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Ein aberwitziges Spektakel um Gewalt von unten wie von oben.
Im Portugal der Achtziger kämpfen revolutionäre Zellen für den Sozialismus. Als ein Bombenleger verhaftet wird, setzt man einen Ermittlungsrichter auf ihn an, der ihn noch aus der Kindheit kennt. Doch das Verhör zwischen Richter und Terrorist läuft aus dem Ruder, Erinnerungen werden übermächtig, andere Stimmen drängen sich dazwischen, bis niemand mehr weiß, wer wem die Fragen stellt.
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Seitenzahl: 626
Veröffentlichungsjahr: 2024
Fünf Revolutionäre legen Ende der achtziger Jahre Bomben in Portugal: ein Student, ein Priester, eine Altenheimbesitzerin, ein Künstler und ein Mann namens Antunes. Als letzterer verhaftet wird, soll ihn ein Richter, der ihn aus der Kindheit kennt, verhören – der Richter war Sohn des Hausmeisters auf dem Anwesen der Antunes in Benfica. Doch die Erinnerungen, einmal hervorgeholt, werden übermächtig, und das Verhör gleicht bald einem Gespräch unter zerstrittenen Liebenden, die endlich abrechnen. Derweil verzettelt sich das Terroristenhäufchen in immer absurderen Aktionen, die Polizei jagt falschen Spuren nach. Ein aberwitziges Spektakel um Gewalt, eine subtile Studie über die Macht der Erinnerung, erzählt von verschiedenen Stimmen.
Geboren 1942 in Lissabon, studierte Lobo Antunes Medizin und wurde Chirurg. Während des Kolonialkrieges war er 27 Monate lang als Militärarzt in Angola. Danach arbeitete er in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Seine Werke sind in über dreißig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Leidenschaften der Seele bildet mit Die natürliche Ordnung der Dinge und Der Tod des Carlos Gardel die Benfica-Trilogie.
Elefantengedächtnis. Roman (73424)Der Judaskuß. Roman (73390)Die Vögel kommen zurück. Roman (73387)Reigen der Verdammten. Roman (73388)Die natürliche Ordnung der Dinge. Roman (73389)Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht. Roman (73131)Was werd ich tun, wenn alles brennt? Roman (73298)
António Lobo Antunes
Die Leidenschaften der Seele
Roman
Aus dem Portugiesischen vonMaralde Meyer-Minnemann
btb
Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel»Tratado das Paixões da Alma« bei Publicações Dom Quixote, Lissabon.Dieses Buch erschien 1994 zum erstenmal auf deutsch.
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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright © der Originalausgabe 1990 by António Lobo Antunesund Publicações Dom Quixote, LissabonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 byPenguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München,durch Vermittlung von The Colchie Agency, New YorkUmschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagfoto: Tina Deininger/Gerhard JaugstetterSatz: Uhl+Massopust, AalenCP · Herstellung: AW
ISBN 978-3-641-32179-6V001
www.btb-verlag.de
Die Familie des Ermittlungsrichters wohnte auf der anderen Seite des Marktplatzes (der, als er ihn Jahre später besuchte, sehr viel kleiner wirkte, als er ihm als Kind vorgekommen war) jenseits der Zypressen der Privatschule und des von Levkojen und Schatten gestützten Hauses des Arztes, also in dem Teil des Städtchens, das sich vor den Nebelschwaden des Caramulogebirges in damals noch engeren Gassen um die Trümmer der Synagoge ausbreitete, die in einem Labyrinth von Strohstadeln erstickten. Die regnerischen Winter trieben nachts die Wölfe im Zuckeltrab aus dem Gebirge herunter, die mit verschreckten Eremitenaugen zögernd an den Mauerresten und den schiefen Torbögen der Ställe den Urin der Schafe schnupperten. In der Wohnung in Miratejo oder im Büro der Kriminalpolizei erinnerte sich der Richter, wenn er einen Häftling verhörte, manchmal an die verschlossenen Türen im Januar, an die brennenden Dochte der Öllampen, die das Elend und die Heiligen aus Gips größer erscheinen ließen, und daran, wie er den Wind sah, der durch die Gassen fegte, Papierfetzen, Kiefernnadeln, Dreck, niemanden mit sich riß, und wie unvermittelt der Verrückte mit dem ellenlangen Bart barfuß mit seinem Pilgerstab und in den Lumpen eines Schiffbrüchigen die Gasse heraufkam, sich an den beuligen Mauern abstützte, an den verlassenen Ecken stehenblieb und dem Sturm entgegenbrüllte:
– Ich bin Dom João, der Herrscher über alle Reiche der Welt!
– Auf diesen Stuhl hier, wenn ich bitten darf, Herr Doktor.
Der Ermittlungsrichter berührte mit der Kuppe des Hinterns den Scheitelpunkt des Sessels, den ihm der Staatssekretär anbot, da oben über dem Cais das Colunas, über der Akkordeonsmühsal der Blinden und dem eintönigen Weberschiffchenhinundher der Caçilhasfähren, und es war jetzt die Zeit der Weinlese, die Frauen trugen, ganz in Schwarz, unter der unbarmherzigen Sonne die Körbe zu den Bottichen, die die Ochsen zum Kelterhaus zogen, der Patron fuchtelte von der Terrasse aus Befehle, und der Verrückte trat unvermittelt mit großen Schritten und einer Decke über den Schultern aus den leeren Hühnerställen und wies mit verkrampft gekrümmtem Finger auf das Elend des Städtchens, auf die Ziegen, die Steine fraßen, auf den geschnitzten, vergoldeten Heiligenschein der Engel in der Kapelle, auf den Rauch der Eisenbahn nach Guarda am anderen Ende des Tales und dann auf die Olivenbäume des Herrn Ingenieurs, die in der Ferne kleiner wurden:
– Ich bin Dom João, der Herrscher über alle Reiche der Welt!
Der Staatssekretär tänzelte in seinen Lackschuhen mit der exquisiten Leichtfüßigkeit der Dicken auf die Flaschen und Gläser einer pompösen, in ein Bord mit Gesetzeswerken eingepaßten Bar mit weinroten Scheiben zu.
– Der Arzt hat meine Leber zum Vorwand genommen, um mich auf eine Diät mit Brunnenkresse und Wasser zu setzen. Möchten Sie einen? fragte er, indem er ergeben den Hals zum Ermittlungsrichter drehte, der mit einer mühsamen Grimasse ablehnte,
denn den Whisky bietet er nur wichtigen Besuchern an, dachte Euerehren, verloren in dem riesigen, hohen Saal mit rissigen Stuckkörbchen in den Ecken der Decke, mit Intarsienmöbeln, feierlichen Vorhängen und einem Lüster, der schon schief hing und sich zu lösen begann: Ich wette, ihm fehlen weder Zigarren aus Venezuela noch silberne Brieföffner. Der Esel hat’s hier fürstlich, während ich in einem winzigen Kabuff klarkommen und mich mit mittelmäßigen Taschendieben und Messerstechereien zwischen Zuhältern herumschlagen muß.
Die Wölfe, denen das Fell auf der Kruppe vom Regen zu Berge stand, tauchten, gegen den Wind kreuzend, in Rudeln von fünf oder sechs aus der Dunkelheit des Waldes von Zé Rebelo auf, strichen langsam auf dem Kirchplatz herum, schätzten die Angst der eingesperrten Tiere und die Aufregung der Hunde ab, durchstöberten den Kornspeicher des Stummen und den Drahtverhau der Taubenschläge und verschwanden dann im Trott und mit gesenktem Kopf in einem Brombeerstrauch, verschonten den Verrückten, der auf den Stufen des Prangers Reden hielt und dem Nebel seine Titel und Würden wiederholte. Er schnarchte in den Gräben und verzehrte Almosen, obwohl die ganze Gemeinde ihm gehörte mit ihren Kartoffel- und Zwiebelfeldern und den Gespenstern der verlassenen alten großen Häuser, in deren Eingangshallen die Feuerchen der Zigeuner in sich zusammenfielen. Die Vagabunden zogen die Ruine des Klosters mit den verblichenen Märtyrern auf den Altarbildern vor und wählten zum Schlafen die Grabstätten der Infantinnen mit den Zöpfen und den spitzen, flachen Schuhen, die zu beiden Seiten des Sarkophags in den Kalkstein gemeißelt waren und denen das Gras in lockeren Büscheln aus den Ohrlöchern wuchs.
– Ich kann ernste Angelegenheiten einfach nicht ohne Mindestmaß an Bequemlichkeit besprechen, meinte der Staatssekretär,
und der Richter stellte ihn sich abstinent in einer Villa direkt über seinem vom Gullyasthma gequälten Haus in Restelo über dem Fluß vor, das eine Säulenvorhalle mit Zwergpalmen, Antiquariatsvorfahren und Basaltlöwen am Portikus besaß und nicht den dichten Atem der Maultiere aus der Kindheit, die im Erdgeschoß unter dem Wohnzimmer den Boden mit ihren glühenden Mäulern erhitzten. Ganz gewiß ist er nicht wie ich mit neun Jahren auf Befehl des Patrons nach Lissabon gereist, jedenfalls nicht des neuen mit dem kleinen Schnurrbart, der hier in Nelas im August ankam, in Uniform und in einem Kabriolett voller Taschen und Koffer, und den Sommer in Urgeiriça beim Tennisspielen mit den Engländern der Wolframmine verbrachte, sondern auf Geheiß des Onkels, der das ganze Jahr über in der Provinz Beira wohnte, sich über den Frost, über die Amseln im Gemüsegarten und die Arthrose beklagte, gleich morgens nach dem Kaffee und dem Toast dem Anisschnaps zusprach und stundenlang mit den Ellenbogen auf dem Wachstischtuch still dasaß und voll grimmiger Melancholie auf den Mispelbaum im Garten blickte.
Der Staatssekretär strich, die Brille mit einer Kette auf der Nase, mit dem Rotstift in einer dicken Akte herum:
– Hier habe ich seinen Lebenslauf, jede Menge Unterlagen, sagte er zum Richter, während er das Glas in der Hand schwenkte und den Schwarm von Bläschen beobachtete, der vom Grund aufstieg. Ihr Ruf wird, weiß Gott, nicht im geringsten angetastet werden. Von Richtern wie Ihnen, Herr Doktor, wird viel erwartet, und Sie können mir glauben, daß der Höchste Richterrat – und nicht alle dort sind Dummköpfe – davon überzeugt ist; sehen Sie, gerade noch in dieser Woche hat mir zum Beispiel auf einem stinklangweiligen Empfang der argentinischen Botschaft ein Landgerichtsrat anvertraut, daß wir es in den heutigen Zeiten mit einem halben Dutzend solcher Knaben wie Ihnen weit bringen würden.
– Eigentlich hätte ich doch ganz gern ein Glas Wasser, sagte der Ermittlungsrichter und dachte, Was für eine blödsinnige Unterhaltung, und in diesem Augenblick fiel ihm der alte Patron ein, wie er mit der Zigarre zwischen den Zähnen im Obstgarten umherstolperte und den zuckrigen Anisduft mit dem der Kirschen vermischte. Er wohnte fünf Minuten vom Bahnhof entfernt in einem wispernden, dunklen Haus mit einer halbrunden Veranda, in dem die Oratoriumsheiligen über den Konsoltischen der Treppenabsätze blechern schimmerten. Der alte Patron, der schon vor der Wachstuchdecke Platz genommen hatte, das leicht zitternde Likörglasvergißmeinnicht in der Hand, der Patron, der um sechs Uhr in der Frühe eines Jahrmarktssonntags das Dienstmädchen zu ihnen geschickt hatte, mit dem er seit zwanzig oder dreißig Jahren schamlos im Damastbett der Großeltern schlief und das, noch bevor die Feuerwerkskörper krachten und das Blasorchester von Mortágua auf dem improvisierten Podium heroische Paso dobles blies, vor ihrer Tür landete. Zur Serra da Estrela hin begann es heller zu werden, und man konnte die eisig starren Lichter der Ortschaften in den letzten Winkeln der Berge erkennen. Auf dem benachbarten Dachboden hustete die Schwindsüchtige mit einer Emailleschüssel auf den Knien in ein kampfergetränktes Taschentuch, das sie an den Mund gepreßt hatte.
– Dasselbe wie ich? freute sich der Staatssekretär, der Kreuze auf einen Block kritzelte. Nun ja, die Regierung weiß – aus welcher Quelle, ist dabei nicht von Belang –, daß die Kriminalpolizei zufällig in Campolide das Mitglied eines Bombenlegernetzes aufgegriffen hat, bewaffnet und alles: Attentate auf Fahrzeuge des Staates, Mord an hohen Staatsbeamten, unbeteiligte Opfer unter der Zivilbevölkerung. Das Fernsehen und die Zeitungen bringen Meldungen darüber, die Streitkräfte sind beunruhigt, die Leute reden, und die Oppositionsparteien werfen uns Untätigkeit vor.
Er hielt inne, um einen Absatz zu korrigieren, und der Ermittlungsrichter sah das Dienstmädchen in Nelas, wie es um die Pfützen herumging, kleinen Bächen auswich, bis es, obwohl ihm der Zelluloidkragen und die gestärkte Schürze zu schaffen machten, die Granitstufen in männlicher Eile hinaufstürmte und mit der flachen Hand gegen die aus den Fugen geratenen Bretter der Tür schlug, die durch Stricke und Hirtenschnüre zusammengehalten wurden. Draußen lösten sich die Fassaden mühsam aus den Nebeln der Morgenröte, und die in diesem Monat des Jahres ausgezehrten Bäume reckten sich mit ihren Käuzchen auf dem Buckel aus der Dunkelheit. Bald würden die Goldschmiede ankommen, die, sei es Juli oder Dezember, immer in schwarzen Flanell gekleidet waren, sie hatten ihre Hosenaufschläge mit Wäscheklammern gebändigt und schnauften zwischen den ungleichen Rädern ihrer alten Fahrräder, an denen hinter dem Sattel verbeulte, mit einem doppelten Vorhängeschloß versehene Kästen befestigt waren, worin die Armbänder, Ringe und Ohrringe transportiert wurden. Dann würden die Verkäuferinnen kommen und die Krüge, Pfannen und Leuchter aus Ton auf einer weiten Segeltuchebene ausbreiten, dann die Ferkel-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelhändler, die zerlumpten falschen Pfarrer mit den frommen Bildern und den Exvotos mit den Wundern, die Apotheker in ihren weißen Kitteln, die einem Sirup gegen Würmer in den Gedärmen und gegen Malaisen des Gedächtnisses aufschwätzten, und schließlich die Akrobatenjungen, die die ausgefranste Matte für ihre Handstände ausrollten, der Besitzer des weisen Esels, der mit seinem Hufschlag Aufgaben in allen vier Grundrechenarten löste, und die mit den Mysterien der Zukunft bestens vertrauten Zigeuner, die unter einer Platane hockten und Geheimgespräche führten. Eines der drei mahagonigerahmten Bilder des Staatssekretärs stellte eine Ansicht Lissabons dar – Balkons, Tauben, herrschaftliche Häuser, Kirchenkuppeln, den Tejo –, vielleicht war es das Lapaviertel, wegen der sanften, beinah gläsernen Farben der Fassaden und der Luft.
– Es versteht sich von selbst, sagte der Regierungsbeamte, während er Fotokopien miteinander verglich, daß der Prozeß gegen diesen mutmaßlichen Terroristen, was einleuchtend ist, der Geheimhaltung durch die Justiz unterliegt, und es gibt nichts, was die Demokratie mehr respektiert als die Unabhängigkeit der Gerichte und das Justizgeheimnis. Das Programm der Mehrheitspartei beinhaltet dies ausdrücklich.
Trotz seiner Diät ist er ein ausladender und zufriedener Mann mit Gummihosenträgern, der stets bereit ist, die Schlagworte seiner Partei mit einer Vulgarität zu erläutern, die schmerzt oder zumindest mir weh tut, dachte der Ermittlungsrichter, während er mit der Zunge eine Lücke zwischen den Zähnen erkundete, so wie mir die Schläge des Dienstmädchens an die Tür meiner Eltern weh getan haben: Wir schliefen gerade im einzigen Zimmer des Hauses zwischen Hühnern, Enten und dem Truthahn für Weihnachten, meine kranke Patin zuckte unter dem Umschlagtuch mit den Fransen zusammen, in den Ritzen der Fensterläden standen silbrige Lichtfäden, und der Geruch des Atems und der häuslichen Kothaufen des Kalbes und der Maultiere im Stockwerk darunter war uns vertraut und so lauwarm, als wär es unser eigener. Wir schliefen, und die Schläge fielen über uns her und fegten uns gnadenlos aus dem Schlaf, meine Mutter saß im Bett und fragte, Gibt’s ein Feuer?, und meine Schwester wunderte sich, Man hört keine Glocken, und mein Vater stand in seinen langen Unterhosen und im Unterhemd verwirrt auf, ging blind und aufs Geratewohl zwischen den Liegenden hindurch, trat auf einen wimmernden Knöchel oder Leib, und ich hatte das Gefühl, zwischen den feuchten, mit Stroh und Maisgrannen vermengten Kuhfladen auf einem großen Bauch zu liegen, der mir Milch in die Augen tropfte.
Das zweite Bild, ein wildes Aquarell in einem Aluminiumrahmen, stellte unter bunten Gewölben und gestreiften Vorhängen auf orientalische Kissen hingestreckte Frauentorsi in schwüler Haremsatmosphäre dar. Auf der Straße versagten die Bremsen einer Straßenbahn, auf dem Flur rief ein verzweifelter Schreiber, Estácio, Estácio, der Staatssekretär streckte wie ein Kampfhahn die Brust heraus und schob dick die Unterlippe vor:
– Bis hierhin alles keine Frage: Unabhängigkeit der Gerichte, Justizgeheimnis, absoluter Respekt vor der Demokratie, sofern dies, und das ist wichtig, nicht die öffentliche Ordnung und die Ruhe und Sicherheit der Bürger gefährdet. Und hier liegt der entscheidende Punkt, Herr Doktor: Die Ordnung und die Sicherheit der Bürger sind eben in diesem Augenblick ernsthaft gefährdet durch eine subversive Organisation, die seit Oktober den sozialen Frieden des Landes in Stücke reißt, und wenn ich den sozialen Frieden in Stücke reißt sage, dann ist das keine übertriebene Formulierung.
Der soziale Frieden meines Hauses, dachte der Ermittlungsrichter, ist vor vierzig Jahren, es mag einen Monat mehr oder weniger gewesen sein, in Stücke gerissen worden, als mein Vater mit einem letzten Stolpern die Tür erreichte, den rostigen Riegel zur Seite schob, die Querstange anhob und die Hühner damit in Aufruhr versetzte. Kalter Regen drang ins Zimmer, mit ihm die Tannen des Friedhofs und die wilden Kastanienbäume am Weg nach Viseu, und mit dem Regen kam das Dienstmädchen des Patrons in schwarzer Bluse, Zelluloidkragen und Rüschenschürze, Der Herr Architekt will Sie in spätestens fünf Minuten oben haben.
Der soziale Frieden meines Hauses, dachte der Richter, dem die Kohlensäureperlen des Wassers auf der Zunge prickelten, das hieß, mit dem Asthma einer Gans auf einem Kissen zu schlafen, die Gestalten meiner Schwestern auszuspähen, die sich in der Helligkeit einer fehlenden Dachpfanne auszogen, das hieß, in einer Ecke des Zimmers vergiftet vom Petroleum zusammen Abendbrot zu essen, zwischen unscharfen Schnappschüssen und einem Radioapparat, auf dem ein Häkeldeckchen lag und der nie funktionierte, weil es in diesem Teil der Stadt nie Elektrizität gegeben hat, einem Holzkasten, den meine Mutter liebevoll einwachste und dessen Knöpfe sie ewig hin- und herdrehte, weil sie von dem Zeiger hingerissen war, der stoßweise an einem Nummernwald entlangwanderte, und weil sie stolz auf die Musik und die verstummten Stimmen war, die er enthielt. Der soziale Frieden meines Hauses bestand in den Samstagabendbesäufnissen meines Vaters und darin, daß meine Tante, in ihr Kopftuch vergraben und von streunenden Hunden und den Phosphoraugen der Dunkelheit bedroht, auf der Straße auf ihn wartete, ihn, der halb auf einer Stufe lag, das Erbrochene vom Kinn wischte, daß sie seine unsicheren Ohrfeigen ertrug, ihm aufhalf, ihn unter den Armen packte, die Stufen hinaufzerrte, ihm mit den restlichen Frauen der Familie den Urin- und Essiggestank der Stiefel von den Füßen zog und ihn dann mit ausgebreiteten Armen schnarchen ließ, nachdem er zwei oder drei Stühle umgestoßen und einen Pantoffel nach dem heiligen Expeditus aus Porzellan geworfen hatte, zu dessen Füßen ein Lämpchen brannte und der uns bei Krankheiten und in Träumen beistand. Der soziale Frieden meines Hauses war mein Vater, wie er Spuckebläschen schnaubend auf der Matratze schnarchte, auf der er uns mit einer Schirmmütze auf dem Kopf und den Hosen in den Kniekehlen unter stoßweise gekrächzten Pfauenschreien fabriziert hatte.
– In der Sitzung vom Dienstag, sagte der Staatssekretär, während er den kleinen Finger auf handgeschriebenen Seiten herumwandern ließ, wurde beschlossen, diesen makabren Spielen mit Maschinengewehren und Pistolen ein Ende zu setzen: Sollen sie reden, demonstrieren, schreien, Lenin im Chor rezitieren, sich zu den Wahlen aufstellen lassen, aber nicht töten. Und eben gerade weil wir diesen gefährlichen Blödsinn verhindern wollen, brauchen wir Ihre diskrete Mitarbeit, Herr Doktor: Die Polizei hat nämlich in Campolide einen dieser Schwachköpfe der Volksbewegung Siebzehnter Oktober – ein alberner Name, nicht wahr? – aufgegriffen, und Sie, mein Freund, wurden ohne unser Zutun von zuständiger Stelle dazu ausersehen, die Ermittlungen für diesen Prozeß zu führen. Justizgeheimnis, das ist doch zum Lachen: Jeder Dahergelaufene redet davon, wie großartig das Justizgeheimnis ist, und vergißt dabei, daß Portugal ein Dorf ist, ist Ihnen das nicht auch schon aufgefallen? Ein Typ mit Granaten in der Tasche schaut sich Schaufenster mit Damenbekleidung an, mal ganz ehrlich, so etwas gibt es doch nur in Lissabon.
Das dritte Bild im Büro, ein Stilleben in Grautönen mit reichlich Gurken, Möhren, Knoblauch, Hasen und einer in grausamen Windungen in der Mitte geborstenen Blumenvase, verschwamm auf der körnigen Wand fernab der Lichtflecken, die das Porträt des Präsidenten der Republik belebten, und einer Empirekommode mit einer Sammlung geschliffener Kristallgläser auf der Marmorplatte, die das Licht in kleinen, spitzen Schuppen reflektierte.
– Kommen wir zur Sache, fuhr der Staatssekretär fort, der die Beine übereinandergeschlagen hatte und lila Socken zeigte, die nicht zur Krawatte paßten. Wir möchten, daß Sie mit dem Festgenommenen einen Weg finden, den besten Weg; mich interessiert nicht, auf welchem Weg wir seine Genossen dingfest machen, ob mit oder ohne Blutvergießen, sofern es sich um deren Blut handelt. Um diese technischen Einzelheiten mit Ihnen zu besprechen, wird die Sondereinheit Sie in der nächsten Woche aufsuchen: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Regierung nur an Ergebnissen interessiert, Herr Doktor, weil Ergebnisse Stimmen bringen, und das Land, das nun Europa am Bein hat, kann sich nicht den Luxus leisten, die Mehrheit zu verlieren, die ihr dient.
Er ließ von den handgeschriebenen Seiten ab, und das Wasser zitterte zischend in seiner Hand wie das Lämpchen des heiligen Expeditus an jenem regnerischen Morgen, an dem mein Vater den feierlich finsteren Anzug eines Pfarrers in Zivil anzog, den für Heiraten, Beerdigungen und wenn er zum Patron zitiert wurde, der zwischen Schichten aus Seidenpapier und Lavendelsäckchen in der nägelbeschlagenen Truhe mit den Schätzen des Stammes begraben lag: Taufkerzen, ein armloses Mädchen aus Porzellan, elfenbeinverzierte Kupferkartuschen, schaumbläschenzarte Spitzenreste, armselige Herrlichkeiten wie die, die Bettler am Strand bei Ebbe eilig der Vergangenheit entreißen. Verwirrt von den Festtagsraketen, die im Nebel explodierten, verwechselte er sein strahlendes Gebiß mit der Backenzahnreihe meiner Großmutter, die nebeneinander und die ganze Nacht über gurgelnd auf dem Bord mit dem Mehl und dem Zucker aufbewahrt wurden, und sein Wildschweingrunzen, das er ausstieß, weil er einen seiner rotweißen Lackschuhe mit den Clownsschnürsenkeln nicht fand, brachte unseren inneren Kompaß durcheinander. Schließlich entdeckte jedoch eine der Cousinen – die im Oktober darauf an Typhus sterben sollte – den zernagten Schuh mit ausgefranstem Rand und klaffender Sohle unter dem Kissen der Kranken, die kreischend nach allem schnappte, was in ihre Nähe geriet. Mein Vater, dem die Weste seit Jahren schon nicht mehr paßte und der die Jacke über dem Bauch nicht mehr zuknöpfen konnte, lehnte jede Hilfe ab, taumelte zur Tür, schubste meine Mutter mit einem Fausthieb zur Seite, der sein Ziel verfehlte und die Reisdose abstürzen ließ, verlor das Gleichgewicht, tauchte ein Bein in eine Schüssel mit Waschlauge und entschwand, humpelnd und mit einer Schaumspur im Kielwasser, den Dienstmädchen und den Goldschmieden entgegen, die ihr Gold aus spanischen Galeonen in kleinen Marktständen aus Kattun feilboten. Der Sturm rüttelte an den Kastanienbäumen und den Akazien, ein Vogel mit nassem Gefieder verkroch sich in einem Steinloch. Der Staatssekretär trommelte autoritär mit den Fingern auf die Mappe.
– Betrachten Sie das, was ich Ihnen sagte, als einen Befehl, wisperte er dem Ermittlungsrichter zu, während er das Glas gegen die Brust drückte wie ein Priester, der die Messe liest. Selbstverständlich können Sie ablehnen, Herr Doktor, sich Entschuldigungen ausdenken, Atteste einreichen, sich den Blinddarm rausnehmen lassen, den Prozeß aufgeben, um Versetzung nach Macau bitten, was mir allerdings angesichts der Umstände nicht ratsam erscheint.
Ebenso, dachte der Richter, wie es meinem Vater nicht ratsam erschien, dem Patron zu widersprechen. Und da stand er nun vor dem Alten, von geschnitzten Vitrinen belagert, wickelte die Mütze ums Handgelenk, stand da vor dem Alten, der die Flasche mit dem Anislikör wie ein Zepter hielt und die Zuckerkristalle am Flaschenboden durch sachtes Schwenken auflöste. Ich war zehn Jahre alt, besuchte den Katechismusunterricht bei der Freundin des Priors, wollte Feuerwehrmann werden und die Turnlehrerin heiraten, aber sie veränderten von heute auf morgen mein Leben und meine Hoffnungen, indem sie uns mit einem Koffer und einer Truhe aus Weidenrohr in einen Waggon der dritten Klasse eines Güterzuges nach Lissabon stopften, der unendlich langsam an Wäldern und nochmals Wäldern vorbeifuhr, an Bahnübergängen, vor denen Fahrräder und Leiterwagen warteten, an Brücken über versandete Flüsse, an Gewächshäusern, Salmen und an in den Leistenbeugen der Erde vergessenen Dörfern vorbei. Ein uniformierter Kontrolleur bat uns hin und wieder um die Fahrkarten und ließ das Gelenk der Zange schnappen. Wir hielten lange an menschenleeren Bahnsteigen, Bretterbuden mit hölzernen Parkbänken und zerfetzten Plakaten, und warteten auf den D-Zug nach Norden oder den Südexpreß nach Spanien; meine jüngste Schwester fing an zu weinen, weil ihr das Wiegen der Räder genommen war, ein Zollbeamter uns gegenüber, mit einer Schmutzkruste auf den Jackenaufschlägen, las Zeitung oder schlief, und das alles achtzehn Stunden lang, an deren Ende ein Bahnhof mit vielen Gleisen lag, verrottete Gepäckwagen auf Nebengleisen, lange graue Gebäude, stinkende Lagerschuppen, Kaimauern aus bröckelndem Beton, das von Wolken, Flechten, Bojen und Tauen bedeckte Meer, die allgegenwärtige Burg, Meeresfrüchtefischer in reglosen Booten, mir unbekannte Vögel, die um die schwarze Dieselölspur der Schiffe kreisten, Passagiere, die eingewikkelte Gepäckstücke stapelten, und dann der Chauffeur in der blauen Uniform mit Metallknöpfen, der uns winkte, uns zu einem riesigen Auto führte, unangenehm berührt war von unserer Kleidung, unserem Geruch, den Tüten mit unseren Essensresten, von unserer Art zu sprechen und unserer Verschrecktheit, und gleich darauf fiel zu beiden Seiten des Wagens derselbe Regen wie in Beira, und das war vollkommen im Einklang mit der Geometrie toter Gebäude, mit den barocken Kirchen mit Märtyrern und Seefahrersymbolen in den Spitzbögen, den vollgestopften Kurzwarenhandlungen, Vorortskolonialwarenläden, windschiefen Apotheken und Autobussen, die sich auf die Bürgersteige vor den Kneipen entleerten; dann das Tor, der Hof und der Rosengarten, und Nasen, die zwischen den Vorhängen hervorlugten, eine Hütte mit drei Räumen hinter dem Zwinger der deutschen Schäferhunde, die sich voller Wut an die Gitterstäbe preßten, drei Zimmer mit lahmen Möbeln und einer verkratzten Badewanne und Pilzen in den Ausgüssen, und die Köchin wischte sich beflissen die Hände an der Schürze ab: Morgen werden der Herr Professor und die gnädige Frau euch alles erklären, wenn ihr mal müßt, da hinten in den Trog im Schuppen.
– Am Freitag werden die Herren vom Sonderkommando Sie aufsuchen, um sich mit Ihnen abzusprechen.
Während der Richter auf dem Teppichboden zu den erbärmlichen Akkordeons des Terreiro do Paço ging, spürte er, wie der Fußboden sich neigte wie die Gassen in Beira, spürte, wie die Rüben im Gemüsegarten ihre Blätter verloren, der Wind zwischen den Möbeln winselte, wie Kot, Zeitungsfetzen, Fichtennadeln, Unrat umherrollten, und sah die vom Regen gespeitschten Zedern. Er gelangte zum Pranger des Möhren- und Gurkenbildes, wandte sich um, um dem Staatssekretär ins Gesicht zu sehen, der mit seinem Orakelbart und in den furchterregenden Lumpen die Gasse heraufkam, während die Goldschmiede mit ihren verbeulten Schatullen hinter dem Fahrradsattel und den Holzwäscheklammern am Hosenaufschlag wie ein Schwarm Bestattungsunternehmerraben nach Canas strampelten, und hörte ihn den Blitzen und der nächtlichen Stadt entgegenbrüllen:
– Ich bin Dom João, der Herrscher aller Reiche der Welt.
Er erinnerte sich daran, wie er, als er zwölf oder dreizehn Jahre alt war, dem Großvater Zigaretten klaute und sie mit dem Sohn des Hausmeisters teilte, wie sie sich beide rauchend ins Gras legten und zwischen den Akazien hindurch in den Septemberhimmel schauten. Er lächelte der Fontäne im Teich und den Bänken aus blau-weißen, handbemalten Fliesen zu, die den Garten vom Rosarium trennten, und der Richter, dessen Hände feucht auf einem Wirrwarr von Papieren lagen, sagte:
– Wie bitte?
– Ich habe nichts gesagt, mir sind nur alte Sachen wieder eingefallen, es ist nichts weiter.
Der Großvater in seiner Sommerjacke lag dort unten im Liegestuhl auf den Fliesen unter dem verschossenen Sonnenschirm, wo die Familie sonntags nach dem Mittagessen die Canastatische aufstellte, und sie beide hatten eine Streichholzschachtel aus der Küche dabei, rauchten heimlich, dicht bei den Gladiolen, und sahen dem Windrad zu, das auf der Suche nach dem Wind von rechts nach links tanzte. Und nun, Jahrhunderte später, fragte einer, und der andere antwortete, hier in diesem mit Akten vollgestopften Polizeikabuff (ein Kinderregenmantel hing an einem Nagel), mit einem Polizisten am Türpfosten und einer Neonröhre, die die Augen verwirrte:
– Lassen Sie uns mit Ihrer Aussage vom Anfang an beginnen: Am Nachmittag, an dem Sie den Ingenieur erledigt haben, wie viele waren Sie da, erzählen Sie mal.
Ein Monat in den Verliesen der Kriminalpolizei, kein Fenster, eine kleine Glühbirne an der Decke, hatte ausgereicht, und die Tage und Nächte waren zu einer einzigen, wehen Dämmerung geworden, die nur vom Öffnen der Zelle zu den Mahlzeiten oder durch die Besuche des Unterinspektors unterbrochen wurde. Besuche und Mahlzeiten fast immer, wenn der Mann gerade eingeschlafen war, schlief oder zu schlafen glaubte; ein Husten ganz nah an seinem Ohr ließ ihn vor Schreck in sich zusammenstürzen: Ihr Essen, Genosse, guten Appetit, und schon war die Tür wieder geschlossen, ein fernes Pfeifen, niemand, auf dem Fußboden das Tablett mit der Suppe und dem Reis.
– Ich für meinen Teil halte so lange durch wie nötig, sagte der Ermittlungsrichter und löste mit spinnenhafter Sorgfalt den Krawattenknoten. Bis ich nicht weiß, wie ihr den Ingenieur zu Hackfleisch verarbeitet habt, rühre ich mich nicht von der Stelle.
Und er rührte sich tatsächlich nicht, klein, glatzköpfig, dunkel, behaart, wartete er, rauchte die Zigaretten meines Großvaters, während der Hausmeister, sein Vater, auf einem Steinsims stand und eine weißglasierte Terrakottastatue umarmte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und dabei die Hecken stutzte. Die ungleichen Gebäude der Rua Gomes Freire türmten sich hinter dem Staatsbeamten auf: Schilder von Rechtsanwälten und Friseusen, Zahnärzten, Papierwarenläden, ein lustloses Geräusch von Verkehr, Restaurantküchen, Stimmen. Der Mann dachte, Wie viele waren wir denn überhaupt, vier, fünf, sechs, selbst wenn ich sie verpfeifen wollte, das Licht der brennenden Lampe, die in meinem Schädel steckt, hat mein Denkvermögen und mein Gedächtnis durcheinandergebracht. Er entsann sich einzelner Bruchstücke, unzusammenhängender Episoden, vager Erinnerungsbilder, die flohen und wieder auftauchten, die Rua Padre Manuel da Nóbrega, die vom Areeiro hinunterführt, mit ihren japanischen Autosalons, eine schnell gehende Gestalt mit einem Kuchenpäckchen in der Hand. Der Künstler, der den Lieferwagen der Gasgesellschaft fuhr, sagte, Da ist er, die tschechischen Maschinengewehre schnellten ungestüm unter dem Sitz hervor, der Priester mit seinen runden Spiegelaugengläsern bellte, Jetzt! Geruch nach Patronen, Rauch, flüchtende Menschen, eine zersplitterte Schaufensterscheibe, die Gestalt mit dem Päckchen sank auf dem Bürgersteig zusammen, der Student zum Künstler, der die Gänge reinwürgte, Scheiße, nun gib doch Gas, verdammt noch mal, und plötzlich die Avenida de Roma, Buchhandlungen, Plattenläden, Porzellanläden, Prêt-à-porter-Boutiquen, der Frieden der Spatzen am Nachmittag, ruhige Fahrt, wortlos, Halten an den Ampeln, bis zur Scheune eines Landhauses in Odivelas, wo es noch mehr Waffen und ein unter dem Stroh verstecktes Funkgerät gab. So muß es gewesen sein, so war es immer, und zuletzt der Abschiedshändedruck des Gottesmannes, Keine Angst, der Kontaktmann wird euch aufsuchen, ich möchte, daß jeder brav in seinem Bau bleibt, nächste Woche gibt es sicher Neues, und in diesem Augenblick rief die Frau des Hausmeisters ihren Sohn vom Rosengarten aus, Zé, komm mal eben her, Zé, und der Ermittlungsrichter klopfte taub mit der Spitze des Kugelschreibers auf den Daumen, hob den Hörer von einem der Telefone auf dem Tischchen neben sich ab, Sagen Sie meiner Angetrauten, daß ich nicht weiß, wann ich heute nach Hause komme.
So mußte es gewesen sein, dachte der Mann, in dessen Schädel das Licht der Lampe Funken schlug, in unserer Überfallgruppe arbeiteten wir nie anders: Man gab uns die persönlichen Daten der Leute und eine Frist, um die Aufgabe zu erledigen, und wir checkten in Schichtarbeit Zeiten nach, verbesserten Diagramme, veränderten Routen, diskutierten, um einen überquellenden Aschenbecher versammelt, in einem Keller einer Schlafstadt in Almada oder einem verlassenen Lagerhaus in Marvila. Der Künstler wollte die Angelegenheit schnurstracks bei Anbruch des nächsten Tages erledigen, indem er mit einer Bombe einen ganzen Häuserblock in die Luft jagte, der Priester hielt ihn am Ärmel zurück, Nun mal langsam, ganz ruhig, wenn sie uns bis heute nicht geschnappt haben, dann nur, weil wir alles sorgfältig vorbereiten, und einige Tage später tauchten die Gewehre und ein gestohlener Honda auf, Macht euch bereit, Kinder, es ist soweit. Einoder zweimal war der Mann sich ganz sicher, daß ihr Ziel sie, bevor sie losfeuerten – die Gewehrläufe waren schon auf das Wagenfenster gestützt, die Granatananasse steckten in der Hosentasche –, mit dem Blick eines gehetzten Kaninchens, den gläsernen Augen eines Fasans angesehen hatte, und in solchen Nächten konnte er trotz der Beruhigungsmittel nicht einschlafen und lag mit dem Bauch nach oben und von Schweißausbrüchen gequält da und sah immer wieder, wie die Gestalt vor ihm zusammensackte, wie der Priester mit geschultertem Maschinengewehr den Sterbenden beschimpfte, Du Drecksack, du Drecksack, du Drecksack, wie der Student dem Künstler eins in den Nacken gab, Scheiße noch mal, drück aufs Pedal, Plätze und nochmals Plätze, das Radar vom Flughafen, Felder mit Schafen, ein Restaurant, das fast mit dem Teerbelag der Straße zusammenstieß, und die Besitzerin des Altenheims, Wo willst du nun schon wieder hin, so ein Wahnsinn, hör damit auf. Der Richter zeigte vom Schreibtisch her ein Heft aus Kanzleipapier.
– Zweihundert Seiten vertrauliche Mitteilungen der Organisation, Geheimnisse, Schweinereien, Schamlosigkeiten, Mißgeschicke, Beweise. Mir fehlt nur noch die ganze Geschichte aus Ihrem Mund.
Er sieht nicht einmal seiner Mutter ähnlich, dachte der Mann und erinnerte sich an die Frau des Hausmeisters, die, eingeschüchtert von den Vorhängen und dem Glänzen der versilberten Gegenstände, den Großvater um Unterstützung für die Ausbildung ihres Sohnes bat. Die Mutter, deren Haarknoten sich auflöste, die laut nach dem Ermittlungsrichter rief und mit den Holzpantinen nach ihm warf, die aus Dankbarkeit weinte und lachte, den Ring des Alten küßte, und sie beide, die im Gras versteckt rauchten, die Finger hinter dem Kopf verschränkt, während die Dienstmädchen im Kattunkittel in den Zimmern des ersten Stockes Staub wischten. Das Windrad kam in einer kaum zu erahnenden Brise fast zum Stillstand, und die Flügel drehten sich langsam und rostig.
– Den Aussagen zufolge bestand die Basis Ihrer Gruppe aus fünf Leuten und einem Chemiestudenten im ersten Semester, und dann las der Ermittlungsrichter eine Liste herunter: Der Student, ein gescheitertes Genie, ein Pater, der sich vorstellte, die Revolution ginge weiter, die Besitzerin eines Altenheims und Sie, der Sie sich nichts weiter vorstellten, sondern die Dummheit besaßen, sich in die Dame zu verlieben. Ich nehme an, die Fotos in dem Umschlag da interessieren Sie nicht, was bedauerlich ist: Die Jungs von der Kripo haben allen ziemlich geschmeichelt, von vorn und von der Seite, jeder mit seiner laufenden Nummer darunter. Und Foto heißt Name, Alter, Beruf, Personenstand und was weiß ich noch. So kann ich Ihnen überschlagsmäßig sagen, ja, hier steht es: Das Beste, was der Künstler zustande gebracht hat, war, sich acht Monate lang von einer körperbehinderten Frau aushalten zu lassen, einer Lehrerin am Gymnasium von Oeiras. Dennoch gibt es einige Details, die mich verwirren, und als Gegenleistung für unwichtige Erläuterungen kann das Gericht sich durchaus gerührt zeigen: Die Staatsanwälte gehören zum Sentimentalsten, was es gibt.
Alles gelogen, dachte der Mann, er will den üblichen Trick mit gefälschten Fotos und der Gutmütigkeit der Ankläger bei mir landen, er weiß nichts, er hält mich zum besten: Um diese Zeit – wieviel Uhr es gerade war, wußte er nicht, weil er keine Uhr haben durfte – machte der Künstler, umgeben vom Gestank der Pinsel, der Verdünner und Tuben, gewiß eine seiner fürchterlichen Collagen im zweiten Stock der Calçada dos Mestres, der Student telefonierte in seiner kleinen Wohnung mit den kleinen gelben Balkons in der Estrada das Laranjeiras mit einer befreundeten Ärztin und sah zu den Giraffen im Zoo hinunter, deren Hälse weit über die Platanen ragten, die Besitzerin des Altenheims rechnete ihre Ausgaben zusammen, der Priester bereitete, die Zunge im Mundwinkel, eine chiffrierte Botschaft vor oder fuhr über die Tejobrücke Ponte 25 de Abril, um sich mit einem Kollegen aus dem Priesterseminar in einem Haus in der Cova da Piedade zu treffen, das vom Rauch der Fabriken geschwärzt war, deren Abwässer in mooriger Stille in den Fluß sickerten.
– Neugierig? fragte der Richter liebenswürdig und hielt ihm den Umschlag hin. Die Gebäude in der Rua Gomes Freire waren nur noch beleuchtete Fenstervierecke, aus denen die Bewohner im Schlafanzug die nächtlichen Krankenwagen betrachteten.
Schlagen werden sie mich nicht, überlegte der Mann, aber man hat mich tausendmal vor diesem Stil mit den Angeboten und Versprechungen gewarnt, vor der falschen Freundlichkeit der Polizisten, den liebenswürdigen Fußtritten, den zärtlichen Knüppelhieben, den aus ganzem Herzen mit einem Lächeln der Wertschätzung gegebenen Ohrfeigen. Beim ersten Anzeichen von Schwäche, so hatte ihm der Banker zwei Jahre zuvor an einem menschenleeren Strand der Costa da Caparica beigebracht, während sich jenseits der Dünen die Wellen brachen und gelbe Hunde im Sand streunten, fallen sie über dich her, legen dir den Strick um den Hals, und du bist geliefert. Und dem Mann ging, als er ihm zuhörte, durch den Kopf, daß ein zufällig vorbeikommender Schiffer oder eine Bande Jugendlicher glauben mußten, wenn sie sie beide so sahen, so eng beieinander an eine Rückenstütze aus Wurzeln gelehnt, und das an einem Strand, wo sich im Sommer die Homosexuellen mit Cremes einrieben und sich küßten, auf ein Schwulenpärchen beim Liebesgeflüster gestoßen zu sein.
– Nicht einmal einen winzigen Blick darauf? beharrte der Ermittlungsrichter und wedelte mit dem Umschlag. Sie werden platt sein, wenn Sie sehen, was da drin ist, das versichere ich Ihnen.
Im November bläst der Wind parallel zu den Wellen, sagte sich der Mann, der den Richter vergessen hatte und sich an den Banker erinnerte, der mit einem didaktischen Rohrstock Spiralen zeichnete und dem die Albatrosse, die Möwen und das, was ein einsamer, auf Zementsäcken vor einer halbfertigen Bar Sitzender denken könnte, vollkommen egal waren. Er war von Anfang an bei der Bewegung, mit grenzenlosem, absurdem Vertrauen, das keine Zweifel und keine Kritik an sich heranließ. Er war sanft, ernst, bedächtig und trug zerknautschte, wurmstichige Schuhe, die aussahen wie die eines Toten, der monatelang im Sarg gelegen hat. In den Pausen zwischen dem Abrechnen von Schecks beschäftigte er sich mit der theoretischen Schulung von Stoßtrupps, der er sich, das Gebetbuch der Briefe Stalins in der Hand, mit der peinlichen Genauigkeit einer Novizenlehrerin widmete.
– Ich habe seit Beginn des Verhörs immer wieder gesagt, daß ich Abteilungsleiter in einer Versicherungsgesellschaft bin, flüsterte der Mann ohne rechte Überzeugung. Ich arbeite acht Stunden am Tag, wohne in meinem Elternhaus und schreibe die Korrespondenz für eine Firma, weil ich schlecht bezahlt werde, mir fehlt die Zeit, mich politisch zu betätigen. Und wenn Sie das herausfinden und mich freilassen, dann haben Sie hier alle einen Prozeß am Hals.
Nun ja, aber ich bin es, der in der Zelle da unten wohnt, dachte er: eine weißgetünchte Zelle, die Buckel der Matratze, das Puppenstubenwaschbecken, der Kloeimer und die Lampe, die mir mit ihren sauren Lichttröpfchen die Augen reizt. Wenn ich mich der Tür nähere, höre ich keine Schritte, keinen Atem, kein Husten, kein Gespräch, und dennoch handelt es sich um einen Korridor mit Käfigen, die wahrscheinlich alle mehr oder weniger wie meiner sind, in jedem ein verhafteter Revolutionär, der in Versuchung gerät, den proletarischen Internationalismus fahrenzulassen. Wer weiß, ob der Banker nicht einen davon bewohnt und der Kripo seine Guerillatricks beibringt, wer weiß, ob der Hai vom Koordinierungskomitee, der die Fragerei der Polizisten satt hat, nicht schon meinen Namen, den Namen vom Künstler und noch mehr Namen angegeben hat, nur um schlafen zu können, ohne daß ihn ein Stoß in die Nieren weckt, Beweg dich, da der Richter gerade nichts zu tun hat, möchte er ein Schwätzchen mit dir halten; ohne Glühbirne im Dunkeln schlafen, zisternentiefe Träume ohne Erinnerung oder Zukunft. Eines Nachmittags waren der Mann und der Sohn des Hausmeisters die Eisenstufen hinuntergestiegen zu den Eidechsen und den trockenen Grünalgen bis zum Grund des Brunnens, und alles, was sie dort fanden, war eine gestreifte Schlange, die sich auf der Suche nach einem Spalt, durch den sie entkommen konnte, heftig auf dem Steinboden wand, und das kreisrunde, vollkommene, leuchtende Blau, durch das keine einzige Wolke zog.
Jemand klopfte, der Ermittlungsrichter sagte, Herein, und es war das Abendessen für Euerehren, das ein Wachmann unter Mit-Verlaub-Gemurmel respektvoll sorgfältig auf eine Ecke des Schreibtisches stellte: Hähnchen und goldbraun gebackene Kartoffeln, Brot, ein Apfel und ein Fläschchen Wein. Und das alles Ihretwegen, wissen Sie, klagte der Richter, während er appetitlos die Haut des Hähnchens sezierte und versuchte, die Schlange mit der Schuhsohle zu zertreten, ein kleines bißchen Verständnis, und schon sind Sie frei, mein Freund, und rauchen die Zigaretten Ihres Großvaters unter einer Terrakottastatue.
Und der Mann erinnerte sich daran, daß eine seiner ersten Aufgaben, die ihm nach vierzehntägigem, von einem Libyer mit Turban befehligtem Schnelltraining in Almoçageme zugeteilt wurde, ein Genosse war, der in der Woche zuvor aus dem Gefängnis gekommen war, ein geschwätziger Rothaariger, der nervöse Ticks hatte, immer zögerte, immer zweifelte und über den die Antiterroreinheit, wie der Priester behauptete, im Gegenzug für ein paar Hinweise über die Herkunft von Dollars schützend die Hand hielt. Sie bereiteten die Arbeit von Februar bis Mai vor, überwachten das Kommen und Gehen des Typs, der sich weit vom Meer im Hinterland von Carcavelos versteckt hielt, in einem kleinen Häuschen, zu dem ein von zerzausten Blumenbeeten gesäumter Schotterweg führte, am Tor ein winziger Hund, der kläffte. Sie hockten in einem Umzugslaster und beobachteten mit gezücktem Kugelschreiber den Milchmann, den Bäcker, die Gewohnheiten der Nachbarn, die in Lumpen gekleideten Sklaven, die von einem Vorarbeiter mit Schirmmütze befehligt wurden und die Risse im Teerbelag flickten, notierten den Augenblick, in dem das Licht im Wohnzimmer ausging, und horchten in das unbekannte Gewisper der Dunkelheit. Schließlich fingen sie ihn, dem das gräßliche Tierchen folgte, um halb neun morgens dreißig Meter vor dem Zeitungskiosk ab, durchsiebten ihn mit Schüssen, trafen dabei noch zwei Zigeunerkinder ins Herz und rauschten hupend gegen die Fahrtrichtung durch die Einbahnstraßen, bis sie die aufgebrachten Möwen und die Mauer der Uferstraße von Estoril nach Lissabon sahen, über die in banger Maiunruhe fächerförmig der Fluß hüpfte. Der Mann hatte sich in einem Landgut in Loures den ganzen Nachmittag lang übergeben und im Fieberwahn den erschossenen Rothaarigen vor Augen, der zerknüllt und reglos dalag wie die kleinen Tiere, die die Schnellstraßen zermalmen, und die kleinen Zigeunerinnen, die in Tränen aufgelöst versuchten, vor dem Pulverrauch zu fliehen. Den beiden Mädchen gelang es noch, an den Fassaden entlang bis zu einem zerfallenen Juwelierladen zu rutschen, und der Künstler munterte ihn mit Brandys und historischen Präzedenzfällen auf, Das hier ist kein Spiel, Junge, wenn man versucht, unser Volk zu befreien, gibt es immer den einen oder anderen Unschuldigen, den die Gezeiten mitreißen. Er kehrte nach Benfica zurück, dachte daran, aufzugeben, dachte, Ich halte das nicht aus, ich habe nicht die dicke Haut dazu, ich bringe es nicht fertig. Es war Sonntag, alle Vettern und Cousinen, alle Dienstmädchen waren ausgegangen, die Spiegel der Kleiderschränke reflektierten in der Stille seine beunruhigte Blässe. Er hatte Lust, jemanden anzurufen, wußte aber nicht, wen, er öffnete die großen Terrassentüren im Salon, und die Reisigzweige knackten unter seinen Füßen, er legte sich ins Gras und rauchte allein, denn wenn er den Sohn des Hausmeisters riefe, käme keine Antwort: Seit Jahrhunderten redeten sie wenig und nichts Besonderes miteinander, ein Händedruck, ein Schulterklopfen, Du bist dünner geworden, und Ciao, wenn er ihn zufällig auf dem Landgut traf, weil der Richter dort seine Eltern besuchte. Der Freund hatte geheiratet, trug pompöse Krawatten und wohnte in einem Apartment in Miratejo, doch die einsame Zigarette schmeckte anders und bitter, und es war das letzte Mal, daß der Richter in kurzen Hosen und mit dreckigen Fingernägeln ihm fehlte. Er strich noch zwischen den Beeten herum, beugte sich zum Teich mit den Fischen hinunter, hörte den Seerosen zu, riß Blätter von der Bougainvillea an der Gartenlaube ab, und da lag der Brunnen mit dem Windrad darüber und dem großen rostigen Aluminiumsegel, das verlernt hatte, sich nach dem Wind zu drehen.
– Letzten Monat bin ich ohne dich in den Brunnen gestiegen, sagte er vorwurfsvoll zum Ermittlungsrichter, der den Apfel schälte und die Stückchen mit der Messerspitze in den Mund schob. Ich habe in einer Erdspalte die verfaulte gefleckte Schlange gefunden.
Der Staatsbeamte aß den Apfel auf, spuckte einen Kern aus, schob den Teller zurück, und der Mann bemerkte, daß die Insel mit dem gelichteten Haar auf dem Hinterkopf größer geworden war und sich als schuppiger Hautfleck zur Stirn hin ausbreitete: Demnächst wird er den Scheitel am Ohr ziehen, mit haufenweise Brillantine, um es zu vertuschen.
– Wir garantieren Ihnen wirksame Hilfe, und Sie geben uns ein Dutzend lächerlicher Erläuterungen, feilschte der Richter, der sich nicht um den Brunnen kümmerte und einen durchsichtigen Zahnstocherbehälter schüttelte. Und wenn ich Hilfe sage, meine ich Scharfschützen, eine neue Identität, eine Schönheitsoperation, eine monatliche Unterstützung, eine kleine diskrete Reise ins Ausland. Es gibt zum Beispiel in Brasilien Städte, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind. Und beachten Sie bitte, daß ich nicht von Ihnen verlange, irgend jemanden zu denunzieren, so einer bin ich nicht; nur die Bestätigung einiger Daten, Treffpunkte, Geheimpapiere, Tagebücher, Rundschreiben, Sie sollen nur erklären, ob Sie diese oder jene Schrift wiedererkennen oder nicht. Alles ganz unpersönlich, alles ganz unverbindlich, alles ganz unschädlich, wie Sie sehen. Und dann hat der Alptraum im Verlies ein Ende, dann haben die Wachleute ein Ende, die Polizei hat ein Ende, und zu Ihrer und meiner Erleichterung hat diese nervtötende Untersuchung ein Ende.
Und dennoch kümmerte sich der Hausmeister, als der Sohn – inzwischen mit sauberen Fingernägeln – ins Zentrum für rechtswissenschaftliche Studien ging, weiterhin um die Blumen und das Gemüse im Garten, und seine Frau saß breitbeinig auf einer Bank im Küchenhof, von fliegenden Federn verborgen, die weiß und pelzig auf und nieder schwebten, und rupfte die Hühner der Herrschaft, als würde sie ein Federbett aufschlitzen. Der Hausmeister jätete weiterhin die Beete und stellte Klappfallen für die Vögel auf, die ihm die Feigen annagten und die Kirschen und die Birnen verdarben – es waren bis auf die Amseln winzige Vögel, die der Draht erwürgte und die dann, unter den Baumstämmen verstreut, den Hunger der Ameisen stillten. Der Richter und seine vor Verlegenheit erstarrte Mutter erhoben sich, wenn der Mann vorbeiging, der Jahr für Jahr in den Prüfungsfächern des Gymnasiums durchgefallen und als Laufbursche in die Versicherungsgesellschaft der Familie eingetreten war. Die Frau senkte die Stimme, Guten Tag, junger Herr – sie roch nach den Eukalyptusbäumen und dem Granit der Provinz Beira, woher sie gekommen war, um in einem Häuschen zwischen dem Gewächshaus und dem Hundezwinger zu wohnen, das von einer Mauer mit bunten Glasscherben auf der Krone umgeben war: einige Zimmer mit morschen Möbeln, Halbdunkel, das plötzliche Oval eines Spiegels, ein Ofen auf einer Steinplatte, ramponierte Betten, denn es gab noch mehr Kinder, zwei barfüßige Mädchen und einen Jungen, der Gehilfe eines Automechanikers war und dem ewiger Zorn zwischen den riesigen Augenbrauen eingeschlossen war. An Feiertagen schlief der Hausmeister in einem Weidenkorb in der Kühle der Weinlaube, zu seinen Füßen eine gelbliche Mischlingshündin, ein melancholisches, reizloses Tier mit traurigen Ohren, das die Oktoberfliegen mit dem Schwanz verscheuchte. Der Wachmann holte das Tablett und trug es hinweg wie eine Reliquie, während das Geschirr klingelte.
– Finden Sie nicht, daß das eine großzügige Hilfe ist? fragte er, während er dem Mann den Rücken zugewandt hatte und ihm die mageren Schulterblätter eines unfertigen Engels darbot. Zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens gibt es praktisch nichts, was ich nicht wüßte, und wenn Ihre Genossen ihr Geständnis abgeschlossen haben, können Sie sich auf mindestens zehn Jährchen gefaßt machen, in denen Sie in der Gefängniswerkstatt Bücher binden. Vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht, wissen Sie, Sie lernen ein Handwerk, und das ist schließlich etwas, was Sie in Ihrem Leben noch nicht getan haben.
Die Weinlaube mit ihrem leuchtenden Laubwerk zog sich vom Herrenhaus bis zum Schweinestall und dem Geräteschuppen, in dem ein Kegel aus Kartoffeln auf dem Boden keimte und Scheren, Sensen und Schaufeln ordentlich an ihren Haken hingen. Jenseits der Mauer hockte auf der einen Seite ein angekettetes Seidenäffchen und bewunderte die eigenen Finger mit den gramvollen Augen eines Leberkranken, und auf der anderen Seite hörte man zu jeder Tageszeit von einer Veranda her, die nie jemand betrat, die falschen Arpeggien einer Geigenübung sich auf dem Notenpapier entlangtasten. Die Schwiegermutter des Hausmeisters, in Witwenschwarz, saß auf einer Stufe und nähte Hemden.
– Einige Daten, einige Orte, ein paar kleine, lächerliche Erläuterungen, sagte der Richter, und eine Woche später bringen wir Sie in Brasilien unter mit einer Mulattin in jedem Arm.
Er knipste die Stehlampe an, und das Licht vertiefte seine Falten, höhlte die Knochen seiner Wangen aus, vergrößerte die Häßlichkeit seiner Krawatte, enthüllte einen Rasierklingenschnitt und einen Tick, der die Muskeln des Mundes anspannte, die vom Krampf einer Sehne zurückgezogen wurden. Das Funkeln der Brillengläser hinderte den Mann, die Ehrlichkeit der Versprechungen zu entziffern, es war genau wie bei den Befehlen und Flüchen, die der Priester abfeuerte, wenn er von Unruhe zerfressen war, wenn er Angespanntheit und Angst verbergen wollte, die fünf stießen sich mit den Ellenbogen an, erzürnten sich, schreckten in gestohlenen Autos hoch, um den Verräter der Arbeiterklasse nicht zu verpassen, Und wenn nun etwas passiert ist und der Mistkerl nicht auftaucht?
Er knipste die Stehlampe an, und in seinem Gesicht waren keine Spuren der Vergangenheit und keine Ähnlichkeit mehr mit dem Vater oder der Mutter vorhanden, wie sie der Mann in Erinnerung hatte, die Farbe des Haars und der Augen, die Frettchenbewegungen, die Form der Backenknochen. Keine Ähnlichkeit mit jenen rohen, unterwürfigen Sklaven, die aus dem Holz der Provinz, aus Wolfram, Kakteen, Hunger und Winterplatanen geschnitzt waren und mit denen der Großvater manchmal mit der Gönnermiene eines Marquis redete, um etwas über das Fieber der Akazien zu erfahren. Nur die funkelnden Brillengläser und ein Kugelschreiber, der in den spitzen Fingern schaukelte.
– Nun?
Vielleicht hat man den Künstler schon verhaftet, dachte der Mann, der Priester wird überwacht, die Besitzerin des Altenheims schüttet gerade ihre Handtasche in der Wache am Beato aus, dem Studenten durchwühlen in der Estrada das Laranjeiras gerade zwei Geheimpolizisten die Schubladen, oder sie wundern sich über die Unschuld der Bettwäsche mit dem aufgedruckten Snoopy, denn die Avantgarde des Proletariats hat ein Anrecht auf Kindheit und darauf, die Affen und Giraffen zwischen der auf dem Balkon trocknenden Wäsche und die bleistiftspitzen Bäume vom Himmel winken zu sehen. Möglicherweise hat jemand vom Exekutivkomitee ausgeplaudert, Der und der und der ist es, und wie durch ein Wunder bleiben vielleicht drei oder vier Mitstreiter übrig, die per Anhalter im Alentejo in Richtung Spanien auf der Flucht sind oder die Zistrosensträucher der Grenze durchqueren, dabei im Sumpf ausrutschen, zu Tode erschreckt vom Rascheln eines Kaninchens auf der Suche nach dem mondschimmernden Messer des Flusses. Doch selbst wenn es so wäre, würden die Orang-Utans der Interpol Straße für Straße die Slums von Paris durchschnüffeln, und dank der Kläffer der EG entgeht man selbst im belgischen Regen der Auslieferung nicht, wird in einem Wirbelsturm von Agenten zum Flughafen getrieben; alles ist im Grunde genauso einfach wie der Tod der Zigeunermädchen, die an einem Morgen in Carcavelos in panischer Angst durch Gassen und abermals Gassen ohne Möwen gelaufen waren, fern vom Meer.
– Ich kenne eine Stelle in Carcavelos, an der man die Wellen nicht hört, sagte der Mann unvermittelt.
– Wie bitte? interessierte sich der Richter, und sein Lächeln wurde breiter, und der Mann dachte, Er hat mich in der Hand, er fängt an zu merken, daß er mich in der Hand hat, von nun an muß er nur ein bißchen drücken, ganz vorsichtig, und dann kann er zuschauen, wie der Eiter rauskommt.
– Weder den Geruch noch einen Schatten oder Widerschein des Meeres, präzisierte der Mann, es ist so, als befände man sich in einem in ein Leichentuch gehüllten Bergdorf, das von Abwesenheit und maurischen Gespenstern bevölkert wird.
Schwer passierbare Wege, Maulbeersträucher, alte Grabstätten, Ziegen, die Moos von den Felsen lecken, die Mauer einer Burg, Hühner, die auf dem Vorplatz der Kirche Abfälle verschlucken, die vom Lichtschein der Metallampe aufgeweichten Lippen des Ermittlungsrichters rundeten sich:
– Wo? fragte er und suchte zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch nach dem Radiergummi. Ich bin ganz vernarrt in Carcavelos, wissen Sie. War das nicht da, wo vor ein paar Monaten ein Minister und irgendwelche Bettlerinnen gestorben sind?
Nie mehr vor der Morgenröte die Gewehrläufe in einem Wald reinigen, unter uniformgrauen Wolken und einer unerbittlichen Brise, nie mehr mit den anderen vier (oder fünf? oder sechs?) im Kreis um ein über die Kiefernnadeln gebreitetes Tuch sitzen, auf dem die Waffen liegen, dazu das Lärmen der Vögel in den Baumwipfeln und der am Vortag gestohlene Ford auf einem Weg mit Brombeersträuchern. Nie mehr die Anspannung des Wartens vor dem Aufbruch, bevor der Wagen schleudernd auf eine Landstraße fährt, das Verteilen der Munition aus einer Kiste: Der Priester, den Blick besorgt auf die Uhr gerichtet, stoppt die Zeit, der Künstler uriniert pfeifend ein paar Meter entfernt, der Student stopft Patronen in die Jackentaschen. Nie wieder Angst, Durchfälle, kein Hämmern mehr in der Brust, aufhören mit dem Abrasieren und Wiederwachsenlassen des Schnurrbarts, mit den wechselnden Frisuren, mit dem Haarefärben, mit all diesen lächerlichen Theatermaskeraden. Damit aufhören, durch die Gardinen zu spähen und langsam, mit der Hand am Revolver, zum Einkaufen in den Supermarkt zu gehen, nie mehr zittern, wenn es klingelt, und aufspringen, wenn der Fußboden knarrt, nie mehr eine Granate neben das Wasserglas für die unruhigen Nächte legen. Sich vor der Grabeszelle retten, die am Ende eines verschachtelten Weges aus Tunneln und Treppen liegt und in der die gleiche bedrohliche Stille herrscht wie nach den Schüssen, die Glühbirnenwarze loswerden, die ihn verfolgte wie das Foto des Richters als Baby in der Stube des Hausmeisters, vor deren Fenster eine Magnolienfontäne die seelenlose Süße Verstorbener ausdünstete.
– Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einen Polizeibeamten riefe? fragte der Richter und reckte sich über den Tisch, um den Hörer abzunehmen, wobei er einen Bilderrahmen umwarf. Es geht darum, eine praktische Frage zu klären: Ich habe eine Klaue, die keiner lesen kann, die brauchen Ewigkeiten dazu, mein Gekritzel zu entziffern. Und Mittwoch landen Sie in weißen Hosen, Panamahut und Hawaiihemd in São Paulo, und im Hotelbett wartet eine Sambatänzerin auf Sie.
Es macht wirklich nichts, wenn ich jetzt ein Geständnis ablege, weil sie alle schon verhaftet sind, der Priester, der Student, die Besitzerin des Altenheims und der Banker – alle auf verschiedene Löcher übers ganze Land verteilt, Anrecht auf Besuch –, weil der Kommissar der Stoßtrupps sie verpfiffen hat, der jetzt mit einer staatlichen Pension in der Schweiz lebt. Alle verhaftet, dachte der Mann, während der Polizeibeamte die Schreibmaschine aus ihrem Koffer hob, einen Stuhl suchte, ein Blatt einlegte und, die Hände in der Luft, den Richter ansah wie ein Pianist, der mit zitternden Frackschößen ängstlich auf das Zeichen zum Einsatz wartet. Er war ein zerbrechlicher Mann in bescheidenen Kleidern, ein Polizist, der nicht wie ein Polizist aussah, einer dieser kleinen Heuschrecken- und Briefmarkensammler, ein unglücklicher Gerichtsschreiber, den die Kollegen tyrannisierten. Alle verhaftet, dachte der Mann, sie machen in genau so einem Büro mit genau solchen Richtern und Schreibkräften ihre Aussage, sondern Fotos aus, erklären Details, stimmen zu, verneinen, nehmen einen Brandy an, sagen, Nein, so war es nicht, das marokkanische Fischerboot hat das Dynamit und die Bazookas nicht an der Algarveküste ausgeladen, es war an der spanischen Küste, und wir haben die Grenze in einem Lastwagen mit Haushaltsgeräten und Vieh überquert. Alle Verhafteten beschuldigen mich, frohlockend, wütend, mit hervorquellenden Augen, dachte der Mann. Er hat ganz allein die Zigeunerinnen erschossen, den Minister zerstückelt, den Rotblonden hingerichtet, er hat das Gewehr angelegt und uns befohlen, Nicht schießen, und eigenhändig die Boulevards mit Geschossen leergefegt, am liebsten hätte er sich die Skalps an den Gürtel gehängt und die Sterbenden mit dem Messer erledigt. Einmal hat er mir grundlos ins Gesicht gespuckt, enthüllte der Künstler, und die anderen, Ja, genauso war es. Er wollte mich in einem Gebüsch vergewaltigen, klagte die Altenheimbesitzerin, er hat mich beschimpft, mir das Kleid zerrissen, sehen Sie, hier. Er respektierte die Hierarchie nicht, bellte der Priester, er gehorchte den Chefs nicht, hat die marxistische Ethik ganz und gar aus dem Blick verloren. Und der Banker: Eines Nachmittags am Guincho wollte er den letzten Surfer umlegen, um seine Zielsicherheit zu vervollkommnen, nie habe ich bei ihm irgendwelche Gefühle entdeckt, wir hatten schon einen Plan fertig, um uns mit Hilfe unserer baskischen Freunde seiner zu entledigen.
Als er die Zigaretten des Großvaters aus der Hosentasche zog, war der Himmel über den Akazien blau, und der Mann lächelte dem Springbrunnen im Teich mit seinen durchsichtigen Aalen und verrotteten Lotosblumen und der Fliesenbank zu:
– Ich werde dir mal was erzählen, da bleibt dir der Mund drei Tage lang offenstehen, sagte er zum Ermittlungsrichter, der die Brille mit einem Läppchen putzte und ihn ohne den Schutz der Gläser mit dem nackten, leidenden Blick der Kinder aus der Provinz ansah, die sonntags auf dem Stroh zwischen den Tonwaren des Marktes und dem Gequieke der Ferkel hockten. Trotz der Raucherei im Gras, der Streifzüge durch das Landgut und der Magenverstimmungen durch grünes Obst mochte ich dich nie.
Der Großvater da unten auf dem Liegestuhl unter dem verblichenen Sonnenschirm hatte die gutgelaunte rote Farbe des Agapanthus angenommen. Die Frau des Hausmeisters rief von der Weinlaube aus nach ihrem Richtersohn, der die Weste mit raunenden Gesten aufknöpfte und in der Manschette des Hemdes die dünne Hand hob und den Tabak ablehnte. Der Schreibmaschinenpianist schlug mit dem Ringfinger eine Notentaste an, und die Lippen Euerehren verzogen sich zu einer Grimasse, die sein Vater immer gemacht hatte, wenn er die Rosenstöcke verstümmelte, die die Terrakottastatuen im Garten mit ihren Dornen malträtierten:
– Und ich biete dir als Gegenleistung ein noch geheimeres Geheimnis an, sagte er, während er vorsichtig die metallenen Brillenbügel über die Ohren legte. Du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Schmalz ich verbraucht habe, um die Stufen im Brunnen einzuschmieren in der Hoffnung, dich runterfallen zu sehen.
In Benfica, am Samstag, an dem Wochentag, an dem sein Großvater den Abendbrottisch mit Pfarrern, Chorherren und Schüsselchen mit Mandeln zu füllen pflegte, um rund um den Kalbsbraten fromme Sakramentsgespräche zu führen, sind wir immer von der großen Platane auf das Dach der Badestube der Dienstmädchen gestiegen, einen alten, an das Haupthaus angebauten Schuppen, der zum Garten hin durch Fransen wilden Weins geschützt war. Dort preßten wir uns an das Rechteck der Dachluke und erstickten unser erregtes Kichern mit den Händen. Die Fensterscheiben spiegelten einen Teil der Hühnerställe und des Wirtschaftsgartens, und direkt unter uns lag der Hof, in dem im Oktober die Schweine geschlachtet wurden: Umringt von Angestellten in Schürzen und von Korbflaschen voll Rotwein, wurden sie am Nacken aufgehängt und bluteten in Eichenholzbottiche. Die Villa der Geigenstunden versank mit schief hängenden Rolläden, hinter denen niemand erschien, in einem Dickicht der Verlassenheit: Einer der zerfressenen Zäune war zum Pausenhof der Schule hinüber umgestürzt, die stündlich ein welkes Glöckchen erklingen ließ. Und wenn wir – dem Flug der Störche zufolge etwa um fünf Uhr nachmittags – das Jammern des Instruments hörten, das gerade gestimmt wurde, versuchten wir vergebens herauszufinden, von welchem Balkon der Klang kam, und wir stellten uns vor, wie wir ängstlich durch Zimmerfluchten liefen, in denen man vor Staub nicht atmen konnte und die erdrückend waren mit ihren riesigen Möbeln und allen Uhren, bis wir auf das Skelett einer Frau in langem Rock stießen, der Haarsträhnen am Schädel klebten und die den Geigenbogen zu einem Geisterwalzer hob, bei dessen Klang die Teekannen beschlugen und die Geranienblüten welkten.
– Wenn Sie als Kinder so gute Freunde waren, sagte der Herr von der Sondereinheit, während er hinüberblickte zum Fenster der Fußpflegerin über dem Eingang eines Spielzeugladens, dann möchte ich wetten, daß Sie ihn verdammt gut kennen.
Sie befanden sich im Büro des Ermittlungsrichters, umgeben von Akten über Hühnerverkäuferinnen, es roch nach kalten, geschmorten Zwiebeln, und aus dem Geschäftszimmer daneben, wo Vorladungen ausgefüllt und Karteikästen durchgeflöht wurden, drang das Gemurmel von Gesprächen und das Schaben verzogener Schubladen.
Die Fußpflegerin stand im Kittel neben einem Bord mit Feilen und Pinzetten und beugte sich zu den Füßen einer blonden Dame herunter, die ihr eine Verwachsung an den Nägeln zeigte.
– Freunde? sagte entgeistert der Richter. Wir haben, bis wir zum Militär mußten, Umgang miteinander gehabt, mehr nicht. Anschließend habe ich geheiratet, habe mal hier, mal da im ganzen Land gearbeitet, hin und wieder habe ich ihn im Garten seines Großvaters getroffen, wo er, immer sorgenvoll, immer allein, mit der Nase am Boden an der Reihe Narzissen entlangspazierte.
Auf das Dach gekauert, spähten sie durch die Dachluke und warteten kichernd und rauchend auf das neue Dienstmädchen, das vor einigen Tagen aus Alcobaça gekommen war – das, das sich beim Besteck immer irrte und die armen Ritter aus der Schüssel rutschen ließ –, warteten darauf, daß es in die Badestube kam, die Uniform zusammengefaltet auf einen Bügel hängte, sich das Haar im Nacken mit Unmengen von Haarnadeln feststeckte, den Wasserhahn aufdrehte, erst den fürs heiße, dann den fürs kalte Wasser, und die Temperatur mit dem Arm prüfte: Eine flüssige Blume öffnete sich am Stengel der Dusche, die Blütenblätter wurden zu Dampfspiralen, sobald sie die Wände berührten, und die Scheiben der Dachluke trübten sich wie die Brillengläser vor tränenden Greisenaugen.
– Sei es, wie es wolle, sagte der Herr, der an der Fußpflegerin interessiert war, die mit der blonden Dame über ein Detail am Knöchel sprach und eine Art Zange gezückt hatte, die Leute ändern sich im Lauf der Zeit doch nicht so gewaltig: