Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben - António Lobo Antunes - E-Book

Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben E-Book

António Lobo Antunes

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Beschreibung

Was bleibt vom Leben, wenn man alles verloren hat?

Eine Frau Anfang fünfzig hält Rückschau auf ihr Leben: Es sind nur drei Tage, die sie im einstigen Ferienhaus ihrer Familie verbringt, um Abschied zu nehmen, weil das Haus verkauft worden ist. Doch in diesen drei Tagen stürzt das ganze Drama ihrer Existenz über sie herein, und ihre Erinnerungen an die glücklichen Tage der Kindheit weichen einem immer bedrohlicheren Strudel der Verzweiflung …

Eine Frau Anfang fünfzig fährt für ein Wochenende an den Strand. Das Ferienhaus ihrer Familie, an der Atlantikküste nördlich von Lissabon gelegen, ist verkauft worden, und sie möchte Abschied nehmen, ihren Erinnerungen an die Kindheit, an die gemeinsamen Sommer dort nachhängen. Doch die Vergangenheit bricht regelrecht über sie herein, und der Kurzurlaub gerät ihr zur Rückschau auf ihr Leben, zur Abrechnung über ihr Leben. Da ist die gar nicht glückliche Ehe ihrer Eltern, deren Gefühlskälte die Kinder geprägt hat; da sind die drei Brüder mit ihren unterschiedlichen Schicksalen: einer von Geburt an taubstumm, einer gezeichnet von seinem Einsatz im Kolonialkrieg, der dritte und älteste stürzte sich im Alter von achtzehn Jahren von einer Klippe. Und nun ist sie allein in dem leeren Haus. Ihr Mann hat sie schon lange verlassen, sie ist kinderlos, und ihr Beruf als Lehrerin füllt sie nicht mehr aus. Ihr Dasein, erkennt sie, ist ihr mit den Jahren mehr und mehr zur Last geworden. Am Ende führt ihr Weg sie zur Klippe über dem brausenden Ozean, wo sie das Lächeln ihres Bruders evoziert …

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Zum Buch

Eine Frau Anfang fünfzig fährt für ein Wochenende an den Strand. Das Ferienhaus ihrer Familie, an der Atlantikküste nördlich von Lissabon gelegen, ist verkauft worden, und sie möchte Abschied nehmen, ihren Erinnerungen an die Kindheit, an die gemeinsamen Sommer dort nachhängen. Doch die Vergangenheit bricht regelrecht über sie herein, und der Kurzurlaub gerät ihr zur Rückschau auf ihr Leben, zur Abrechnung über ihr Leben. Da ist die gar nicht glückliche Ehe ihrer Eltern, deren Gefühlskälte die Kinder geprägt hat; da sind die drei Brüder mit ihren unterschiedlichen Schicksalen: einer von Geburt an taubstumm, einer gezeichnet von seinem Einsatz im Kolonialkrieg, der dritte und älteste stürzte sich im Alter von achtzehn Jahren von einer Klippe. Und nun ist sie allein in dem leeren Haus. Ihr Mann hat sie schon lange verlassen, sie ist kinderlos, und ihr Beruf als Lehrerin füllt sie nicht mehr aus. Ihr Dasein, erkennt sie, ist ihr mit den Jahren mehr und mehr zur Last geworden. Am Ende führt ihr Weg sie zur Klippe über dem brausenden Ozean, wo sie das Lächeln ihres Bruders evoziert …

Zum Autor

ANTÓNIO LOBO ANTUNES wurde 1942 in Lissabon geboren und hat Medizin studiert. Während des Kolonialkrieges war er als Militärarzt in Angola, arbeitete danach in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Sein umfangreiches Werk ist in über dreißig Sprachen übersetzt und erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

Zur Übersetzerin

MARALDE MEYER-MINNEMANN, geb. 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen, 1997 den Preis Portugal-Frankfurt, 1998 den Helmut-M.-Braem-Preis und wurde dreimal für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

António Lobo Antunes

Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben

Roman

Aus dem Portugiesischen von

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem TitelNão É Meia Noite Quem Quer bei Publicações Dom Quixote, Alfragide, Portugal.

Copyright © der Originalausgabe 2012 António Lobo Antunes und Publicações Dom Quixote

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 Luchterhand Literaturverlag, München, 

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: buxdesign | München, unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/Jens Haas

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-15569-8V003

www.luchterhand-literaturverlag.de

Bitte besuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

facebook.com/luchterhandverlag

Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben.

René Char

FREITAG, DEN 26. AUGUST 2011

1.

Ich wachte mitten in der Nacht in der Gewissheit auf, dass mich das Meer durch die geschlossenen Rollläden hindurch rief, ich wandte den Kopf zum Fenster und spürte, wie das Meer mich ansah, so wie mich das Rascheln der Kiefern ansah und die Stimmen meiner Eltern am Ende des Flures mich ansahen, alles sah mich im Dunkeln an und wiederholte meinen Namen, ich fragte

– Was habe ich denn getan?

und Stille, das Meer und die Kiefern verschwanden aus dem Fenster, wohin seid ihr gegangen, und meine Eltern schwiegen, wenn wir das Meer und die Kiefern verlieren, bleibt fast nichts mehr, ein paar Dächer, etwas Röhricht, der Sand ohne die Spuren von Möwen morgens in aller Frühe, nur der Ebbemüll, den die Bademeister noch nicht weggefegt haben, Holz, Algen, Dieselöl, ich fünf Jahre alt, meine Brüder sieben und neun, von meinem ältesten Bruder werde ich nicht reden, man redet nicht über meinen ältesten Bruder, da ist er und lächelt mich an

– Kleine

und fährt mit mir auf der Querstange, die mir etwas wehtut, hinunter zum Strand, ich glücklich und ängstlich

– Wir werden doch nicht stürzen oder versprich es mir

und wir stürzten nicht, wenn ich von der Querstange sprang, tat sie mir weiter ein wenig weh, aber das ging dann vorbei, vor den Wellen zogen sie an einem Mast eine grüne Fahne auf, hin und wieder in der Ferne ein Passagierdampfer, mein Vater schlief, die Zeitung auf der Brust, auf dem Sofa, will heißen, man merkte am offenen Mund, dass er schlief, er hatte weder weißes Haar, noch war er krank, er war nicht gestorben, meine Mutter, die sich mit der Sonnensegelnachbarin unterhielt

– Ich habe dir schon tausendmal gesagt dass du sie nicht auf dem Fahrrad mitnehmen darfst aber du gibst wohl erst Ruhe wenn du der Kleinen ein Bein gebrochen hast

mein nicht tauber Bruder und mein tauber Bruder bewarfen sich mit Gegenständen, und mein tauber Bruder, rief man seinen Namen, wandte er sich uns nicht zu, begann zu weinen, meine Haare schon nicht mehr schwarz wie die meines Vaters, blond gefärbt, meine Mutter zur Sonnensegelnachbarin, während sie die Wangen meines tauben Bruders abwischte

– Da sehen Sie mal das Kreuz das ich zu tragen habe

am Ende des Strandes oberhalb der Felsen hinter der Lagune ein verlassenes Gebäude, auf dessen Kalkanstrich der Schriftzug Alto da Vigia Mariscos & Bebidas verblasste und wo sich nach dem Abendessen die Räuber versammelten und Pläne schmiedeten, um uns zu verschleppen, meine Mutter

– Wäre schön wenn sie euch alle verschleppen würden damit ich Frieden und meine Ruhe habe

obwohl niemand mit einem Holzbein und Säcken zu sehen war, in die sie uns stecken konnten, ich habe gesehen, wie sie das mit kleinen Katzen machten und wie der Sack sich bewegte, sie tauchten den Sack in den Betonbottich zum Wäschewaschen, und niemand bewegte sich mehr darin, sie warfen alles in eine Grube in der Ecke des Gartens und befahlen uns

– Geht weg

nur mein tauber Bruder blieb dort, versuchte die Erde mit den Füßen aufzuwühlen, ich zu ihm

– Sei nicht traurig

und in den Kiefern eine Amsel mit zwei Tönen, wieso traurig sein wegen eines Sackes, aus dem es tropfte, und der Katze, die dort herumschnupperte, ich hatte keine Kinder, will heißen, ich hatte eines und habe es verloren, in welche Grube haben sie es geworfen, mein Mann

– Sie haben es in überhaupt keine Grube geworfen es war noch nicht mal ein Baby

während das Fahrrad langsam den Hang hinauf nach Hause fuhr, ich erinnere mich an den Klang der Klingel, die des Briefträgers war lauter, heute Morgen bin ich angekommen, um mich vom Haus zu verabschieden, in der nächsten Woche übergeben wir die Schlüssel, die Bäume sind mir böse, solche Gefühle bemerkt man

– Wie gemein von dir uns zu verlassen

sie werden mich heute Nacht nicht ansehen, werden so tun, als hätten sie vergessen, wer ich war, Zimmer ohne Möbel, ein Stück Papier auf dem Boden, hin und her, Reste von Stroh aus einer Matratze an der Stelle, wo mein Bett gestanden hat, die gleichen Ameisen wie einst in der Küche, aber die Borde ohne Krüge, ein Paket Zucker, mit einer Wäscheklammer verschlossen, allein im Schrank, und die Erinnerung an meinen Vater, wie er hier in der Speisekammer nach der Flasche suchte, ich an seine Hast gewandt, die es nicht mehr gab, doch seine zittrigen Finger lösten sich aus meiner Erinnerung

– Es sind keine Flaschen mehr da Vater

und mein Vater schaute trotzig in eine Truhe, probierte es bei einer Schachtel, gab auf, starrte mich an, mit wirren Haarsträhnen, ich kann mich an mein Blond nicht gewöhnen, Sie sind schon jahrelang tot, warum kommen Sie hierher zurück, Senhor, ausgerechnet heute, um mich mit Ihrem Durst zu quälen, dazu das Taschentuch, mit dem Sie glauben, die Stirn abzuwischen, aber sogar das Gesicht verfehlen, es winkt ein zielloses Adieu, überlegt einen Augenblick lang hin und her pendelnd, wird schließlich in der Tasche unsichtbar, ähnlich wie eine Katze im Sack, kurz darauf reglos, man gräbt im Garten eine Grube, und sie verschwindet für immer, während das, was von Ihnen noch geblieben ist, durchs Zimmer stolpert, meine Mutter zur Sonnensegelnachbarin, indem sie auf uns zeigt

– Sie sind zu nichts nutze

mein Kreuz, Dona Liberdade, ein Tauber, eine, die zu nichts taugt, einer, der sich umbringt, und ein Verrückter, einmal ganz abgesehen vom Ehemann mit seinen Alkoholnebeln

– Nimm die Spinnen von mir weg

ein Sauhaufen, beste Freundin, mir war so, als wäre da beim Alto da Vigia Mariscos & Bebidas ein Räuber, aber bei genauerem Hinsehen nur ein vom Meereswind geschüttelter Busch, zwei oder drei spindeldürre von den Zigeunern vergessene Esel, die mit schwächlichen Hufen die Welt betreten, schweigend wie das Meer und die Kiefern, die mich enttäuscht anschauen

– Wirst du uns wirklich verlassen?

und mein tauber Bruder schien das zu verstehen, was man daran sah, wie seine Augenbrauen sich verzogen, schlug man mit einem Löffel gegen einen Topf, blieb mein tauber Bruder teilnahmslos, schwiegen wir nachdenklich, er, jeden Buchstaben abwägend

– Vielleicht

er fand vor den anderen, wie, weiß ich nicht, heraus, dass ich heiraten wollte und zog mich auf den Flur

(viel weniger Möwen als damals, als ich klein war, warum?)

hauchte

– Nein

viel weniger Möwen, kein einziger Räuber, das Alto da Vigia nicht vorhanden, kein Erker, kein Stück Gemüsegarten, Unkraut wiegte sich unermüdlich, einer der Esel stürzte ab, als die Spitze eines Felsens nachgab, und rings um ihn herum die Hunde, klapperdürr, ich wachte mitten in der Nacht in der Gewissheit auf, dass mich das Meer durch die geschlossenen Rollläden hindurch rief, wer hat ihm meinen Namen verraten, ich wandte den Kopf zum Fenster und spürte, wie das Meer mich ansah, wenn ich mich den Rollläden nähern würde, so viel Dunkelheit, wo sind die Augen geblieben, der Esel wurde aufgedunsen ans Ufer gespült, mit steifen Beinen, nur Zähne, mein Vater, ebenfalls aufgedunsen, im Pyjama

– Hast du da irgendwo eine Flasche gesehen Kleine?

die Füße matt vom Laufen, eine Stimme, die sich mühsam einen Hang hinaufschob, meine Mutter

– Willst du dich umbringen wie dein ältester Sohn?

ich bin zu diesem Haus gekommen, um mich von ihm zu verabschieden, die Bademeister bedeckten den Esel mit einem Wachstuch und nahmen ihn mit ins Lagerhaus, Echos von Kiefern im Echo meiner Schritte, wer von uns ist Baum und wer von uns bin ich, eine Amsel wechselte unter Buchseitengeraschel den Zweig, die Zimmer wurden immer größer, mir war, als wäre da der Fetzen eines Kleides von Esmeralda, einer Puppe, die ich einmal hatte, aber am Ende war es die Sonne auf einer Tellerscherbe, wenn es mir einfiele, mich mitzuteilen, in wie viele Stimmen würde meine Stimme sich aufteilen, meine Mutter

– Kannst du nicht mal stillhalten?

während sie die Bluse zuknöpfte, die mich im Rücken piekste, das Einzige, was mich beim Gedanken ans Großwerden stört, ist, dass mein ältester Bruder nicht mehr mit mir auf der Querstange zum Strand fährt, von der nächsten Woche an, nachdem ich die Schlüssel übergeben habe, werde ich nicht imstande sein, das Haus von ferne anzusehen, die Zeitungsseiten glitten zu Boden, während mein Vater schlief, hin und wieder ging er in die Speisekammer, um heimlich einen Schluck zu nehmen

– Hustensaft Kleine Hustensaft

Ohren und Stirn in einer anderen Farbe, den Kiefern sagen, dass sie mich nicht anschauen sollen, es ist nicht meine Schuld, wir kamen im August an und fuhren während der Springfluten wieder ab, wenn die Möwen nicht am Strand waren, sondern auf den Schornsteinen saßen, die Wellen die Strandmauer erreichten und den Sand mit sich forttrugen, einmal abgesehen vom Sommer und der Stimme meiner Mutter, meine Brüder und ich auf der Rückbank des Autos voller Koffer, sie nach vorn schauend und ich, auf Knien, in die Gegenrichtung, ich sah, wie in der Fensterscheibe die Ferien immer kleiner wurden, der Kiosk, das Café mit dem Tischfußball, die letzten Bäume und dann die Straße, die Tankstelle, in der wir Pipi machen mussten, auch wenn wir nicht mussten, meine Brüder bei der Tür mit der Silhouette des Mannes und ich bei der Tür mit der Silhouette der Frau, wohin meine Mutter mich schon nicht mehr begleitete

– Wasch dir ordentlich die Hände

und ich war stolz, ganz allein dort hineinzugehen, immer Spuren von Parfüm, mein Gesicht ganz unten im Spiegel, ich brauchte Ewigkeiten, um weiter oben in den Spiegel zu kommen, es gab eine dritte Tür mit der Silhouette eines Rollstuhls, in die ich sogar heute noch neugierig hineinspähen möchte, einen Augenblick später Lissabon, am Gebäude neben der Pastelaria Tebas fehlten Fliesen

– Was bedeutet Tebas Mutter?

und meine Mutter wie gewohnt, wenn sie keine Ahnung hatte

– Immer diese Fragen

mit einem finsteren Seitenblick zu meinem Vater, der, noch bevor wir die Koffer auspackten, dort herumstöberte, wo die Flaschen waren, Gerüche nach Abgestandenem und Abwesenheit, die sich wochenlang hielten, bis der Geruch von Essen und der Geruch von Menschen stärker wurde, strich man über irgendeinen Tisch, Staub, ich sagte diesmal nicht, dass keine Zahnpasta da war, damit man mich nicht zwang, sie zu benutzen, ich hatte das Gefühl, das Meer und die Kiefern kämen zurück, aber sie kamen nicht zurück, obwohl da noch ein Restchen Sand an den Füßen klebte, und ich war froh darüber, eine verirrte Möwe flog quer über den Balkon, aber auf den benachbarten Dächern waren weder Esel noch Räuber, als ich schrieb, dass mein ältester Bruder nicht erwähnt wurde, bezog ich mich auf, eines Tages, wenn ich den Mut aufbringe, erzähle ich es, mein tauber Bruder begann zu protestieren, verlangte, mit dem Elefanten zu schlafen, der ihn vor den Fallstricken der Welt schützte und inmitten schmutziger Wäsche in einem ungeöffneten Rucksack verborgen war, meine Mutter schrie ihm ins Ohr

– Schämst du dich nicht dich mit deinen sieben Jahren noch an ein Tier zu klammern?

ich brauchte keinen Elefanten, ich hatte ein Nilpferd auf dem Nachttisch, das Ernesto hieß und auf mich aufpasste, ohne dass ich mich an ihm festhalten musste, ich hätte ihn durchaus zwischen die Betttücher gesteckt, aber Ernesto zog den Nachttisch vor

– Ich bleib hier und du dort

so wie es ihm auch lieber war, dass der Name Ernesto unser Geheimnis blieb

– Verrat es niemandem hörst du?

und selbstverständlich gehorchte ich, meine Großmutter war uralt, mindestens vierzig oder sechzig Jahre

– Wie heißt dein Nilpferd Kleine?

ich, verrat es niemandem, schwieg, Dona Alice, fast so alt wie meine Großmutter, und sie hatte einen verkrüppelten Daumen, half meiner Mutter dreimal in der Woche, am Monatsende setzten sie sich zusammen, um mit dem Bleistift auf der Rückseite einer Rechnung Additionen vorzunehmen, vertaten sich bei den Zahlen, der Neffe hatte eine Wanderniere, was ist eine Wanderniere, kannst du nicht mal aufhören, die Leute zu nerven, Kleine, Dona Alice stopfte die Kissen in die Bezüge, meine Mutter, die an Krankheiten interessiert war

– Wie geht es der Wanderniere Ihres Neffen Dona Alice?

Dona Alice, während ein Kissen zur Hälfte aus dem Bezug guckte, zur anderen Hälfte darinsteckte

– Mal besser mal schlechter sie wollen ihn am offenen Bauch operieren

und einen Augenblick lang erschreckte mich der Gedanke, dass wir sterben werden, der Tod, das war viele Leute bei uns zu Hause und dass wir uns flüsternd unterhalten mussten

– Hat man schon keine Achtung mehr vor den Verstorbenen?

mein Vater, mit schwarzer Krawatte, eifriger in der Speisekammer, meine Mutter, in Schluchzer gewickelte Pausen, war von uns weniger genervt, verkündetete feierlich resigniert

– Von einer Minute zur anderen ist alles vorbei

aber das stimmte nicht, die Tage waren ellenlang, beispielsweise eine Ewigkeit zwischen dem Mittagessen und dem Augenblick, in dem mein Vater vom Sofa aufstand, um uns nach einer Reise in die Speisekammer mit in den Zirkus zu nehmen, mein tauber Bruder klammerte sich, durch die Scheinwerfer verängstigt, an uns und jaulte nach seinem Elefanten, ich nicht, ich war hingerissen von dem Mädchen am Trapez, blond wie ich jetzt, die Gewissheit, dass wir, lernten wir uns nur kennen, Freundinnen werden würden und ich imstande wäre, ihr Ernesto ein oder zwei Nächte zu leihen, auch wenn mich das Meer durch die geschlossenen Rollläden hindurch rief und die Räuber im Garten auf dem Weg zu mir waren, rings um das Zelt die Käfige der schlafwandelnden Löwen mit einem Fell, das den abgewetzten Teppichen ähnelt, die man in Erwartung des Lastwagens der Stadtverwaltung an den Straßenrand legt, und ein Clown, der den Ball seiner Nase in der Absicht zum Hut hochzog, mit dem riesigen Mund den Sohn zu beschimpfen, gewaltige Worte, die ich, weil sie mit der Musik des Orchesters vermischt waren, nicht hören konnte, ich habe Dona Alices Neffen mal gesehen, aber die Wanderniere konnte ich nicht finden, ich ging forschend um ihn herum und stellte fest, dass er von außen genauso war wie wir, meine Mutter

– Hast du etwa geglaubt dass die Wanderniere da herumläuft?

die Wanderniere läuft da herum, und Dona Alices Neffe versucht sie zu fangen, so wie es mit der Seife in der Badewanne passierte, man hielt sie fest in der Hand, und sie flutschte weg, wenn wir uns still verhielten, ein blauer Fleck, keine Spur, wenn wir das Wasser bewegten, warum werden Seifen immer kleiner, seien Sie nicht böse, Mutter, das war keine Frage, ich habe es mir nur so vorgestellt, das Mädchen aus dem Zirkus ist nie in mein Zimmer gekommen, wie alt es wohl heute ist, und auch das ist keine Frage, und ich möchte auch nicht, dass Sie mir antworten, da Sie sie nicht kennengelernt haben, ich habe nur überlegt, das Nilpferd habe ich vergessen, aber das Meer und die Kiefern sind immer noch bei mir, ich wandte den Kopf zum Fenster, um zu spüren, wie sie mich ansahen, alles sah mich an, wiederholte, Kleine, ich erinnere mich an den Nachmittag, an dem das Gesicht meiner Mutter verändert war

– Du musst einen Badeanzug tragen der dich da oben bedeckt

wo meiner Meinung nach überhaupt nichts war, was man bedecken musste, zwei kleine Knubbel, die begannen mich zu stören, nichts weiter, der Rest wie immer, das Nilpferd besorgt

– Wirst du mich wegwerfen?

und ich, das rutschte mir einfach so heraus

– Immer diese Fragen

und es tat mir sofort leid

– Das wollte ich nicht sagen verzeih mir selbstverständlich werde ich dich nicht wegwerfen

das in einer Zeit, als mein ältester Bruder noch lebte

– Selbstverständlich werde ich dich nicht wegwerfen

aber ich habe es weggeworfen, ich brauchte das Nachttischchen für die Fotos von den Filmschauspielern und das Kästchen für die Armbänder und die Ohrringe, abgesehen davon, dass ich dem Spott meiner Freundinnen entgehen wollte

– Du hast ein Rhinozeros?

nicht Rhinozeros, Nilpferd, ich verzeihe ihm nicht, dass es nicht bei mir war, als mein ältester Bruder, als die Wellen, als im Sand viele Menschen flüsterten, und das war kein Esel, der von den Felsen gestürzt war, als ein Polizist das Fahrrad brachte, das an der Strandmauer zurückgeblieben war, saß mein Vater, ohne sich in der Speisekammer zu verstecken, mit der Flasche im Wohnzimmer, meine Mutter schaute aus der Maske ihrer Hände heraus zu mir auf

– Irgendeine Frage?

ich, die ich nie jemanden störe, ich bin gekommen, warum verstehe ich nicht

– Du musst einen Badeanzug tragen der dich da oben bedeckt

um mich vom Haus zu verabschieden, das uns schon nicht mehr gehört, ich empfinde, dass das Meer anders ist, die Kiefern anders sind, und verhalte mich befangen in den leeren Zimmern, gehe leise, zögere an den Türen

– Ob ich wohl eintreten darf?

dort, wo früher das Röhricht wuchs, ein Haus, zwei, und ein Junge, der bei einer umgekippten Gießkanne einen Tennisball gegen eine Mauer schlägt, ich bin auf die Straße gegangen, um Ernesto in den Müll zu stecken, zwischen zwei Säcke, so tief, wie ich konnte, man sah eines der Beine, ich holte einen Sack aus dem Mülleimer nebenan, und Ernesto existierte nicht mehr, als ein Krankenwagen die Straße heraufkam, die das Fahrrad immer zum Strand hinunterfuhr, schloss mein Vater uns im Zimmer meines tauben Bruders ein

– Kommt da nicht raus

man bekam mit, dass mehrere Personen im Wohnzimmer waren, dass ein Mann zu meinem Vater

– Unterzeichnen Sie hier neben dem X mit Bleistift

der Esel nur Zähne und steife Beine, während der Unterschrift meine Mutter mit der Stimme, die es im Inneren von Taschentüchern gibt

– Er hat immer geschworen dass er niemals in den Krieg zieht

dicht am Fenster richtete eine Amsel ihre Federn, beobachtete uns von der Seite und fuhr mit dem Putzen fort, wir voller Angst aneinandergeschmiegt, welches dieser Herzen ist meins, der Mann zu meinem Vater

– Schreiben Sie den Namen ordentlich es gibt nur das eine Formblatt

und ein Hammer, Turteltauben, die Pforte, die mit einem langgezogenen Schrammen mit einem Nagel den Beton aufritzt, alles verletzt mich heute, alles verwundet mich, meine Mutter immer noch im Taschentuch

– Ich fahre hinten mit davon bringt ihr mich nicht ab

der Krankenwagen fuhr weg, nicht zum Strand, sondern in Richtung des Landguts, auf dem ich nie jemanden gesehen habe, eine Kapelle, Olivenbäume, mein tauber Bruder drückte den Elefanten an seinen Bauch, mein nicht tauber Bruder

– Ich habe Hunger

die Amsel verschwand in bogenförmiger Eile, das erste Mal im Leben, so etwas Albernes, sehnte ich mich nach einem Vogel, keine Welle, keine Kiefer, wir drei saßen auf dem Bett, und die Hand eines von ihnen drückte feucht vor Schrecken meinen Arm, und ich wusste nicht, ob mein Blut mir gehörte oder verwirrt und aufgeregt von einem zum anderen floss, und da lächelte mich mein ältester Bruder an

– Mach dir keine Sorgen Kleine

oder aber

(der Mann billigend zu meinem Vater

– Nun ja die Unterschrift mag so hingehen

und ein verborgener Tadel

– Ist nun mal ein Säufer)

oder aber Schritte, erst auf dem Kies, dann der Stufe, dann im Haus, in den Fensterrahmen ein Kaktus mit einer roten Blüte, die zitternd alles erklärte, ich verstand nur einige versprengte Sätze, den Rest nicht, ich war interessiert

– Was?

der Kaktus

– Du bist zu jung um das zu verstehen

und schwieg, Sätze, in denen es um einen Körper mit ausgestreckten Beinen am Strand ging, nur Zähne, die Schritte im Inneren des Hauses näherten sich dem Zimmer, so dass nur noch der Fußboden existierte, nicht die Wände, nicht die Möbel, ein Ruckeln am Türgriff, ein zweites Ruckeln, die Nachbarin vom Sonnensegel feierlich

– Ich bleibe ein paar Tage hier bis eure Eltern zurückkommen

ich zu jung, um zu verstehen, dass mein ältester Bruder ertrunken ist, die Cousine der Sonnensegelnachbarin in der Küche, sie kam mit dem Herd nicht klar

– Ich kann mich nicht daran gewöhnen

öffnete Schränke und klappte sie wieder zu, zog kräftig Schubladen heraus

– Wo bewahren die bloß ihre Sachen auf?

mein Mann, der die Reineclaude halb aufgegessen hatte, wunderte sich mit vom Saft gelben Fingern

– Du willst dich vom Haus verabschieden?

und ich bin nicht elf, bin zweiundfünfzig Jahre alt, oder besser gesagt, ich bin elf und zweiundfünfzig Jahre alt, mit schwarzem Haar und mit blondem Haar über dem weißen Haar, begriff nicht, dass mein ältester Bruder ertrunken war, ich begriff das mit den Zähnen, den ausgestreckten Beinen und einem Wachstuch darüber, begriff den Tod nicht, die kreisenden Möwen erreichten die Baumwipfel, einmal abgesehen von einem Dutzend auf dem Dach des Casinos, mein Mann wischte die Finger an der Serviette ab, hatte dabei die Zungenspitze im Mundwinkel, was mich früher rührte, weil es ihn jünger machte, mich aber seit Ewigkeiten schon nicht mehr rührte, ich wäre dir sehr verbunden, wenn du die Zunge reinstecken würdest, danke

– Fahr wohin du willst aber ich brauche den Wagen

also kam ich mit dem Zug und mit dem Bus, bei den Bahnhöfen alte Gebäude, deren Fensterläden von Brettern ersetzt waren, ein Kind starrte mich aus einem winzigen Gemüsegarten an, bewegte den Arm in einem endlosen Bis-bald, nicht dem Bis-bald eines Menschen, dem Bis-bald einer Aufziehpuppe, wenn die Feder abgelaufen ist, wenn es nur die herausschauende Zunge wäre, der Arm hörte langsam auf sich zu bewegen, niemals

– Dein ältester Bruder ist ertrunken?

ich habe nie ernstere Augen gesehen, der Gemüsegarten rollte rückwärts, und ich verlor ihn, bekam dafür einen Friedhof, den ich ebenso verlor und in dem eine Gruppe Menschen meinen ältesten Bruder mit Hilfe von Seilen in die Erde hinabsenkte, weder war meine Mutter unter ihnen, noch redete mein Vater mit der im Jackenaufschlag versteckten Flasche, mein nicht tauber Bruder nahm die Keksdose

– Ich habe Hunger

die Sonnensegelnachbarin entwand ihm die Dose und stellte Teller auf den Tisch, wobei unsere Plätze und unsere Servietten vertauscht waren, ich hasse es, auf einem Stuhl zu sitzen, der nicht meiner ist

– Keine Angst du kriegst gleich was zu essen

der Stuhl meines ältesten Bruders für immer leer, meine Mutter legte die Hand auf die Sitzfläche

– Dieses Kreuz werde ich bis zu meinem Lebensende tragen

mein Vater kam, sich in den Teppich verheddernd, aus der Speisekammer, richtete sich auf

– Bring die Kinder nicht durcheinander genug ist genug

war bei seiner Rückkehr aus Lissabon schwarz gekleidet, hoffentlich lassen die Zigeuner nicht noch mehr Esel auf den Felsen zurück, wenn ein Stück Felsen abbricht, stürzen sie wieder ins Meer, und vielleicht ist es nicht mein ältester Bruder, vielleicht ist es dann mein tauber Bruder, oder vielleicht bin ich es, er hat immer geschworen, dass er nicht in den Krieg ziehen würde, was für einen Krieg, Mutter, mein Vater

– Du hast wohl was von einer Geschichte in Afrika gehört oder?

und man hörte die Wellen hinter seiner Stimme, eines Nachmittags, als er glaubte, ich würde ihn nicht sehen, erwischte ich meinen Vater vor dem Fahrrad meines ältesten Bruders in der Garage, wo sich das Gerüst einer Wiege, kaputte Gegenstände, Gerümpel häuften, als er bemerkte, dass ich da war

– Komm wir drehen eine Runde Kleine

mein Mann

– Du willst dich also vom Haus am Strand verabschieden

während ich die Reineclaude hasste, die Stücke in seinem Mund veränderten die Wangen, mein Vater und ich fuhren die Straße zum Strand hinunter, die Villen, der Krämerladen, das Café mit dem Tischfußball, in dem mein Vater ein Glas bestellte, und etwas in ihm, das ich verstehe und nicht verstehe, hinderte ihn daran zu trinken

– Später

sein Gesichtsausdruck brachte mich fast zum Schreien, ich habe seine Nase, seine Hände geerbt, meine Mutter zur Sonnensegelnachbarin

– Sie ist ganz der Vater

am Ende der Straße die Pension, deren Wände mit Muscheln überzogen waren, und anschließend der Sand, ganz der Vater, Gestalten mit Körben sammelten Miesmuscheln und kleine, fast durchsichtige Krebse in den Felsen, mein Vater setzte mich auf die Mauer und hielt mich fest, indem er den Arm um meinen Bauch schlang, die Tropfen der Wellen prickelten auf meiner Haut, die Fahne am Mast nicht grün, nicht gelb, sondern rot, ich wollte bitten

– Halten Sie mich nicht so fest Senhor

aber ich begriff, dass er mich so festhalten musste, nicht meinetwegen, seinetwegen, ich sagte nicht

– Sprechen Sie nicht über meinen ältesten Bruder

da ich wusste, dass er nicht reden würde, und der Beweis dafür, dass er nicht reden würde, bestand darin, dass ich mich kaum bewegen konnte, wie viele Gelegenheiten gibt es, in denen wir

– Vater

sagen sollten und es nicht tun, das Alto da Vigia Mariscos & Bebidas schon zerstört, Familien, die aus Henkeltöpfen aßen, zwei oder drei Hunde, den Kopf gesenkt, um die feine Duftspur zu finden, die ihnen weiterhelfen würde, ich bin hierhergekommen, um mich zu verabschieden, in der Hoffnung, die feine Duftspur zu finden, die mir weiterhelfen würde, aber nicht einmal die Kiefern antworten auf meine Fragen, die Kehle meines Vaters machte die Geräusche eines Menschen, der sein Leben mit sieben Schlössern wegschließt, ja, ich bin gekommen, um mich vom Haus zu verabschieden, und ich brauche das Auto nicht, ich brauche dich nicht, was weißt du von den Augen nachts hinter den Rollläden, den Stimmen, die meinen Namen wiederholen, ich brauche ein Kind, das mir aus einem Gemüsegarten zum Abschied winkt, bis der Zug mich zwingt, es zu verlieren, brauche meine Brüder, als sie klein waren, die Amseln, Ernesto, der auf das Nachttischchen zurückkommt und auf mich wartet, meinen Vater und mich auf den Stufen, auf denen die Leute die Schuhe ausschüttelten, bevor sie sie anzogen, meinen tauben Bruder vor dem Zimmer meines ältesten Bruders, wie er nicht wagte hineinzugehen, sie räumten seine Regale leer und nahmen seine Kleider mit, meine Mutter

– Ich will seinen Namen nie wieder hören

während mein Vater und ich am Teerstreifen entlanggingen, hätten Sie gern eine Flasche, brauchen Sie keine, Senhor, wollen Sie, dass ich eine für Sie hole, und er schweigend

– Nein

er schweigend

– Schämst du dich auch meinetwegen?

das tat ich nicht, ganz bestimmt nicht, selbst wenn er am Kopfende des Tisches saß und nicht aufstehen konnte, schämte ich mich nicht, ich habe ihn im Krankenhaus besucht, und er lächelte mich an

– Erinnerst du dich an die Welle Kleine?

als wir in der Woche nach dem, in der Woche darauf am Strand spazieren gingen, und du reichtest mir gerade bis zur Hüfte, ich habe nicht getrunken, nicht wahr, ich habe mich gut benommen, sei stolz auf mich, der Arzt

– Schauen Sie sich diese Laborergebnisse an alle rot kein einziges blau

keine Spur an der Stelle, wo der Körper gefunden wurde, und ich dachte mir, möglicherweise haben sie diesen Sohn gar nicht gehabt, am Ende der Besuchszeit drehte er sich zur Wand, um nicht zu sehen, wie ich wegging

– Kleine

und ein oder zwei Tage später war ich bei der Totenwache und bei der Beerdigung, unbekannte Verwandte, die mir die Hand drückten und Trostworte murmelten, Damen, von denen ich keine Ahnung hatte, wer sie waren, meine Mutter saß in Begleitung strenger Geschöpfe vor dem Sarg und den Kerzen, der Sarg kam unter Regenschirmen aus dem Lieferwagen, die Blumenkränze im Regen, ich im Regen, der Priester mit nassen Brillengläsern beeilte sich bei den Gebeten, mein tauber Bruder begrüßte die Leute nicht, wenn sie ihn berührten, rannte er weg, er war es, der die Fahrradreifen zerfetzt, die Klingel kaputtgemacht und den Sattel verdreht hat, das Wasser tropfte ihm von der Nase, nicht von den Augenlidern, er ging in eine Schule, in der man mit den Fingern und einem Geräusch in der Kehle miteinander redete, wie das meines Vaters im Sand, bei dem das Letzte, woran ich mich erinnere, der Nacken ist, der sich, ohne sich von uns zu verabschieden, zur Wand drehte, als alle Laborergebnisse rot waren und er einen Schlauch im Arm hatte, wer verabschiedet sich schon in dieser Familie, bevor er stirbt, wir gehen einfach, und das war’s dann, mein Mann

– Wann kommst du wieder?

und ich antwortete ihm nicht, möglicherweise komme ich gar nicht zurück, falle wie ein Kiefernzapfen vom Baum und bleibe dort im Hof liegen, die Weiden auf dem Friedhof schwer vom Regen, die Zähne meines ältesten Bruders tonnenschwer im Inneren der Erde, dies im Winter, als alle Lampen brannten und es dennoch dunkel war, ich würde gern andere Dinge schreiben, aber dazu bin ich außerstande, ich winke euch zu wie das Kind im Gemüsegarten, bis die Feder abgelaufen ist, mein Mann, während ich die Jacke anzog

– Der Vater trinkt bis er umfällt und die Tochter beschließt sich vom Haus zu verabschieden in das sie ewig keinen Fuß gesetzt hat wie konnte ich mich nur mit solchen Leuten einlassen?

und während ich auf den Fahrstuhl wartete, hörte ich, wie Geschirr zerschellte, aber was hinter der Fußmatte geschah, ging mich nichts mehr an, im Spiegel eine Frau mit blondem Haar, bei der ich lange brauchte, bis ich erkannte, dass ich es war, hätte ich ein Kind, würde ich es nicht mitnehmen, würde ich es vergessen, und da fiel mir das Nilpferd ein, das seine Füllung verlor, meine Mutter schickte mich, Watte aus dem Medizinschrank zu holen, und steckte ein Stück in das Nilpferd, sie bat um das Nähkästchen mit dieser grauenhaften Schere, mit der die Nägel geschnitten wurden, nähte es zu, und während sie es zunähte, es mag merkwürdig erscheinen, setzte sie mich auf ihren Schoß, ohne zu fragen

– Wie lange hast du schon nicht mehr gebadet?

ich lehnte mich an ihren Hals, und der Regen aller Beerdigungen hörte auf, mein Vater und ich gingen auf einem anderen Weg vom Strand um das Stadtviertel herum zurück, sein Schatten kam immer früher als meiner auf den Unebenheiten des Bodens an, hin und wieder blieben wir stehen, damit mein Vater schwer atmend die Lunge hinter den Rippen zurechtrücken konnte, und jedes Mal waren die Wellen weiter weg, meine Mutter kappte den Faden mit dem Mund und übergab mir Ernesto, klappte das Nähkästchen zu

– Na wie findest du ihn?

machte die Wattedose zu und gab mir beides

– Stell die wieder an ihren Platz zurück

will heißen das Nähkästchen auf das Bügelbrett und die Watte neben die Pflaster, es machte mich traurig, dass da keine Wunde war, um eines davon auf das Knie zu kleben und humpelnd den Respekt meiner Brüder zu gewinnen, in den Kaltwasserhahn war ein Q, in den Warmwasserhahn ein F eingraviert, er tropfte unermüdlich, so sehr wir ihn auch zudrehten, mein Vater

– Ich werde demnächst mal das Gummi auswechseln

wenn wir ihn darauf aufmerksam machten, Wochen später

– Tatsächlich das hatte ich ganz vergessen

und er verschwand in der Zeitung, in der es keine Zeichnungen gab, nur Worte und Fotos von alten Herren, die alle Minister hießen, als ich ins Wohnzimmer zurückkam, wiegte meine Mutter, die mich nicht bemerkt hatte, Ernesto und streichelte ihn, als sie mich kommen sah, reichte sie ihn mir sofort

– Ich bin wohl ganz blöd geworden

und ihre Lippe war so etwas wie eine Träne, man konnte sehen, dass sich in ihrem Kopf ein Karussell mit Giraffen und Pferden aus Holz und schwankenden, knackenden Holzbohlen drehte, während eine ungeheure Stimme in einem Lautsprecher

– Drehn Sie ’ne Runde hier ist’s am schönsten

und der Typ von der Todeswand mit Motorradhelm gab Gas auf einem Podium

– Erinnern Sie sich an das Karussell Mutter?

ihre Erinnerung glücklich, voller Giraffen, hätte mein ältester Bruder mich nicht eingeladen

– Kleine

würden wir beide hoch oben auf den Tieren sitzen, ängstlich und glücklich strahlend ruckelnde Runden drehen, ich erinnere mich an ihren Vater, wie er in seinen Ärmel hustete, ich erinnere mich an ihre Mutter, die, sehr dick, am Spazierstock hochkletterte, um das Sofa zu verlassen, ich fragte

– Möchten Sie dass ich Ihnen Ernesteo für ein oder zwei Nächte leihe?

und meine Mutter zögerte, nehme ich an, nehme ich nicht an, starrte das Nilpferd an, starrte mich an, stützte sich fester auf die Giraffe aus Holz, die sich zu drehen begann, meine Mutter wuchs plötzlich, klappte die Brille zusammen, die sie zum Nähen brauchte, steckte sie in das Etui, legte das Etui auf die Armlehne des Sessels und befahl

– Verschwinde

während der Typ von der Todeswand, in den sie bis zum Alter von zwölf Jahren verliebt war, ihr Lächeln ignorierte und auf dem Podium Gas gab.

2.

Sterben ist, dass es am Tisch einen Platz zu viel gibt und man die Stühle etwas mehr auseinanderstellt, um es zu kaschieren, man spürt das Unbehagen der Abwesenheit, weil das Bild weiter links und die Anrichte weiter weg ist, vor allem das Bild weiter links, und das Loch des ersten Nagels, an dem der Rahmen nicht aufgehängt wurde, zu sehen ist, man redet anders, wartet auf eine Stimme, die nicht kommt, man isst anders, lässt eine Portion, die niemand isst, in der Schüssel zurück, die benachbarten Ellenbogen stören unsere nicht mehr, und es fehlt uns, dass sie unsere nicht stören, meine Mutter zu meinem nicht tauben Bruder, der noch nicht nach Afrika gegangen und angegriffen aus dem Krieg zurückgekommen war, indem sie auf seinen Handrücken schlug

– Glaubst du dass man so die Gabel hält?

mein Vater zerbröselte eine Scheibe Brot auf dem Tischtuch, ohne das Brot wahrzunehmen, er nahm den Platz wahr, den es neben ihm hätte geben müssen, und der Flaschenhals zitterte am Glas, man hörte das Meer nicht, man hörte in der Villa hinter unserem Haus einen Presslufthammer, der den Fußboden auseinandernahm und den Frieden des Wassers im Krug veränderte, meine Mutter sagte

– Wenn ich wenigstens

und schwieg dann, weil der Gesichtsausdruck meines Vaters ihr befahl

– Es reicht

mein tauber Bruder vor einem Tablett mit aufgedruckten kleinen Kühen, eine Serviette um den Hals und Reiskörner am Kinn, der Motorradfahrer, der auf dem Podium vor der Todeswand Gas gab, erschien und verschwand, eine Giraffe aus Holz lugte über die Fensterbank, wiegte sich, näherte ein Auge mit riesigen Wimpern, die Stimme vom Lautsprecher war ausgeschaltet, die Musik leiser als die Kiefern, mein nicht tauber Bruder kam mit dem Besteck nicht zurecht, und der Fisch rutschte von der Gabel, meine Mutter hielt die Tränen hinter den Lidern im Gleichgewicht, runzelte die Stirn, entrunzelte sie

– Ein Junge von achtzehn Jahren mein Gott

die Giraffe verschwand unter Zuckungen von der Fensterbank, seit ich dich geheiratet habe, bin ich nicht glücklich, der Alkohol, die Arbeitslosigkeiten, die Schulden, ausgeschlossen, dass die Kinder das nicht mitbekommen, ich zu ihr, ebenfalls in mir

– Was nicht mitbekommen?

und die Scheibe Brot meines Vater schnell zerbröselt, einige Fingernägel länger als die anderen, das Hemd fleckig, Augen, die mal sahen, dann wieder nicht sahen, mich sahen sie

– Kleine

die Gesichtszüge von früher kamen zurück, diese Leidenschaft für die Tochter, Herrschaften, mein Vater, der mich nicht küsste, ich verdiene es nicht, sie zu küssen, ich war sicher, dass mein tauber Bruder alles bemerkte, er erfühlte die stummen Stimmen, die nicht aufhören, nicht aufhören, so viele Leute, die im Inneren der Menschen reden, der Wunsch, sich die Ohren zuzuhalten

– Lasst mich

nur mein ältester Bruder schwieg, obwohl er mit uns am Tisch saß, die Gegenwart eines, der nicht da ist, erschreckt mich, sein Stuhl gleichzeitig an die Wand gestellt und dort, hin und wieder machte er mir ein kleines Zeichen

– Mach dir keine Sorgen

obwohl ihn die Wellen zum Strand hinschoben, da ein Arm, dann der andere, dann die zerrissene Hose, meine Mutter nahm mit dem Knick in der Serviette die Reiskörner vom Kinn meines tauben Bruders

– Nach wem kommt bloß dieser Unglücksrabe?

und der Fußboden in Frieden, weil die Arbeiter mit dem Presslufthammer rauchten, als der Vater meiner Mutter noch kein Foto war, rieb ich kräftig die Wange ab, nachdem ich ihn begrüßt hatte, um mich vom Schnurrbart zu befreien, doch selbst wenn ich mich im Spiegel versicherte, dass die Wange sauber war, piekste mich der Schnurrbart weiter, die einzige Freundlichkeit, die er zu mir sagte

– Schlaumeierin

musste durch jede Menge Haare hindurch, die nach Zigarette und Suppe rochen, bis mich das

– Schlaumeierin

erreichte, dem ein paar braune Zähne den Glanz raubten, der Vater meiner Mutter bewegte sich vorwärts, indem er Scharniere, keine Gelenke, in Aktion versetzte, denen Öl fehlte und die auf halbem Wege zu klemmen begannen, wie der hölzerne Seemann meines nicht tauben Bruders, dessen, der angegriffen aus dem Krieg zurückkam und wer weiß wo wohnte, der Seemann ging langsam, entschlossen auf die Kommode zu, stieß dagegen, fiel um, und obwohl er umgefallen war, marschierte er im Leeren weiter, meine Mutter seufzte im Inneren ihres Fettes

– Ich hatte einen blinden Hund als ich klein war

aber an andere Sätze erinnere ich mich nicht, ich erinnere mich an den Ehering, den man nicht, hör mal, das Meer ruft mich, vom Finger ziehen konnte, und an die Armbanduhr mit römischen Zeigern, die sie nicht aufzog, elf Uhr zwanzig gaben sie an, die Küchenuhr, die sich ebenfalls nicht bewegen ließ, sechs Uhr vierzehn, und eine weitere unter einem Glassturz mit einem Paar Bronzeengelchen, die das Zifferblatt hielten, stand immer auf zwei Uhr achtundfünfzig, wie vielgestaltig die Zeit doch ist, der Schnurrbart und der blinde Hund

– Sie haben ihm eine Spritze gegeben als ich ihn auf dem Schoß hatte

verwirrten mich, zu welchem Zeitpunkt haben sie gelebt, zu welchem Zeitpunkt lebe ich, und wie alt bin ich, wenn ich dort bin, meine Mutter

– Zieh ihn mal an

ein Damenbadeanzug, den ich mich anzuziehen weigerte

– Ich will das da nicht anziehen ich will nicht erwachsen sein

die Kiefern zu mir

– Du bist doch Lehrerin nicht wahr?

auf dem zerkratzten Deckel der Keksdose, die sie uns hinhielten, eine Kutsche mit einer Prinzessin darin oder, besser gesagt, dem Mädchen vom Trapez, das mit einer Krone geschmückt war und mir versicherte

– Wir sind Freundinnen das schwöre ich

und obwohl ich Appetit darauf hatte, lehnte ich die Kekse ab, damit sie in den Augenblicken, in denen man nachts Hunger bekommt, etwas zu essen hatte und die Dose nicht leer vorfand, ich gebe den Kiefern verschämt zu

– Ja Lehrerin

in der Gewissheit, dass sie mir nicht glauben würden, es gibt keine Lehrerinnen im Alter von elf und zwanzig oder sechs und vierzehn oder zwei und achtundfünfzig, mit einem Küchenhandtuch um den Hals

– Ich habe immer noch nicht herausgefunden wie du es schaffst dich ständig zu bekleckern

der Spazierstock meiner Großmutter durchlöcherte, während er sie mühsam mit sich schleppte, den Fußboden, ich sollte den Spazierstock küssen, nicht sie, meine Großmutter ein riesiges Etwas, das der Spazierstock benutzte, sterben ist, wenn es am Tisch einen Platz zu viel gibt, was die etwas mehr auseinandergestellten Stühle kaschieren, und wir darauf warten, dass mein ältester Bruder erscheint und sich unschlüssig wundert

– Und wo soll ich jetzt sitzen?

manchmal stelle ich ihm den Abendbrotteller hin, mein Ehemann

– Haben wir Besuch?

ich

– Ja haben wir

ohne auf die Pause zu hören, die allmählich zu Zorn wird, oder den Teller auf dem Fußboden, mein Mann, während er das Besteck und das Glas zusammenfegt

– Würdest du mir vielleicht mal erklären wen du eingeladen hast?

dabei wusste ich ganz genau, dass es der älteste Bruder war, um den ich mich nicht rechtzeitig gekümmert habe, dem Tauben habe ich eine Arbeit vorgeschlagen, dem Verrückten bezahle ich das Zimmer, der Mutter überweise ich jeden Monat Geld, der älteste Bruder, der wegen des Krieges in Afrika vor Ewigkeiten ins Meer gegangen ist, hätte ich damals schon zur Familie gehört, wäre mir wohl nichts anderes übrig geblieben, als ihn aus den Wellen herauszuholen, dessen Verwandschaft unterhalte ich, und meine Frau dankt mir das mit solchem Blödsinn, ein Teller für den Verstorbenen, und ich zahle, denn das Lehrergehalt ist ein Witz, was habe ich bloß in ihr gesehen, als wir uns kennengelernt haben, schlampige Kleidung, die Manie, sich mit den Gegenständen zu unterhalten, als sie schwanger wurde, hat sie sich in der Stelle geirrt, an die man das Kind hintut, am Ende der Operation der Doktor

– Sie kann keine Kinder mehr bekommen

ich

– Du kannst keine Kinder mehr bekommen

und sie schlummerte im Bett, der einzige Satz, den ich sie sagen hörte

– Ist es nun elf Uhr zwanzig oder sechs Uhr vierzehn?

und sie wandte das Gesicht ab

– Nicht mit dem Schnurrbart

und jetzt fährt sie allein an den Strand, um sich von einer leeren Ruine zu verabschieden, sucht die Vergangenheit in den Kiefern oder, besser gesagt, einen betrunkenen Vater, der ihr

– Kleine

zuflüstert, ein Nilpferd, das sie in den Müll geworfen hat, und ich ertrage, ohne dass ich dazu verpflichtet wäre, ihre Familie, ein billiges Strandhaus am höchsten Punkt eines Kaffs, in dem das Fahrrad des besagten ältesten Bruders, sie

– Er hat mich immer auf der Querstange mitgenommen

in der Garage vergammelte, meine Mutter sah plötzlich viel größer aus und hielt ein Paar blaue Träger hoch

– Halt den Mund und zieh diesen Badeanzug an

ich hatte Angst, mein Vater könnte, glücklich mit dem Grund einer Flasche in der Speisekammer, aufhören mich wahrzunehmen, weil ich groß war, obwohl er mich am Eingang zu meinem Zimmer erkannte, und ich glücklich, für Sie bin ich die Kleine

– Eine Dame bravo Kleine

während der Wasserhahn, der ein neues Gummi brauchte, Explosionen in das Waschbecken tropfte, meine Mutter

– Hätte ich Geld hätte ich ihn schon vor Monaten reparieren lassen

und plötzlich der entsetzliche Verdacht

– Sind wir arme Leute?

solche, die ihre Schuhe anmalen, anstatt sie mit Schuhcreme zu putzen, und sich, wenn sie essen, mit den Ellenbogen gegen die Gier der anderen verteidigen, ein Äpfelchen auf dem verglasten Balkon, Kerne und alles, ich unterrichte Portugiesisch in einer Schule, während ich vor Angst um mich blicke, jemand könnte es mir stehlen, der Apfel bis auf den Stiel aufgegessen, der ebenfalls gekaut wird, und die Inspektion des Topfes, der in der Hoffnung auf einen Rest Suppe vom Vortag von einer Seite zur anderen schräg gehalten wird, würden sie die Dose der Trapezkünstlerin entdecken, würden sie sie leeressen, und die Trapezkünstlerin zu mir, die Schüler respektieren mich nicht

– Was mache ich nun wenn ich mitten in der Nacht aufwache?

wenn ich mitten in der Nacht aufwache, habe ich das Meer, einmal ganz abgesehen von Ernesto, die ganze Zeit herrscht Lärm, sie stehen auf, setzen sich, die Trapezkünstlerin, verendende Löwen und schimpfende Clowns ohne Nase, wenn sie alt ist, wird sie mit Armbändern behängt in das Kassenhäuschen gesetzt oder hilft dem Zauberer, der Tauben aus seinen leeren Händen zieht, ihren Kopf mit der Fingerspitze glättet, bis der Presslufthammer seine Arbeit wieder aufnahm, meine Gedanken durcheinanderbrachte, und die Welt hüpfte um mich herum, verrückte meine Erinnerungen, mein nicht tauber Bruder in einem Schiff nach Afrika mit Hunderten Kollegen in grüner Uniform, noch ohne große Zähne und ausgestreckte Beine, das im Januar in der Kälte, der Tejo grau, Unrat schaukelnd, ich erinnere mich an einen Weidenkorb und an Möwenkadaver, würden sie nur aufstehen und sich setzen, sie ahmen Tiere nach, lachen, ich habe meinen nicht tauben Bruder an der Reling nicht erkennen können, ich weiß nicht, ob das am Nebel oder an einem Schlepper lag, der einen Passagierdampfer zog, meine Mutter schickte ihm Pralinen, Konserven, falls die Sonnensegelnachbarin in der Nähe war

– Sehen Sie was für ein Kreuz ich tragen muss?

an einem Morgen in Alcântara mit den Ärmeln wedelnd, bis da nur noch der Fluss war, meinen nicht tauben Bruder gibt es nicht mehr, es gibt das Wasser und die Vögel, die meisten geschützt im Winkel eines Lagerschuppens, die Leute auf dem Kai gingen fort, und ich ledig, es gab ein Foto meines Vaters, wenn mich jemand fragte, ob ich mit ihm gehen wollte, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung, in Uniform, oder ich antwortete

– Darüber reden wir später

in einem Album, und darunter stand In Tomar, mit einem Datum, das nicht zu erkennen war, da ein Zeigefinger auf der frischen Tinte, zwei Kerle mit ihm an einer Tür, die Krankenstation verkündete, mein Vater

– Der hier ist Fernandes und der da das Gedächtnis hat so seine Tücken mir wird gleich wieder einfallen wie der hieß

am nächsten Tag, beim Abendessen, ein triumphierender Ausruf

– Osório?

bis das Album aus der Schublade gebracht wurde, der kleine Finger auf dem Foto

– Der Osório

und eine Geschichte voller Nebenflüsse und Verzweigungen, in der wir uns verloren und in der es darum ging, wie Osório sich auf dem Schießstand ein Fingerglied zerquetscht hat, ihm wurde der Ringfinger amputiert, und er hat mit dem Ehering am kleinen Finger geheiratet, mein Vater siegreich

– Die Braut hieß Cândida der Trauzeuge Abel

die nachdenkliche Frage

– Was wohl aus Osório geworden ist?

das Leben Osórios, das Schicksal Osórios, Osório höchstpersönlich mitten auf der Gasse mit einem Lamm, unbehaglich, schüchtern

– Verzeihung

hätte sich gern im Album aufgelöst und verbarg den fehlenden Finger unter der anderen Hand, das Album, das bei Tisch aufgeschlagen wurde, bedeckte mehrere Teller, meine Mutter

– Da ist eine tote Mücke auf dieser Seite

und Osório wurde auf der Seite immer kleiner, während meine Mutter, den Stuhl zurückschiebend, aufstand

– Das Tier hat mir den Appetit verdorben

Osório, der sich schämte, und tatsächlich, bei jeder Geste ein Finger zu wenig

– Eine Mücke aus Tomar?

die Leute gingen, und wir immer noch auf dem Kai, überzeugt davon, dass das Schiff zurückkehren würde, oder zumindest hatte meine Mutter die Hoffnung, dass das Schiff zurückkehren würde

– Es kann ja einen Maschinenschaden haben

mein Vater transportierte Osório und Fernandes zur Schublade und dachte dabei an Tomar und die Hochzeit, Fernandes und er wurden rausgeworfen, als die Toasts ausgesprochen wurden, und schubsten sich rempelnd die Avenida entlang, mal dickste Freunde, mal schlimmste Feinde, Fernandes übergab sich kniend auf dem Platz, mein Vater sang, half ihm, sich wieder aufzurichten, und dann übergaben sich beide, Versprechen, bis zum Ende des Wehrdienstes zusammenzubleiben, aber sie haben sich nie wiedergesehen, er schrieb ihm nach ein paar Monaten, doch der Brief kam zurück, Wohnt nicht hier, mein Vater betrachtete den Umschlag misstrauisch

– Er hat mir die falsche Adresse gegeben

und dann kam meine Mutter, kamen die Kinder und dann die Jobs, Mitteilungen von Vorgesetzten, Mitteilungen von Kunden, grimmige Chefs, die mit dem Bleistift auf den Tisch klopften

– Machen Sie denn keine Therapie?

eine bescheidenere Anstellung, noch eine andere Anstellung, als meine Tochter geboren wurde und sie mir sagten, es sei eine Tochter, habe ich geschworen, dass, der hier ist Fernandes, der da drüben, das Gedächtnis hat so seine Tücken, wie launisch der Kopf doch ist, es wird mir gleich wieder einfallen, habe ich zwei Monate nicht getrunken, drei, zwei Monate und ein paar Tage, nicht viele, zwei Monate und sechs oder sieben Tage, und eine Unruhe, ein Durst, ich redete mit meiner Tochter in der Wiege, überzeugt davon, dass sie mich hörte, auch im Schlaf

– Ich schaffe es nicht

am Ende habe ich eine Flasche mit ins Reisebüro genommen, das mich als Buchhalter angestellt hatte, nur um sie anzuschauen, ich öffnete die Schublade und schloss sie gleich wieder, eines Nachmittags habe ich das Siegel abgenommen, an einem anderen das Plastik, das den Korken schützt, an einem anderen Nachmittag passierte wer weiß was mit der Telefonistin, der Direktor pflanzte die Flasche auf dem Schreibtisch auf

– Sie dreckiges Schwein

die Telefonistin bei ihm, mit hängenden Haarklammern und etwas, das so aussah wie ein Riss in der Bluse, unter dem man die Haut sah

– Habe ich es nicht gesagt?

unten rechtfertigen sich die Wellen wegen meines ältesten Bruders

– Wir hatten keine Schuld

mir ist nicht wichtig, dass ich keine Kinder habe, wichtig ist mir die Stimme der Kiefern, mir ist so, als ob die Amseln, meine Mutter willigte ein, zum Tisch zurückzukehren, nachdem das Tischtuch ausgewechselt worden war, und Osório zu meinem Vater

– Hättest du mir Bescheid gesagt hätte ich niemanden genervt

sterben ist, wenn es am Tisch einen Platz zu viel gibt, und im Kopf meines Vaters Leere, er allein, jetzt verstehe ich, warum Sie uns den Rücken zugekehrt haben, Senhor, niemand war bei Ihnen, als Sie eine Mücke aus einem Album geholt haben, und ein paar Rekruten, die die Zeit ausgelöscht hatte, die Überzeugung, dass Amseln beim Brunnen sind, da ein Busch zittert, als ich klein war, redeten die Büsche ständig, jetzt zittern sie nur noch, einmal peitschte eine Schlange durchs Unkraut, die Zunge ging rein und raus wie mein Mann in bestimmten Nächten, und ich voller Angst vor ihm

– Nein

starrte an die Decke

– Nein

mein Vater nur

– Kleine

mein Mann durchbohrte mich, Umarmungen, Gebrummel, das Kopfteil des Bettes schief, einer meiner Schuhe noch am Fuß

– Warte

ich begriff nicht, warum die Blumen still in den Vasen standen, die Schale mit den Ketten ruhig war, das Gebrummel immer lauter, Knie, die sich in meine hakten, einer meiner Ohrringe sprang aus dem Ohr, und wo war das Gegenstück, ich nahm an, in einer Betttuchfalte, und ich verlor es, die Lippen, ohne dass ich es ihnen erlaubt hätte

– Tu mir nicht weh

überrascht, dass sie sprachen, die Schlange peitschte nicht im Unkraut, und dann auch nicht in mir, lag neben mir auf der Matratze, mein ältester Bruder warf einen Stein auf sie und brachte sie an einem Stock schaukelnd, ich habe keinen einzigen Stein geworfen, suchte auf allen vieren das Gegenstück, dachte dabei, ich sehe immer schlechter, und der Arzt befahl mir, Großbuchstaben auf einem leuchtenden Rechteck zu entziffern, ich hob Kissen an, untersuchte die Decke, wie die Gegenstände einfach aus Bosheit verschwinden, nahm die Lampe, die einem hin und wieder auch aus Bosheit einen Schlag versetzte, um unter die Matratze zu schauen, Staub, eine Küchenschabe, die Beine hochgereckt, eine Kugelschreiberkappe mit Bissspuren, was mich wunderte, da ich nicht beiße, das Gegenstück am Ende auf dem Matratzenschutz, es ist dorthin geflüchtet, während ich den Fußboden inspiziert habe, ich habe herausbekommen, dass mein tauber Bruder mich im Strandhaus beobachtete, wenn ich mich auszog, ich hörte seinen Atem, riss die Tür auf, und er rannte weg, von da an starrte er mich perplex an, entweder habe ich was zu viel oder sie was zu wenig, steckte die Finger in seine kurzen Hosen und verglich sich mit mir, wer von uns beiden ist nicht normal, meine Mutter bedrohte ihn mit der Schere, und mein tauber Bruder, auf Knien, struppig, immer wenn eine läufige Hündin am Strand war, begleitete er die anderen Hunde hinter ihr, wollte begreifen, selbst bei geschlossenem Album hörte man Osório, mein Vater

– Das stimmt das ist Osório

entschuldigte sich

– Ich habe die Mücke nicht gesehen Senhora

mein Vater aus Freundschaft

– Ihn trifft keine Schuld den Armen

ich bin gekommen, um mich von diesem Haus zu verabschieden oder mich von meinem ältesten Bruder zu verabschieden oder mich von mir zu verabschieden, es war der achtundzwanzigste August, als er oder der Esel im Meer, die Beete zerstört, ein Bein des Waschtrogs zerbrochen, seit wie vielen Jahren habe ich die Kiefern nicht mehr gehört, und ich werde sie nicht wieder hören, nur die Schüler in Lissabon und die Dame aus dem dritten Stock, die mit sich selber über das Elend des Lebens redete und die hin und wieder von der Zwillingsschwester besucht wurde, mit Hütchen und einem Päckchen trockenem Gebäck, das an der Schleife eines Bindfadens vom Finger hing, sie stritten darüber, wem das Besteck der Eltern gehörte, bis die mit dem Hütchen, achtundzwanzigster August, wütend abzog, einmal hat sie mir das Päckchen mit dem Gebäck gegeben, das sie nicht vom Finger bekam

– Iss du sie Kleine

und mein Vater half ihr beim Bindfaden, brachte ihn aber noch mehr durcheinander, die Nachbarin machte sich jeden Dienstag ins Heim auf, ebenfalls mit Hütchen und Gebäck

– Wie geht es dir Alfredo?

und der Mann, mit riesigem rechtem Auge, maß sie voller Hass, er geht nicht, spricht nicht, rundet das Auge in stummem Lodern, ich habe mir nie vorgestellt, dass es so viel Zorn geben kann, eine Angestellte servierte ihm den Nachmittagstee, und beim Schlucken wurde das Auge größer, vielleicht wohnt mein nicht tauber Bruder in irgendeiner Bruchbude, irgendwann werde ich auf dem Bürgersteig auf ihn treffen, wo er auf mich wartet, der Ehemann macht einen Satz, und die Nachbarin und ich weichen erschrocken zurück, das Besteck

– Ich sterbe lieber als dass ich da nachgebe

ein halbes Dutzend angelaufene Besteckteile in einem Etui

– Das Hochzeitsgeschenk meiner Eltern vom Herrn Staatssekretär

wobei ich versuchte mir vorzustellen, was Staatssekretär bedeutete, die Nachbarin wies auf einen würdigen Herrn an der Wand

– Seit er gestorben ist verkümmert Portugal

und der Herr stimmte ihr zu, achtundzwanzigster August, obwohl ich noch klein war, habe ich das Datum nicht vergessen, mit voller, autoritärer Stimme, die einst das Land entfaltete

– Das stimmt

das Besteck nicht einmal aus Silber, aus Zinn, wie der Ehemann wohl war, bevor das Auge wuchs, der laut Nachbarin nur um ein Haar nicht Ingenieur wurde, ich bin gekommen, um mich von mir zu verabschieden, das erste Mal, als, mit zwölf oder dreizehn Jahren, habe ich das Unterhöschen im Sand vergraben, damit meine Mutter es nicht merkte, aber sie hat es gemerkt, hat sich mit mir im Badezimmer eingeschlossen, und ich dachte

– Sie wird mir die Leviten lesen

und sie

– Was hast du mit dem Unterhöschen gemacht?

nicht

– Kleine

wie mein Vater, nur

– Was hast du mit dem Unterhöschen gemacht?

am nächsten Morgen habe ich am Strand, dort, wo ich es gelassen habe, gegraben, aber es war nicht da, in meinem Bauch mahlte etwas, kein Schmerz, ein Pieksen, und die Vorstellung, dass meine Knochen breiter waren, wer bin ich jetzt, sollte mein Vater

– Kleine

was antworte ich ihm dann, ich habe nicht den Mut, es zu sagen, man muss den Geruch wahrnehmen, denn es riecht, mein tauber Bruder mied mich, mir folgten die Hunde über den Sand, ich wäre gern nicht ich gewesen, ich hätte mich gern versteckt, ich wäre gern geflohen

– Wenn ich mich an den Tisch setze werden sie es merken?

mein ältester Bruder hinterließ einen an den Krug gelehnten Brief, Einberufung im übernächsten Monat, der Briefträger hatte meiner Mutter die Empfangsbestätigung übergeben

– Sie müssen die Uhrzeit darauf vermerken Senhora

die sie lange las, am siebten Oktober um neun Uhr erscheinen, rollte eine Haarsträhne um den kleinen Finger, meine Mutter zögerte mit dem Stift

– Die Uhrzeit zu der er aufbricht?

nicht mit dem Kugelschreiber meiner Mutter, sondern mit dem, der mit einem Band am Rockaufschlag des Briefträgers befestigt war, wahrscheinlich habe ich die Kappe von diesem Stift unter dem Bett gefunden, sterben ist, wenn es einen Platz zu viel am Tisch gibt, als er aus der Schule kam, mein ältester Bruder

– Was ist das?

selbst wenn man die Stühle ein wenig auseinanderstellt, bemerkt man die Abwesenheit, weil das Bild mehr links und die Anrichte weiter weg ist, mein ältester Bruder

– Ich werde in überhaupt keinen Krieg ziehen

vor allem das Bild hängt weiter links, und das Loch vom ersten Nagel ist zu sehen, an dem der Rahmen nicht hing, mein ältester Bruder wandte sich einen Augenblick lang mir zu und kehrte dann zum Einberufungsbefehl zurück, zuvor hatte ein Bekannter meines Vaters, der eine mysteriöse Anstellung hatte und die Leute in der Pastelaria Tebas zum Schweigen brachte, gewarnt

– Wenn Ihr Junge weiter gegen unser Land konspiriert könnten wir möglicherweise ungemütlich werden

mein ältester Bruder wurde rot

– Das muss eine Verwechslung sein

er hatte Papiere unter der Wäsche in der Schublade, ein Freund im Blaumann wartete an einer Ecke auf ihn, ein kurzes Telefonklingeln, mein ältester Bruder

– Ich komme gleich

und ein Wagen erwartete ihn auf dem Platz, mein Vater auf dem Weg zur Speisekammer

– Wo steckst du mit drin?

und die Flaschen stießen gegeneinander, eine Kiste knackte, eine Konservendose fiel zu Boden, meine Mutter

– Schämst du dich nicht?

die Gewissheit, dass alle wussten, was mit mir los war und über mich redeten, mich beobachteten, parfümierte man sich, wurde der Geruch noch stärker, man spricht anders, hofft auf eine Stimme, die nicht kommt, man isst anders, lässt etwas in der Schüssel, aus der niemand sich bedient, die Ellenbogen der anderen behindern unsere nicht, und es fehlt uns, dass sie unsere behindern, ich schnupperte an meiner Mutter und an Dona Alice und fand nichts, Dona Alice, die vergaß, die Betttücher in die Maschine zu stopfen, zu mir, während sie ihrerseits an ihrer Schürze, ihren Armen schnupperte

– Irgendwas Komisches?

der Neffe mit der Wanderniere zusammengesunken auf einer Bank, weil ihn das Gehen ermüdete

– Sie haben ihn im Krankenhaus nicht operiert

mein ältester Bruder zerriss den Einberufungsbescheid, und meine Mutter

– Bist du wahnsinnig?

mein Vater, der aus der Speisekammer zurückkam, sah das, runzelte die Stirn, regte sich nicht mit uns auf, las die Zeitung, betrachtete die Zimmerdecke oder zerbröselte eine Scheibe Brot auf dem Tischtuch, ohne auf das Brot zu achten, mein tauber Bruder hörte auf, vom Tablett zu essen, und artikulierte in einem monotonen, langsamen Tonfall, der dem einer Puppe ähnelte, einen Satz

– Tutet Titi tadelt Tata

dabei mühte er die Kehle und hörte atemlos auf, meine Mutter leise, im Tonfall, der Tränen vorausgeht

– Mein Gott

kämpfte dagegen, dass sie aufstiegen, aß sie zusammen mit dem Braten, man bemerkte, dass es Tränen waren, denn sie kaute Wasser, das Achterkarussell verloren, der Typ von der Todeswand verlassen auf dem Podium, das Motorrad eine Leiche

– Die Maschine hat den Geist aufgegeben

keine Haartolle, als er den Helm abnahm, meine Mutter enttäuscht

– Er ist so alt

ihm fehlte ein Eckzahn, er ließ sich ein Vögelchen im Brot vom Essensstand geben, erklärte dem Besitzer vom Kabinett mit den Spiegeln

– Lachen Sie Herrschaften lachen Sie

die die Leute verformten

– Da hilft nur noch beten

meine Mutter blieb starr stehen, der Kopf riesig, der Körper winzig oder alles spindeldürr, während eine Platte mit freudlosem Gelächter, so eines, wie wenn man gekitzelt wird und man sich windet, letztlich immer dieselbe, Rillen überspringend die Kunden verschreckte, halte die Großmutter fest, Mutter, halte ihre Beine fest

– Bin ich so wie da Senhora?