum anderen, hörte deine Mutter durch die Diele ins Schlafzimmer gehen, hörte die Sprungfedern, als sie sich hinlegte, hörte, wie sie sich in die Decke wickelte, aber wagte nicht, sie zu rufen, kam auf noch mehr Töpfe und Kasserollen und Kessel, kam auf einen Eimer und einen Schwamm, um den Arraiolos-Teppich zu trocknen, den man uns wie Ausschußware am Anfang unserer Ehe als milde Gabe vermacht hatte, und dachte

– Verzeih mir

als würde jemand einem anderen verzeihen können, als wäre das Leben nicht die Ansammlung von Mißmut und Groll, die es letztlich ist, ich stieg zu guter Letzt die Treppe hinunter, verscheuchte Nebelfetzen und Dampfrollen, wie ich auch Infusions- und Sauerstoffflaschen und die Gummischläuche verscheuchte, als deine Matratze und die andere Matratze von der rechten Seite auf mich zuglitten, so wie ich meine Schwester und die Frau im Kittel verscheuchte, die mit mir auf dich zugingen, ich sah ein Handgelenk, in dessen Ader Flüssigkeit aus einer Flasche rann, und als ich näher kam, hörte ich ein Kind weinen und eine schlaftrunkene Stimme fragen

– Ist was, Álvaro?

und ich stieß an deine Krankenhausmatratze, stieß an deine Wiege, antwortete in der Hoffnung, daß du es warst, der mich gefragt hatte, antwortete, indem ich versuchte, dich aufzurichten, um dich aus dem Bett in der Krankenstation oder der Weidenkorbmuschel mit mir zu nehmen

(mit einer kleinen Glocke, deren Musik man in Gang setzte, indem man an einer Kordel zog)

in der du weintest, während die orangefarbene Stadt reglos in den Fensterscheiben stand wie ein gekreuzigter Engel, ich antwortete, indem ich Zedern aus dem Inneren des Leidens, aus dem Inneren des Todes vertrieb:

– Es ist nichts, schlaf weiter, es ist nichts.

Meinetwegen könnt ihr aus diesem Haus mitnehmen, was ihr wollt, mir ist das gleichgültig. Ihr könnt das Mobiliar, das Dienstmädchen, den Hund, dieses übelriechende Tier, das mir immer die Hände leckt, ständig die Schnauze in der Schüssel hat und immer auf dem Küchenbalkon bellt, fortschaffen. Ihr könnt diese Misttöle fortschaffen, die Villa, die meine Frau von ihrem Vater geerbt hat, könnt Benfica fortschaffen, solange ihr mich in Frieden laßt mit einem Kartenspiel und einem Brett, auf das man die Karten legen kann. Ich brauche nichts weiter: Ich bin sicher, ich werde mich besser fühlen, wenn es nur noch mich, das Brett und die Karten gibt.

Meine Frau ist hierhergezogen, kaum daß ich im Ersten Weltkrieg in Frankreich war. Vorher haben wir in der Calçada da Estrela gewohnt, in einem fünften Stock in der Nähe der Kirche und des Parks

(die Blaskapelle der Schüler des Apoll spielte immer sonntags im Musikpavillon)

man konnte ein kleines Stückchen Fluß sehen, wenn man auf dem Balkon den Hals reckte, oder besser gesagt, wenn man den ganzen Körper über die Petunientöpfe auf dem Balkon hängte, und bevor man dort unten zerschellte, konnte man im Fallen drei Zentimeter schmutziges Wasser und einen Schiffsschornstein erkennen. Wenn man es recht bedenkt, dann waren die Deutschen weniger gefährlich.

Meine Frau nutzte die Gelegenheit, die Calçada da Estrela in dem Jahr gegen Benfica einzutauschen, das ich in Bordeaux verbrachte, unmittelbar nach dem Abend, an dem ihr Vater sich aus Sehnsucht nach dem Tejo über das Geländer gebeugt, das Gleichgewicht verloren, einen Blumentopf umgestoßen, einige Sekunden halb innerhalb, halb außerhalb des Gebäudes geschaukelt und noch den Kopf zurückgewandt und gebeten hatte

– Reich mal ein Händchen, Ester

und da kein einziger Finger zur Hilfe kam, war er mit einem Puddingplopp auf dem Pflaster erschlafft.

Diese Wohnung in der Calçada da Estrela könnt ihr, falls sie nicht abgerissen wurde, auch fortschaffen. Nehmt die Calçada da Estrela mit, nehmt die drei Zentimeter Fluß mit, nehmt die Fregatte mit, die in meinem Kopf tutete, als ich mich im Anschluß an die Demonstrationen des Jahres ’26 nach Madeira einschiffte, die Fregatte, die immer noch tutet, wenn die Sirene der Wirkwarenfabrik um zwölf Uhr mittags heult, die Fregatte, die ohne Unterlaß an jenem Nachmittag tutete, an dem ich nach Hause kam und das Innere aller Schränke nach außen kehrte und einen Briefumschlag mit meinem Namen auf der Kommode im Schlafzimmer vorfand

Ich werde mit Carlos zusammenziehen, Joaquim, alles Gute

die Fregatte, die immer weiter tutete, immer stärker tutete, während ich die Treppe hinunterstieg und mein Sohn im Arbeitszimmer das Flohspiel spielte

ich war Kadett an der Ingenieurschule, als wir anfingen, miteinander zu gehen, kam zu Fuß von Paço da Rainha, ging in meinen Studentenumhang gerollt unter deinem Zimmer auf und ab, und du machtest hinter der Gardine die Hand auf und zu

das Tuten wurde unerträglich, als ich deine leeren Kleiderbügel anschaute, dermaßen unerträglich, daß ich die Ohren mit den Handflächen zuhielt, und mein Sohn

– Onkel Carlos und Mama haben das Auto voller Koffer gepackt

nicht die Spur eines Parfümflakons, nicht die Spur eines Samthutes, nicht die Spur einer Schwefelcreme für die Haut, nicht die Spur der versilberten Bürste mit unseren verschlungenen Initialen, das Tuten des Schiffes überlagerte das Knistern des Mispelbaumes im Garten, und in der Rua Alexandre Herculano Carlos im Morgenmantel, die Zigarettenspitze zwischen den Zähnen

– Ester bleibt bei mir, Joaquim, so ist nun mal das Leben

Ich habe ehrlich gesagt nicht geglaubt, daß Sie uns enttäuschen würden, ich habe nie gedacht, daß ein Offizier die Diktatur verraten würde, übergeben Sie mir Ihren Revolver, Herr Ingenieur, und Carlos, der die Zwischenräume seiner Backenzähne mit einem Fingernagel inspizierte

– Sie will nicht mit dir reden, Joaquim, bitte keine Bosheiten, beschimpf mich nicht, verkomplizier die Dinge nicht noch

Wenn Sie wollen, können Sie Madeira verlassen und auf den Kontinent zurückkehren, das Amnestieschreiben ist gestern angekommen, der Vorsitzende des Ministerrates hat Ihnen verziehen, Ihre Wohnung wird nicht mehr überwacht, und ich spähte in die Diele, versuchte sie jenseits eines Vorhangs, einer weiteren Tür, eines Stücks Tapete mit Weidenkörben, eines Schreibtisches, einer Lampe, deren Fuß ein Zeitungsjunge aus Bronze war, jenseits von Enzyklopädien zu erkennen

– Laß mich mir ihr reden, eine Minute würde mir reichen, Carlinhos, dein Vater ist kein Gauner, ist ja gut, ich habe übertrieben

und ich dachte, daß mir im Traum nicht eingefallen war, daß meine Wohnung überwacht wurde, ich hatte nie einen Polizisten in Zivil bemerkt, der Schwede im Nachbarhaus hatte mich nie mit dem Fernglas verfolgt und sich Notizen gemacht, ich sah nur das ruhige Meer unter dem ruhigen Himmel, die Straßen von Funchal, die Wellen am Ponton, es gibt keine Strände auf dieser Insel, es gibt keinen einzigen mickrigen Strand auf dieser Insel, nur Kiesel, Steine, Felsen, und Carlos, der seinen Fingernagel eingehend betrachtete

– Tut mir leid, aber sie will nicht mit dir reden, Joaquim, sie hat keine Lust, dich zu ertragen, kannst du sie nicht ein für allemal in Ruhe lassen?

und ich stand vor dem Gouverneur, der saß und sich kopfunter auf der Tischplatte widerspiegelte wie ein Herzkönig

– Wann geht das nächste Passagierschiff nach Lissabon, Herr General? Ich vertrage dieses Klima hier nämlich nicht.

und der Gouverneur, der sich vor dem Glas des Fotos seiner Gattin kämmte

– Da gibt es noch einige kleine bürokratische Formalitäten, Papiere hier, Papiere da, Stempel, Prägesiegel, Impfungen, ich denke, in einer oder zwei Wochen können Sie abreisen, falls es keine Verzögerungen bei der Post gibt, und ich machte, vom Tuten der Fregatte angestoßen, einen Schritt zur Diele

– Eine Minute, Carlos, für jemanden, der sein ganzes Leben lang ohne sie bleiben wird, ist eine Minute doch nicht zuviel verlangt, oder?

Vielleicht lag es an den Blütenpollen oder am Parfüm der Engländerinnen, jedenfalls habe ich auf Madeira immer gehustet und geniest, hatte ich immer eine verstopfte Nase und eine heisere Stimme, und die Fregatte tutete und Carlos, zur Stille der Wohnung gewandt

– Komm doch mal einen Augenblick, Joaquim will mit dir reden, Liebling

und die Stimme ganz hinten aus der Wohnung schlecht gelaunt

– Sag ihm, daß ich Kopfschmerzen habe, daß ich Fieber habe, daß ich krank bin, daß ich einen Knöchel gebrochen habe, erfinde irgendeine Ausrede, schick ihn weg, wimmel ihn ab

und es waren keine zwei Wochen, wie der Gouverneur versprochen hatte, es war ein ganzer Monat, den ich tropfend, die Nase im Taschentuch von einer Abteilung zur anderen zog, von einem Beamten zum anderen, in dem ich mit Kreaturen diskutierte, die mir nicht zuhörten, die durch mich hindurchschauten und wiederholten

– Der nächste, bitte

während der Chef mit dem Unterchef konferierte, ich ungeduldig wurde, böse wurde, mit den Fingern auf dem Tresen des Schalters trommelte, drohte, mich zu beschweren, und sie

– Der nächste, bitte

und der Chef stieß den Unterchef an

– Du müßtest mal die Kleine vom Gouverneur sehen, du müßtest sie mal nackt sehen

und der Unterchef gierig

– Da würde ich nicht nein sagen, Senhor Moura, denn ich habe bislang nur Schreckschrauben gezogen

und ich, mit aus dem Zügel laufendem Herzen

– Ich werde mich beim Vorgesetzten beschweren

und sie, ohne mich zu beachten

– Der nächste, bitte, das Tuten der Fregatte erfüllte den ganzen Häuserblock, und Carlos, beinahe mitleidig

– Du hast sie doch gehört, nicht wahr? Es ist besser, du gehst, Joaquim

und mein Sohn, der im Wohnzimmer mit einem Holzwägelchen spielte

– Ist Mama mit dir gekommen, Papa?

Die Buchen auf dem Boulevard husteten, und das Dienstmädchen, das schon damals häßlich war, nur dreißig Jahre jünger

– Für wie viele Personen soll ich den Tisch decken, Herr Ingenieur?

und ich, dessen Stimme im Gemurmel des Oleanders versickerte

– Geh ins Bett, Tó Mané, für zwei Personen, Alzira

in Madeira war Frühling, und überall in Funchal gab es Pollen und Engländerinnen, nur keine Wolken, der Himmel war weniger ruhig, die Passagierschiffe kamen und gingen in einem Möwenkonzert, und der Gouverneur, jetzt von einem unterwürfigen Buben sekundiert, der weniger Litzen trug als er

– Sie sagen, Ihre Papiere sind nicht bearbeitet worden, wieso wurden die Dokumente nicht bearbeitet, die ich vor Ewigkeiten unterzeichnet habe?, und mein Sohn quengelte

– Nur noch einen kleinen Augenblick, Papa

und ich griff zur Zeitung, während das Tuten langsam abnahm

– Wenn du nicht gleich ins Bett gehst, bekommst du ein paar hinter die Ohren, daß du dich umguckst, Tó Mané

und als ich die Nachrichten gelesen hatte und die Zeitung zusammenfaltete und sie auf das Tischchen für die Zeitschriften gelegt hatte, das Dienstmädchen, das sich vor Müdigkeit die Augen rieb

– Sie sagten, ich solle den Tisch für zwei Personen decken, wird es noch lange dauern, bis der Herr, der den Herrn Ingenieur besucht, bis die zweite Person kommt?

und der Gouverneur, indem er das Foto seiner Gattin geraderückte, sich mit dem Sessel drehte, die Stadt und die Hafenanlagen eingehend betrachtete

– Pulido, ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden, um dieses Durcheinander auf die Reihe zu bringen, und ich lächelnd

– Der Besuch ist kein Mann, sondern eine Frau, sie ist bereits da, entschuldigen Sie, ich war etwas zerstreut, kämmen Sie sich kurz das Haar und setzen Sie sich auf den Platz der gnädigen Frau, und das Tuten hörte auf.

Deshalb könnt ihr aus dem Haus mitnehmen, was ihr wollt, Hauptsache, ihr laßt mich in Frieden mit einem Kartenspiel und einem Brett, auf das man die Karten legen kann, denn zu stehlen gibt es kaum noch etwas: Die Sonette und die Fotos habe ich im Ofen verbrannt, die Vergangenheit hat sich aus den Alben verflüchtigt, Tó Mané hat geheiratet und ist gegangen, er ruft mich nie an, besucht mich nie, wir sind allein zurückgeblieben, das Dienstmädchen und ich und der Hund, den es mir eines Tages mit einer gebrochenen Pfote mitgebracht hat und den ich nach dem Mittagessen ausführe, um ihn daran zu hindern, mir auf den Teppich zu pinkeln, wenn ihr den Hund und das Dienstmädchen mitnehmen würdet, wäre das eine große Erleichterung

und Alzira, die sich dumm stellte

– Der Herr Ingenieur möchte, daß ich mich zu ihm an den Tisch setze?

und der Adjutant zum Herzkönig, der seine Gattin mit dem Taschentuch polierte

– Hier ist die Genehmigung für den Ingenieur, mein General, ich habe dem Polizeikommandanten die Ohren langgezogen

und der Herzkönig zu mir, der nicht aufhörte, zu niesen und sich die Nase zu schneuzen

– Für alles gibt es letztlich eine Abhilfe, hier nehmen Sie, apropos Abhilfe, Sie sollten eine Apotheke aufsuchen und irgend etwas gegen diese fürchterliche Grippe kaufen

und der Adjutant, ganz gelehrt

– Ich kenne da ein paar ausgezeichnete Kräutertees

und ich zum Dienstmädchen

– Selbstverständlich, Alzira, selbstverständlich möchte ich es, setzen Sie sich auf diesen Stuhl und benutzen Sie die Serviette der gnädigen Frau.

Nehmt das Dienstmädchen und den Hund mit, denn das Dienstmädchen und der Hund vergiften mir nur das Leben, weil sie mir die Hemdkragen mit dem Bügeleisen versengt und er den lieben langen Tag die Fliesen mit den Krallen abwetzt, einmal ganz abgesehen von diesem Kind, von dem ich nicht weiß, wessen Kind es ist, von dem ich lieber nicht weiß oder vorgebe nicht zu wissen, wessen Kind es ist, und das an die Schürze der Mutter geklammert durch die Zimmer wackelt, na ja, meinen Enkel, den Sohn meines Sohnes, den er hier vergessen hat, wie man einen Regenschirm an der Garderobe vergißt, und ich

– Vielleicht wird mir ein Kräutertee ja wirklich guttun, ich bin Ihnen für Ihre Anregung dankbar, Herr Major

und im lauwarmen Geruch der Wellen zwang ich mich, das Parfüm der Engländerinnen zu husten, den Enkel, den ich nicht ansehe, nicht etwa, weil ich Angst habe, daß ich ihn liebgewinnen und mein Sohn ihn mir wieder wegnehmen könnte, diese Gefahr besteht nicht, da ich niemanden mag, weil ich nie jemanden gemocht habe, und ich

– Ich gehe, Carlos, keine Angst, ich gehe und werde dich nicht mehr behelligen, ich bitte dich nur darum, daß du dich um sie kümmerst, daß du sie nicht schlecht behandelst, falls du ein Problem haben oder Geld brauchen solltest, zögere nicht, mich anzurufen, und da ich weder dumm noch masochistisch bin, gehe ich das Risiko nicht ein, jemanden liebzugewinnen, wenn man mich fragt, was man um keinen Preis tun sollte, antworte ich sofort

– Jemand anderen zu mögen ist das beste Rezept, um in Schwierigkeiten zu geraten, Gott sei Dank habe ich mich davor gehütet und bin glücklich, und Carlos mit spöttischer Miene

– Herzlichen Dank, Joaquim

und ich ging durch die Artilharia Um, durch die Arco do Carvalhão, durch Campolide, ohne auf den Bahnhof zu treffen, stolperte stundenlang durch Gassen und Gäßchen, hörte das Blöken von Herden, stieß gegen Fassaden und wenn man mich das fragt, dann antworte ich

– Das Geheimnis, meine Herrschaften, liegt darin, niemanden zu mögen, sehen Sie mich an, da ich niemanden mag, bin ich frei, und mein Sohn

– Wann kommt Mama aus den Ferien zurück, Papa?

und ich mit der Zeitschrift der Streitkräfte verschmolzen, damit er meine Tränen nicht bemerkte

– Demnächst, Tó Mané, mach dir keine Sorgen

man sollte nicht einmal Tiere mögen, ich zum Beispiel führe den Hund nur aus, damit er mir nicht auf den Teppich pinkelt, mir nicht den Oberschenkel gegen die Möbel hebt, mir nicht auf den Teppichboden kackt, ich lasse ihn nicht töten, um den Tierarzt nicht zahlen zu müssen, es ist billiger, die Reste vom Mittagessen in eine Schüssel zu tun, und Alzira überrascht

– Rinderfilet für das Tier, Herr Ingenieur, wo uns doch der Fleischereibesitzer Knochen umsonst gibt? Wenn man mich fragt, antworte ich

– Na klar bin ich glücklich, ich habe ein Haus, eine Rente, ein Kartenspiel und vor allem Ruhe, was ein Mann vor allem im Leben braucht, ist Ruhe, als ich von Madeira kommend in Lissabon von Bord ging, wartete meine Frau nicht auf mich, es gab Menschen, Rufe, Lachen, keine Engländerinnen, keine Pollen, die Nase war trocken, zum Niesen gab es keinen Grund, ich machte mich auf zur Avenida Gomes Pereira, es war halb zwölf, und sie brummelte, mir den Rükken zugekehrt

– Zieh die Rolläden nicht hoch, ich bin gestern wahnsinnig spät zu Bett gegangen jemanden zu mögen bringt nichts, was zählt, ist die Bronchitis der Buchen, und ich zu Alzira

– Von Knochen bekommt er Durchfall, es ist eine Frage der Hygiene, ich möchte nicht, daß der Boden schmutzig wird, glaubst du, es gefällt mir, einen gewöhnlichen Straßenköter mit Rinderfilet zu füttern?

und Alzira, diese dumme Gans

– Entschuldigen Sie, aber ich dachte mir, daß der Herr Ingenieur das Tierchen vergöttert, wenn man mich fragt, was man tun sollte, ich zog die Rolläden hoch, schob die Vorhänge beiseite, schüttelte Ester

– In elf Monaten hast du mir keine Postkarte nach Madeira geschickt, warum? Wenn man mich fragt, was man tun solle, sage ich sofort

– Allein sein, denn alle Gespräche sind langweilig, warum sich also unterhalten?, und meine Frau

– Was weiß ich, ich habe andere Dinge im Kopf gehabt, ich habe nicht daran gedacht

und schon damals gab es Oleander, es gab schon den Mispelbaum, sie pflanzten halbmeterhohe Buchen, und ein Angestellter des Rathauses goß sie jeden Freitag mit leidenschaftlichen Gesten, und wahr ist, daß die dankbaren Buchen nicht aufhören zu wachsen, in kürzester Zeit erreichen sie die Dächer, so daß man, wären sie nicht gestutzt worden, die Häuser nicht mehr hätte sehen können und der Boulevard einer Provinzstraße geglichen hätte, von Zweigen gesäumt, die die Sonne ausschlossen, die Eisenbahnen schwebten durch einen Tunnel des Raunens, und Ester bedeckte ein Ohr mit dem Kopfkissen.

– Könntest du bitte den Mund halten und mich schlafen lassen?, und daher war es so, als lebte man unter einer gewölbten Glocke aus Flüstern und Zischeln und Vogelschwirren und dem nächtlichen Kreischen von Fledermäusen, von Dutzenden Fledermäusen, die sich aus den Baumkronen lösten und um die Lichter herum auf- und niederflatterten, am Tag darauf fand ich den Briefumschlag von meiner Frau an eine Vase gelehnt auf der Kommode im Schlafzimmer

– Ich werde mit Carlos zusammenziehen, Joaquim, alles Gute

und nicht ich war es, der sie weggeschickt hat, nicht ich wollte mich scheiden lassen, sie war es, die mich verließ, sie hatte genug von mir, sie blieb einen ganzen Nachmittag lang im Bett liegen, weigerte sich, mit mir zu sprechen, weigerte sich, mit mir zu reden, wehrte meine Küsse mit dem Arm ab, wies wortlos, die Augen zur Decke gerichtet, das Mittagessen, das Abendessen, den Tee zurück, den ich ihr auf einem Tablett brachte, schließlich legte ich mich neben sie, doch bei der leisesten Berührung entwand sie sich erschaudernd, als wäre ich ein Blutegel oder so etwas Ähnliches, ich spürte, wie ihre Gelenke in einem spitzen Winkel standen wie bei den Heuschrecken, bereit, mich wegzustoßen, bereit, vor mir zu fliehen, in den frühen Morgenstunden stand ich auf, badete

(es war dunkel im Garten, kein Anzeichen von Morgenröte, und über dem Pfirsichbaum stand ein einziges Sternchen)

ein lila Saum kühlte die Dachtraufen, das Wasser des Kanals glitzerte, und die erste Straßenbahn beförderte meine Leiche zur Arbeitssuche in die Baixa. Obwohl es tagsüber keine Fledermäuse gibt, höre ich ihre Schreie und denke, in Sorge um meinen Enkel

– Möge mich Gott davor bewahren, jemanden zu mögen

und der Arzt versicherte mir, daß die Sache mit der Aorta nicht gefährlich sei, dennoch, wer weiß, sobald er ausgewachsen ist, wird sich zeigen, ob sie operiert werden muß oder nicht, doch wenn er ausgewachsen ist, sind Alzira und ich tot, und wer begleitet ihn dann ins Krankenhaus, wer kümmert sich dann um Álvaro?, und Fernando überschwenglich

– Ich habe dich ja jahrelang nicht mehr gesehen, wie geht’s dir denn so?

und ich

– Zumindest sieht man von der Rua do Alecrim aus die Hafeneinfahrt vom Tejo vielleicht kümmert sich ja sein Vater um ihn, vielleicht denkt sein Vater an die Medizin, die Röntgenaufnahmen, die Laboruntersuchungen, doch sein Vater ist mit Ester weggegangen, er schickt, wenn überhaupt, eine Weihnachtskarte und Fernandes, der die Post mit einem Messerchen öffnete

– Du möchtest arbeiten, das verstehe ich, das Problem ist nur, du hast keine Erfahrung mit Seefrachten, oder etwa doch?, und da mein Enkel mich nicht interessiert, könnt ihr meinen Enkel auch mitnehmen, mir ist das gleichgültig und ich

– Nein, habe ich nicht, aber keine Sorge, das lerne ich schnell, ich habe immer schnell gelernt und wenn ich meinen Enkel sage, dann heißt das auch das Dienstmädchen und den Hund, Hauptsache, man läßt mich in Frieden mit meinem Kartenspiel und einem Brett, auf das ich die Karten legen kann und Fernandes, unentschlossen

– Die Sache mit den Schiffen ist kein Zuckerschlecken, Joaquim

– Bis jetzt war mein Leben auch kein Zuckerschlecken, mir geht es prima ohne diesen Dummkopf von Enkel, es geht mir prächtig ohne Hund und ohne Alzira und Fernandes

– Daß du als Buchhalter arbeiten willst, verstehe ich nicht, hast du mit Ester darüber gesprochen?

und der Fluß brannte jenseits des Fensters, die Segelschiffe brannten, die Flammen der Möwen setzten Camões in Brand, Dachziegel brannten, Innenhöfe brannten, Nelkenblumentöpfe loderten nehmt die Oleander mit, nehmt die Oleander auch gleich mit, denn sie erzählen mir mit filzbelegten Stimmchen von der Vergangenheit

und ich beugte mich zu Fernandes, versuchte ein Lächeln

– Es ist nicht Esters Sache, sich darum zu kümmern, was aus meinem Leben wird, sondern meine, ich bin gerade aus Madeira zurückgekommen, ich bin blank, ich brauche eine Anstellung

und auch diesen Hemmschuh von Alzira, denn was nützt mir ein Dienstmädchen, das vor Rheumatismus humpelt, die Bügelwäsche stapelt sich im Korb, das Geschirr verfault in der Küche, die Teppiche sind ewig nicht gesaugt worden, es wird weder unter dem Vordach noch auf dem Hof gefegt, die Falter werden nicht aus der Laterne gewaschen, ordentlichen Reis habe ich wer weiß wie lange schon nicht mehr gegessen

– Einen Übergangsjob, zwei oder drei Monate, bis du eine bessere Stellung gefunden hast, ich werde Fräulein Carolina bitten, daß sie dir die Bücher zeigt

ich weiß nicht, wieso mein Enkel, der doch so schwächlich ist, sich nicht an dem, was Alzira zusammenkocht, den Magen verdirbt

und Fernandes, der auf eine Art fensterlose Grotte zeigte

– Da es keinen Schreibtisch für dich gibt, haben wir dir ein Tischchen in das Kabuff mit dem Archiv gestellt

und ich addierte Posten, und Fräulein Carolina ärgerlich

– Wann geben Sie die Bilanz für Mai ab, Herr Ingenieur, nichts läuft mehr, weil wir auf Sie warten

– Kein einziges Konto stimmt, Joaquim, ich werde eine Woche damit verbringen, diese Zahlen zu korrigieren

und als sie mich entließen, habe ich angefangen, den Schmuck meiner Mutter zu verkaufen, Kommoden zu verkaufen, auf Anzeigen zu schreiben, mein kleines Grundstück auf dem Lande verpfändet, die Deckelvasen verpfändet, ich habe eine Stelle als Mathematiklehrer in Lumiar, eine Stelle als Wärter in einer Klinik in Arroios, eine Stelle als Lagerverwalter in Santos gefunden, und plötzlich war ich für jede Art von Arbeit zu alt. Ich wurde gefragt

– Wie alt sind Sie?

ich antwortete

– Sechzig

schuldbewußt, als wäre es eine Schande, sechzig zu sein, eine Art Syphilis, das Alter des Dienstmädchens, vielleicht das Alter des Hundes, eine merkwürdige Kälteempfindlichkeit, der Wunsch, das Haus nicht zu verlassen

aber nehmt sie mit, nehmt euch das Haus, aber laßt mir ein Kartenspiel und ein Brett, auf das ich die Karten legen kann, nehmt das Haus, die Oleanderbüsche, die Buchen, die Fregatte, die wieder angefangen hat, in meinem Schädel zu tuten

sechzig Jahre, ein steifes Knie und Rückenschmerzen und jetzt, mit fünfundsiebzig Jahren bleibt mir nur die Hoffnung, daß ihr mir den Gefallen tut, mitzunehmen, was ihr wollt, das wenige, was ich nicht verkauft habe und das noch übrig ist, mein Bett zum Beispiel, die Sitzgarnitur, die gesprungenen Tassen, die Schüssel vom Hund, nehmt das Geräusch der Züge nach Sintra mit, die Fledermäuse, die Sirene der Fabrik, vergangene Woche hatte ich das Gefühl, ich hätte Carlos gesehen, als ich das Gas bezahlen ging, einen Alten mit Spazierstock, der den Fußweg entlangschlurfte

– Ist Mama mit dir gekommen, Papa?

– Laß mich mit ihr sprechen, eine Minute reicht mir

und in Madeira war das Meer ruhig unter dem ruhigen Himmel, die Wellen am Damm, Palmen

– Wann geht das nächste Passagierschiff nach Lissabon, Herr General? Ich vertrage dieses Klima hier nämlich nicht

– Da sind noch ein paar bürokratische Formalitäten zu erledigen, Papiere hier, Papiere da, Stempel, Gebührenmarken

vielleicht ist Ester mit einem andern geflohen, hat die Koffer zum Auto geschleppt und ist mit dem anderen verschwunden

– Sag ihm, daß ich Kopfschmerzen habe, daß ich Fieber habe, daß ich krank bin, erfinde irgendeine Ausrede, schick ihn weg, wimmel ihn ab

– Ich werde gehen, ich verspreche, daß ich gleich gehen werde, aber laß mich mit ihr reden, auch wenn es nur eine Minute lang ist

Carlos ging auf den Spazierstock gestützt, und ich bin, ohne mich um den Fahrpreis zu kümmern, mit dem Taxi in der Hoffnung nach Benfica gefahren, die Gemeinde wäre von Calhariz bis zur Kirche, vom Friedhof bis zur Bahnstation fortgeschafft worden, man hätte die Fabrik und den Dunst über dem kleinen Kanal fortgeschafft, man hätte dies alles fortgeschafft wie Ester ihre Parfümflakons, die Samthüte, die Schwefelcremes, die Bürsten

Endlich haben sie Benfica fortgeschafft, dachte ich, und ich habe weder einen Hund noch ein Dienstmädchen, noch einen Enkel, und habe meinen Frieden

ich kam mit dem Taxi nach Hause, und in Sete Rios bauten sie die Untergrundbahn, es war Mittag, die Gitterstäbe des Zoologischen Gartens wellten sich in der Hitze, und da stieß die Fregatte, nicht traurig, fröhlich, ein spiralförmiges Tuten aus, eine Fregatte, die über die Toppen geflaggt war und deren Lichter alle brannten, und ich glitt im Wagen durch den Buchentunnel, war von meinem beinahe unmöblierten Haus befreit, von meinem Dienstmädchen, dem Hund, von den Faltern befreit, die sich an die Laterne hefteten, auf den Stufen unter dem Vordach, dem Dachpfannen fehlten, häuften sich Blätter, die Hühner im Hühnerstall hielten mich zum Narren, mein Enkel machte im Wohnzimmer Schularbeiten, ich wollte ihn, froh wie ich war, fragen

– Hörst du die Fregatte, Álvaro?

Statt dessen mischte ich die Karten, legte sie in Reihen auf das Filztuch und war zum ersten Mal nicht verärgert darüber, daß die Patience nicht aufging, denn ich war mir, obwohl ich nicht atmen konnte, obwohl mein Herz stehengeblieben war, obwohl ich jählings auf den Tisch fiel, sicher, daß ich nie sterben würde.

Álvaro

Die Avenida Gomes Pereira führte vom Bahnhof hinunter zur Estrada de Benfica

(Züge von und nach Sintra und Massamá, Züge von und nach Cacém, das Pissoir in Pagodenform, die Waage, das Veilchenbeet, sich ablösende Fahrpläne, vergessene Koffer, die in keinem Waggon reisten)

sie führte an der Wirkwarenfabrik, an der Schule und dem kleinen Kanal vorbei, von dem aus im Dezember der Häuserblock im Winternebel verschwand.

Die Avenida Gomes Pereira

(Wasserspiele, Ananasse aus Gips, zerbrochene Statuetten)

als mein Vater mich auf dem Schoß des Dienstmädchens zurückließ und wegging, und mein Großvater gleichgültig die Brille von der Patience hob: Der Oleander, den die streunenden Katzen zerfetzten, beleuchtete meine Angst und mein Entsetzen.

In der Zeit vor der Avenida Gomes Pereira hatte es eine Frau gegeben, die mir zu essen gab, ein geschnitztes Jesuskind, dem Finger fehlten, dieselbe Frau in einem Bett, Leute in Trauerkleidern, die mich schweigend ansahen, und dann die Fahrt mit der Straßenbahn, mein Vater, der rüttelnd eine Glocke zum Läuten brachte, und die Arme des Dienstmädchens, die sich zu mir ausstreckten, um mich in Empfang zu nehmen wie in einem dieser Alpträume, in denen uns ein Ungeheuer erdrosselt. Und während sich das Taxi entfernte, begann ich mit den Beinen zu strampeln und hörte die Krallen des Hundes auf den Küchenfliesen nicht mehr.

In all den Jahren, in denen ich bei meinem Großvater lebte, reihte er, blind für alles außer dem Hund und den Spielkarten, Karten auf dem Spieltisch in einem Zimmer auf, in dem die Luft in den Samtvorhängen stand. Die Lokomotiven hatte er, weil er sie so häufig auf dem Bahnsteig gehört hatte, vergessen, er hatte den Oleander und die Buchen, die im Wind husteten, vergessen, so wie ich meinen Vater vergessen hatte, den ich wieder sah, als er auf dem Stuhl auf dem Vorplatz unter der Garderobe in einem Rasierwasserduft saß, den ich in der Zeit der Frau im Bett und des geschnitzten Jesus erfunden zu haben geglaubt hatte, und mit dem Duft kam das Läuten des Glöckchens wieder, das mich auf dem Schoß des Dienstmädchens zurückgelassen hatte, und ich ging in den Garten, um mir das Weinen zu verbeißen. Es war in dem Monat, als sie den Kanal trockenlegten, mein Großvater war auf dem Spieltisch hingestreckt über einer unvollendeten Patience gestorben, der Veterinär hatte den Hund, der die Nahrung verweigerte, in einem Korb zur Kaliumspritze weggetragen, und das Dienstmädchen führte die Leine ohne das Tier aus, hielt nach jedem Schritt inne, als würde sie ein wirkliches Tier bei sich haben. Mein Vater stieß die Pforte auf, die aus den Angeln sprang, und erst nachts, als im nächsten Haus jemand auf dem Klavier einen Walzer entfesselte, schaute ich meine Schwester an, die er ebenso unter dem Knistern der Kletterpflanze zurückgelassen hatte wie mich. Ein unruhiges Geräusch war über dem Klingen der Hecke zu hören, genauso wie flüsternde Stimmen, und ich glaubte, daß sie meinen Namen aussprachen, daß sie

– Álvaro

sagten, daß sie Álvaro sagten und schweigend auf die Antwort warteten und erneut

– Álvaro

sagten, die Möbel, die Gegenstände, die auf den Borden aufgereihten Gläser wiederholten

– Álvaro

und als ich sie ins Bett meines Großvaters legte

(Kupferarabesken, Knäufe und Kupferarabesken)

und sie fragte, ob ich das Licht löschen oder es lieber anlassen sollte, starrte sie mich ohne mir zu antworten an, als wüßte ich seit jeher, was sie wollte. Auch die stumme Dunkelheit knisterte, Ameisen, Unkraut, die Dielenbretter gaben eines nach dem anderen nach, die Laternenfalter, das Dienstmädchen, das schlurfend mit dem Hund zurückkam, den es nicht gab, ich stieg die Treppe hinunter, während die Vergangenheit kam und zurückwich wie Uferschlamm, und als ich ins Wohnzimmer kam, merkte ich an einem plötzlichen Stillstand des Blutes, daß ich belauert wurde, und meine Schwester beobachtete mich schweigend von der Türschwelle aus. Die Buchen husteten, eine Maschine rotierte in der Wirkwarenfabrik, ich legte sie wieder ins Bett und blieb im Zimmer

(Kupferarabesken, Knäufe und Kupferarabesken)

bis ich mich vergewissert hatte, daß sie eingeschlafen war. Die Glocke der Feuerwehr läutete, ich spürte, wie die Birne der Schreibtischlampe in ihrem Fransenschirm zitterte, das Kristall klirrte im Schrank, meine Schwester stand wieder auf der Türschwelle, starrte mich unbeirrbar an wie ein Heiligenbildchen, und ich begriff, daß dies ihre Art zu weinen war.

Als wir an der Kammer des Dienstmädchens vorbeikamen, hörte ich dessen besorgte Stimme

– Ist etwas passiert, mein Junge?

und ich nahm meine Schwester mit in mein Zimmer, das zum Hintergarten hinausging, wo die Truthähne mit ihrem Aufschrecken den Hühnerstall zum Brodeln brachten. Ich legte mich zu ihr auf den von einem alten Schrank an die Wand gedrückten Diwan

(litzenbesetzte Mäntel, Maskeradenkostüme, Fuchsstolen mit Zähnchen)

und meine Schwester legte ihre Hand flach auf meine Brust, um sicherzugehen, daß ich nicht mit von den Zweigen gedämpften Schritten davonging. Der Morgen ließ die Sonne in den Jalousien zu Flechten gerinnen

(litzenbesetzte Mäntel, Maskeradenkostüme, Fuchsstolen mit Zähnchen)

und als ich aus der Küche zurückkehrte, fand ich sie auf der Bettüberdecke zusammengerollt vor, den Daumen im Mund, friedlich wie jemand, der wußte, daß ich wiederkommen würde. Die Flechten reichten von den Jalousien bis zum Boden, kletterten auf die Decke, die Bettücher, das Kopfkissen, ich sah wieder die Verwandten, wie sie bei der Totenwache Kekse aßen und Likör tranken

(nicht nur die Hecke rief, auch der Pfirsichbaum, die Buchen, die Maurer, die aus Villen Gebäude ohne Gärten machten, der Scherenschleifer, der auf einer Panflöte blies)

und da hockte der Hund vor der nicht angerührten Schüssel, da waren das Kölnisch Wasser, das das Dienstmädchen auf das Kartenspiel geschüttet hatte, um den Leichengeruch zu löschen, der Veterinär, der den Korb öffnete, sich zum Hund hinunterbeugte, dessen Haut sich wund zwischen den Knochen faltete, und ihn dann zur Kaliumspritze mitnahm

– Ein kleiner Pikser in die Vene, seien Sie unbesorgt, das Tier leidet nicht

und ihn anschließend in den Einäscherungsofen der Praxis warf, wo man die Maschinen der Fabrik und das Heulen der Züge von und nach Sintra nicht hört

(Züge von und nach Sintra und Massamá, Züge von und nach Cacém)

ein Büro in der Nähe von Pontinha und der Störche von Amadora mit ihren ausgebreiteten Schwingen über dem Vieh und den Türmen der Kirche, und nach einer Nacht, in der die Bäume unermüdlich konspirierten, bat ich das Dienstmädchen, sich während der Unterrichtsstunden um meine Schwester zu kümmern, die Zimmerleute hüpften auf den Baugerüsten herum, ein Schaufelbagger trug Hänge ab, der Wind schüttelte die Dahlien und die Teerosen dermaßen, daß ich die Buchen vergaß

(– Seien Sie unbesorgt)

den Oleander vergaß.

An der Estrada de Benfica, Ecke Calçada do Tojal, wo sie Schaufensterpuppen in ein Dekorationsgeschäft schleppten, stocherte der Major im Müll neben einem Autobus herum, der keine Reifen mehr hatte und dessen Nappalederbezüge von den Sitzen gerissen waren. Die Straßenbahnen fuhren, von kleinen zerfallenen Mauern und zwischen Kleebüscheln weidenden Schafen umringt, nach Calhariz, und mit den Schafen kam die Erinnerung an die Zinkkannen des Milchmannes wieder zurück, der mit einem Wägelchen von Tür zu Tür fuhr. Das Maultier war am scharlachroten Zaumzeug mit einer Schellengirlande geschmückt, die Milch floß in den Milchtopf, den das Dienstmädchen auf Brusthöhe hielt, wie die Priester die Hostienschale, und in den Ställen von Poçõ do Chão hingen Männer in Gummistiefeln, auf Kisten hockend, an den Hüften der Färsen. Der Tierarzt versicherte, während er zum Vordach ging, abermals

– Seien Sie unbesorgt, das Tier leidet nicht

aber er begreift es nicht, dachte ich, natürlich leidet es, genauso wie die Kletterpflanze leidet, denn ich höre sie in der Dunkelheit, genauso wie meine Schwester leidet, so wie auch ich leide, wie das Dienstmädchen leidet, ich sah sie wieder auf Zehenspitzen stehen, um die Milch zu empfangen, und anstatt in die Baixa weiterzufahren

– Eine Kaliuminjektion, ein Pikser

reiste ich mit dem Bus zum Chile-Kino, wo James Cagney, den Hut in den Nacken geschoben, schnurrbärtige Mörder verhörte. Ein Gangster war in Baltimore oder Chicago, als er aus dem Theater kam, erschossen worden, so daß ich

– Eine Kaliuminjektion, ein winziger Pikser

als der Film zu Ende war, nicht aufstehen wollte, weil ich Angst hatte, man würde mich in der Halle des Kinos mit dem Maschinengewehr umlegen, bis ich merkte, daß ich weder John Dillinger war noch Banken in kleinen Provinzstädten überfiel, und dennoch wurde ich nur wenig ruhiger

(litzenbesetzte Mäntel, Maskeradenkostüme, Fuchsstolen mit Zähnchen)

als ich mich im Schaukasten im Foyer inspizierte, hinter dem mich der Platzanweiser ängstlich beobachtete, ich betrachtete die Plakate, als wäre meine Schwester dort, als würde sie schweigend, von diesem Tropismus einer Sonnenblume gesteuert, auf mich warten, der sie, überall wo ich mich befand, aus dem Pfeifen der Büsche heraustreten ließ. Selbst heute passiert es mir, obwohl sie erwachsen und Ärztin ist und mit einer Freundin in Carcavelos in einer Wohnung oberhalb des Strandes und des Meeres lebt, daß ich, wenn ich vor Raquel nach Hause komme, mir sicher bin, daß mich ein Kind reglos von der Türschwelle des Wohnzimmers her ausspäht. Und sogar heute, als ich vom Krankenhaus zurückkam, sackte John Dillinger wieder auf der Leinwand zusammen, so daß ich zum Telefon ging, um meine Schwester anzurufen, und unter dem Husten der riesig hohen Buchen von einst erklärte

– Eine Kaliuminjektion, Schwesterherz, der Tierarzt verspricht, daß es nicht weh tut, ein kleiner Pikser in die Vene, und das war’s, vielleicht hast du ja gerade eine Spritze zur Hand

und sie, mit einer Stimme, die sich überrascht kräuselte

– Wie bitte?

und ich

– Er hat das mit dem Hund von Großvater gemacht, um der Krankheit ein Ende zu machen, er aß nicht, er konnte sich nicht mehr bewegen, der Tierarzt hat ihn in einem Korb mit in seine Praxis genommen, hat die Spritze mit Kalium gefüllt, und ich denke, wir

und sie, so wie wenn das Geräusch der Pflanzen in Erwartung des Windes aussetzte

– Der Hund, was ist denn das für eine Geschichte, glaubst du etwa, dein Sohn sei mit einem Hund vergleichbar?

und ich argumentierte, obwohl ich wußte, daß sie nichts verstand, trotzdem weiter

– Bald, es ist nur noch eine Frage von Tagen, eine Frage von Stunden, hält er das Leiden nicht mehr aus, dies zumindest, verstehst du, könnten wir ihm ersparen, du hast doch den Tetanuskranken gesehen, du hast doch das Kind mit der Gehirnentzündung gesehen!

Doch meine Schwester verstand das nicht, sie konnte es unmöglich verstehen: Sie hatte die Augen des Hundes, seine Bitte, sein Verlangen, seinen Befehl nicht gesehen, und ich, während der Mispelbaum der Vergangenheit in meinem Gedächtnis wuchs

– Ich bin sicher, daß der Junge, wenn wir ihn fragen würden und er antworten könnte

und es war nicht nur der Mispelbaum, auch der Pfirsichbaum, der wilde Wein, dessen Trauben an den Regenrinnen knospten, und meine Schwester

– Du kannst vor Angst nicht richtig denken, hast du ein Beruhigungsmittel im Haus, Álvaro?

und ich stellte mir vor, wie sie ihrer Freundin Zeichen machte, ihr mit Gesten erzählte, was ich sagte, mit der freien Hand die Sprechmuschel zuhielt und flüsterte

– Er ist verrückt geworden, stell dir vor, er will seinen Sohn mit einer Spritze umbringen

ich stellte mir das Meer bei Carcavelos vor, die Bucht von Cascais, die die Schiffe umarmte, die Fischkutter, das zu den Wellen geneigte Fort

– Du bist Ärztin, du arbeitest in einer Klinik, du könntest eine Spritze beschaffen und zwei oder drei Kaliumampullen und ihm den Todeskampf erleichtern

und sie

(die Baumstämme knackten, ich weiß, daß die Baumstämme in Benfica knackten)

– Ist Raquel schon aus dem Ministerium zurück, ist Raquel bei dir in der Afonso III.?

(und die Stimmen, die die Stimmen der Hecken überlagerten)

– Álvaro

die Stimmen, die schweigen, um dann wieder

– Álvaro

zu rufen, und meine Schwester

– Was heißt hier Todeskampf? Heiliger Himmel, der Junge wird sich wieder fangen, laß doch um Gottes willen diesen Unsinn mit dem Kalium, beruhige dich doch um Gottes willen, ich setze mich ins Auto und komm zu dir und dann reden wir miteinander

und ihr Atem verschwand aus meinem Ohr, und ich folgerte daraus, daß sie, während sie sich die Jacke anzog und zwischen den Arzneimittelreklamen, den Rechnungen und den Briefen auf dem Teller in der Diele die Schlüssel suchte, ihrer Freundin erzählte

– Er ist nicht ganz richtig im Kopf, ich fahre noch kurz zu ihm

ich folgerte daraus, daß die andere schmollend auf den gedeckten Tisch, auf die Küche wies

– Und inzwischen ist das Abendessen verdorben, was soll ich denn hier solange machen, während ich warte

ein rosiger Nebel stieg vom Fluß herauf, löste die vegetationslosen Hügel und die vertäuten Schiffe auf, der Mond spitzte die Dächer von Chelas, die Kräne, die Masten der Frachter an, der Nachbar im Stockwerk darunter hämmerte gegen die Wand, und die Freundin meiner Schwester, den Körper platt gegen die Tür gedrückt

– Regel die Angelegenheit am Telefon, Schluß, aus, du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel Mühe mir das Soufflé gemacht hat, wenn du aus dem Haus gehst, gehe ich auch, laß dir das gesagt sein

und um diese Zeit war Schichtwechsel für die Krankenschwestern, die Fahrstühle quietschten, Gummisohlen trotteten die langen Flure entlang, die Blasebälge der künstlichen Lungen bliesen sich auf und leerten sich, öffneten die riesigen Blütenblätter zu einem Fächer, die Frau im Kittel nahm den Bus in ein Viertel voller Stenotypistinnen und Rückkehrern aus den Kolonien in Vila Franca, in Odivelas, in Caneças, in Loures, Wohnungen mit Indern, Pakistani, Mestizen, wenn ich zurückkönnte, bei deiner Mutter bleiben könnte, die Heirat mit Raquel ungeschehen machen könnte, an dem Nachmittag, an dem ich mit dem Koffer auf und davon bin und dich auf ihrem Schoß sah und du nicht begriffen hast, daß ich wegging

– Ich habe ein Loch in Estoril gefunden, ich ziehe am Freitag dort ein, ich gebe dir fünfzehntausend Escudos im Monat für den Jungen

ich holte dich samstags ab, doch ich kam nie rein, ich läutete, nahm dich mit in den Zirkus, schlief bei den Clowns ein, kaufte dir ein Eis, kehrte nach Benfica zurück, läutete wieder, und eines Tages sagte Raquel, die mir ihr leeres Portemonnaie zeigte

– Dein Sohn nimmt Drogen, Álvaro, ich wette, er war das und ich

– Auf gar keinen Fall, du hast wohl etwas gekauft und erinnerst dich nicht mehr daran

obwohl ich wußte, daß du es gewesen warst, und dennoch verteidigte ich dich, nicht deinetwegen, meinetwegen, mich verteidigte ich, du auf dem Treppenabsatz, ohne zu weinen, während ich mit dem Koffer die Treppe herunterstolperte, die Bougainvillea im Garten des Arztes lag auf der Mauer, ich werde diesen Duft nie vergessen, wir gingen zum Rummelplatz, und die Karussells verschreckten dich, die Geisterbahn verschreckte dich, die Achterbahn verschreckte dich, und am Stand, an dem Kochtöpfe verlost wurden, nahm ich deine Hand