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Die bitterböse Demontage einer Familie.
Lissabon 1975, nach der Nelkenrevolution: Der Patriarch einer großbürgerlichen, weitverzweigten Familie liegt im Sterben, und die Familienmitglieder eilen herbei, um sich auf das Erbe zu stürzen, das der Alte jedoch schon längst durchgebracht hat.
Eine witzige Satire auf Dummheit, Lüge und Gier, ein virtuoses Sprachfeuerwerk, eine Familiengeschichte voller Hass, Gemeiheit - und Liebe.
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Seitenzahl: 394
Veröffentlichungsjahr: 2024
Im September 1975 haben die Kommunisten das Salazar-Regime längst gestürzt, die Großgrundbesitzer sollen enteignet werden und bangen um Hab und Gut, Leib und Leben. Der achtzigjährige Patriarch einer dieser Feudalfamilien liegt im Sterben, und wie die Aasgeier versammeln sich die Angehörigen auf seinem Gut im Alentejo. Ein irrer Reigen trifft dort aufeinander, mehrere Stimmen erzählen davon, und gutgehütete Geheimnisse werden enthüllt: Die in der Familie häufigen Krankheiten wie Schizophrenie und Debilität haben ihren Grund. Noch auffälliger ist jedoch der Haß, der sich aus Habsucht und Neid speist und der offen zu Tage tritt, als sich herausstellt, daß der Alte das gesamte Erbe bereits durchgebracht und sogar Schulden gemacht hat.
ANTÓNIO LOBO ANTUNES, geboren 1942 in Lissabon, studierte Medizin und wurde Chirurg. Während des Kolonialkrieges war er 27 Monate lang als Militärarzt in Angola. Danach arbeitete er in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Seine Werke sind in vierzig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
ANTÓNIO LOBO ANTUNES BEI BTB
Elefantengedächtnis (73424) · Der Judaskuß (73390) · Einblick in die Hölle (74240) · Die Vögel kommen zurück (73387) · Die Leidenschaften der Seele (73386) · Die natürliche Ordnung der Dinge (73389) · Das Handbuch der Inquisitoren (73926) · Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht (73131) · Was werd ich tun, wenn alles brennt? (73298) · Guten Abend ihr Dinge hier unten (73655) · Einen Stein werd ich lieben (73760) · Mein Name ist Legion (74413) · An den Flüssen, die strömen (74596) · Die Rückkehr der Karavellen (74779) · Fado Alexandrino (74930) · Anweisungen an die Krokodile (71317) · Der Archipel der Schlaflosigkeit (71456) · Kommission der Tränen (71404) · Portugals strahlende Größe (73628) · Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben (71598) · Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer? (71658) · Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen (71749) · Der Tod des Carlos Gardel (73626) · Vom Wesen der Götter (77050)
António Lobo Antunes
Roman
Aus dem Portugiesischenvon Maralde Meyer-Minnemann
btb
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Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel »Auto dos Danados« bei Publicações Dom Quixote, Lissabon. Dieses Buch erschien 1991 zum erstenmal auf deutsch.
Copyright © der Originalausgabe 1985 by António Lobo Antunes und Publicações Dom Quixote, Lissabon
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: Tina Deininger/Gerhard Jaugstetter Satz: Uhl + Massopust, Aalen CP · Herstellung:AW
ISBN 978-3-641-32178-9V002
www.btb-verlag.de
Für meine Tochter Isabel
Für Thomas Colchie, meinen Agenten und Freund, dessen Enthusiasmus und Glauben an mich während des langen, schmerzlichen Entstehungsprozesses dieses Buches entscheidend waren,
und für Miguel Sousa Tavares, den Gefährten meiner wiedererlangten Kindheit
Und zudem sind brave Leute alle gleichermaßen arm:
drum tracht’ ich nicht nach schönen Dingen, denn sie bringen keinen Nutzen.
Des Menschen ganzer Ruhm im Leben liegt im Geld,
und um viel davon zu haben, muß man vor allem böse sein.
(Gil Vicente, »Auto da Freira«)
Lonely? Ah yes
But it is the flowers and the mirrors Of flowers that now meet my Loneliness
And mine shall be a strong loneliness Dissolvin’ deep
To the depths of my freedom and that, then, shall
Remain my song.
(Bob Dylan, »Outlined Epitaphs«)
Am zweiten Montag im September neunzehnhundertfünfundsiebzig fing ich um zehn nach neun an zu arbeiten. Ich erinnere mich nicht deshalb daran, weil ich ein besonders gutes Gedächtnis hätte oder weil ich das, was mir passiert, in einem Tagebuch aufschreibe (mich haben Tagebücher oder Gedichte oder ähnlicher Kinderkram nie interessiert), sondern weil es mein letzter Tag in der Praxis war, bevor wir nach Spanien flüchteten. Gleich nach der Revolution im April des vorangegangenen Jahres bewachten bärtige Zivilisten und langhaarige Soldaten in zerschlissenen Tarnanzügen die Straßen, kontrollierten Autos oder defilierten in Scharen unter dem Kommando eines dieser unverständlichen Megaphone der Blindenlotterie, die der Marxismus-Leninismus wiederaufbereitet hatte, dort unten auf den Plätzen. Ähnlich wie die streunenden Hunde am Strand, die dicht am Meer entlangtrotten und einem imaginären Geruch folgen, versammelten sie sich auf den Bergen des Alentejo, um den Bauern unter einem staubigen Scheinwerfer den Sozialismus zuzubellen; sie durchstreiften das Land auf klapprigen Lastwagen und bedrohten die Ladenbesitzer mit den schielenden Pupillen ihrer Maschinengewehre, schlugen mit Gewehrkolben Haustüren ein und hielten Haftbefehle unter verblüffte Nasen. Was uns betraf, so besuchten wir sonntags die vom Schiffbruch der Familie übriggebliebenen Onkel und Tanten, die im Fort von Caxias wegen Wirtschaftssabotage einsaßen und zwischen den Gitterstäben der Zellen und den Achseln von Fallschirmjägern hindurch an der Mauer die Gezeiten des Tejo steigen und fallen sahen. Nur die Großmutter, die schon krebskrank war, schipperte aufs Geratewohl im Rollstuhl herum, hatte das kleine Transistorradio aufs schüttere Haar am Ohr gelegt und betrachtete lächelnd und ohne zu begreifen die Demokraten, die sich hin und wieder rempelnd durch den Korridor wälzten, mit den Pistolenläufen im restlichen Familiensilber herumstöberten und die seltsamen Reden der Blindenmegaphone wiederholten.
Seit April des vergangenen Jahres gingen Armee und Kommunisten an die Fassaden der Gebäude, hoben wie Tiere das Bein, um zu urinieren, und ließen die Wände mit gepißtem Es lebe und Es sterbe zurück, das sich widersprach und gegenseitig aufhob, später mit Plakaten für Streikversammlungen überklebt wurde, mit Fotos von Generälen, Propaganda für Rockkonzerte, Hakenkreuzen, Boykottaufrufen gegen die Regierung und Einladungen im Stil von Toilettengraffiti, verliebt verschränkten Buchstabenfingern, die der Herbst der Zeit ausblich. Trotz der in den Straßen patrouillierenden Polizeijeeps besetzten mit Töpfen und Stühlen beladene Zigeuner die leeren Wohnungen im Zentrum. In den verfallenen Häusern entstanden Kinderhorte mit Kindern, die auf dem Boden saßen und von Mörtelschuttsandwiches dick wurden. An den Straßenecken schauten uns mit Kohle gemalte Stalins angewidert an. Und der Fluß mit den reglosen Tankerfelsen unter der Brücke wurde in Caxias ohnmächtig, erstickt von den Flügeln der Vögel.
Am zweiten Mittwoch im September neunzehnhundertfünfundsiebzig fischte mich der Wecker um acht Uhr aus dem Schlaf wie ein Kran, der am Kai algenbepelzte Autos an die Oberfläche hievt, die nicht schwimmen können. Ich kam aus den Bettüchern, mir tropfte die Nacht aus Ärmeln und von den Füßen, bis der Kran meinen rostigen, triefäugigen, von Tränensäcken und Rheumatismus beuligen Leichnam auf dem Teppich neben den Schuhen vom Vortage absetzte. Wie die Toten im Leichenschauhaus wickelte sich Ana auf der anderen Seite des Bettes in die Bettdecke, und nur noch der Piassavapalmenbüschel ihres zerzausten Haars schaute darunter hervor. Traurig wächsern tropfte eine verstorbene Ferse von der Matratze herunter. Während ich mir die Zähne putzte, zeigte mir der Spiegel im Badezimmer mitleidslos die Verheerungen der Zeit, Verwüstungen wie an einer aufgegebenen Kapelle. Hinter einem mit kleinen Fischen bemalten Plastikvorhang gab es auf Glasborden aufgereihte Flaschen und Tuben, den Auspuff des Föns und die zu intensive, vom Dampf der Dusche beschlagene Helligkeit. Wie immer flutschte mir die Seife drei- oder viermal aus der Hand, um sich auf die Fliesen zu stürzen oder mit einer Schaumspur bis zum Waschbecken zu glitschen, und ich, fast auf allen vieren, halbblind vom Shampoo, rutschte ihr nach, versetzte dabei den Schienbeinen des Bidets Fußtritte, kreiste auf der Suche nach dem Gleichgewicht, das sich davonmachte, mit den Armen, hängte mich, um dem Orthopäden zu entgehen, an die verchromten Handtuchhalter und kehrte schließlich zähneklappernd mit meiner rosaroten Meerbrasse fest in der Hand unter den heißen Wasserstrahl der Dusche zurück. Ana rauchte gegen ein Kissen gelehnt und sah mir zu. Die Bäume der bolivianischen Botschaft wuchsen uns im Fenster entgegen. Die Spatzen hängten sich kopfunter an die Zweige. Der Tag und der Geruch der Dunkelheit vermischten sich unter den Bettdecken. Ich öffnete die Schublade, um ein Hemd, einen Schlips auszusuchen, und Strümpfe, Strümpfe mit meinen tausend Tausendfüßlerknöcheln darin. Ana rauchte weiter, und in der Dämmerung flanierten auf den beleuchteten Balkons Boliviens, würdig wie Diplomatenzapatas, Typen mit Sombreros, Pistolen im Gürtel und Schnurrbart. Ich versteckte mich zwischen den Socken und Unterhosen und knöpfte die Weste zu, als Ana mir vom Kissenbezug her sagte, während sie eine zweite Zigarette an der ersten anzündete, Mit so einem blauen Fleck am Schenkel, Nuno, sollte man zumindest so viel Anstand haben, es so einzurichten, daß niemand ihn bemerkt. Ich zog mich weiter an: Ich hatte seit zwei Wochen nichts von Mafalda gehört.
»Ich bin mit dem Bein irgendwo dagegen gestoßen«, informierte ich sie, mit den Schnürsenkeln beschäftigt. »Gegen die Stoßstange oder eine Kommode oder den Teufel noch mal. Ich stoße zigmal gegen irgend etwas, ohne mich daran zu erinnern.«
Ana, die auf der Seite lag, reckte sich auf der Matratze, lächelte und legte die Wange auf den Arm: Seit der Scheidung vor fünf Jahren ertrug ich ihren Sarkasmus nicht mehr.
»Die ausgefallenen Manien deiner Freundinnen«, sagte sie säuerlich. »Entschuldige meine Meinung, aber das ist eine Frage der Ästhetik, mehr nicht.«
»Ich bin irgendwo dagegen gestoßen«, wiederholte ich und machte einen Fehler beim Schlipsbinden: Mafalda hatte das hundertste Mal mit mir Schluß gemacht, weil ich meine Beziehung zu Ana nicht endgültig aufgab.
»Du wirst so nervös, wenn ich davon spreche, daß du nicht einmal den Scheißknoten richtig binden kannst«, sagte Ana mit einer Art triumphierendem Wiehern, während sie sich unter den Bettüchern ausbreitete.
Spinnenschiffe liefen über den Tejo. Ein Bolero im Radio scheuchte mich mit hüpfenden Tanzschritten zur Tür: Ich hielt mich am Schrank fest, um nicht von einem Sturzbach von Halbtonschritten weggespült zu werden.
»Von wegen nervös«, sagte ich, »das ist dieses Scheißseidenzeug, das so rutschig ist.«
Das Dienstmädchen wärmte in der Küche den Kaffee auf. Ihr Zimmer, eine Kammer mit einem Koffer unterm Bett, lag am entgegengesetzten Ende der Wohnung neben dem Metallbusch der Nottreppe, dessen Stufenblätter im Winter jammerten und pfiffen. Ana hatte ihr eine Kommode für die Wäsche und einen Nachttisch aus weißem Email gekauft, den wahrscheinlich meine Schwiegermutter, die mit Ärzten und Versteigerungen bestens vertraut war, bei einem Krankenhausausverkauf ergattert hatte. Die Scharniere weckten Echos im ganzen Gebäude, vom Dach bis zu den Zementkatakomben der Garage, wo die Autos mit den Zähnen der Kühlerroste ihre eigenen Schatten abweideten. Das Dienstmädchen servierte mir den Kaffee und steckte zwei Toastbrotbriefe in den Briefkastenschlitz des Toasters.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich, um mich wegen Ana zu rächen. »Ich trinke schnell eine Tasse und gehe dann.«
Aus den Federkissen der Kinder tönte hin und wieder Hustengebrummel. Der Kinderarzt behandelte dieses Dieseltuckern mit Tropfen und Sirup, und es erschreckt mich, daß heute statt eines blassen, mageren, an die Windeln geklammerten, die Schnullerzigarren kauenden Kinderpaares sonntags in der dunklen Eingangshalle des Hauses in Campolide, in dem meine Eltern wohnten und ich jetzt wohne, Jugendliche mit Marshelmen und der Hoffnung auf einen Schnurrbart zwischen Nase und Mund auftauchen, die ihre Mofas wütend jaulen lassen, um in der angespannten Atmosphäre eines Banküberfalls Geld von mir zu verlangen.
»Wenigstens ein Löffelchen Marmelade, Herr Doktor«, sagte das Dienstmädchen, indem sie einen Einmachtopf präsentierte. »Arbeiten, ohne etwas gegessen zu haben, macht Ihnen den Magen kaputt.«
Sie trug ein ewiges Gerstenkorn und roch nicht nach Nacht wie das ganze Haus, sondern schon morgens nach dem Abendbrot und nach Müdigkeit unter ihrem Kittel aus Serge. Sie roch nach der Zeit nach dem Nachtisch, wenn sie den Tisch abdeckte, die Maschine anstellte, ohne sich zu waschen in ihrer Kammer verschwand und um sich herum einen melancholischen Ziegengeruch verbreitete. Sie roch nach dem, wonach sie heute, beinahe zehn Jahre später, riecht, mich duzt, in Talmiketten ertrinkt und sich neben mich auf den kalbsledernen Sitz des Autos setzt, während sie mit beiden Händen das Lacksteuerrad der Handtasche festhält. Doch in der Zeit, über die ich spreche, in der Zeit dieses Buches, rückte ich die Marmelade beiseite, verweigerte den Toast und probierte den Kaffee, in dem der Zucker fehlte. Die Küchenuhr zeigte fünf nach halb neun. Das Dienstmädchen hob den Arm, um eine Dose mit Vanillekeksen von einem hohen Regal zu holen, die Düfte wurden stärker: Ein Keks auf den Weg, Herr Doktor. Die Bäume der bolivianischen Botschaft zogen ihre Schatten aus. Danke, sagte ich, während sich ihre Ellenbogen wie Fächer beleidigt schlossen: Falls ich Hunger haben sollte, es gibt eine Konditorei direkt gegenüber der Praxis, kein Grund zur Aufregung.
Ich ging über den Flur zum Schlafzimmer, um mich von Ana zu verabschieden. Sie rauchte noch immer, lag starr auf dem Kissen und starrte äußerst interessiert auf die gedrehten Halbsäulen der Konsole. Hin und wieder hoben sich die Finger in Mundhöhe, ein kleiner roter Punkt leuchtete auf, der Rauch entrückte ihr Gesicht, und die Hand ließ sich wieder auf dem Nestrand eines Glasaschenbechers in einer Falte der Bettücher nieder. Meine verpuppten Kinder bewegten sich im Nebenzimmer in ihren Kokonkojen. Ich blieb einen Augenblick stehen, die Daumen in den Hosentaschen, unentschlossen: Seit ich weiß nicht wer sie angerufen hatte, um ihr von Mafalda zu erzählen, hatte sie das Interesse an mir vollständig verloren.
»Bis später«, sagte sie, während sie zur Seite in den Spiegel schaute, der die Gardinen reflektierte, hinter denen ein mit nachgemachten Passagierdampfern übersäter Spielzeugtejo dahinwogte. Am liebsten hätte ich ein Dutzend Papiermöwen aus der Tasche gezogen und sie auf den Kai gestreut, um das Wasser des Spiegels zum Zittern zu bringen. In der Vorhalle traf ich zwischen den afrikanischen Geweihen des Garderobenständers auf das beunruhigte Gesicht des Dienstmädchens. Und ich spürte hoch oben, neben der Mauer, die Ulmen des Landgutes im Sommer, als wir klein waren.
»Wenn Sie wollen, Herr Doktor, da ist noch ein Stück vom Bisquitkuchen von gestern übriggeblieben.« Der Fahrstuhl transportierte meine ablehnende Antwort ins Erdgeschoß. Die Hauswartsfrau, die die Pflanzen in der Halle goß, dünstete ebenfalls Nacht aus, und man hörte die Grillen und Insekten der Dunkelheit unter ihrer Schürze zirpen. Auch die Erde in den Blumentöpfen roch nach Nacht, nicht nach den Nächten der Kindheit, sondern nach einer anderen, helleren, mächtigeren, feuchten Nacht aus Farnen und Wasser. Jede Minute hielt die Hauswartsfrau die Gießkanne hoch und beschimpfte die Kinder, die auf ihren Fahrrädern durch den Bogengang am Haus fuhren.
»Hallo, Dona Dulce«, sagte ich, während ich die Treppe zur Straße hinunterstieg, noch an den Kuchen dachte und Bisquitkrümel mit der Zunge ausspuckte.
»Die haben mir in die Geranien gepinkelt, Herr Doktor«, antwortete sie jammernd, indem sie das Hasenohr eines verstorbenen Blattes anhob. »Wenn mein Mann nicht gerade Asthma hätte, würde er sie mit dem Gewehr aus dem Viertel jagen. Kommen Sie doch mal her und riechen Sie mal dieses Ammoniak. Ich pflege sie mit Dünger, und diese Kamele pinkeln drauf.«
Die Jungen begegneten uns höhnisch pfeifend, die Hauswartsfrau stürzte sich mit der Gießkanne in der Faust auf sie, und die Ulmen und die Düfte der Nacht verschwanden. Von der Sonne beleuchtete Autos drückten sich zu einer Böschung zusammen: Was hat Ana mit dem Haus gemacht, wie wird dieser Teil des Restelo jetzt aussehen? So häßlich und staubig wie zu dieser Zeit damals oder häßlicher oder staubiger, von denselben Ingenieuren, denselben Doktoren, denselben geschiedenen Kauffrauen in Pelzmänteln bewohnt? Und die Bretterbudensiedlung der Zigeuner und der Schwarzen unterhalb des großen Schlafzimmerfensters? Ich holte den Wagen aus einer langen Reihe mondsüchtiger Kühlerschnauzen und holperte über Steine, Kanalisationsrohre und Holzbretter, verfluchte den Hohlweg bis zur Avenida mit der Feuerwache, die auf dem Weg nach Monsanto hinter der Polizeiwache an einer Art Platz lag, an dem sich die Platanen mit einem Sand bedeckten, der khakifarben war wie die Schilder der Baufirmen. Ich rollte an den Böschungen und den Sträuchern des Campingparks vorbei, fuhr an einem neuen Slum mit Häusern direkt an der Straße entlang, an der Frauen, die der Hausmeisterin ähnlich sahen, Schüsseln auf den Teerbelag schütteten, dann ein Fußballplatz, eine Brücke und der gewohnte Weg zur Praxis, nicht zu der von heute, in Loures, mit Schafen, die in den Pausen zwischen dem Zahn-fleisch der Patienten grasen, sondern zu der alten, majestätischen, der in der Rua Braamcamp, in einem Haus mit einem Vestibül wie ein griechischer Tempel, zwischen einem Pub und einem Konfektionsgeschäft. Die Patienten im Warteraum entblätterten Zeitschriftenmargeriten. Der Stuhl stand in der Mitte des Behandlungszimmers wie ein Schafott, und die Instrumente und Prothesen winkten mit Spitzen und Eckzähnen. Die mit der kaputten Wasserspülung vom Vorgänger geerbte Krankenschwester reihte die Krankenblätter auf und stank nach Effizienz und Desinfektionsmittel.
»Guten Tag«, sagte ich, während ich die Jacke auf einem Drahtbügel in den Schrank hängte und den Folterkittel daraus hervorholte. Die Krankenschwester bereitete Haken und Wattebällchen vor, schaltete das Videogerät an, auf dessen Bildschirm in einer Dünenlandschaft ein Fuchs einen Vogel verfolgte. Draußen zerstörten die Septemberhitzegranaten die Stadt, eine Fassade nach der anderen. Der Angestellte an der Tankstelle lag in Agonie und zu verkohlten Knöchelchen reduziert auf einem auseinandergenommenen Motor. Die Sonnenmörser rissen Pflanzen und Rasenstücke aus dem Park. Im Restaurant am See starben, während das Farbblut heruntertröpfelte, die Tische auf dem Bauch liegend auf dem Steinboden.
»Soll ich den ersten rufen?« fragte die Krankenschwester, die ständig die Kompressen und Fläschchen und Röhrchen an einen anderen Platz legte, während ich die Gummihandschuhe anzog und die Bohrer ausprobierte wie ein Pilot seine Propeller. An der Wand fügte sich die Karikatur einer alten, großbusigen Ärztin, die triumphierend einen Backenzahn in einem Schraubenschlüssel hält, in ihren Rahmen, und der Fuchs, mit Krücken und von Heftpflasterkreuzen bedeckt, machte sich daran, ein riesiges Krabbennetz anzufertigen, das zwischen zwei Felsen gehängt wurde und dazu dienen sollte, den Vogel zu fangen, der in der Wüste galoppierte. Der Sommer ließ die Gebäude wie Aknepickel aufplatzen.
»Fangen Sie an«, sagte ich, während ich ihr in Torerohaltung in den Bauchnabel piekte. In der Ecke mit den Karteikarten und dem Schrank mit der Jacke begannen die beiden Telefone gleichzeitig wild zu klingeln, und im selben Augenblick kam, Armreifen klimpernd, im Schlepptau der Kompressenkrankenschwester eine Frau herein. Das Krabbennetz überschlug sich in der Luft, kriegte den Fuchs zu fassen und schleuderte ihn gegen einen Kaktusbuchsbaum. Die Krankenschwester beruhigte die Apparate, die wie hungrige Lämmer blökten.
»Am siebzehnten um elf Uhr«, sagte sie, »das ist die einzige Lücke, die ich noch habe.« Ich schaltete den Fernseher aus (eine Lampe wurde immer kleiner und starb in der Mitte des Bildschirms) in dem Augenblick, in dem sich der Vogel im Galopp näherte, unvermittelt stehenblieb, piep, piep sagte und verschwand. Ich schob eine andere Kassette ein, der Bildschirm füllte sich mit aufgeregten Körnern, und dann, nach einem roten und einem weißen Streifen, drehte ich am Lautstärkeregler und hörte die üblichen Trompeten den Vorspann begleiten. Die Krankenschwester legte den Hörer des ersten Telefons auf und beschäftigte sich nun mit dem zweiten. Wie geht es, Herr Admiral, vielen Dank, worum geht es denn, und es war Leslie Caron, die mich lächelnd mit nach außen gedrehten Fußspitzen neben dem Zahnarztstuhl erwartete. Wenn Ihnen der Stiftzahn herausgefallen ist, erklärte die Krankenschwester, wird der Herr Doktor Sie sicher gleich heute nachmittag um sechs Uhr empfangen, ich werde es im Kalender eintragen, damit es nicht vergessen wird. Die Sonne setzte ihr Aschegemetzel auf dem Platz fort. Mein Arztkittel wurde zu einem Ringelpulli, die Praxis verwandelte sich in die Pappszenerie einer Straße in Paris, mit kohlegezeichneten Laternen, Bäumen und Brücken und dem Eiffelturm und dem Moulin Rouge und dem Vatikan und allen nur denkbaren Sehenswürdigkeiten aus ganz Europa. Ich ging auf sie zu, entfernte mich in einer Pirouette, kam wieder näher und war Gene Kelly, der im Rhythmus des Orchesters auf dem Teppichboden der Praxis tanzte, über Kästen mit Verbandszeug sprang, dem Gelächter der Prothesen auswich, von bunten Scheinwerfern angestrahlt über Sperrholzstufen zu einer Seine aus Cellophan herunterwirbelte, in der aus Latten zusammengenagelte Barkassen vor Anker lagen, Kioske und Fähnchen von Cafés oszillierten, und im Hintergrund, in der Nähe des Fensters, führte ein Corps de Ballett von Kellnern mit Tablett und Schürze und Prostituierten, die ihre Lackhandtaschen in der Luft kreisen ließen, eine komplizierte Choreographie zwischen Versailles und dem Prado-Museum auf.
»Diese Dame ist eine Patientin von Doktor Acácio«, sagte die Krankenschwester, während sie ihrerseits zur Seine herunterstieg mit den entschiedenen Gesten der reichen Amerikanerin, die in der letzten Viertelstunde des Films darauf bestanden hatte, mir ein Maleratelier zu schenken, das dem Boudoir einer Kokotte ähnelte.
»Doktor Acácio hat mir geraten, Sie aufzusuchen, falls es inzwischen Unannehmlichkeiten geben sollte«, sagte die Frau, vom lidlos starren Auge der Lampe beleuchtet. »Sie sind doch seine Ferienvertretung?«
Die Eiterflüsse unterhielten sich mit den Wellensittichen im Käfig des Warteraumes über die Friseurzeitschriften, die das Fräulein von der Telefonvermittlung ihnen monatlich in der Hoffnung schenkte, daß die Leidenschaft des italienischen Rennfahrers für die Tochter des griechischen Reeders von den Schmerzen ablenken würde. Ein Kollege in der Praxis rechts von mir hämmerte unermüdlich und zermalmte einen offenliegenden Nerv. Die Krankenschwester bewegte sich spiralförmig von einem Abgußlöffel zum anderen und hängte die Kette einer Stoffserviette um den Hals der Frau. Die Hitze ließ das Gebäude gegenüber unter lautlosem Getöse einstürzen. Gene Kelly ging im Video niedergeschlagen und mit den Händen in den Hosentaschen in seine Künstlermansarde. Leslie Caron zog, von einem Laubengang aus Bohrern beschirmt, den Rock herunter, um die Knie zu bedecken, oder was von den Schenkeln übriggeblieben war: »Ich fahre morgen früh mit den Kindern in den Algarve, sagen Sie mir doch, wo ich in Armação de Pêra einen Zahnarzt auftreiben kann.«
Und Gene Kelly zeichnete grauenhafte Schmierereien, während die Werbung von Pigalle im offenen Fenster wie ein freigelegtes Froschherz pulsierend an und aus ging. Ein betrunkener, häßlicher Freund in zerknittertem Anzug und mit einem Glas Whisky in der Hand lobte sein Werk. Die Krankenschwester sterilisierte Haken im Kocher. Leslie Caron schlug die Beine übereinander, sah mich an, meine Knochen brachten Distelblüten hervor, und vom langen Strand meines Bauches flogen Vögel auf. Gestern abend habe ich beim Essen etwas Kleines, Hartes auf den Teller gespuckt, sagte sie, das muß ein Stückchen Blei aus dem Zahn gewesen sein, ich weiß ganz genau, daß ein Stein im Reis war. Die Musik im Video wurde traurig: Gene Kelly hielt den Pinsel, fiel auf den Flickenteppich, den er als Bettdecke benutzte, machte einen Purzelbaum, sprang hoch und legte den Kopf in den Nacken, um seine Gesangsnummer zu beginnen:
»Machen Sie den Mund auf«, bat er.
Er spazierte am Zahnfleisch entlang, das der Metallspiegel vergrößerte, stellte die Plombierung fest, stolperte über das Fehlen eines Weisheitszahns, kratzte am Zahnschmelz und spürte den Knöchel der Frau durch den Stoff meiner Hosen an dem meinen, und es flogen noch mehr Vögel von meinem Bauch auf, und noch mehr Knochen schlugen aus, und tiefere, geheimere Gezeiten bewegten sich in meinem Leib in einer Dämmerung auf unendlichem Sand: Wenn ich die Untersuchung hinauszögere, dachte er, wenn ich den Zahnstein mit dem Bohrer abschleife, habe ich einen Vorwand, genauer hinzusehen, ihrem Busen näher zu kommen. Dennoch richtete ich mich auf, machte das Licht aus, legte den kleinen Spiegel ab und garantierte: Alles wunderbar, Verehrteste, Sie können beruhigt in den Algarve fahren. Und immer noch ihr Bein an meinem Bein, bis ich bemerkte, daß das Telefon wieder klingelte, die Krankenschwester Ja bitte? sagte, bis ich hörte, wie ein Bleistift auf den Tisch schlug, bis ich die Ankündigung hörte, Fräulein Mafalda für Sie, Herr Doktor, und der Schenkel sich sofort von mir entfernte, Wo muß ich bezahlen?
Die Kollegin wird Ihnen draußen eine Quittung ausstellen, erklärte die Krankenschwester, die ihr den Rücken zugewandt hatte, während Gene Kelly auf dem Kai der Seine einsam den Stepptanz seiner Enttäuschung tanzte.
»Nuno?« fragte die hohe Spatzenstimme Mafaldas: »Nuno? Hast du in ein oder zwei Stunden etwas zu tun? Ich muß dich unbedingt sprechen, ich bin wahnsinnig in Sorge, du kannst dir das gar nicht vorstellen.«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Leslie Caron die Krankenschwester begrüßte und verschwand und wie das Standbild des Marquês de Pombal sich auf dem Sockel auflöste wie ein fauliges Lächeln. (Drei Contos sechshundert, Olívia, brüllte die Krankenschwester in die Gegensprechanlage, für eine Fregatte mit Armbändern, die gleich bei dir auflaufen wird.) Ich fühlte, wie die Steinplatten im Museum, in denen die sonderbaren Flügelrippen eines Insekts jahrhundertelang eingedrückt bleiben, am Knöchel das Fehlen des Knöchels der Frau. Ein Arm des Marquês de Pombal zerfloß langsam auf dem Fußweg.
»Letztes Mal hast du mich schreiend aus deiner Wohnung gejagt«, sagte ich, während ich mich an die kleine Wohnung in Lumiar erinnerte, an den Hibiskus auf der Tapete des Schlafzimmers, an den Vorplatz mit Pfeilen und einem Leopardenschild und an mich, der von deinen Schreien von einem Zimmer ins andere und dann auf die Straße gedrängt wurde: Ich will keinen verheirateten Mann, wenn du dich nicht von Ana trennen kannst, schieß ab zum Mond.
»Ich habe einen Knoten in der Brust, Nuno, ich hab einen Termin beim Arzt«, und ich übersetzte: Dir ist der Stoff ausgegangen, und mir kam in den Sinn, daß es in ihrer Küche immer nach Gebratenem roch und nach diesem französischen Kräuterkäse, den ich nicht leiden kann. Die Wäsche rumpelte im Bullauge der Waschmaschine. »Hast du eine halbe Stunde Zeit, um ruhig in der Pause zwischen zwei Zahnfüllungen zu Mittag zu essen?«
»Eine halbe Stunde kann ich vielleicht rausschlagen«, sagte ich, während ich den Stapel der Karteikarten mit dem Blick abschätzte. »Heute ist die ganze Karies der Welt über mich hergefallen. Um ein Uhr bei dir zu Hause?«
»Lieber wie immer in der Kneipe«, sagte der Spatz mit seinen winzigen Kicksern. »Du hast offenbar unser letztes Gespräch vergessen. Bis du Ana nicht aufgibst, wenn du Ana überhaupt eines Tages aufgibst, bleiben wir nur Freunde.«
Und nicht einmal Freunde waren wir geblieben: Blödsinnig, das alles, die Diskussionen, das Schweigen, die kleinen Haßausbrüche, die wie wütendes Nagen an einem Gummiknochen waren, die unzähligen Zigarettenkippen und unsere Köpfe nebeneinander am Rückteil des Bettes, ernst, trotzig, zornig, unnachgiebig, mit einer Falte mitten auf der Stirn, die die Halbierungslinie des fernen Winkels der Füße bildete. Du wirst in diesen Jahren mehr als in den vorangegangenen gealtert sein, eine unangenehme, trockene, schuppige Haut bekommen haben, ledig geblieben sein, du wirst weiter in einem unerträglichen Tabakgestank in deinem winzigen Auto fahren und, versteckt hinter der dunklen Brille und den Bubblegumballons, die Ampeln in der Stadt mißachten, du wirst wie immer dein Leben mit kompliziertem Schriftkram verdienen, dich vage mit Touristen beschäftigen, vage Diskotheken beraten, vage französische Romane übersetzen, dabei frenetisch Kaffee trinken, ekelerregende Bonbons auswickeln, die das Nikotinlaster für immer beseitigen sollen, barfuß auf dem Boden sitzend mit einem Haufen von Freundinnen telefonieren, dich zum Einkaufen in Badajoz, zum Abendessen in Bairro Alto, zum Kartenspielen, zu Jeepausflügen im Gerês oder im Algarve verabreden, Modeschauen, Maskenbälle und Geschäfte mit Boutiquen organisieren, du wirst heftig abnehmen, heftig unglücklich sein, heftig häßlicher und schlampiger und unsauberer werden, bis sich die Nacht meines Vergessens mit dem unwiderruflichen Seufzer welken Wassers über dich legt.
»Ich habe noch eine Menge zu tun«, sagte ich, »ich will versuchen, daß es klappt.«
Leslie Caron trank in der Konditorei gegenüber der Praxis irgend etwas mit Apfel oder Ananasgeschmack, das ich früher mit einem Strohhalm genuckelt hatte, und ich dachte einen Augenblick lang daran, die Treppe zu ihr herunterzuhüpfen, doch dann kam eine alte Dame, deren Gebiß angepaßt werden mußte, und danach ein gutgekleideter Mann, der zu schwitzen begann, sobald der Bohrer anfing zu summen, so daß das Ende des Videofilms ein saures Gefühl der Hoffnungslosigkeit im Magen zurückließ mit der Gewißheit, daß uns das Glück ewig entwischt aufgrund von Zahntaschenentzündungen, die sich in letzter Sekunde immer zwischen uns und ein Paar flüchtender Turnschuhe stellen.
»Ist das Gespräch zu Ende, Herr Doktor?« fragte plötzlich das Fräulein von der Telefonvermittlung in ihrem typischen ärgerlichen Tonfall, indem sie in unser Gespräch fiel wie ein Stück Dreck ins Auge. »Die Leitungen sind nämlich alle besetzt, und Doktor Saldanha hat mich um eine Verbindung nach Santarém gebeten.«
»Ich mache gleich Schluß«, sagte ich, und ganz entgegen meiner Erwartung gab es kein Klicken im Apparat.
»Es wäre gut, wenn du kommen könntest«, sagte Mafalda. »Und dann bring doch auch gleich diese dumme Ziege zur Räson.«
»Selber blöde Ziege, Sie Schnepfe«, antwortete prompt die von der Vermittlung. »Ich arbeite, tue das, was man mir aufträgt, ich mach mir kein schönes Leben.«
»Na, na!« bat ich unangenehm berührt. »Was für Diskussionen sind das denn zum Teufel!«
»Ich tue nur meine Arbeit, Herr Doktor«, log die Vermittlung wütend. »Mich interessieren die Privatgespräche der Leute nicht.«
»Du läßt zu, daß dieses Miststück so redet, Nuno?« empörte sich Mafalda. »Du läßt zu, daß sie so mit dir spricht?«
»Ihnen ist wohl nicht klar, wen Sie da ankläffen, Madame!« geriet die andere in Zorn. »Und das Miststück ist doch wohl Ihre Mutter!«
»Hast du das gehört, Nuno?« beklagte sich Mafalda. »Hast du die Beleidigungen dieser Hure gehört?«
»Und Sie, bringen Sie keine verheirateten Männer auf Abwege!« brüllte die Vermittlung kopflos. »Aber abgesehen davon, wenn ihm nach ‘ner Frau zumute ist, wette ich, daß er nicht gerade auf Sie zurückgreift.«
Ich legte den Hörer auf, während die beiden Stimmen sich auf einem elektrischen Feld voller Stecker und Drähte wälzten und bissen. Ich brachte den Schneidezahn eines Heranwachsenden in Ordnung, der jedesmal mit weißen Fingern die Verzierungen des Stuhles umklammerte, sobald ich mich ihm näherte: In seinem akneroten Gesicht drückten nur die Augen eine animalische Angst aus, die unkontrollierte Angst eines kleinen, kräftigen Pferdes. Die Krankenschwester schwamm im durchsonnten Aquarium des Zimmers zu mir, brachte die Instrumente und bereitete Amalgam vor. Grünliche Luftblasen stiegen an den Aluminiumrahmen der Fenster auf und nieder. Ich behandelte noch zwei Backenzähne, machte rote Eintragungen auf den Karteikarten, malte Kreuze an die Stelle der Füllungen. Ich reinigte die Wurzelkanäle einer Frau in den Dreißigern mit vier Kindern, die ständig überall herumfummelten, die Schränke aufmachten, die Kompressen infizierten, sich an den Pinzetten pieksten und sich gegenseitig mit den Haken bedrohten, und das alles unter den lächelnden, stolzen oder zerstreuten Blicken der Mutter, die mit weit offenem Rachen, den Absauger ans Kinn gehängt, dasaß, während die Kinder versuchten, die Praxis zu demolieren, und dem Röntgengerät Fußtritte versetzten: Wie gut, daß Ana und ich nicht noch mehr Kinder hatten, wie gut, daß mein Sperma zu einem faden Likör ohne Samen geworden war, zu einem sterilen, saftlosen Eiweiß in den Reagenzgläsern. Nach acht oder neun Opfern ein Patient, der zum ersten Mal kam, eine Adresse in Braga: Sollte meine Berühmtheit sich so schnell im Lande verbreitet haben, mein Gott, daß sie sogar aus dem Norden kamen, damit ich ihnen meine wundertätigen Hände auflegte und sie rettete? Was sagst du dazu, Nuno? heulte Mafalda, was sagst du zu dieser Schreckschraube da bei dir? Ich ging hinaus, um im Kabuff auf dem Flur zu urinieren, und das Telefonfräulein starrte mich mit einer Undurchdringlichkeit an, die so vollkommen war, daß sie mein sympathisches, beinahe mildes Lächeln im Vorübergehen nicht durchließ. Im Warteraum hustete eine undeutliche Stimme Aschenbecher und Zeitschriften zu Boden: Das muß der aus Braga sein, dachte ich, und stellte mir ein borstiges Gletscherungeheuer vor, das in der Septemberhitze bald auftauen würde. Ich zog die Kette der Wasserspülung, hörte ein Klicken im Leeren und einen Hebel in den anderen greifen, ich wusch die Hände mit einem letzten durchsichtigen Seifenspan, der in meinen Handflächen dahinstarb, drehte den Knauf der Tür, lächelte wieder dem Telefonfräulein zu und bekam als Antwort ein düsteres Röhren. Der aus Braga mußte schon ins Behandlungszimmer gegangen sein, denn der Warteraum war verwüstet und leer. Zehn vor zwölf: Ich rückte den Schlips gerade, drückte die Türklinke herunter und täuschte die von den Patienten gewünschte entschlossene Sicherheit vor. Die Krankenschwester ordnete die vorzüglichen chirurgischen Instrumente in eine in Fächer aufgeteilte Schublade ein wie in einen Nähkasten. Edward G. Robinson rauchte im Video Zigarre und sah mich dabei aus den melancholischsten Augen der Welt an, und ein überbordender Bauch mit einer Weste und ausgestreckter Hand stieß mit mir zusammen wie ein Wal mit dem anderen: Wie gut, daß ich noch einen Termin bekommen habe, Herr Doktor, es ist verdammt schwierig, in diesem Land einen Zahnarzt aufzutreiben.
An der Stelle der Statue des Marquês de Pombal rauchte nun nur noch ein Krater, den ein Kreis zerstörter Häuser säumte, und der gelbe Himmel glich einer riesigen sich drehenden Scheibe: An so einem Nachmittag würde es, wenn die Hitze weiter so anstieg, schwierig sein, sich zu Fuß auf dem Teer der Straßen zwischen den geschmolzenen Ampeln fortzubewegen.
»Und das mir«, sagte der Wal, indem er auf eine Wange zeigte, »ich habe da ein Scheißproblem.«
Die Schultern der Krankenschwester, denen diese rüde Sprache Gänsehaut verursachte, zogen sich zusammen und dehnten sich wie die Wasserhaut eines Brunnens, in den ein Stein hineinfiel, und ich glaubte plötzlich, mit der Nase vor dem Video, in eine Schießerei geraten zu sein. Es waren nicht nur die Augen von Edward G. Robinson die melancholischsten der Welt, sondern auch diese aus dem Gesicht hervorstehenden Gummilippen, es waren die Leichenfalten auf den dicken Backen, es waren die phantastischen Eidechsenaugenlider, es war seine anrührend ernste Zerbrechlichkeit. Gefällt es Ihnen auch? sagte der Mann, indem er mir über die Schulter sah, ich habe auch so ein Spielzeug für die Gören gekauft, habe es mir aber von Spanien einschmuggeln lassen, und ich sog seinen Atem ein, der so dick war, daß die Worte fest oder gelatineförmig in mein Ohr zu gelangen schienen. Ich wies mit dem Finger auf den Stuhl, setzte mich noch immer wortlos auf meinen Hocker, langte nach dem kleinen Spiegel und fand sein Frühstück in den Zahnzwischenräumen, Reste von Brot, Kuchen, gekochtem Schinken, Käse. Fragte, Wo tut es denn weh?, und der Typ zeigte auf eine Plastikprothese, die aussah, als wäre sie auf einem Zigeunermarkt, zwischen lahmen Eseln und Tonschüsseln und Geschrei und Musik und Karussells und Schmalzgebackenem und Ferkelquietschen und diesen Blinden gekauft worden, deren gebieterische Handflächen horizontal vor einem auftauchten, so daß ich die zu große Prothese, die kurz davor war, ihm den Schädel zu zersprengen, der sich neben der Zunge mit ausgezeichneten Eckzähnen öffnete, mit dem Wasserstrahl reinigte. Ich verstehe nicht, warum dieser Mensch nicht mit den Hufen ausschlägt, dachte ich, während ich verblüfft das Gebiß eines Kutschpferdes betrachtete, warum bockt er nicht und galoppiert frei die Avenida entlang. Edward G. Robinson grub den Revolver aus der zweireihigen Jacke, die Gruppe, die ihn begleitete, entsicherte mit einem Klicken die Maschinengewehre, und die Bankangestellten mit dem Schirm über der Stirn zitterten im Schutz der Schaltergitter. Die Krankenschwester ordnete das Material für die Nachmittagssprechstunde, indem sie es mit einer Art Zange aus dem Sterilisator fischte, und ich argwöhnte, daß dies die einzige Epilationsart sein dürfte, der sie sich widmete. Nehmen Sie das da raus, sagte ich zu dem aus Braga und suchte einen Spachtel auf dem Glasbord, wollen mal sehen, was Sie unter diesem Ding da verwahren.
Nicht nur der Marquês de Pombal hatte einem Aschenkreis Platz gemacht, sondern auch die übrigen Plätze der Stadt samt den Alleen und Gassen und Straßen. Auf dem Largo da Estefânia zum Beispiel verzehrte sich der Springbrunnen zwischen den gekrümmten Häusern. Im Video sprang Edward G. Robinsons Bande auf die Banktresen und sammelte das Geld in Segeltuchsäcken ein. Der Mann zog mit beiden Händen an der Prothese, als würde er eine widerspenstige Flasche entkorken, doch das Plastikteil rührte sich nicht. Er zog ein zweites Mal, rot, ein drittes Mal, violett, und immer noch nichts: Sie geht nicht raus, miaute er entsetzt, vielleicht hat sie Wurzeln im Fleisch geschlagen, wahrscheinlich klebt sie an den Knochen, und jetzt? Ruhig Blut, sagte ich, wenn sich die Prothese eingeklemmt hat, kriegt man sie im Nu wieder frei: Ich führte, vom feinsten Bohrer unterstützt, eine Kneifzange ein, rosafarbener Staub wirbelte auf, die falschen, losen Zähne kullerten wie Perlen von einer Schnur zu beiden Seiten herunter, und schließlich löste sich der Draht, der dies alles umgab, und fiel ab. Und der Heini wird wieder genauso ein Ding wie das auf einem anderen Markt kaufen, dachte ich, es gibt Gauner, die sie dutzendweise auf Papplatten verkaufen, in allen Größen, in allen Preislagen, zwischen Zicklein und Prozessionen und Schießbuden und entsetzten Familien und Leuten, die Schneidezähne mit Fausthieben unter bunten Zeltplanen behandeln. Zwanzig vor eins, erspähte ich auf der Uhr, ich bin am Arsch, wie soll ich es bloß noch rechtzeitig nach Lumiar schaffen? Ich warf die Reste der Prothese in den Eimer, in dem sich blutige Wattestücke und zerstückelte Gaumen häuften, und der aus Braga blickte schmerzlich betrübt wie ein Waisenkind auf seinen zerstörten Schatz. Edward G. Robinson schoß in die Luft und lief vorm Eingang der Bank auf ein Auto zu, in dem ein Gangster mit zerquetschter Nase am Steuer saß. Ich reinigte die Höhlung, die das Plastik zurückgelassen hatte, und behandelte die Ratscher, die abstoßenden Atemdünste der ländlichen Küche, die Karies, die das Bakelit und das Metall zwischen den Zähnen verfaulen ließen, mit Mercurochrom. Das Gesicht des Mannes wurde ohne Prothese um die Hälfte kleiner, die nunmehr mageren Wangen waren faltig zerknittert, die Augen alterten, und ich dachte, wie sehr er diesen falschen Mist mochte, wie sehr er diese Scheiße lieben mußte. Und tut es Ihnen jetzt noch weh, sagte ich, haben Sie jetzt nicht ein Gefühl der Erleichterung im Mund?, und der Dummkopf nickte mit dem Kinn, gab mir Recht, suchte aber immer noch im Eimer nach dem Grund seines Leidens und seiner Freude, stand schließlich auf, um hinter der Krankenschwester herzugehen, die den Abfallbehälter aus dem Zimmer trug, und beide verschwanden auf diese Weise weit weg von mir und für immer, da ich an jenem Nachmittag nicht wieder in die Praxis zurückkehrte, mich bereits abends mit meiner Frau und meinem neunjährigen Schwager im Alentejo befand und wir fünf Tage später auf einem der Flöße eines ertrunkenen Fischers über die spanische Grenze fuhren, weil die Armee und die Kommunisten uns alle töten wollten, sobald das Fest in den Gassen der Stadt aufhören würde, uns auf den Stufen der Kirche Santa Maria zwischen Bettlern und streunenden Katzen töten wollten, mit dem Rücken zur Zellulosefabrik und an der Stelle, an der sie lange vor der Revolution einen Staudamm zu bauen versprochen hatten, ihn aber nie bauten, sondern zuließen, daß die Olivenbäume und die Zistrosen im Gelb des Septembers, das einer schlechten Fotografie glich oder verdorbener Säure, bis zum Ufer des Guadiana wuchsen. Die Krankenschwester verschwand mit der Prothese, und der aus Braga trottete hinter ihr her und rief, He, gute Frau, gute Frau, nun mal langsam, was Sie da mitnehmen, das gehört mir, während ich den Kittel auszog und besorgt die Jacke wieder aus dem Schrank holte: Zwölf Uhr sechsundvierzig, wenn Mafalda mit ihrem Pünktlichkeitsfimmel noch auf mich wartet, habe ich Glück. Ich fuchtelte mit den Händen unter dem Wasserhahn wie ein Pater in der Messe mit den Oblaten, sah, wie der Kittel vom Bügel auf den Boden fiel, und ging nicht wieder zurück, um ihn aufzuheben, sagte dem Telefonfräulein auf Wiedersehen, die wie eine verschnupfte Eule auf einem Zweig hinter ihrem Tresen verschanzt hockte, auf Mafalda sauer war, auf mich und auf alle sauer war und obendrein dazu fähig, Ana mit verstellter Stimme anzurufen und ihr zu erzählen, Stellen Sie sich vor, Ihr Mann treibt sich in Lissabon herum, meine Liebe, stellen Sie sich bloß einmal die Unverfrorenheit dieses kleinen Mistkerls vor, eine Geliebte, und die ganze Stadt sieht es, und das ist auch noch eine enge Freundin von Ihnen. Ich rannte die Treppe hinunter, rückte die Manschetten zurecht, stopfte den Hemdzipfel in die Hose, zog den Schlips fest. Ein Arzt, erklärte meine Mutter, darf nicht wie ein Zigeuner herumlaufen, du bist jetzt nicht mehr irgendein kleiner Student, und schließlich stand dort draußen die Statue vom Marquês de Pombal, waren die Häuser heil und die Boulevards heil, und in der Gewißheit, daß auch der Largo da Estefânia heil war, daß der Strahl seines Springbrunnens wieder ein Wasserstrahl war, der über die Bronze lief, die wieder Bronze war, fragte ich mich dann wie immer, Wo habe ich den Wagen gelassen, weil ich mich einfach nie an den Scheißplatz erinnern konnte, wo ich ihn geparkt hatte, ob an dieser Ecke oder an jener oder an einer anderen, und selbst wenn ich auf ihn stoße, gehe ich vorbei, ohne ihn zu erkennen; eine Blechdose mit vier Rädern, die wie alle anderen Dosen mit vier Rädern aussieht, müßte meinen vollständigen Namen, den Personenstand und die Nummer meines Personalausweises in dicken Lettern auf der Motorhaube tragen. Der aus Braga heulte auf der Hintertreppe des Gebäudes noch immer der Krankenschwester nach und war wild darauf, seine Kinnlade wiederzubekommen. Ich begann kopflos die Autos durchzublättern, und in diesem Augenblick sah ich eine unter Paketen vergrabene Alte auf der anderen Straßenseite aus einem Taxi steigen, Taxi, bellte ich, Taxi, und überquerte die Straße, indem ich die Stoßstange eines Lastwagens streifte, der auf dem Teer in die Knie ging und mich mit proletarischer Energie beschimpfte, erreichte die Tür mit einer halben Begrüßung Vorsprung vor einem grauhaarigen Herrn, der Das ist meins, das ist meins fauchte, fiel auf den Nappasitz, ließ das Schloß einschnappen, was zwischen dem anderen und mir eine Barrikade mit Fensterrahmen errichtete, und befahl wie ein Graf seinem Troß, zur Calçada de Carriche zu fahren, wobei ich den Fahrer mit den melancholischsten Augen und dem melancholischsten Mund ansah, die man sich vorstellen kann, als würde ich aus meiner doppelreihigen Jacke gleich eine riesige Pistole ziehen und auf den Chauffeur die Platzpatronen aus der Magazinattrappe abfeuern.
»Ich wollte gerade gehen, Nuno«, sagte Mafalda vor einem Mineralwasser und einem Kaffee. »Ich hätte keine Sekunde länger gewartet.«
Die Kneipe lag an einem kleinen Platz mit einem Lebensmittelladen oder Minimarkt links und einem ordinären Friseur mit schamhaften Gardinchen im Schaufenster rechts. Der Essensdunst verschlang die Kundschaft aus Arbeitern und Kraftfahrzeugmechanikern, so daß nur hin und wieder ein Arm oder der Teil eines Nackens aus dem Mittagessensnebel auftauchte. Ein Lahmer bewegte sich, vom Resopal des Tresens unterstützt, von Flasche zu Flasche. Auf hohen Stühlen hockten Störche im Monteuranzug, pickten an Tresterschnäpsen oder flogen auf und verschwanden schwer vom Alkohol in der Tür, stiegen unter Schwierigkeiten die blauen Stufen der Luft hinauf. Durch ein Loch in den Fliesen lieferte der Ellenbogen einer Frau Schüsseln und Suppen: Ich bin auf dem Weg im Verkehr steckengeblieben, und Mafalda, die mit dem Löffel in der leeren Tasse herumrührte: Mir würden einige Tabletten enorm guttun, Nuno, und der Psychiater meiner Schwester empfängt mich diese Woche nicht.
Ein Typ mit Schürze schwebte trübe im trüben Licht heran, ließ das Buch mit der Speisekarte wie Kot auf den Tisch fallen, die mit Bleistift in einer Schultafelkinderschrift geschrieben war, und verschwand wie ein Fisch im Seetang der Hühnerbrühe.
»Verkauft sie dir der Apotheker neben deinem Haus denn nicht«, fragte ich, die Truschen entziffernd, »und du gibst ihm dann einfach das Rezept am Montag?«
Gleich nebenan lutschte eine Alte mit blond gefärbtem Haar und einem Drahthaarhund auf dem Schoß Gräten ab und steckte dem Tier immer wieder die Schnauze in den Reis.
»Die machen mich wahnsinnig«, beklagte sich Mafalda, »sie verlangen spezielle Rezepte, machen Polizeiverhöre und sehen einen schief an. Ich habe den Apotheker ein für allemal dahin geschickt, wo der Pfeffer wächst.«
Der Knoten, die Aufregung und die ärztliche Befragung lösten sich in nichts auf: Ich bestellte ein Steak, das mir vielleicht die Zeit geben würde, wenn ich es mir schnell einverleibte, in ihre Wohnung hinaufzugehen, um mit ihr zu schlafen, als Gegenleistung für die Tabletten, die ich in der Tasche hatte. Der Kellner rief mein Mittagessen in die Küche und verschwand wie eine unrasierte Fee mit Schürze und dreckigen Fingernägeln. Was? sagte Mafalda, du willst mir das Medikament zu Hause geben? Wirklich, das ist unglaublich, Nuno, aber bei dir habe ich mich schon an alles gewöhnt. Die blonde Alte beschimpfte mit aufgerichteter Gabel den Hund, dessen Augen an große, nasse Kontaktlinsen erinnerten. Man deckte vor mir ein Messer, eine Gabel, ein Glas und eine Serviette auf dem Papiertischtuch auf. Ein Bier, sagte ich, und der Nebel lichtete sich: Vor der Alten mit dem gefärbten Haar erkannte ich einen glatzköpfigen Herrn mit einer Fliege, der mit einem Fan über Fußball diskutierte, der ihm, über die Tischplatte gebeugt, in respektvoller Haltung zuhörte. Ich hab dir doch gesagt, daß wir, solange du dich nicht von Ana trennst, erinnerte mich Mafalda, nur Freunde sind und nichts weiter. Und ich dachte an deinen mageren Körper, der sich auf dem Bettlaken räkelt, an deinen eifrigen Mund, an deine leeren Brüste. Der Lahme von der Theke schwankte in Richtung Telefon. Ein einsames Wesen lehnte an der Wand und kämpfte mit der Schinkenwurst im Omelett. Außerdem, sagte Mafalda, falls du meine Wohnung im Sinn hast, vergiß es lieber: Die Putzfrau meiner Mutter macht dort wahrscheinlich gerade sauber, stell dir den Skandal vor, wenn wir dort reinkommen und sie treffen. Das Steak und das Bier landeten unter meiner Nase: Das Bier schwitzte vor Kälte, und die Bratkartoffeln glänzten vor Fett. Ich holte die Pillen aus der Tasche und reihte sie auf dem Tisch auf: sechs kleine, in Silberpapier eingewickelte Zylinder mit einem in Blau gedruckten Namen auf der Verpackung. Mafaldas Finger schnellten, von einem merkwürdigen Durst getrieben, sofort nach vorn, das Gesicht veränderte sich, die Pupillen wurden größer, etwas Abstoßendes und Gieriges breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Nun mal sachte, riet ich ihr, während ich das Fleisch zerschnitt. Nun mal sachte, noch gehören sie mir. Die Hand mit der Zigarette zwischen den Fingernägeln stoppte zitternd, zwei Handbreit vor der Droge. Ein Stück Asche fiel ab und auf das Papier. Die blonde Dame stellte den Hund übertrieben vorsichtig auf den Fußboden, und das Tier hob sofort das Hinterbein und pinkelte ihr ans Bein. Wir können versuchen raufzugehen, Nuno, schlug Mafalda in einem andern Tonfall vor, aber wenn sie sich bei meiner Mutter beschwert, streichen die mir gleich das Geld für den Monat. Du Böser, schimpfte die Alte zum Hund hinüber, nennst du das etwa gut erzogen? Während ich kaute, steckte ich die Pillen in die Tasche: Wenn du nicht willst, um so besser, sagte ich und balancierte die Kartoffeln auf der Gabel, ich brauche viel davon in der Praxis, gegen Schmerzen. Nein, nein, laß uns