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Ein tollkühnes Stück Literatur über ein Land, in dem Fliegenlernen leichter zu sein scheint als Überleben.
Ein älterer Mann erzählt seiner jungen Geliebten nachts von seiner Kindheit. Für sie ist er eher lästig und nur »der, der bei mir schläft«. Aus seiner Geschichte, die von anderen Erzählern ergänzt wird, entwickelt sich ein grotesk-surreales Familienepos, das mehrere Generationen umspannt und die gar nicht natürliche Geschichte Portugals seit den Fünfzigern einfängt.
Einer der wichtigsten europäischen Autoren der Gegenwart erzählt von einem Leben voll Düsternis und Verzweiflung, aber auch voll Komik und Zärtlichkeit.
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2024
Als Monolog eines Liebenden beginnt dieser Roman; ein alternder Mann beschwört für seine blutjunge Geliebte Iolanda die eigene Kindheit herauf. Für Iolanda ist er nur der, über den sie spottet und der ihre Familie versorgt. Bald kommen weitere Stimmen hinzu, u.a. die Mitglieder der Familie Valades, als deren letzter Nachkomme sich der Gönner Iolandas entpuppt. Einst waren sie reich und ihr Haus in Benfica hochherrschaftlich. Doch Jorge hat sich im Gefängnis erhängt, sein Bruder Fernando ist ein ewiger Taugenichts, die blassen Schwestern hüten das verfallene Haus und die geheime Familienschande. Kunstvolle Stimmenvielfalt, farbige, dichte, berauschende Bilder – Lobo Antunes verführt mit seiner Sprache.
ANTÓNIO LOBO ANTUNES, geboren 1942 in Lissabon, studierte Medizin und wurde Chirurg. Während des Kolonialkrieges war er 27 Monate lang als Militärarzt in Angola. Danach arbeitete er in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Seine Werke sind in vierzig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
ANTÓNIO LOBO ANTUNES BEI BTB ELEFANTENGEDÄCHTNIS (73424) · Der Judaskuß (73390) · Einblick in die Hölle (74240) · Die Vögel kommen zurück (73387) · Reigen der Verdammten (73388) · Die Leidenschaften der Seele (73386) · Das Handbuch der Inquisitoren (73926) · Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht (73131) · Was werd ich tun, wenn alles brennt? (73298) · Guten Abend ihr Dinge hier unten (73655) · Einen Stein werd ich lieben (73760) · Mein Name ist Legion (74413) · An den Flüssen, die strömen (74596) · Die Rückkehr der Karavellen (74779) · Anweisungen an die Krokodile (71317) · Fado Alexandrino (74930) · Kommission der Tränen (71404) · Portugals strahlende Größe (73628) · Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben (71598) · Welche Pferde sind das, die da werfen ihre Schatten aufs Meer? (71658) · Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen (71749) · Der Tod des Carlos Gardel (73626) · Vom Wesen der Götter (77050)
António Lobo Antunes
Die natürlicheOrdnung der Dinge
Roman
Aus dem Portugiesischenvon Maralde Meyer-Minnemann
btb
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »A Ordem Natural das Coisas« bei Publicações Dom Quixote, Lissabon. Dieser Roman erschien 1996 zum erstenmal auf deutsch.
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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright © der Originalausgabe 1992 by António Lobo Antunes und Publicações Dom Quixote, Lissabon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München, durch Vermittlung von The Colchie Agency, New YorkUmschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagfoto: Tina Deininger / Gerhard JaugstetterSatz: Uhl+Massopust, AalenCP · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-32180-2V001
www.btb-verlag.de
Für Isabel Risques, für immer die beste der Freundinnen, der dieses Buch so viel verdankt, mit einem dankbaren Kuß und unendlicher Zärtlichkeit von
António
Bis ich sechs Jahre alt war, Iolanda, kannte ich weder die Familie meiner Mutter noch den Duft der Kastanienbäume, den der Septemberwind von Buraca herüberwehte mit dem Geruch der Schafe und Ziegen, die, von einem Alten mit Schirmmütze und den Stimmen der Toten vorwärts getrieben, über die Calçada zum aufgelassenen Friedhof hinaufsprangen. Heute noch, meine Liebste, wenn ich, im Bett ausgestreckt, warte, daß das Valium wirkt, geht es mir wie einst an den Sommernachmittagen, wenn ich mich auf der Suche nach Kühle in einer Siedlung zerborstener Grabmäler niederlegte: Ich spüre das Ornament eines Grabes schmerzhaft am Bein, ich höre auf dem Bettuch das Gras der Grabstätten, sehe die Engel und Christusse aus Gips mich mit zerbrochenen Händen bedrohen; eine Frau mit Hut pflanzte Kohl und Rüben in die Wurzeln der Zypressen; das Meckern der Zicklein läutete in der Kapelle ohne Heiligenbilder, von der nur noch drei verkohlte Wände und ein von Rankgewächsen überwucherter Altar mit einem Tüchlein darauf übrig war; und ich beobachtete die Nacht, wie sie von Grabstein zu Grabstein weiter vorrückte und die Segnungen der Heiligen zu düsteren Flecken gerinnen ließ.
Doch gestern zum Beispiel, als ich deinen Körper umschlungen hielt, während ich darauf wartete, daß mich die Barmherzigkeit der Arznei vom Überfall der Erinnerungen befreite, kam mir eine vergangene Dämmerung in den Sinn, aus dem Jahr fünfzig oder einundfünfzig, die Beete im Garten waren frisch gegossen, Senhor Fernando, im Unterhemd, machte auf der Veranda Gymnastik, im Hof vor der Küche wuselten Katzen herum, und ich saß oben auf der Mauer, schnupperte die Brise von Monsanto und hörte die Pferde der besiegten Monarchisten vom Gebirge herunterkommen (wie mir Dona Anita erzählt hatte, die damals ein Mädchen war) auf dem Weg in die Gefängniszellen.
Ich verstehe nicht, warum du dich nie für meine Kindheit interessiert hast, meine Liebste. Wenn ich von mir erzähle, zuckst du immer mit den Schultern, dein Mund verzieht sich, deine Augenlider dehnen sich verächtlich, spöttische Falten entstehen hinter dem Pony aus blondem Haar, so daß ich schließlich beschämt schweige, die Gläser, die Teller für das Mittagessen auf den Tisch stelle und das Besteck dazulege, während deine Tante in der Speisekammer hustet und dein Vater auf der Suche nach dem Gekreische der Telenovela an den Knöpfen des Fernsehers dreht. Und dennoch, Iolanda, sobald du eingeschlafen bist, erhält dein ins Kissen geknautschtes Gesicht wieder die Christkindkrippenunschuld von damals zurück, als ich dich zum erstenmal in der Konditorei an der Ecke des Gymnasiums gesehen habe, als deine tintenfleckigen Finger und deine Schulhefte mich mit sinnlos freudiger Rührung erfüllten,
sobald du eingeschlafen bist und die Fahlheit vogelbevölkerter Ulmen unser Zimmer durchquert, rede ich, über dir schwebend, ohne daß du mich verspottest, mit deinen reglosen Handflächen und deinen ausgelieferten Schenkeln, und das Haus, in dem ich früher mit der Familie meiner Mutter wohnte, tritt aus der Nacht heraus, einem Flecken im Spiegel oder der Schublade einer Kommode entsprungen, in der sich unsere Wäsche mit Mottennestern und Kupfergriffen vermischt, seit du mir vor Monaten befohlen hast, Komm, und ich kam, präsentierte mich mit Regenschirm und zwei abgewetzten Koffern in dieser kleinen Wohnung in der Quinta do Jacinto in Alcântara, um zu erklären, daß ich in der Tat einunddreißig Jahre älter sei als du, aber die Anstellung beim Staat, Senhor Oliveira, ist ganz ordentlich, und selbstverständlich würde ich den Strom, die Miete und die Rechnung beim Fleischer zahlen.
Meine Liebste, hör mir zu. Vielleicht verstehst du mich in deinem Schlaf, vielleicht befreit sich dein Körper von der Ironie mir gegenüber und liebt mich, vielleicht erzittern deine nunmehr sanften Augenlider, wenn ich sage, wie gern ich es hätte, wenn du mich berührtest und erlaubtest, daß ich dich berühre, vielleicht lehnst du das Haarbüschel an deinem Bauch an mich, und deine Knie öffnen sich langsam über der feuchten, glatten zarten Grottenweichheit, die meine Begierde in Perlmutterfestigkeit gefangenhält. Doch seit dem Sommer ignorierst du mich, bist in einen Klassenkameraden mit lodernder Akne und sprießendem Bart verliebt, der Unsicherheiten in Geographie oder Mathematik zum Vorwand nimmt, um uns zu besuchen, und mir in grausamer Begrüßung die Finger quetscht, bis die Knochen knacken. Ich bin nur noch ein nicht näher bezeichneter Verwandter, in Weste und Krawatte und mit grauem schütterem Haar, der unfähig ist, einen Handstand zu machen, unfähig, ohne Brille zu lesen, wegen Herzzauderns unfähig, zwanzig Meter zu laufen, kurz, unfähig, gegen diesen pickligen Knaben zu bestehen, der größer ist als ich, keinen Bauch, keine Glatze, keine Schuppen hat, dessen achtzehn Jahre mich vernichten, und ich warte reglos wie eine Tarantel auf die Nacht, wenn dein mit einer Vinaigrette aus Zahnpasta und billigem Parfüm gewürzter Körper sich zusammenrollt, um sich auf der Matratze einzukuscheln, das Auf und Ab deiner Brust verschwiegen wird wie das der Schiffe, wenn deine schmollend im Schlaf aufgeworfenen Lippen einen Kuß hauchen, der nicht mir gilt, ich warte auf die Nacht und messe die Dichte der Dunkelheit an der Schlaflosigkeit deines Vaters und der Bronchitis deiner Tante auf der anderen Seite der Holzwand und greife meine Geschichte bei der Stelle wieder auf, bei der ich stehengeblieben war, kehre wieder in das Haus zurück, Iolanda, in dem ich gelebt habe, bevor ich die Familie meiner Mutter kennenlernte, das Haus mit seinen tausend Korridoren, seinen tausend Schlupfwinkeln, seinen tausend Verstecken, das Haus, das Haus,
das Haus, mein Gott, das von Seeschwalben belagerte Haus über der Steilküste und dem Dunst des Ozeans, mit den Türen, die im Wind schlugen, und den zerschlissenen Vorhängen, mit dem Hinweis »Hotel Central« im Halbkreis an der Fassade und den drei Geheimpolizisten, die, immer in Schwarz, den Arm zum nationalen Gruß erhoben, im kleinen Wohnraum den morgendlichen Muckefuck tranken.
In solchen Augenblicken erinnere ich mich an die Äquinoktialstürme, die die auf dem Gläserbord und auf den Verzierungen des Treppengeländers hockenden Bachstelzen in die Irre geweht hatten, und an die Benommenheit bei Stirnhöhlenentzündungen und an den Sturm, der den kleinen Platz vor der Pension fegte, an dem der Laden eines Antiquitätenhändlers im Dunkeln lag mit seinen spanischen Fächern und geflickten Buddhas, in solchen Augenblicken erinnere ich mich an die Werkstatt des Albinomechanikers, der im Sommer die Autos reparierte, wobei er rücklings zu den Motorenbäuchen robbte. Die Käuzchen, Iolanda, wurden an der Dachluke meines Kabuffs zerdrückt, das neben dem Verschlag der Köchin lag und in dessen WC neben dem Bett ständig die Ebbe gurgelte, und die Bewohner des Hotels waren wir zwei und dazu meine Patentante und die drei Geheimpolizisten, doch wenn der Juli kam, der Strand vom Unrat gereinigt wurde und eine bittere Hitze die Wellen besänftigte, wechselten sich die Köchin und die Alte einander sogleich in der Eingangshalle ab, die Häkelarbeit auf dem Schoß, in der falschen Hoffnung, einem Wundertaxi würde eine Gruppe matter, von der Niedergedrücktheit der Kiefern und den Sprungfedern der Sitze erschlagener Amerikanerinnen entsteigen.
Wenn ich an den kleinen Ort denke, meine Liebste, der über den Klippen und dem Geschrei der Vögel die Balance hielt mit seinem halben Dutzend zusammengestürzter Villen ohne Besitzer, in denen die Spinnen die Verlassenheit zu Fäden zogen, und ihn mit dieser Wohnung in Alcântara neben dem Bahnübergang und den Tejoschiffen, die unsere delphingekrönten Kopfkissen streifen, vergleiche, dann suchen meine Beine, ohne daß ich mir dessen bewußt werde, die Höhlung deiner Knie, und ich drücke meine Brust gegen deinen Rücken in einem Flehen um Schutz, das mich verwirrt, weil es mir lächerlich erscheint, daß ein Mann von neunundvierzig Jahren Hilfe bei einem achtzehnjährigen Mädchen sucht, das gerade von Erzengeln in Lederjacken auf Mofas träumt, die Gas geben, um sie vor einem harmlosen Alten wie mir zu retten, der vor Schüchternheit und Überraschung den Kopf verloren hat. Und dennoch, Iolanda, glaube nicht, daß mein Leben in einem kleinen Dorf in der Gegend von Ericeira, in dem die Eukalyptusbäume Tränen unheilbarer Enttäuschung tropften, nicht angenehm gewesen wäre: Es war angenehm. Wenn sie nicht gerade der Ischias plagte, der sie leidend auf der Matratze vom Fleische fallen ließ, spielte die Köchin mit mir Karten in dem Raum, in dem der kaputte Heizkessel stand, während die Geheimpolizisten Foltermethoden und Gefängnisse ausheckten und über unseren Köpfen den Dielenboden erzittern ließen. Im Herbst beruhigten sich an manchen Tagen früh am Morgen das Meer und der Wind, und eine Zunge aus Sand war dann zu erkennen, die bald von Umkleidezelten, Picknickkörben, Pantoffelpyramiden und Familien im Bademantel bevölkert wurde. Mimosen sprossen aus den Felsen, und durch die Villen segelten die Öllampen ihrer einstigen Bewohner, bis ein Linienbus die Herden von Sommerfrischlern wieder einsammelte, die scheppernd nach Lissabon fuhren, während die Wellen den Strand verschluckten, der Himmel sich mit Sturmwolken bedeckte, an deren Kanten zwischen den Felsen Möwen schrien, die Wipfel der Bäume Schwärme umnachteter Rotkehlchen freigaben und meine Patin, die der Sturm kaltließ, zu ihrer Häkelnadel griff und von extravaganten Amerikanerinnen träumte, die Sandalen und Panamahüte trugen wie zu einer Expedition in die Tropen.
Ein Zug zerteilte die Nacht lotrecht zu den Laternen der Avenida de Ceuta und parallel zum Fluß, gesäumt von Speichern, Pontons, Kränen, Winden, Containern und Lastern, die auf das Verbenenlicht des Sonnenaufgangs und die Arbeiter warteten, die, in der zögernden Sonne nur schwer erkennbar, zum Tejo hinuntergingen.
Der Zug, meine Liebste, bewegt sich in Richtung Estoril und Cascais (von dem Ort aus, an dem wir wohnen, erahne ich in der Ferne Städtchen, die Albatrosse und Passagierdampfer in ihren Fingern halten), und unser erstes Stockwerk in der Quinta do Jacinto erzittert, als zerspalte es ein Wirbel aus Pleuelstangen mit einem Schlag, der die Bären aus Ton und die Elefanten aus Glas, die Stoffclowns und den verchromten Wagner auf den Regalen durchschüttelt und das Emaillekästchen von der Kommode auf den Boden fallen läßt, in dem du die Ringe, die Armbänder und die Ohrringe aus falschem Silber aufbewahrst, die ich dir zu Weihnachten schenke, wenn mir ein bißchen vom zusätzlichen Gehalt übrigbleibt. Der Zug bewegte sich, während Klingeln schrillten und Warnleuchten an- und ausgingen, nach Estoril, er brachte die Häuser in Alcântara durcheinander, und du drehtest dich im Schlaf um, ohne aufzuwachen, bis du dich mir mit einem kindlichen Wimmern zuwandtest. Deine Fußgelenke preßten sich an meine, und ohne mit dem Reden aufzuhören, näherte mein Mund sich deinem, tückisch, verstohlen, vorsichtig: Ich roch deinen Atem, roch dein Haar, roch deinen Hals, roch die Falten an deiner Taille, die Falten an deinem Bauch und wollte gerade deine Scham liebkosen, das Gewebe, aus dem du gemacht bist, als die Katze, von der Raserei meines Freudenausbruchs erschreckt, auf die Matratze sprang und sich dabei in einer Lampe verhedderte, deren Schirm zerbrach und die eine Sekunde lang die Möbel im Zimmer erleuchtete. Und plötzlich bewegten sich deine Ellenbogen, dein Körper wandte sich in einer Drehung der Hüften und der Schulterblätter ab, von denen die Träger sich lösten, und ich war wieder allein, sabberte Bitterkeit, während mich die Zugwaggons in den Schlaf wiegten, die vorbeigaloppierten auf dem Weg zu den Abwasserrohren, den Stränden, den Booten der Küstenstraße, während mich die Wellen des Flusses in den Schlaf wiegten, meine Liebste, und ich mit bittender Geste die Abwesenheit eines sanft gerundeten Hinterns in Händen hielt.
In der Pension, in der ich vor der Zeit der Familie meiner Mutter lebte, Liebste, gab es keine Katzen: Es war zu feucht, zu windig, zu grau, und im Hintergärtchen mit seinem Nebel, seinen Röhrichtfontänen und seinen aufgebrachten Eulen stürzten die ablaufenden und anrollenden Wellen in einem Schaumstrudel in die Zimmer. So daß die Katzen trotz der Bemühungen der Köchin, sie mit Schüsseln voller Meeraal zu verführen, zwischen den Eukalyptusbäumen verschwanden, weil der Wirrwarr des Meeres sie beunruhigte und die an Bruchstücke von Schiffsrudern geklammerten Seemannsleichen, die uns zwischen Hutschachteln von den Schränken her anstarrten.
Es gab keine Katzen, aber wir hatten einen Raben mit gestutzten Flügeln, der wie ein Schiffsjunge schwankte und den Geheimpolizisten, die von der Furcht ergriffen waren, das Hotel könnte bei einem falschen Manöver die Felsen rammen und an den Erkern ein irreparables Leck entstehen, die Breitengrade zurief. Morgens bereits hinkte der Rabe auf der Kommandobrücke des Erdgeschosses herum, überprüfte den Kurs und stellte das Nichtvorhandensein geharnischter Feinde fest, und er war es auch, der
– Alle Mann Backbord, Rettungsboote zu Wasser lassen
rief, als er, bei der Inspektion der Eingangshallenkajüte, auf meine Patin stieß, die bäuchlings auf dem Boden lag, in der Hand die Häkelnadel.
Selbstverständlich habe ich die Kommodorestimme gehört, Iolanda, doch im Traum, als gehörte sie zu der Geschichte, in der mich eine Schar Nymphen auf den Gartenwegen verfolgte (die molligen, rosigen, tunikabekleideten Göttinnen von den kleinen Öldrucken im Flur, die einander in einem Wald und einem Bach umschlungen hielten), und selbst als die Köchin an mein Bett kam, um mich zu rufen, wirkte ihre Stimme anfangs wie das Knistern der Büsche, es dauerte, bis sie über Metamorphosen real wurde, die mein Baumleib mitzumachen schien, der unter Rascheln von Rückenwirbeln wuchs und schrumpfte.
Gewiß ist, daß ich beim Hinuntersteigen, von den Möwen in den offenen Fenstern gestört, den Raben verzweifelt fragen hörte
– Und wo zum Teufel sind die Schwimmwesten?
und gleich darauf traf ich auf die Geheimpolizisten, die sich berieten, Notizen machten und aufgrund der Befehle, die sie von niemandem erhielten, es sei denn vom Murmeln der Bäume oder dem Knacken des Tisches, entschlossen waren, den Wind zu erschießen oder die Wolken zu verhaften.
Ich entsinne mich, mit der Deutlichkeit kindlicher Erinnerungen, an die Wipfel der Kiefern jenseits der Häuser am Platz, an die Geißblattranken und die Eukalyptusbäume, die uns die Straße versperrten, und an den Jeep der Guarda Republicana am Eingang der Pension, in dem ein Soldat mit Gewehr saß und rauchte. In der Eingangshalle betrachteten der Hauptmann, der vor meiner Geburt der Köchin den Hof gemacht hatte, und ein weiterer Soldat, den ich nicht kannte, beide in Gamaschen und mit Patronengürtel, das Schiffchen jedoch in der Hand, meine Patin, wagten nicht, sie zu berühren, beteten, daß das Kurbeltelefon funktionieren möge, damit sie den Arzt aus Mafra herbestellen könnten, der mir hin und wieder das Kinn hielt und Halsentzündungen mit einer rabiaten Tinktur kurierte. Der Albino drehte, seine Ferkelwimpern zum Himmel erhoben, beunruhigt im Regen seine Runden,
und der Arzt, Iolanda, kam nach dem Mittagessen, Unheil witternd, im Gummiregenmantel und in Kabeljaufischerstiefeln, in Algen piepsende Seepapageien im Schlepptau. Der Rabe, der sich trotz des Pfeifens der Kiefern am Ufer gegenüber den Wellen wieder beruhigt hatte, stieg, Noniusberechnungen vor sich hin grummelnd, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Der Hauptmann zeigte mit dem kleinen Finger auf meine Patin, und der Doktor ging mit kompetenten Augenbrauen in die Hocke, um sie zu untersuchen, und befahl
– Husten Sie,
und zog aus dem Regenmantel ein Stethoskop, dessen in der unergründlichen Tasche wieder und wieder zusammengerollten Schläuche kein Ende nahmen.
– Da sie nicht hustet, ist sie wahrscheinlich tot,
folgerte er mit vorhangdumpfer Stimme, während der Sturm ihm die Silben verwehte wie die Blätter der Akazie im Garten, die wegen des Wassers, des Windes und der in den Zweigen gekreuzigten Tauben nur noch die Struktur anatomisch präparierter Rippen hatte. Die Köchin kratzte ein Augenlid mit dem Schürzenzipfel, der Hauptmann salutierte. Der Soldat entblößte, an die Wand gepreßt, zur Toten hin sein falsches Gebiß: Er und ich waren wohl die einzigen in der Pension, die noch nie eine Leiche gesehen hatten, und die zweite, die ich betrachten konnte, war viele Jahre später die eines Weichenstellers, der auf der Nebenstrecke in der Beira Baixa einen Zug umklammert hielt, in dem ich mit einem Kollegen auf einer Dienstreise saß. Ich erinnere mich an den Selbstmörder auf dem Schotter der Schwellen, meine Liebste, und wie verblüfft ich über sein unversehrtes Gesicht und die friedlichen, gefaßten Züge war: Ich glaube, von diesem Tage an hatte ich keine Angst mehr vor Grippe.
Ich steige aus dem Bett, ziehe die Rolläden etwas hoch, und die Lichter von Alcântara strecken sich, auf der Suche nach Fischen im Schaum, bis hin zu den Docks und zum bootsübersäten Tejo. In diesem Augenblick der Nacht, der vom Untergang und Aufgang der Sonne gleich weit entfernt ist, gibt es auf dem kleinen Platz keinen Verkehr, und die Ampeln, die von Rot zu Grün wechseln, befehligen Schatten. Der Märzdunst verändert die Gebäude, erfüllt sie mit einer Majestät, die sie tagsüber nicht besitzen, und wenn ich daran denke, Iolanda, erfüllt mich das Zimmer mit Ängsten, die ich nicht verstehe, die ähnlich sind wie die, als ich den Arzt aus Mafra hörte, der sein Stethoskop mit den endlosen Schläuchen wieder einpackte und das Mißtrauen des Hauptmanns ausräumte
– Das ist ganz einfach, wenn sie mir nicht gehorcht, hat sie den Löffel abgegeben, da es keine Einschußlöcher gibt, sagt man dem Pater in Ericeira Bescheid, und das war’s.
So kam es, meine Liebste, daß man mir an diesem Nachmittag, oder am nächsten oder am darauffolgenden (seit ich die Vierzig überschritten habe, habe ich Schwierigkeiten mit den Nieren und mit Datumsangaben), während ein Weltuntergangsgewitter über dem Städtchen niederging und der Regen ein Stück Mauer zerfraß, einen Scheitel ins Haar grub, eine schwarze Krawatte umband und mich im Jeep der Guarda Republicana zur Kirche brachte, einen Alptraumweg entlang, auf dem Blitze Zedern und Nußbäume blendeten, Zugvögel in Weidenbüscheln schluchzten, vom Donner erschreckte Hunde mit großen pelzigen Mäulern über Pfade und durch Schlammpfützen die Flucht ergriffen. Emigrantenhäuser erschienen kreiselnd und bohrten sich in die Erde. Ich bin nie wieder nach Ericeira zurückgekehrt, doch da in Portugal, nimmt man einmal mein Altern aus, alles stagniert und zeitlich in der Schwebe bleibt, glaube ich, daß sich seither nichts verändert hat: Alcântara, beispielsweise, wird tausend Jahre so weiterbestehen, wie ich es heute, laut meiner Armbanduhr um drei Uhr morgens, sehe: ein Stadtviertel mit kleinen Betrieben und Autowerkstätten, die sich im Ödland vermehren, und mit dem Wirbel des Hochwassers, das wuchtig und mit einem Tunnelnachhall über den Asphalt bis zur Türschwelle wandert.
Und genauso deutlich wie hier in Alcântara in diesem Augenblick der Nacht, während du, dein Vater und deine Tante in den malträtierten Armenbetten schlafen, genauso wie mir hier die Geschmacklosigkeit der Gegenstände im Wohnzimmer und der Archipel von Feuchtigkeitsflecken an der Wand auffallen, Iolanda, erinnere ich mich auch, während ich auf den nächsten Zug warte, der nach Estoril oder zum Cais do Sodré rumpelt, an die Trauerschleier an der Kirche auf einem Hügel voll Gestrüpp und Apfelbäumen, die dem Nordwind trotzten, an die Heiligenbilder im Leichenhaus und an einen Riß in den Backsteinen, durch den die Wintersee eindrang und durch den man die Schornsteine von Ericeira sah, die sich im Tumult ins Wasser stürzten. Es gab dort einen Jesus aus Kupfer, der am Kreuz hing wie ein Tropfen am Wasserhahn, Reste von schnörkeligen Drapierungen aus vergoldetem Schnitzwerk, eine Amsel, die sich auf einem Dachsparren vom Regen erholte, die Geheimpolizisten auf einem abgenutzten Bänkchen und einen Sakristan, der uns mit Tukanaugen zuzwinkerte. Wahrscheinlich kamen jetzt, da niemand mehr in der Pension wohnte, zig Taxis aus Sintra mit eingeschalteten Scheinwerfern durch die zerzausten Kiefern, um am Hotel Gruppen hundertjähriger Amerikanerinnen auszukippen, die bei arktischen Temperaturen in ihren dekolletierten Kleidern mit den Zähnen klapperten. Zimmer wurden von Koffern und Truhen überschwemmt, stinkender Schlamm pulsierte in den Bidets, Spazierstöcke stolperten treppauf, treppab, Türschlösser sprangen mit rostigem Quietschen auf, jemand hatte den Heizungskessel im Keller repariert, der nun mit duodenaler Gleichgültigkeit arbeitete, energische Hammerschläge zerschmetterten jetzt das obere Stockwerk, und der Rabe, den der Lärm störte, krächzte jetzt auf den Fliesen der Küche nautische Schimpfworte. Vielleicht legte die Ebbe einen Streifen Land zwischen den Felsen frei, vielleicht munterte ein schiefes Licht die Trauerweiden und die Töpfe mit den Magnolien auf, vielleicht gab es Schiffe am Horizont, Tanker, Korvetten, Koggen, die zur Straße Nummer acht der Quinta do Jacinto glitten. Ich saß auf einem kleinen kaputten Thron, begriff nicht, was um mich herum geschah, denn bis zum Alter von acht Jahren hatte mich die Welt mit ihren Geheimnissen verschont, ich hatte nicht einmal die Dame bemerkt, die mich am Ende des Tages mit sich nahm, nachdem sie mit Hilfe der Köchin meine Wäsche in einen aus dem Müll im Keller geholten Seesack gepackt hatte.
Ich lasse die Rolläden wieder herunter, während sich der Zug nähert und die Werbetafeln, die Buchsbäume, die Laternen und Lichter auf dem Fluß zu vibrieren beginnen und das Zimmer über hoffnungslosen Dunkelheiten schmaler wird, ich erreiche das Bett mit vorsichtigen Füßen, um mich nicht an der Kante eines Möbels zu verletzen, und als ich mich neben dich lege, verschiebt sich das Rückenteil, die Matratze gibt nach, und dein Körper seufzt säuselnd wie Zedern. Das ist der Augenblick, Iolanda, in dem ich mir erlaube, dir zu sagen, daß ich dich liebe, in dem ich wage, die Wölbung deiner Gliedmaßen zu liebkosen, indem ich meinen Mund vorneige, um auf der Zungenspitze den Daunengeschmack deines Haars zu spüren. Die Valiumtablette hat meine Gesten welken lassen und meine Gedanken beschlagen, ohne mein Gedächtnis zu lähmen, es ist April, und ich beuge mich zu dir herunter in der Konditorei, in der ich dich zum erstenmal getroffen habe, mit zwei Schulkameradinnen, kichernd und flüsternd und kaugummikauend vor Erdbeershakes, und ich fragte dich, ob du etwas dagegen hättest, daß ich mich mit meinem Erkältungszitronentee an deinen Tisch setzte. Und dort blieb ich eine Stunde lang, verwirrt und beklommen, während ihr euch gegenseitig Fotos von Schauspielern zeigtet, Verehrer und Nagellack erörtertet und gegen die Philosophiearbeit vom Vortage protestiertet, höchst interessiert an einem Mann mit dunklem lockigem Haar, spitzem Bart und spitzen Schuhen, der am Tresen einen Kaffee trank und in der Sportzeitung blätterte.
Ehrenwort, ich weiß überhaupt nichts, das ist eine fixe Idee von Ihnen, das heißt, warten Sie doch, gehen Sie nicht, es könnte ja sein, daß ich mich an irgend etwas erinnere, wenn Sie, mein Schriftstellerfreund, einen kleinen Beitrag zur Miete meines Zimmers rausspringen lassen, eines schweineteuren verlausten Kabuffs in einer Nuttenpension an der Praça da Alegria, wo ich wegen der Ohrfeigen der Luden und des Gelächters der Freier nicht zum Schlafen komme, das geht so bis fünf oder sechs Uhr morgens, mein Herr, wenn die Bäume sich entwirren und die Tauben vom Mãe-de-Agua-Wasserdepot herunterkommen und sich in den Beeten um die Überreste von den Festmählern der Bettler streiten. Tagsüber sehe ich die Tauben vom Fenster aus, untätige, lahme Tauben, die ihr Elend in der Sonne ausschwitzen, und nachts sehe ich der Mühsal der Mädchen zu, bei ihrem Auf und Ab dort unten auf dem Boulevard zwischen zwei Eierstockentzündungen und einer Abtreibung bei einer Hebamme in Loures, in einem Keller, wo es nach gegrilltem Fisch riecht, Heiligenbildchen an der Wand hängen und eine Alte in einer Ecke ächzt. Sie glauben mir das etwa nicht, mein Schriftstellerfreund? Gleich nach der Revolution, um nicht weiter auszuholen, wissen Sie, gleich nachdem mich die Armee ein paar Monate lang in Caxias eingesperrt hatte, völlig grundlos übrigens, in dem Flügel gleich am Meer, gegenüber von den Möwen und der Pracht des Sonnenaufgangs, bin ich in meine Mietwohnung im Erdgeschoß in Odivelas zurückgekehrt, die Tür an Tür mit der einer Krankenschwester lag, die den leichten Mädchen Engelchen strickte, im Wohnzimmer neben dem gedeckten Tisch und dem Krankenstuhl der Mutter, die, das Transistorradio ans Ohr gepreßt, immer wieder einnickte. Na, was sagen Sie dazu? Das Problem war, daß mit der Kommunisteninvasion die Frau und die Kranke aus dem Viertel verschwunden sind, um ihr Handwerk in Paris weiter auszuüben, glaube ich, in den Vierteln der schwarzen Emigranten, der Araber und Spanier, Jugoslawen, Portugiesen, die unglücklich ihre Sonntage auf Steinen sitzend verbringen und sich mit dem Grau des Himmels vollsaugen, na, damals gab es Hunderte von Schwangeren, die, wie Störche auf schwindelhohen Absätzen balancierend, im Vorraum warteten und einander mit den morastigen Lidern ihrer Schlaflosigkeit betrachteten. Ein Polizist trieb sie mit dem Schlagstock wie Weihnachtsgänse zur Haltestelle des Busses nach Lissabon, und die Armen ließen sich widerspruchslos auf den Brutbänken nieder, preßten ihre Aquarellgesichter an die Fensterscheiben. Was meine Wenigkeit betrifft, so hielt ich mich eine Weile in Odivelas auf, blickte hinter den Gardinen zur Feuerwache rüber, hatte keine Arbeit, keine Krankenversicherung, keine Rente und ließ mir einen Schnurrbart wachsen, damit man mich auf den Fotos in den Zeitungen nicht erkannte, bis der Vermieter auftauchte, mich Faschist nannte und, weil ich mit der Miete im Rückstand war, die Möbel und die Heftchen vom Fernkursus für Hypnose konfiszierte und mich rempelnd zum Ausgang bugsierte. Der vom zweiten Stock rechts, der im Fischrestaurant immer Meeresfrüchte mit mir gegessen und mir gratis ein paar kleine Informationen weitergegeben hatte, überschüttete mich plötzlich mit Schimpfworten und Fußtritten an die Schienbeine, die Narben davon habe ich übrigens heute noch, ein Unbekannter stellte sich neben mich und spuckte mir ins Gesicht, Hammer und Sichel wurden an die Wände gemalt, Plakatfetzen lösten sich von den Mauern, Arbeiter mit emporgereckter Faust brüllten, Nieder mit der Diktatur, es lebe der Sozialismus, und ich dachte, ich bin geliefert, es wird nicht lange dauern, dann stecken mich die Russen in einen Zug und lochen mich in Sibirien ein, wo ich dann in einem Holzhäuschen mit den Zähnen klappere. Nun denn, ich bin darauf zu einem verdienstvollen Mann gegangen, der ärztliche Atteste und Kraftfahrzeugscheine fälscht, und habe mit dem letzten Geld, das ich noch hatte, den Namen im Personalausweis geändert, habe mir eine dunkle Brille besorgt, so eine, wie sie die blinden Akkordeonspieler tragen, habe meine Wangen nicht mehr mit dem Messer geschabt und bekam über einen schmierigen Typen in Hosenträgern den Nuttenverschlag in der Praça da Alegria mit dem sumpfigen Bett und dem Permanganat in einer Ecke, in dem ich jetzt wohne, und da nerven mich nun die Tauben, die mich nicht einmal auf dem Klo am Ende des Korridors in Ruhe lassen, das alle auf meinem Stockwerk benutzen, alle Mädchen und alle Freier, Tauben, die auf der Fensterbank mit dem Kropf gurren, durch die Fenster spähen, das Gefieder putzen, Tauben aus den Nachbargärten, Tauben aus Alcântara oder Chelas, Tauben aus Almada, Tauben aus den verlassenen Speichern, den verfaulten Schiffsleibern und den Palästen am Tejo, Vagabundentauben, unbehauste Tauben, Zigeunertauben, Tauben, mein Schriftstellerfreund, die einen angrinsen und sich auf dem schmalen Fenstersims über einen lustig machen,
andere Tauben als die vom Campo de Santana, diese dikken, feierlichen, würdigen, bischöflichen Tauben, die an den Regenrinnen hängen, auf den Dachfirsten oder den höchsten Zweigen der Bäume hocken, Tauben und Enten, mein Herr, und die Schreie der Pfauen, wenn der Tag im Sterben liegt, einmal ganz abgesehen vom Göpelwerk der Krankenwagen, die zur Konstellation der Krankenhäuser ringsum unterwegs sind, Hospital de São José, Hospital dos Capuchos, Hospital de Arroios, Hospital de Santa Marta, Hospital da Estefânia, und zu den ordensgeschmückten Verrückten des Miguel Bombarda, die durch die Beete spazieren und an den Ampeln Zigaretten schnorren, Irre und Vagabunden, die sich gegen den Nieselregen der Morgenröte in Zeitungen gewickelt haben, von uns beiden einmal ganz abgesehen, von Ihnen, mein Schriftstellerfreund, und mir, die wir dies alles beobachten, jeder mit seinem Erfrischungsgetränk und seiner Untertasse voll gekochter Lupinenkerne in einem Restaurant neben der medizinischen Fakultät, diesem Gebäude mit den Säulen, von dem ich mir immer vorstelle, daß es von Leichen bewohnt ist, die von Studenten in Kitteln zerschnippelt werden.
Haben Sie sich das nie vorgestellt? Haben Sie sich nie vorgestellt, daß Sie nackt, nach Formol riechend, auf dem Rücken in einer Marmorwanne liegen und darauf warten, daß man Ihnen die Rippen mit einer Riesenschere zerknackt? Seit ich durch die Demokratie meinen Posten als Brigadechef in der Obersten Sicherheitsbehörde verloren habe und meine Suppe in der Armenküche im Beato esse, seit die Kommunisten am Morgen nach dem Staatsstreich das Gebäude in der Rua António Maria Cardoso umstellt haben und wir, im Gebäude eingeschlossen, Papiere verbrannten, durch die Rolläden spähten und, die Pistole in der Faust, ziellos umhertrabten und nicht wußten, was wir tun sollten, weiß ich, daß mich eines Tages die Feuerwehrleute holen werden, in ein Bettuch eingewickelt, von den verblüfften Blicken der Mädchen in Büstenhalter und Slip begleitet, den Flur entlangtragen werden, daß sie mit mir auf einer Segeltuchbahre die Treppe hinuntergehen und mich schließlich auf einem Steintisch zwischen weiteren Steintischen mit verstümmelten Körpern auskippen werden, während Kerle in Gummischürzen mit Sägen und Pinzetten gerade einen Kinderbauch auseinanderpflücken. Manchmal träume ich, bis mich die Tauben wecken, davon, dann höre ich, wie die Zangen meine Knochen zermalmen, und ich rieche den weichen Dunst meiner freigelegten Eingeweide, es gibt Augenblicke, mein lieber Schriftstellerfreund, in denen sie mir Bauch und Brust mit Sackfäden zusticheln, und dann schrecke ich schreiend aus dem Schlaf auf, stehe mitten im Zimmer und brauche Jahrhunderte, um zu begreifen, daß ich lebe, daß ich atme, daß ich, wenn ich wollte, in dieses Straßencafé auf dem Campo de Santana gehen könnte, den Irren zuschauen könnte, die den Nachmittagsschwänen Reden halten. Bekommen Sie von diesem Leichengespräch keinen Durst? Nein, kein Bier, ich trinke keinen Alkohol und rauche auch nicht, bestellen Sie mir lieber ein Mineralwasser ohne Kohlensäure und ein Käsesandwich, denn die Erinnerungen tun weh, und ich habe einen Wahnsinnskloß im Hals.
Aber kommen wir doch zu Ihnen, ich denke, ein kleiner Scheck über zwanzigtausend Escudos würde meinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge helfen, denn man kann sich nur schlecht an das erinnern, was vor so vielen Jahren geschehen ist, vor allem, wo ich den Vermieter an den Hacken habe, der mir jede Nacht droht, mich nächste Woche auf die Straße zu setzen, wenn ich nicht zahle, und können Sie sich, mein lieber Schriftstellerfreund, vorstellen, daß ich mit meinen achtundsechzig Jahren und dem Winter vor der Tür auf einer Parkbank schlafe, in irgendeinem Loch in der Burg oder auf den Stufen eines Gebäudes, das Rückgrat zermartert vom unbequemen Holz? Das soll nicht etwa ein Honorar sein, um Gottes willen, nein, das ist geliehenes Geld, geben Sie mir Ihre Adresse, und wenn ich eine Arbeit habe, gebe ich Ihnen die Piepen sofort zurück, ich bin nämlich gerade dabei, einen Fernkurs für Hypnose zu entwickeln, mir fehlt nur noch das Kapital für den Druck des Unterrichtsmaterials, denn die Illustrationen sind teuer, die Leute schikken mir das Geld, und ich schicke ihnen die Lektionen, und wenn sie sich eine Zeitlang abends, einen Turban mit einem Rubin auf dem Kopf, damit beschäftigt haben, mesmerisierende Finten auszuführen und der Familie Befehle zu geben, Wach wieder auf, können sie mit ein bißchen Glück zum Balkon hinausschweben, stellen Sie sich das mal vor, jede Menge Kreaturen fliegen da herum, und die Ehemänner rufen ihnen verzweifelt hinterher, Komm zurück, Alice, während die Ehefrauen in Richtung Spanien entschwinden wie die Enten im Herbst, und ich werde immer mehr Schüler haben, Filialen beispielsweise in Covilhã und in Avintes aufmachen, ganz Viseu wird vom Boden abheben und nach Marokko segeln, stellen Sie sich vor, Portalegre oder Caldas da Rainha kreuzen im Wind nach London, die Hypnose ist das Transportmittel der Zukunft, mein Schriftstellerfreund, und schließlich freuen wir uns doch immer, wenn wir Prospekte in der Post finden, einen Umschlag öffnen und dann auf einen Herrn im Frack stoßen, der, den gestrengen Zeigefinger ausgestreckt, empört fragt, WORAUF WARTEN SIE DENN NOCH, UM GLÜCKLICH ZU SEIN? ICH WURDE DANK DES HYPNOSEKURSES VON PROFESSOR KEOPS EIN ERFOLGREICHER MANN! Und wo wir gerade von Hypnose sprechen, mein Schriftstellerfreund, ein Möhrensüppchen und ein kleines Steak mit Fritten und einem Spiegelei wären nach dem Sandwich genau das richtige, denn mir ist plötzlich ganz flau zumute.
Aber um auf die Sache zurückzukommen, das Gesicht auf dem Foto ist mir nicht ganz unbekannt, wer hätte gedacht, daß zwanzigtausend Escudos und ein Mittagessen das Gedächtnis derart stimulieren, wenn Sie fünfhundert Escudos dazulegen, garantiere ich Ihnen, daß ich ihn ausfindig machen werde, man müßte etwas in der Vergangenheit herumblättern, lassen Sie mal sehen, bei mir ist das wie mit einem Album, man muß nur immer wieder vor- und zurückblättern, und dann findet man die richtige Seite ganz schnell, zeigen Sie mir die Person noch einmal, das muß vor vielen Jahren gewesen sein, verdammt, reichen Sie mir mal den Steckbrief rüber, mein Schriftstellerfreund, in meiner Kindheit kam er nicht vor, was ich da erkenne, ist Odemira, ausgedehnter Strand, August, meine Mutter, die zur Wäscheleine humpelt, den Wäschekorb am Arm, und die Wellen, Mann, die Wellen, das Strahlen der Wellen am Kobalthimmel, meine Mutter, die sich umgekehrt in den Wolken widerspiegelt, wie sie lange Unterhosen aufhängt, meine Schwester im Kinderwagen, mein Vater, eingerahmt auf der Anrichte, mit Krawatte und Mittelscheitel, und eine große Stille über den Feldern bis hin zum Gebirge. Und die Taverne und der Pfarrer und die Häuser im Winter, traurig, tieftraurig im Regen verblassend, Hunde ohne Unterschlupf auf den verlassenen Straßen, als suchten sie, die Nase am Boden, die Jungen, die man ihnen weggenommen hatte, in meiner Kindheit gab es Ihren Kerl da nicht, ich habe nie mit ihm gespielt und habe den Alentejo noch vor dem Schulabschluß verlassen, warten Sie, werden Sie nicht ungeduldig, hier ist jetzt Ruhe angesagt, da haben wir nun jede Menge Postkarten aus der Zeit, als ich nach Marvila gekommen bin und sie mich meinem Onkel übergeben haben, der als Pförtner bei Philips arbeitete, ein dicker, ständig betrunkener Witwer, der mit seiner Hündin in einem fünften Stockwerk gleich neben dem Tejo lebte und das Treppengeländer umarmte, mir aus ersterbender Brust röchelnd befahl, Miß meinen Puls, Junge, miß mir schnell meinen Puls, ich will den Krankenpfleger aus der Poliklinik, denn ich bekomme einen Herzschlag, und rums, das war’s.
Marvila, aber im unteren Teil, mein Schriftstellerfreund, damit das klar ist, Straßenbahnschienen, Mauern, kleine Landgüter, alte Männer, die auf dem Bürgersteig Karten spielen, mein Onkel, der, randvoll mit Wein, sauer auf seinen eigenen Schatten ist, Bocksprünge macht, sich im Kreis dreht, um ihm zu entkommen, ihn mit den Schuhen tritt, bittet, Laß mich los, oder aber sich wälzend Dünste wiederaufkochte, während ich in einem Kurzwarengeschäft als Ladenjunge arbeitete, und der Witwer, mein Herr, der behielt mein ganzes Gehalt ein und verpfändete das überflüssige Mobiliar für die Tresterschnäpse in der Kneipe, vereinzelte Möbelstücke, ein paar zusammengeschusterte Tische, ein paar Stühle ohne Sitz, die er, nach hinten ausschlagend, die Treppen hinunterbeförderte, mein Onkel, dessen Gattin ihr Leben dem Spiritismus geweiht hatte und nach ihrem Tod durch eine mystische Krankheit, mit der sie ein Engel angesteckt hatte, durch das Haus wanderte und die Teekannen mit ihrem beklommenen Atem zum Zittern brachte. Es ist durchaus möglich, hier in Marvila auf den vom Foto zu stoßen, wo es damals in den Dreißigern, kurz vor dem Krieg mit den Deutschen, vor ausländischen Spionen mit Hut und im Trenchcoat mit aufgestelltem Kragen nur so wimmelte, die sich in den Gassen gegenseitig erdolchten, das ist durchaus möglich; nur Geduld, ich bin dran, ich werde das Gesicht für Sie auf den Fotos von den Bällen des Freizeitclubs zwischen Girlanden, spaßigen Spruchbändern und Lampions entdecken oder zwischen dem Lächeln der Gruppe von Ausflüglern, die vor ihrer Abfahrt nach Fátima die Schinkenwurst fürs Mittagessen hochhalten. Wenn Ihr guter Mann nicht eine dieser schwefelschnaubenden gepeinigten Seelen in der Wohnung meines Onkels war, kein englischer Geheimagent ihn an einer Ecke am Tejo umgebracht hat, stolpern wir, ehe wir’s uns versehen, über ihn, vielleicht unter einem trüben Lichthof, wie er im Oriental seinen Queue mit Kreide versieht und mit schräggelegtem Kopf das Spiel vorbereitet, oder vielleicht in den Speichern am Hafen, eine Flasche in der Hand, auf ein Faß gestützt zusammen mit den Bettlern, die herabhängende Lotterielose wie eine Harmonika an ihre Rockaufschläge geheftet haben, Bettlern, die sich an Aprilmorgen die Zeit damit vertreiben, Schwalben zu zählen und, die Hosen bis zum Knie hochgekrempelt, im Sand von Chelas nach Meeresfrüchten zu suchen. Nein, das bringt nichts, das lohnt sich nicht, dort ist er auch nicht, mein Schriftstellerfreund, wie wär’s mit einem Milchreis, um den Geschmack des Schnitzels etwas abzumildern, einen Menschen zu finden ist harte Arbeit, ich hatte noch geglaubt, wir würden im Billardsalon Glück haben, alle, da gab es keine Ausnahme, besuchten dieses verrauchte Zimmer mit den Korbstühlen, in denen die ehemaligen Champions mit ihren von der Gicht gekrümmten Fingern saßen und unter sehnsuchtsvollen Seufzern die Spiele verfolgten, alle legten ihre Zigarette am Rand des Tisches ab, stellten sich auf Zehenspitzen, so daß man die karierten Socken sah, alle reckten sich über das Tuch, um den entscheidenden Stoß zu machen, noch etwas Zimt, bitte, ja danke, das reicht, sind Sie nie dort gewesen? Hat Ihnen nie ein ganz Durchtriebener mit einem unschuldigen Lächeln einen Vorteil von zehn fünfzig angeboten, haben Sie nie den Geruch von Tabak und Filz unter den trüben Lampen eingeatmet? Ich gehe die Gesichter durch und erkenne nicht das, das Sie suchen, man sieht alles ganz unscharf, finden Sie nicht auch? Vielleicht ist es das Nikotin, vielleicht ist es der Nebel vom Fluß, der fünfhundert Meter von uns entfernt liegt? Die Vitamine einer Banane oder einer Birne wären eine segensreiche Medizin und würden meine Kurzsichtigkeit umgehend kurieren, schauen Sie, bewegen Sie sich nicht, schauen Sie, der dort mit der gestreiften Jacke, der mit einem Alten redet, sieht mir genau wie Ihr Typ aus, nein, weiter hinten, neben der Tür zu den Toiletten, die Nase, der Mund, die Form des Kinns, stimmt’s? Sie haben recht, nichts für ungut, dieser hier ist blond, gedrungener, dicker, wenn man sich auf etwas versteift, bringt man alles durcheinander, nicht wahr? Wenn wir auf, na, sagen wir, auf eine Frau warten und sie sich aus irgendeinem Grund verspätet (obwohl Frauen keinen Grund brauchen, um unpünktlich zu sein), ähneln von einem bestimmten Augenblick an alle derjenigen, die wir voll Ungeduld erwarten, wir grüßen Unbekannte, bitten beschämt um Verzeihung, ziehen uns an das Schaufenster des Modegeschäfts zurück, an das wir uns mitleiderregend, lächerlich, verwirrt lehnen, haben zu viele Hände und zu wenige Taschen, und so geht es uns beiden jetzt, Ihnen, mein Schriftstellerfreund, und mir, mit unseren enttäuschten Augen im Billardsalon von Marvila, während der Angestellte an der Bar mit einem schmutzstarrenden Tuch Gläser reinigt und dazu ein blödes Liedchen pfeift.
Jedenfalls, warten Sie ab, diesen Kerl kenne ich irgendwie, den Blonden, der mit dem Alten mit der Weste und dem Hütchen redet, genau, der im Dreiband-Turnier des Sportvereins von Penha de França im Jahre neunzehnhundert-dreiundzwanzig mit einer monumentalen Serie von zwölf glatten Stößen den Sieg davongetragen hat, über den man noch heute im Stadtteil voller Respekt spricht, wenn Sie in dieser Gegend geboren wurden, erinnern Sie sich bestimmt noch daran, obwohl Sie jünger sind als ich, ich bin sicher, daß Ihr Vater Ihnen davon erzählt hat, das war ein Ereignis, der Alte, da gibt es natürlich keinen Zweifel, das ist der große Fausto junior höchstpersönlich, der König des Massé, beim anderen allerdings, da bin ich mir nicht so sicher, bei dem, der sich die Nase schneuzt, der seinen kleinen Finger in die Nase steckt, so ein Schweinigel, Sie haben recht, ich esse hier gerade meine Banane, und der Kerl raspelt sich ungehörigerweise die Schleimhaut ab und blickt uns von weitem an, während der große Fausto junior sich über einen komplizierten Stoß ausläßt, dieser Typ da, von dem sich die anderen ängstlich entfernen, mein Schriftstellerfreund, achten Sie auf seinen Clark-Gable-Schnurrbart, der, den man jetzt deutlich am dritten Tisch erkennt, der hat mich zur Politischen Polizei gebracht, einige Monate vor dem Krieg, mein Onkel war vor kurzem an einem Blutsturz gestorben, und ich war wegen der Mißbildung hier an der Hand vom Wehrdienst befreit und wohnte, vom Summen der Gespenster verstört, allein im Haus der Spiritistin. Jetzt spricht der große Fausto junior nicht mehr mit dem mit dem Schnurrbart, sehen Sie, das bin ich, der Dreiband-Champion hat sich auf seinen Stuhl gesetzt und studiert voll Verachtung den Tanz der Spieler, ich habe mich ein bißchen verändert, habe einen Bauch bekommen, habe ein Doppelkinn bekommen, und trotzdem erkennt man gleich, daß ich das bin, ich ganz still, ich ganz aufmerksam, ich neben der Anzeigetafel auf einen Queue gestützt, kratze mich mit dem Fußknöchel am anderen Bein und beiße mir auf die Lippen, während der mit dem Schnurrbart zuerst seine Hand auf meine Schulter und dann um meinen Nacken legt und mit mir spricht, mir von der Notwendigkeit, das Vaterland zu verteidigen, ins Ohr spricht, hörst du, die Portugiesen zu verteidigen, hörst du, mich selbst gegen die russischen Invasionen und die Panzer zu verteidigen, die in der Absicht rumpelten, Odemira zu zerstören, die kleinen nordischen Kiefern auf dem Platz niederzuwalzen, alle Leute dazu zu zwingen, Traktor zu fahren und auf den Feldern Steine zu bestellen, unter dem Kommando von Verrätern, die mit Rubeln bezahlt werden und bereits in Kellern konspirieren, die von Mäusen, Wodka, Maschinengewehren, Todeslisten, auf denen auch ich stand, bevölkert waren und von Pamphleten, die die Beerdigung Gottes ankündigten.
Einen Kaffee, mein Herr? Sie hätten doch nichts gegen einen Kaffee zur Beschleunigung der Verdauung, mein Darm ist vom Schweinefraß im Fort von Caxias träge geworden, die Gedärme weigern sich zu arbeiten, manchmal zerreiße ich mich stundenlang, während mich vom Fenster her die Tauben verspotten, auf dem Klo in der Pension, während die Mädchen, die gerade einen Freier abgefertigt haben, vom Drängen der Blase getrieben, mit den Fäusten gegen die Tür trommeln, hinter der ich, mit beiden Händen an die Fliesenbilder gestützt, meinen Bauch anflehe, sich in eine Öffnung zu entleeren, an deren Ende man wie in einer Meeresschnecke das Fermentieren des Flusses hört. Das schlimme an Lissabon, mein Schriftstellerfreund, ist, daß man in jedem Stadtviertel über den Fluß stolpert, wie über einen vergessenen Gegenstand, den Tejo, der uns in jeder Dachluke erscheint, der, während wir schlafen, mit seinem Wiegen unser Bett schaukelt, den Tejo und seine nächtlichen Lichter, die meinen Augen weh taten, wenn ich, in Begleitung des Mannes mit dem Schnurrbärtchen und noch zwei oder drei Kollegen, im Morgengrauen loszog, um in Häuserblöcken, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte, Kommunisten festzunehmen, Türen eintrat, bis zu einer Matratze im Dunkeln purzelte, von der eine erschreckte Gestalt aufzustehen versuchte, deren Schlafzimmer, Wohnzimmer, Badezimmer und Toilettenwasserkasten ich nach einem Bündel Waffen oder einer geheimen Druckerei durchsuchte, und wenn ich mich schließlich, während das Opfer seine Unschuld beteuerte und auf dem Treppenabsatz die Familie vor Schmerzen schrie, wieder zu einem kleinen, auf dem Fußweg geparkten Wagen aufmachte, in dem ein Agent mit Schirmmütze sich einen Zigarillo anzündete. Und ob es nun in Campo de Ourique war oder in der Graça, mein Herr, in Benfica, am Cais do Sodré oder in Barreiro, der Tejo war immer da mit seinen Sümpfen, seinen Schiffen, seinen Sturmschwalben und der Geometrie der Masten, atmete bis über die letzte beinahe durchscheinende Häuserreihe hinweg. Ich möchte nicht indiskret sein, aber wo wohnen Sie denn überhaupt, mein Schriftstellerfreund? In der Rua da Madalena, in der Nähe der Martim Moniz, gleich nach dem Laden mit den Prothesen für die Krüppel? Ist Ihnen mal aufgefallen, daß es dort kein Restaurant gibt, wo man das Murmeln des Flusses nicht hört, wo die Schaufenster nicht den Gezeiten entsprechend Wellen schlagen, wo die Läden nicht aufplatzen, weil die Strömungen des Bugio-Leuchtturms dagegen schlagen, wo die Fensterscheiben nicht vom Pulsieren des Leuchtturms hochrot werden? Lissabon ist eine versunkene Stadt, das Wasser schließt sich über unseren Köpfen, die Wolken sind nichts weiter als schwimmende Algenbänke, die Schneiderpuppen sind Meerjungfrauen ohne Köpfe in Uniformen aus Trevira oder Cheviot und an den Stellen mit Kreide unterstrichen, wo Steifleinen hingehört. Und über alldem, mein Bester, unberührt, klar und rein, in einer schwer vorstellbaren, nicht abzuschätzenden Entfernung, über den Korallenriffdächern, den Krebsgrottenstraßen und den Ozeandampferklöstern, dem Geheimnis der Baumalgen und der Muränentiefen der Witwenkeller mit ihrer in das Wachsblumenleichentuch verstorbener Verlobungen gehüllten Traurigkeit, über alldem, ach, auf all das hin, mein Schriftstellerfreund, brauche ich unbedingt ein Tellerchen Pflaumen, um meine Kehle zu erfrischen, die der Kaffee mir verbrüht hat, über alldem schlängelt sich um die Fernsehantennen und die Fabrikschornsteine, um die Ruinen der Burg und die von Kanarienvögeln, Bürodienern und Majoren bewohnten Stadtviertel, ohne sie zu berühren, die Milchstraße, die vor uns flieht, um mit dem Land auf dem Ufer bei Alverca zu verschmelzen, wo der Fluß zu Stahlwerkslohe und Zementfabriken wird.
Nein, protestieren Sie nicht, tadeln Sie mich nicht, Ehrenwort, ich mache alles Menschenmögliche, und dennoch ist es nun einmal so, die Erinnerung hat ihren eigenen Mechanismus, ihren Rhythmus, ihre Gesetze, ihre Launen, wir werden den Kerl dann finden, wenn wir am wenigsten damit rechnen, an irgendeinem Ort der Vergangenheit, vielleicht in einer Dienststelle der PIDE in Damão, wohin man mich versetzt hatte, damit ich im Monsun Kommunisten suchte, aber da gab es nur den Inspektor und ein halbes Dutzend Mulatten, die das Unwetter nicht wegzuschwemmen beschlossen hatte, vielleicht in Póvoa de Varzim, wo ich zum Agenten der zweiten Klasse aufstieg und Berichte abstempelte und dem Regen zuhörte, aber da ist er auch nicht, dort bin ich auf niemanden mit diesem Gesicht gestoßen, weder auf der Straße noch im Kino, noch im Kasino, wo die Rouletteräder sich drehten und sich in den Stalaktiten der Lüster widerspiegelten, aber auch im kleinen Hotel in Ericeira sehe ich ihn nicht, wo man mich mit ein paar Kollegen hingeschickt hatte, damit ich heimlich, als Vertreter verkleidet, einen Albinomechaniker überwachte, der am Streik in Marinha Grande teilgenommen hatte, einen armen Kerl, der sich hinter Öldosen und Reifenhaufen geflüchtet hatte, um sich vor der Sonne zu schützen, ein kleines leeres Hotel, mein Herr, hoch oben über den steilen Felsen, in dem zwei alte Frauen, ein Junge und ein Rabe lebten, der sich für einen Seebären hielt, seine Brust über den Fußboden schleifte und von morgens an aufgebracht, als litte er unter unheilbaren Zahnschmerzen, krächzte, He, Almerinda, du kleine Hure, mach mit diesem Scheißding ’ne Wende nach steuerbord. Sie fragen, wann das war? Also, das muß so, nein, ich weiß es genau, warten Sie, es muß um neunzehnhundert-neunundvierzig gewesen sein, neunzehnhundertfünfzig, wenn ich mich nicht irre, ja, neunzehnhundertfünfzig, ich hatte gerade eine kleine Schwierigkeit bei der Polizei hinter mir, weil mir ein Demokrat während des Verhörs gestorben war, ich stellte ganz korrekt meine Fragen, und bums, da lag er plötzlich mitten auf dem Boden, seine Vorderzähne waren kaputt, und aus einem Ohr spritzte Blut, der Krankenpfleger empfahl mir kopfschüttelnd, Nächstes Mal hinterlaß keine Spuren an ihnen, gib ihnen ein paar Elektroschocks in den Mund, das merkt man weniger als Fausthiebe, der stellvertretende Direktor ließ mich in sein Büro kommen, Offen gesagt, Mann, gebrauchen Sie Ihren Grips mal ein bißchen, wenn Sie die alle fertigmachen, werden wir arbeitslos, überlegen Sie mal!, und da sich in der Woche davor ein Sozialist, mit dem ich mich seit drei Tagen unterhalten und den ich so daran gehindert hatte, zu schlafen, aus dem Fenster gestürzt hatte, haben sie mich nach Ericeira verbannt, mich damit beauftragt, den Albino auszukundschaften, ohne ihn auch nur mit dem Finger zu berühren, denn Märtyrer haben wir genug, einen Verrückten, mein Schriftstellerfreund, der gern im Regen spazierenging an den Nachmittagen, an denen die Wellen die Felsen hinaufkletterten und Vögel bis auf die Balkons der Pension spuckten, und wir schrieben, im Zimmer eingeschlossen, ein Memorandum nach dem anderen, Heute hat er den ganzen Tag lang nichts getan, hat nur auf einem Schemel am Eingang der Werkstatt gesessen, Heute um siebzehn Uhr und dreizehn Minuten hat er einen Reifen geflickt und den Vergaser vom Jeep der Guarda Republicana gereinigt, wir hatten vom Raben, vom schlechten Wetter und von den beiden Alten die Nase voll, die in der irrigen Vorstellung lebten, das Hotel mit Touristen füllen und die Zimmer mit Gästen beleben zu können, die sich bei Gewitter aufgescheucht auf den Fluren bewegten, und kümmerten uns nicht um den Jungen, der, falls er noch lebt, heute mindestens so um die vierzig Jahre alt sein muß und sich im Keller mit den Albatrossen die Zeit vertrieb, die die Äquinoktialstürme dort vergessen hatten.
Wer, der kleine Junge? Sind Sie im Ernst an dem kleinen Jungen interessiert, mein Schriftstellerfreund, Sie nehmen mich doch nicht etwa auf den Arm? Denn sehen Sie, der Junge sieht dem Foto kein bißchen ähnlich, ha, das ist ja eine Überraschung, ein Kind, das nicht sprach, ich für meinen Teil habe nie einen Laut von ihm gehört, nach der Beerdigung der Pensionsbesitzerin haben irgendwelche Verwandte ihn mit nach Lissabon genommen, und er ist mir ganz und gar aus dem Sinn gekommen, denn schließlich hat man ja noch Wichtigeres zu tun, und da es sich um ein Kind handelt, mein Herr, wundert es mich nicht, ich erinnere mich, daß er vor allem und jedem Angst hatte, daß er nie lächelte, immer allein aß, ich erinnere mich daran, wie er sich über die Fensterbrüstung zu den auf den Strand gezogenen Fischkuttern lehnte, ein kleiner Junge, mein Freund, ich war mit dem Albino beschäftigt, und Sie, wer hätte das gedacht, interessieren sich für einen kleinen Jungen, und wie sollte Ihr ergebenster Diener, mag er auch ein noch so guter Jagdhund sein, ihn anhand eines Fotos von einem Mann ausfindig machen, das hätte ich doch gern gewußt, bestellen Sie mir doch noch einen Karamelpudding mit viel Sauce, denn damit haben Sie mich, verdammt noch mal, hungrig gemacht, erklären Sie mir, wo der Kerl wohnt, und dieser schlaue Fuchs hier kriegt für einen vernünftigen Preis alles raus, was Sie wissen wollen, der Fernkurs für Hypnose muß noch ein paar Monate auf dem Regal ausharren, wer fliegen will, muß halt noch etwas warten, denn ich habe das Elend wahrlich satt, ich könnte mit Ihrer Knete das Zimmer zahlen, und es würde mir noch etwas Geld für eine halbe Stunde Aufwärmen bei einem der zärtlicheren Mädchen der Pension übrigbleiben, bei einem häßlichen, einem nicht so begehrten, einem duldsamen, es wäre kein Liebesakt, zum Teufel mit der Liebe, die Sache ist die, daß ich unbedingt einen Vorwand zum Weinen brauche, um meine Ängste an ihren Hals lehnen und weinen zu können, um vom Fort von Caxias wegzukommen, vom Quietschen der Riegel und von den Schritten der Soldaten auf der anderen Seite der Tür, um von den Panzern der Revolution wegzukommen, mein Schriftstellerfreund, von den Leuten, die mich ohrfeigten, und von all den Wochen, in denen ich dort schlief, wo es sich gerade ergab, unter Treppen, in Lastwagen, auf den Bänken des Campo de Santana, und den Käfern zuhörte, wie sie aus dem Ei kriechen, und den Schwänen, die wie Kinder im Fieber wehklagen, du gibst mir ein paar Piepen, und ich bring dir die Biographie dieses Heinis, Junge, entschuldige, wenn ich dich Junge nenne, aber du könntest vom Alter her mein Sohn sein, und ich mag keine Förmlichkeiten, Mann, nächste Woche treffen wir uns hier im Restaurant, mach dir keine Sorgen, iß das Steak in Ruhe auf, und ich erzähle dir die Biographie von dem Typ rauf und runter, heute spendier ich dein Moos einer von den Freigebigen in der Pension, ich laß mir das Haar schneiden, den Bart stutzen, dusche in der öffentlichen Badeanstalt bei der Mãe de Agua, kauf ein schickes Hemd, knöpfe den Kragenknopf zu, und mich nimmt jede, ich muß nur anklopfen und, Hallo, da bist du ja, komm rein, und was dich betrifft, mein Kleiner, iß den Pudding auf, ich habe keinen Appetit mehr, genieß die Tauben vom Hospital de São José, die Tauben vom Leichenschauhaus, genieß die Gebäude dort unten und das Durcheinander der Kräne und Container auf dem Kai über dem Profil des Ufers. Und falls du zufällig einen Verrückten mit Turban vorbeischweben siehst, der nicht auf den Dachtraufen haltmacht, dann sei gewiß, daß er nicht mein Schüler ist: Denen habe ich es nicht beigebracht, Junge, und deshalb ziehen sie wie die Störche und die Enten im Herbst in großen Schwärmen auf dem Weg zur Sonne davon.
Manchmal, Iolanda, wenn die Klingel am Bahnübergang endlich schweigt, die Hunde der Quinta do Jacinto, vom Fischgeruch angelockt, im Rudel zum Strand aufbrechen, die Motoren der Fischkutter beim Nahen der Morgenröte verstummen und die tonlose, Spitzenwerk schaffende Arbeit der Holzwürmer in der Stille des Hauses zu hören ist,
manchmal, wenn morgens der erste, von den Tränen der Nacht gepflügte Bernstein der leeren Spiegel in mein Bewußtsein dringt, wenn dein Körper, unter dem Bettuch wie Sessel im August in einem verlassenen Haus, aus dem Dunkel tritt und auf dem Kopfkissen deine Schultern und deine Nase aus dem Schatten sprießen wie tote Blütenkelche,
manchmal, meine Liebste, wenn es endgültig Tag ist, wenn der Wecker klingeln wird, wenn die Pantoffeln deines Vaters über den Fußboden gehen, weil er in der Küche am Spülbecken ein Glas Wasser trinken will, und dabei die Schränke zum Erzittern bringen und deine Tante sich im Zimmer rührt, sich mit Schmetterlingspuppengesten anzieht,
manchmal, wenn ich auf der Matratze verstumme, die Geschichte, die ich erzähle, verfluche, kurz bevor die Klingel der Uhr mich schreiend zu meiner Arbeit beim Staat ruft,
dann hasse ich dich,
verzeih
wie die Nachbarn im Stockwerk über uns einander hassen, ein Rentnerehepaar, das sich brummelnd in einem Pandämonium von Töpfen und Pfannen beschimpft und das ich eines Sonntags nach dem Mittagessen auf Anordnung deiner Tante besuchte, die so solidarisch mit den anderen ist und mir gegenüber so feindselig, um ihnen mit einem Drahthaken die verstopfte Toilette in einer Wohnung zu reparieren, in der es zu viele Dinge gab, wo auf den Kommoden präparierte Wiesel standen und auf dem verglasten Balkon ein Kanarienvogel vor einem Salatblatt trillerte. Als ich, auf den Fliesen hockend und zur Kloschüssel gebeugt, im Schlund nach Algen fischte, spürte ich die Alten hinter mir, die zwischen faulen Zähnen leise Beschimpfungen hervorstießen, und während ich an der Wasserspülung zog, um das Ergebnis meiner Arbeit zu überprüfen, glaubte ich aus dem Augenwinkel Finger zu sehen, die sich ausstreckten, um einen Hals zu erdrosseln, und einen Schraubenschlüssel, der sich, den Stoff des Morgenmantels durchschlagend, in einen Schenkel bohrte. Der Wasserschwall lief in einem explosiven Strudel über, ergoß sich bis zur Auslegeware im Wohnzimmer, und das Ehepaar, das vergessen hatte, sich mit Eiszangen und dem Fischbesteck den Bauch aufzuschlitzen, wandte seine Wut gegen mich, der, die Knie triefnaß, versuchte, den Blutsturz der Wasserspülung mit dem kleinen Handtuch des Bidets zu stillen. Ich erinnere mich daran, daß ich auf dem Dielenboden entlangrutschte und in eine immer größer werdende Pfütze fiel, dabei einen Stapel Zeitschriften in Richtung Schlafzimmer mitriß, ich erinnere mich an ein Tischchen voller Zinngegenstände, das wie ein Schiff, das die Launen der Gezeiten hochheben, zu schlingern begann, ich erinnere mich an die Rentner, die bis zu den Hüften in Algen standen und vor Wut die Fassung verloren hatten, und daran, daß ich mit Besenhieben auf den Treppenabsatz gefegt wurde inmitten von Ebbeanschwemmungen (zerlöcherte Körbe, Schuhe ohne Sohle, Flaschenscherben, Konservenbüchsen und faulige Quallen), bis ich an der Schürze deiner Tante vor Anker ging, die mich von dort oben mit gekreuzten Armen anstarrte und angeekelt den Kopf schüttelte. Noch heute, meine Liebste, erzählt man sich in Alcântara die Geschichte vom Hausrat einer Wohnung in der Straße Nummer acht, der eines Sonntagnachmittags beschlossen hatte, zum Fluß hinunter aufzubrechen, und ein Tafelservice mit chinesischen Landschaften und einen vor Entsetzen strampelnden Beamten mit sich riß, der in wilder Ehe mit einer Gymnasiastin lebte.