Der Todesengel von Wien - Nina Jelinek - E-Book

Der Todesengel von Wien E-Book

Nina Jelinek

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Beschreibung

Als Heinrich Truttenberger im Herbst 1937 zum Begräbnis seiner Mutter in seine krisengebeutelte Heimatstadt Wien fährt, muss er feststellen, dass diese ihr Leben kurz vor ihrem Tod komplett auf den Kopf gestellt hat. Als Mitbewohnerin der schillernden Martha genoss sie ihre letzten Tage in einer vornehmen Stadtvilla und vermachte ihr ihr gesamtes Vermögen. Angetrieben von Wut, Trauer und Frustration hält Heinrich die polizeiliche Abteilung für Leib und Leben auf Trab, wobei Erschreckendes ans Licht kommt.

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Nina Jelinek

Der Todesengel von Wien

True Crime

Zum Buch

Tödliche Unschuld Im Herbst 1937 zeigt sich Wien von seiner schlechtesten Seite. Heinrich Truttenberger kehrt zum Begräbnis seiner Mutter in seine von der Weltwirtschaftskrise gebeutelte Heimat zurück und muss feststellen, dass seine Mutter kurz vor ihrem Tod ihr ganzes Leben umgekrempelt hat, um an der Seite der schillernden Martha zu leben. Als er dann auch noch erfährt, dass sie Martha ihre gesamten Ersparnisse vermacht hat, fühlt er sich verraten und äußert Verdächtigungen, die selbst die Polizei hellhörig werden lassen. Im Laufe der Ermittlungen kommen immer mehr Todesfälle aus dem Umfeld der schönen jungen Frau ans Licht und auch ihre gerichtliche Vergangenheit bleibt nicht lange unentdeckt. Denn bereits zwölf Jahre zuvor musste Martha wegen einer blutigen Tat vor den Richter treten.

Nina Jelinek wurde 1977 in Linz geboren. Während ihres Studiums der Publizistik und Soziologie lebte sie in einer Wohngemeinschaft im zweiten Bezirk, in deren Nähe sich das Wiener Kriminalmuseum befand. Als sie dieses eines Tages besuchte, zog sie die Geschichte der Martha Marek sofort in ihren Bann und ließ sie seither nicht mehr los. Nach Stationen bei Zeitungen im Bildungsbereich und einem kleinen Forschungsinstitut verschlug es sie schließlich an die Pädagogische Hochschule Linz. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in ihrer Heimatstadt. Der Roman ist ihr erstes Werk.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Fabienne Rieg

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild - Wilhelm Willlinger

ISBN 978-3-8392-7656-3

Prolog Mai 1938

Es wehte ein starker Wind, als der Zug aus Berlin in den frühen Morgenstunden am Wiener Westbahnhof eintraf. Der bekannteste Wiener Scharfrichter und sein Assistent warteten bereits etwas fröstelnd, daneben die Eskorte der Wiener Polizei, die sich natürlich nicht anmerken ließ, wie sehr ihr der Wind zu schaffen machte.

Dem Zug entstiegen wenige Passagiere, aus dem Frachtwaggon hievten Bahnarbeiter eine große, offenbar schwere metallene Truhe. Ein Geschenk des großen Bruders.

Ein stattlicher Mann von der Gestapo trat mit wehendem Ledermantel aus dem Zug und an die Truhe heran. Demonstrativ schaute er sich am Bahnsteig um, sodass die beiden Wartenden samt Eskorte zu ihm eilten. Nach einem zackigen Gruß überließ der Berliner Gestapo-Mann den Wiener Gerichtsbeamten die Truhe.

»Mit besten Grüßen aus Berlin, meine Herren. Dem Führer war es ein rechtes Anliegen, dass auch in Wien eine Hinrichtung zukünftig eine ordentliche Angelegenheit ist. Ich hoffe wohl, Sie wissen damit umzugehen?«

»Selbstverständlich! Wir haben schon den einen oder anderen Gefangenen hingerichtet.«

»Soso, nun, Sie werden sehen, mit diesem Fallbeil werden Sie eine wahre Freude haben. Die Konstruktion ist einmalig, sauber und nahezu unfehlbar.«

Der Scharfrichter nickte unterwürfig.

»Ich hoffe, Sie lassen das gute Stück nicht vor sich hin stauben.«

»Aber nein, wir haben schon sehr bald die nächste Exekution anberaumt und es wird ein ganz besonderer Fall sein.«

»Schön! Gutes Gelingen, meine Herren! Heil Hitler!«

»Ähm, ja, Gott schütze den Führer!«

Nachdem der Gestapo-Mann wieder abgezogen war, drehte sich der Scharfrichter auffordernd zu seinem Assistenten, welcher bislang geschwiegen hatte. Er grinste etwas verschämt.

Kapitel 1 – 1908 Martha und ihre Mutter

Martha wollte nicht in den Kindergarten gehen. Es behagte ihr nicht, den halben Tag außer Haus zu verbringen, bei den strengen Tanten in einem riesigen Gemäuer mit einem seltsamen Geruch nach Putzmittel und Haarpuder.

Jeden Tag brachte die Mutter die kleine Martha in diese Kinderbetreuungsstätte, wo sie sie für mehrere Stunden der Obhut von Fräulein Wöller und anderen wechselnden Helfersfrauen überließ, und jeden Tag versuchte Martha aufs Neue, ihre Mutter dazu zu überreden, sie doch zu Hause zu lassen, bei ihr, im schönen Haus am Wiener Stadtrand, in dem schönen Zimmer mit all den Spielsachen. Hier fehlte es ihr an nichts. Oder zumindest kam es ihr im Vergleich zur rigiden, kargen Spielstätte mit strengen Regeln und wenig Spaß so vor. Tatsächlich war das Leben zu Hause fast ebenso wenig lustig und unbeschwert. Zwar gelang es Martha ab und zu, die Mutter mit ihrer offenen herzlichen Art zum Lachen zu bringen oder sie gar zu einem kurzen gemeinsamen Lied oder Spiel zu überreden. Doch meistens verbarg sich die Seele der Mutter hinter einer durchsichtigen Wand aus Trübsinn und Verschlossenheit und es schien kaum möglich, sie da herauszureißen, wenn sie sich mal wieder ihren traurigen Gedanken hingab und sich in sich zurückzog.

Umso erstaunter war die kleine Martha, wenn sie ihre Mutter plötzlich ganz anders erlebte. Lebhaft, pulsierend, voll freudiger Aktivität und Fröhlichkeit. Dies geschah meist in Zusammenhang mit irgendwelchem Besuch, der sich angekündigt hatte. Dann konnte die Mutter durch die Zimmer huschen und noch schnell ein paar Blumen herbeiholen oder ein paar von Vaters Büchern wegräumen, die er regelmäßig in der Wohnung verstreut herumliegen ließ. Richtig aufgeregt wirkte sie, wenn sie das Dienstmädchen durchs Haus scheuchte und dieses und jenes anordnete. In diesen Momenten freute sich Martha mit der Mutter. Etwas Schönes passierte, das sie fröhlich und zufrieden werden ließ. Auch wenn bei der kleinen Martha stets ein schaler Beigeschmack zurückblieb, denn es war gewiss, dass es nicht sie selbst gewesen war, die die Mutter aus ihrer lethargischen Alltagshaltung gelöst hatte.

Es waren ambivalente Momente und Tage, an denen Martha einerseits die Freude der Mutter teilte und andererseits enttäuscht in ihr Zimmer zurückkehrte. Wohl wissend, dass sie an diesem hellen und glanzvollen Teil im Leben ihrer Mutter keinen Anteil hatte.

Dennoch gab es diese Zeiten, in denen das Leben in Marthas Elternhaus freundlich erschien und sie sich dem Glauben hingab, Teil einer ganz normalen Wiener Familie zu sein. Ein gutbürgerliches Haus mit einem braven Kind, mit einer Mutter, die die feine Gesellschaft liebte, und mit einem intellektuellen Vater, Professor für Physik an der Universität, der seine Bücher mehr als alles andere liebte, mit Ausnahme vielleicht von seiner Tochter. Eine ganz normale Familie, in der das Elternpaar zwar verheiratet war, aber schon lange getrennte Schlafzimmer hatte, und bei dem es sehr fraglich war, inwiefern die gegenseitige Zuneigung noch vorhanden oder jemals vorhanden gewesen war.

Martha hatte aber den Eindruck, dass ihre Eltern eine starke Verbundenheit verspürten und aneinander hingen. Manchmal, wenn die Mutter traurig aus dem Fenster starrte, drehte sie sich versonnen zu Martha um, die sich irgendwo im Raum möglichst unauffällig selbst beschäftigte, und sagte etwas über den Vater, der es schwer habe, sich bemühe und gut für seine Familie sorge. Da konnte Martha nicht anders als zu glauben, dass die Mutter ihn liebte, so wie es sich für eine Ehefrau wohl gehörte. Es gab nur selten Zärtlichkeiten zwischen ihren Eltern zu beobachten, beispielsweise, wenn die Mutter dem heimkehrenden Vater mit einer Hand sacht über die Wange strich. Dann freute sie sich immer, weil es für alle Kinder ein schönes Gefühl ist, wenn die Eltern sich lieben.

Manchmal dachte Martha, dass ein schönes Haus und Geld nicht so wichtig waren, wie Geborgenheit und ein liebevolles Miteinander. Aber diese Gedanken schob sie schnell beiseite, dennoch schwelten sie in ihrem Unterbewusstsein. Schließlich hatte sie oft genug von der Mutter gehört, wie unendlich wichtig Wohlstand und Sicherheit waren, wo es doch so viel Unanständigkeit, Armut und Krankheit gab. Nichts war schrecklicher als ein Leben am Hungertuch mit erbärmlichen Gestalten, wie sie in den Vierteln der Armen ständig herumlungerten und wo sich kein anständiger Mensch auch nur am helllichten Tage hin trauen sollte. Das wusste die kleine Martha alles schon. Ein gutes Leben, ein sorgenfreies, sauberes Dasein in guter Gesellschaft war das Beste, was man sich nur wünschen konnte. Was halfen Unvernunft und ein Herz voller Gefühle, wenn man nicht genug Geld für anständiges Essen und anständige Kleider hatte?

Kapitel 2 – 1937 Begräbnis von Emile T.

Der Himmel war voller dunkler Wolken und das braune Herbstlaub wurde durch heftige Windböen aufgewirbelt. Am Wiener Zentralfriedhof herrschte auch bei schönem Wetter eine schaurig düstere Atmosphäre, aber an diesem Tag vermittelte der Schauplatz seinen Besuchern das bedrohliche Gefühl eines nahenden Weltuntergangs. Das Begräbnis der Emile Truttenberger war in vollem Gange, als der Himmel just in dem Moment, in dem die kleine Gesellschaft die große Halle nahe dem Tor 1 verließ, seine Schleusen öffnete. Es begann zu krachen und zu donnern und ein Platzregen prasselte auf die Besucher nieder. Dementsprechend erschrocken schaute die kleine Schar der Trauergäste, als sie sich dem Priester auf seinem Weg zum Grabe anschloss.

Schnell wurden Schirme aufgespannt, im Eilschritt suchte man Schutz unter dem großen Kirschbaum neben Emiles offenem Grab. Die jungen Bestatter gaben sich größte Mühe, ihre Würde zu bewahren und sich vom prasselnden Regen unbeeindruckt zu geben, während die Trauergesellschaft entrückt auf den Sarg starrte, der vom herrschenden Unwetter so schändlich entweiht wurde. Der Priester ließ seinen Blick über die kleine Schar schweifen, während er auswendig die ewig gleichen Gebete murmelte. Er blieb an einer noch jungen und schönen Frau hängen, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Sie hob sich von den anderen Angehörigen eindeutig ab, strahlte eine gewisse Würde aus und schien gleichzeitig von großer Traurigkeit erfasst. Ihre dunklen Augen waren völlig abwesend, es war, als würde sie im Geiste gar nicht hier sein. Zugleich machte sie den Eindruck enormer Erschütterung und Betroffenheit.

Neben ihr stand eine hagere Frau, ebenfalls etwa Mitte dreißig, mit schlotternden grauen Kleidern und einem Schirm in der Hand, den sie fürsorglich über ihre Freundin hielt. Arm in Arm trotzten die beiden ungleichen Freundinnen dem grausigen Wetter.

Für den Priester allemal ein interessantes Paar. Wie oft konnte er beobachten, dass besonders attraktive Frauen und solche, die der Herrgott, abgesehen von Schönheit, mit allen anderen möglichen guten Eigenschaften bedacht hatte, zueinanderfanden und voneinander profitierten. Wie die Hässlichen sich gerne als Schutzpatroninnen aufspielten, für ihre ach so zerbrechlichen Kameradinnen. Und wie dankbar sie oft waren und wie sehr es sich lohnen konnte, einmal dem hässlichen Teil des Paares seine Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit zuzuwenden. Ob es wohl bei diesen beiden auch so war? Der Priester musste innerlich schmunzeln, während er in seiner Abschiedsrede zum Ende kam.

Heinrich Truttenberger konnte das Ende dieser abscheulichen Zeremonie im fürchterlichen Regen kaum erwarten. Seine trotz Schirm nassen Haare klebten ihm am Kopf und seine Haltung zeigte neben einer gewissen Ernsthaftigkeit und Trauer große Unruhe und Rastlosigkeit. Er stieg von einem Bein aufs andere, am liebsten hätte er sich mehr bewegt, wäre auf und ab gegangen, so sehr rumorte es in ihm. Der plötzliche Tod der Mutter hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Er hatte seine Tätigkeit in München von einem Tag auf den anderen liegen lassen müssen. Nun ruhten seine geschäftlichen Angelegenheiten bereits seit ein paar Tagen, wobei er nach wie vor nicht wusste, wie es um ihn beziehungsweise um sein kleines Handwerksunternehmen stand, welches er sich in so mühevoller jahrelanger Arbeit aufgebaut hatte. Die momentane Situation war ohnehin schon sehr heikel und er konnte sich einen längeren Ausfall keinesfalls leisten.

Ihm war durchaus bewusst, dass das Ableben der Mutter ihn vielleicht vor dem beruflichen Ruin retten könnte. Zwar konnte er keine große Erbschaft erwarten, dennoch musste ein ordentliches Sümmchen da sein. Schließlich hatte die Mutter ein Leben lang gespart. Was hatte sie sich denn jemals gegönnt? War nicht er es gewesen, der ihr bei seinen seltenen Besuchen, die seit seinem Fortgang aus Wien von Jahr zu Jahr weniger geworden waren, immer gut zugeredet hatte, sich auch einmal eine Auszeit zu leisten? Ein paar Tage Sommerfrische oder einen schönen Hut? Doch sie hatte immer nur stumm den Kopf geschüttelt, während sich in ihrer lethargischen, trostlosen Miene eine immerwährende Melancholie widergespiegelt hatte. Er hatte das kaum aushalten können. Die Traurigkeit der Mutter, seit der Vater gestorben war, seit er selbst Wien verlassen hatte. Vielleicht hatte sie schon vorher eingesetzt. Als er aus der engen Wohnung ausgezogen war oder als er als junger Mann erstmals seine eigenen Wege gegangen war und die Mutter mehr und mehr aus seinem Leben ausgeschlossen hatte. Hier, vor ihrem Grab, begann er zum ersten Mal darüber nachzudenken, warum sie eigentlich immer so schrecklich betreten und bedrückt gewirkt hatte. Nie war ihr in seiner Gegenwart ein heiteres Wort oder gar ein kleiner Scherz über die Lippen gekommen, immer hatte eine bedrückte Stimmung geherrscht, wenn er sie gesehen hatte. Natürlich war stets ein schlechtes Gewissen in ihm aufgekeimt und sicherlich war das der Hauptgrund gewesen, warum er immer seltener angerufen und kaum mehr Briefe oder Karten geschrieben hatte. Besuche waren aufgrund der 1.000-Mark-Sperre, die die Regierung 1933 verhängt hatte und die ihm wie jedem anderen Bürger des Deutschen Reiches den Besuch in der alten Heimat 1.000 Mark hätte kosten lassen, jahrelang unmöglich gewesen. Es schien fast eine Ironie des Schicksals zu sein, dass diese Regelung erst im letzten Jahr wieder abgeschafft worden war und ihm so den Besuch der Beerdigung ermöglichte.

Die Nachricht vom Tod der Mutter war völlig überraschend gekommen. Nie hätte er damit gerechnet, dass sie so rasch und ohne Voranzeichen von ihm gehen würde. Immer hatte er seine Mutter als Frau mit Durchhaltevermögen erlebt, zwar unglücklich, aber zäh. Niemals war sie ihm gebrechlich oder schwach vorgekommen, nie hatte sie ihm von Krankheiten oder irgendwelchen Schmerzen oder irgendeinem Leiden geschrieben. Er stutzte. Wann hatte er ihren letzten Brief bekommen? Wie viele Monate waren vergangen? Oder war es gar schon ein Jahr? Was wusste er eigentlich von ihrem jetzigen Leben? Einem Leben ohne Mann, ohne Sohn, ohne Freude.

Natürlich war Heinrich ehestmöglich nach Wien gekommen, um die Mutter zu verabschieden und das Begräbnis zu organisieren. Mehr als nur verwundert hatte er feststellen müssen, dass ihre schäbige kleine Wohnung untervermietet war. Eine jüngere Frau hatte ihm die Tür geöffnet. Sie sei die Mieterin, sagte sie nur. Er könne sich ruhig umschauen, nehmen, was er brauche. Verwirrt war er durch die Wohnung geschlichen, die ihm einst so vertraut gewesen war. Vertraut und verhasst. Das traurige Loch.

Auf Nachfrage hatte ihm die junge Mieterin erzählt, dass seine Mutter auf ihre alten Tage die vertraute Wohnung verlassen und vermietet hatte, um selbst zu einer anderen Frau in Untermiete zu ziehen, einer ihr bislang fremden Frau. Sie hatte ihre wenigen persönlichen Dinge mitgenommen und ein neues Leben begonnen.

Schlussendlich war er in der abgewohnten Küche gelandet, hatte sich zu der jungen Frau gesetzt und wortlos die Tasse Kaffee entgegengenommen, die sie ihm gereicht hatte. Sie heiße Lotte, meinte sie, sie sei vor etwa einem Dreivierteljahr eingezogen. Die Nachbarin sei eine Freundin ihrer Mutter und so habe sie das Angebot erhalten. Sie war zwar noch jung, aber wirkte schon etwas verbraucht. Sie arbeitete in der großen Ankerbäckerei, hier im zehnten Bezirk. Es war eine harte Arbeit und sie musste immer sehr früh aufstehen, aber sie war froh um diese Tätigkeit, die ihr ein regelmäßiges Einkommen einbrachte. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie zu einer praktischen Frisur zusammengebunden. Heinrich hatte die Frau ihm gegenüber gemustert. Sie war nicht unfreundlich gewesen, hatte aber auch keine große Sache um ihn gemacht. Irgendwie hatte er diese unkomplizierte Art gemocht. Wie ihn die Fremde in die Wohnung gelassen und aufgenommen hatte, zwar nicht herzlich, aber auch nicht abweisend. Nüchtern, vorsichtig vielleicht, abwartend. Was er zu tun gedenke, hatte sie wissen wollen, ob er die Wohnung für sich beanspruchen wolle, wie lange er in Wien bleibe, ob er hier nächtigen wolle. Ja, das wollte er schon, Kosten für ein Hotel mussten nicht auch noch dazukommen. Aber war das denn möglich? Wie konnte er hierbleiben mit der fremden Frau und überhaupt, was sollte das Ganze, was hatte seine Mutter getrieben in ihrem letzten Lebensjahr? Wieso hatte sie ihm nichts davon gesagt oder zumindest geschrieben? Wäre sie nicht tot, würde er sie fragen. Er würde sich aufregen, beschweren, sie vielleicht auch anschreien. Aber so? So machte es keinen Sinn, sich zu ärgern, und dennoch war er empört.

Diese Lotte, diese Frau in ihren einfachen, farblosen Kleidern, konnte nichts dafür. Diese Frau mit der praktischen Frisur. Unwillkürlich fragte er sich, wie sie wohl mit offenen Haaren aussah. Vielleicht in einem schöneren Kleid, ein wenig Schminke im Gesicht. Es könnte sein, dass sie dann richtig schön war. Vielleicht keine große Schönheit, aber ihm könnte sie durchaus gefallen. Aber was waren das für Gedanken? Dafür war er nicht nach Wien gekommen, was war bloß mit ihm los? Hatte der seltsame Lebenswandel seiner Mutter ihn so durcheinandergebracht? Hatte der Anwalt, der ihm vom Tod der Mutter in Kenntnis gesetzt hatte, diesen nicht angedeutet? Und war er bitte schön nicht lange verlobt? War er nicht immer treu ergeben und vollkommen erfüllt von der Liebenswürdigkeit und Schönheit seiner Adele? Zumindest soweit er überhaupt Zeit und Energie für seine Liebste hatte. Schließlich musste er all seine Kraft in die Arbeit stecken; als mittelständischer Unternehmer hatte man es wirklich nicht leicht, weswegen er immer das Gefühl hatte, am Rande des Abgrunds zu stehen. Wenn er auch nur ein klein wenig nachlassen würde, würde alles den Bach runtergehen. Die Mutter hatte nie verstanden, wie viel er in seine Arbeit steckte, wie viel Mühe und Fleiß dahintersteckte. Fleiß. Etwas, das sie unausgesprochen immer nur sich selbst zugeschrieben hatte. Sich selbst zumindest am meisten, niemand sonst konnte in ihren Augen so tugendhaft und fleißig sein, schon gar nicht ein Mannsbild. So war es schon vor dem Krieg gewesen, als der Vater noch lebte, wenn man dessen Dasein so bezeichnen wollte. Damals, als Heinrich noch fast ein Kind war. Und danach, als der Vater nicht mehr nach Hause gekommen war, und auch davor schon, als er im Krieg seinen Dienst getan hatte, seine Pflicht erfüllt hatte. Da war es doch auch nur sie gewesen, die wirklich arm war und viel zu tun hatte. Traurig war das. Oder war er ein wenig ungerecht? Gerade jetzt, wo sie verstorben war? Woher kamen plötzlich all diese Gedanken, über seine Mutter, ihre Lebensart und ihre Art ihn zu betrachten und zu beurteilen? War sie nicht stolz auf ihn gewesen? Hatte sie nicht manchmal geschrieben, dass sie dieser und jener Bekannten von ihm erzählt hätte oder dass ihr jemand berichtet hätte, er habe von seinem beruflichen Aufstieg gehört und dass er der ganze Stolz in ihrem Leben war? Dass sie eigentlich nichts war ohne ihn? Ach, es war schwierig. Sein Kopf brummte und all diese Gedankenspinnerei war überhaupt nichts für ihn. Normalerweise hatte er für solche Überlegungen keine Zeit, keine Kraft. Und was sollte es auch bringen? Er fühlte sich neben der Spur, seinem normalen Alltag gewaltsam entrissen, seinem Leben in München mit der Firma und der Wohnung, der Verlobten und ihrer Familie, den gemeinsamen Freunden.

Endlich kam der Priester zu einem Ende, drehte sich langsam um und kam auf ihn zu. Vorsichtig streckte er seine Hand aus und reichte sie ihm. Die Geste wirkte zu langsam, irgendwie einstudiert oder als wäre der Gottesmann selbst nicht mehr wirklich bei der Sache. Heinrich schaute ihm in die sanften braunen Augen und nickte zu seinen Beileidsbekundungen.

Erwartete der Mann vielleicht eine Bezahlung für seinen Dienst oder eine Spende an die Kirche? Heinrich stotterte ein wenig, bedankte sich für die schönen Worte und gab sich sehr betroffen und irgendwie zerstreut. Auch das war nicht spontan und der tatsächlich bedrückenden Situation geschuldet. Denn er hatte bereits seine Lebenserfahrungen gesammelt und sich gewisse Verhaltensweisen in Momenten der Ratlosigkeit angeeignet. Oder auch einfach nur, um etwaigen Forderungen auszuweichen.

»Herr Truttenberger?«

»Ja.«

»Wenn Sie noch etwas brauchen …«

»Ja, danke.«

»Der Herr hat Ihre Mutter zu sich geholt. Es geht ihr gut.«

»Ja, ich weiß. Ich danke Ihnen.«

»Auf Wiedersehen.«

»Ja, auf Wiedersehen.«

Der Regen hatte nachgelassen, aber immer noch rann ihm das Wasser seitlich am Gesicht entlang. Sein brauner Schnurrbart, auf den er sonst einigermaßen Wert legte und auch ein wenig stolz war, war durchnässt und etwas aus der Form geraten. Er fühlte sich innerlich wie äußerlich durch und durch unwohl und kurz tröstete ihn der Gedanke, dass er bald in die warme, trockene Wohnung zurückkehren konnte, vielleicht sogar ein warmes Bad nehmen in der kleinen schäbigen Wanne. Vielleicht ein wenig verwöhnt werden von der Mieterin Lotte. Das wäre schön. Wenn auch eigentlich nicht erlaubt.

Die beiden Frauen, die ihm von Anfang an in der überschaubaren Gruppe von Trauergästen aufgefallen waren, traten an ihn heran. Die eine der beiden war sehr schön. Das hatte er natürlich gleich bemerkt, er war nicht blind, aber sie hatte noch etwas anderes an sich. Eine merkwürdige, spannende Aura. Bestimmt war sie es, die seine Mutter irgendwie verwandelt und ihr zu einem anderen Leben verholfen hatte. So hatte es der Anwalt ausgedrückt und auch die Nachbarin, die er seit Ewigkeiten kannte. Seine Mutter war nicht der Typ Mensch gewesen, der immer wieder neue Bekanntschaften auftat, rasch Freundschaft schloss und mal hier, mal dort verkehrte. Das war nicht die Mutter, die er gekannt hatte. Es war unglaublich merkwürdig, geradezu unheimlich schien ihm diese Geschichte mittlerweile. Die Mutter plötzlich ein anderer Mensch, eine Freundin, Untermieterin bei einer anderen Frau und dann plötzlich schwer krank und mir nichts, dir nichts tot. Wie konnte das sein? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. In Heinrichs Welt passierten derartige Wendungen im Leben älterer Menschen nicht, schon gar nicht, wenn sie sich ein Leben lang dadurch ausgezeichnet hatten, immer die gleichen Dinge zu tun, die gleichen Menschen zu treffen und die gleichen Ansichten zu vertreten.

Ehe er sich versah, stand die Schönheit vor ihm, sie und diese andere Frau, eine unscheinbare, aber offenbar ergebene Freundin, die dieses Begräbnis allem Anschein nach nur zur moralischen Unterstützung der Freundin besuchte und mehr um diese Freundin besorgt war, als den Tod seiner Mutter zu betrauern.

Entschlossen traten die beiden Frauen vor ihn und schauten ihn ernst an. Dann räusperte sich die Unscheinbare und sprach ihn endlich an.

»Herr Truttenberger, mein Name ist Susanne Wohlert, ich war eine Bekannte Ihrer werten Mutter. Darf ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen?«

»Vielen Dank.«

Verlegen bemühte er sich, nur in ihr Gesicht zu schauen und seinen Blick nicht der reglos neben ihr stehenden Schönheit zuzuwenden. Er reichte Frau Wohlert seine lasche Hand und sie nahm sie und drückte kurz, aber fest zu. Erst dann begann sie wieder zu sprechen.

»Herr Truttenberger, darf ich Ihnen meine wohlgeschätzte Freundin vorstellen? Das ist Frau Marek.«

»Aha, ja.«

Nun musste er ihr wohl in die Augen schauen. Sie erwiderte seinen Blick mit großen dunklen Augen, sagte aber kein Wort. Die Situation wurde sonderbar.

»Frau Marek hat sich in der Zeit ihrer schweren Erkrankung rührend um Ihre selige Frau Mutter gekümmert. Sie hat sie vor einem knappen Jahr zu sich genommen. Ich nehme an, das wissen Sie? Ihre Mutter war die Untermieterin von Frau Marek.«

Heinrich musste tief durchatmen. Er kam nicht umhin, einen gewissen Ärger zu verspüren. Es wäre kein Fehler gewesen, ihn von vornherein einzuweihen, und er gewann immer mehr den Eindruck, dass es sich bei dieser Heimlichtuerei um keinen Zufall oder eine Nachlässigkeit handelte. Sie hatten bewusst bis zum Ableben seiner Mutter gewartet.

»Frau Marek, guten Tag.«

Er reichte auch ihr seine schlaffe, feuchte Hand zur Begrüßung und zuerst schien es, als würde sie die Geste nicht bemerken. Dann hob sie ihren Arm und ergriff seine Hand, ihre schwarzen Handschuhe fühlten sich angenehm samtig und trocken an.

»Herr Truttenberger!«, begann die bislang stumme Frau zu sprechen. »Darf ich Heinrich sagen?«

Irritiert nickte Heinrich kurz, er fühlte sich unbehaglich, noch mehr als wenige Sekunden zuvor.

»Es tut mir so schrecklich leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen! Mein lieber Heinrich, Ihre Mutter war eine wunderbare Frau. Ihr Tod hat mir das Herz gebrochen. Sie können mir glauben, Ihre Frau Mutter war keine gewöhnliche Untermieterin für mich. Zunächst vielleicht schon, wir haben uns vor etwas über einem Jahr kennengelernt und ich habe sie sogleich lieb gewonnen. Sie war eine so herzliche Frau.«

Heinrich fühlte sich wie ein Fremdkörper inmitten dieser Szenerie, es kam ihm vor, als wäre er Teil eines schlechten Films. Einer dramatischen Geschichte. Sprach diese Frau tatsächlich von seiner Mutter? Er hatte sie natürlich immer geliebt, aber konnte er diese rührselige Beschreibung mit seinem Bild von ihr in Einklang bringen? Wohl kaum. Es schien ihm, als würde sie von einer völlig anderen Person sprechen, und wieder einmal kam ihm das Gefühl, dass das alles nicht zusammenpasste, als würde womöglich eine schlimme Verwechslung vorliegen und wäre es gar nicht seine Mutter gewesen, die hier soeben in die Erde gelassen worden war.

Frau Marek stockte kurz. Wartete sie auf eine Antwort, irgendeine Reaktion auf ihre ach so herzlichen Worte? War sie wirklich betrübt oder eine meisterhafte Schauspielerin? Aber warum sollte sie ihm etwas vorspielen?

»Heinrich? Ich kann mir vorstellen, wie es Ihnen jetzt geht. Es tut mir so schrecklich leid, dass Sie Ihre Mutter nicht mehr lebend angetroffen haben. Ich habe alles versucht, ich habe die besten Ärzte geholt, ich wünschte so sehr, dass Sie sich zumindest noch von ihr verabschieden hätten können. Und sie sich von Ihnen! Sie wissen ja nicht, wie Ihre Mutter über Sie gesprochen hat. Sie waren ihr ganzer Stolz!«

Heinrich wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, seinen inneren Ärger musste er zunächst unterdrücken, aber auf diese vereinnahmenden Worte konnte er dennoch nicht adäquat reagieren. Wollte er auch nicht. Was glaubte sie bloß? Sollte er ihr um den Hals fallen und sich dankbar zeigen? Das schien sie wirklich zu erwarten. Aber das war absurd, angesichts der Tatsache, dass er bis gestern nichts von ihrer Existenz und ihrer ach so innigen Beziehung zu seiner Mutter gewusst hatte, geschweige denn von ihrem Zusammenleben.

»Glauben Sie mir, Heinrich, Ihre Frau Mutter war ein absolut gütiger Mensch. Wenn jemand auf dieser Welt in den Himmel kommt, dann ist es sie. Ich habe sie immer bewundert für ihr gütiges Herz.«

»Ja, ähm, das glaube ich auch. Danke, Frau, ähm, Marek. Ich wusste nichts von Ihnen, ich muss sagen, ich war sehr erstaunt. Natürlich sehr betrübt. Nichtsdestotrotz überrascht, als ich gestern erfuhr, dass meine Mutter ihre Wohnung vermietet hatte und zu Ihnen gezogen war.«

»Es war die Idee eines Freundes, Sie müssen wissen, wir waren beide sehr einsam. Ihre Frau Mutter und auch ich.«

»Ja, ich verstehe.«

Heinrich senkte den Kopf und wünschte sich das Ende dieser Konfrontation herbei, das Ende des ganzen Begräbnisses und seines Aufenthalts in Wien. Was sollte dieses schreckliche Getue, als würde er ihr am Herzen liegen? Warum hatte er nichts von ihr gewusst? Und was sollte das mit der Einsamkeit bloß, wollte sie ihm ein schlechtes Gewissen einreden? Diese völlig fremde Frau, die er noch niemals gesehen hatte? Ihm, einem wahrlich schwer beschäftigten Geschäftsmann? Er fühlte sich denkbar unwohl in ihrer Gesellschaft.

Nicht genug, dass er hier am Grab seiner eigenen Mutter stand, nicht genug, dass er eigentlich in seinem neuen Zuhause in München wahrlich genügend Probleme hatte. Nein, er musste auch noch feststellen, dass seine liebe Frau Mutter in ihrem letzten Lebensjahr plötzlich große Veränderungen vollzogen hatte, ohne ihn auch nur im Geringsten zu informieren. Und dann stellte sich dieses Weibsbild vor ihn, mit ihren riesigen braunen Kulleraugen, vergoss ein paar Tränen und drückte seinen Arm, als würde sie zu seiner Familie gehören und ihn schon sein Leben lang kennen. Das war doch wirklich die Höhe! Wie konnte er sie nur loswerden?

Er schaute auf und sah, dass sie ihn noch immer mit ihren Rehaugen fixierte. Schön war sie wohl, das konnte man nicht bestreiten, aber auch von einer aufdringlichen Dominanz, die ihm nicht behagte.

»Heinrich, ich würde mich sehr freuen, Sie in den nächsten Tagen in meinem Haus begrüßen zu dürfen.«

Das möchtest du wohl.

»Es wäre mir wirklich eine Freude, wenn wir uns wenigstens jetzt endlich kennenlernen.«

Ja, willst du das wirklich? An mir hat es nicht gelegen.

»Ihre Frau Mutter wäre sehr glücklich darüber und ich auch.«

Er konnte sich zu keiner Antwort aufraffen.

»Heinrich?«

»Frau Marek?«

»Kommen Sie mich besuchen? Bevor Sie die Stadt wieder verlassen? Sie müssen es mir versprechen, Heinrich!«

»Ja, gut, ich komme.«

»Danke, ich danke Ihnen wirklich sehr! Auf Wiedersehen, Heinrich!«

Plötzlich wurde das Gespräch rasch beendet.

»Auf Wiedersehen!«, meldete sich nun auch Frau Woh­lert wieder und die beiden gingen langsamen Schrittes an ihm vorüber, Seite an Seite. Nach einigen Metern flüsterte die Marek ihrer Freundin etwas ins Ohr und bog in einen Seitenweg ab. Frau Wohlert ging in die andere Richtung, steuerte den Ausgang an.

Heinrich konnte ihnen nicht länger nachblicken, die wenigen anderen Gäste drängten danach, sich zu verabschieden, wollten ihm fest die Hand drücken und ein paar Beileidsbekundungen murmeln. Die meisten kannte er von früher oder zumindest vom Sehen. Nachbarn, Bekannte seiner Mutter, ein oder zwei frühere Arbeitskolleginnen. Alle schienen ihn zu kennen, drückten ihr Bedauern aus, aber keiner versuchte mehr den Eindruck zu erwecken, dass der Tod seiner Mutter für sie oder ihn ein Anlass für besondere Bestürzung oder Trauer wäre. Das hätte er auch nicht erwartet, er war im Gegenteil erstaunt über die große Trauer dieser Frau Marek. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.

Mechanisch nahm er die mehr oder minder ernst gemeinte Anteilnahme entgegen und war sichtlich erleichtert, als er alle abgefertigt hatte und auch keiner etwas von einer Trauerfeier oder einem Leichenschmaus gesagt hatte. Offenbar waren alle froh, wenn sie dieser tristen Atmosphäre und dem feuchtkalten Wetter entfliehen konnten. Bevor auch er sich davonmachte, trat er für einen Moment an das Grab seiner Mutter, aus einem Impuls heraus, da er irgendwie das Gefühl hatte, dass sich das so gehörte. Als könnte er nicht einfach die letzte Hand schütteln, sich umdrehen und davonmarschieren. Aber als er dann da ganz allein stand und auf den Erdhügel blickte, das schwarze Kreuz mit dem Namen seiner Mutter, da hatte er das Gefühl, dass es guttat, kurz innezuhalten und sich vor Augen zu führen, dass dies ein bedeutsamer Moment in seinem Leben war. Der Tod der eigenen Mutter ist eigentlich für jeden eine größere Sache. Auch wenn man unabhängig und erwachsen ist, auch wenn man sich nicht nur körperlich, sondern auch emotional schon sehr weit von ihr entfernt hat. Selbst wenn man von ihr betrogen wurde. War es das, was er empfand? Was er sich selbst nicht so recht eingestehen wollte? Hatte er nicht so ein Gefühl, seit er nach Wien gekommen war und all diese ungeheuerlichen Veränderungen erfahren hatte? Fühlte er sich nicht schlicht und einfach auf unglaubliche Weise von ihr hintergangen? Von der Frau, die angeblich alles in ihm gesehen hatte? Dennoch spürte er das ziehende Gefühl des Verlusts, den Schmerz. Natürlich setzte es ihm zu, ihr Tod und dass er nun ganz allein war auf dieser Welt. Wen hatte er schon noch an seiner Seite? Seine Verlobte? Das wäre schön, wenn er sich wirklich auf sie verlassen könnte, aber er traute ihr nicht ganz. Irgendetwas an ihrem flatterhaften Gemüt und ihrer Fähigkeit, sich immer wieder neuen Interessen, Freunden, Leidenschaften mit größter Begeisterung zuzuwenden, irgendetwas an ihr machte ihn stutzig und misstrauisch. Vielleicht auch, weil diese Stimmungsschwankungen und ihre teilweise überschwängliche Art seiner eigenen Wesensart so fremd waren. So etwas hatte es bei ihm zu Hause nie gegeben, überschwängliche Freude und lebhafte Leichtsinnigkeit.

Nein, das war seinen Eltern gänzlich fremd gewesen und auch ihm. Natürlich konnte er sich über die verschiedensten Dinge freuen, kleine freudige Moment verspürte er sogar oft in seinem Leben, das war wohl nur normal. Wenn er zum Beispiel am Morgen seine Wohnung verließ und plötzlich bemerkte, dass die Wolkenkette am Himmel etwas aufriss und einige starke Sonnenstrahlen durchbrachen, wie um allen zu vermitteln, dass das Leben doch nicht sinn- und hoffnungslos war. Darüber konnte er sich freuen. Oder wenn er nach einem anstrengenden Arbeitstag am Abend in ein Gasthaus ganz in der Nähe seiner Wohnung ging, die er nunmehr mit Adele bewohnte, seiner Wohnung, die er aufgrund ihres Drängens angemietet hatte, weil es nicht angehen konnte, dass er als Unternehmer in einer kleinen schäbigen Bude hauste, noch dazu mit einer Verlobten. Wenn er sich dann auf den Weg machte, die paar Schritte die Rosenheimerstraße hinunterging und dann nach links in die Steinstraße einbog, dann atmete er wohl drei- oder viermal tief durch und merkte, wie alle Last und all der Stress von ihm abfielen und er sich auf ein paar wohlige Momente in der warmen Gaststube freute. Meist genehmigte er sich ohnehin nur ein oder zwei Krügerl Bier oder ein Gläschen Wein, bevor er wieder zu seiner bald Angetrauten zurückkehrte. Aber wenn Adele mal wieder zu beschäftigt war, um ihn beim Nachhausekommen gebührend zu empfangen und ihm eine kleine Mahlzeit vorzusetzen, weil sie ach so viele wichtigere Dinge zu erledigen hatte (eine Mutter mit viel Wunsch nach Aufmerksamkeit, mit der sie in vielen belanglosen Gesprächen alle möglichen Dinge des Alltags klären und ihr bei diversen Angelegenheiten im Haushalt zur Seite gehen musste oder ihre gemeinsame Zukunft mit Heinrich planen musste; eine Schwester, die mit Kindern und Mann allen möglichen Problemen ausgesetzt war und offenbar immer auf die tatkräftige Unterstützung und den vollmundigen Rat von Adele setzte), genoss er es ab und an, sich ein wenig Zeit zu lassen und seine Gedanken mit spontanen Bekanntschaften in der Wirtschaft zu teilen. Adeles zahlreiche Interessen und Hobbys, immer wieder neue Leidenschaften und Beschäftigungen, von denen er nicht allzu viel wusste und eigentlich am liebsten gar nichts wissen wollte, lenkten sie ausreichend ab. Er registrierte nur ihre umtriebige Geschäftigkeit zu Hause sowie außer Haus und dass sie oft ihre Familie besuchte oder etwaige Freundinnen, die mit hohem Fieber im Bett lagen oder im Krankenhaus eben erst ihre Gebärmutter verloren hatten. All diese Geschichten und Alltagssorgen berührten ihn nur am Rande. Er war zwar teilweise genervt, wenn sie ihm ständig die verschiedenen Neuigkeiten von allerlei Personen in ihrem Umkreis eifrig schilderte und plapperte und plapperte. Andererseits war es ihm lieber, als wenn sie von ihm ebensolche großartigen Erzählungen erwarten würde oder gar genau wissen wollte, was er an jenem Tag von früh bis spät gemacht hatte, wie es in der Firma lief oder wie er seine Mittagspause verbracht hatte. Kontrollfragen konnte er auf den Tod nicht ausstehen und er selbst neigte wiederum auch nicht dazu. Dass er seine lebenslustige Verlobte gar nicht im Auge behielt, war möglicherweise eine Schwäche von ihm. Aber er konnte und wollte es nicht anders. Er genoss es sogar, wenn sie wieder einmal abends ausging oder gleich nach ihrer Tätigkeit im Büro einer großen Handelsfirma ihre Mutter oder wen auch immer besuchte. Dann konnte er seinen Feierabend nach eigenem Gutdünken gestalten, konnte sich ausruhen, ein wenig gehen lassen, konnte das Abendbrot in der Gaststube einnehmen und sich ein oder zwei Gläschen mehr genehmigen. Ja, dann konnte er seinen Gedanken nachhängen, den Gesprächen am Nachbartisch lauschen. Manches Mal ergab sich auch ein interessantes Gespräch für ihn. Es kam nicht allzu oft vor, aber es konnte durchaus geschehen, dass er einen Bekannten dort antraf, der ihn in ein ansprechendes Gespräch verwickelte. Mit Adele an seiner Seite fühlte er sich immer etwas gehemmt. Wie war es eigentlich zu dieser Verlobung gekommen? Hatte sie ihn da in etwas hineingedrängt?

Wieder kam ihm diese Lotte in den Sinn. Mit ihrem schlanken kompakten Körper und ihrer pragmatischen unprätentiösen Art war sie bestimmt eine gute Sexpartnerin, wohl auch eine gute Gefährtin. Eigentlich eigenartig, dass er sich nicht so eine eher unscheinbare, praktische Frau gesucht hatte und sich nach einigen oberflächlichen Liebschaften und Affären auf seine Adele eingelassen hatte. Sie hatte schon was, allein der Name zeugte von Glamour, und wenn sie sich ab und zu in der Münchner Innenstadt oder irgendwo sonst unterwegs trafen und er sie von Weitem auf sich zukommen sah, vergaß er seinen Ärger über ihr ständiges Zuspätkommen sogleich. Sie war immer schön geschminkt, die Haare nach der neuesten Mode, mit ihren wiegenden Hüften und den Stöckelschuhen. In diesen Momenten stellte er jedes Mal aufs Neue mit Bewunderung fest, dass sie ohne Weiteres auch eine Filmschauspielerin sein könnte. Und das erfüllte ihn mit Stolz.

Seine Mutter hatte niemals hohe Absätze an den Schuhen gehabt, keine modischen Kleider und die Besuche beim Friseur wurden so selten wie möglich gehalten. Er erkannte erst durch Adele wirklich, wie viel es ausmachte, wenn eine Frau es verstand, das Beste aus ihrem Typ he­raus­zuholen. Wenn sie nur nicht so anstrengend wäre. Aber waren das nicht alle Frauen in gewisser Weise? Was war mit dieser Marek? Das war sicherlich eine anspruchsvolle Frau. Schön ja, aber bestimmt nicht gerade von einfachem Charakter.

Langsam und ein wenig verloren drehte sich Heinrich weg vom Grab seiner Mutter. Es fiel ihm schwer loszulassen, er wurde das Gefühl nicht los, sie hier zurückzulassen, was de facto stimmte, aber unvermeidlich war. Unvermittelt kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht niemals wieder hierher zurückkommen würde, was unsinnig war. Warum sollte er nicht das Grab seiner Mutter besuchen? Das Grab seines im Großen Krieg gefallenen Vaters war irgendwo in Italien, seine Mutter hatte sich stets geweigert, diesen Ort aufzusuchen. Als einziger Sohn hätte er gerne etwas mehr über den Kriegseinsatz des Vaters und dessen Verwundung, die schließlich zu einem frühen Tode geführt hatte, gewusst, aber seine Mutter hatte nie auf seine Fragen geantwortet und stets das Thema gewechselt. So viele Männer in den besten Jahren hatte dasselbe Schicksal ereilt, zurückgeblieben waren einzig die verbitterten, überforderten Ehefrauen und die fassungslosen, stummen Kinder. Stumm, weil die Mütter keine Fragen zuließen. Erklärungen für Kinder waren in seiner Kindheit und Jugend nicht üblich. Es ist so. Das war eine typische Antwort seiner Mutter. Ich weiß es nicht. Oder gar nichts. Achselzucken. Ein merkwürdiger Gesichtsausdruck. Die Hände am Geschirrtuch, immer mit etwas beschäftigt. Das war die Art, wie die Menschen mit dem Krieg umgingen. Mit dem Grauen überhaupt.

Heute war das schon anders, es wurde mehr gesprochen, seine Generation legte Wert auf Kommunikation, manchmal zu viel für seinen Geschmack. Alles musste besprochen werden. Nicht so wie damals daheim. Schweigen, Lippen aneinandergepresst, ein Nicken und alles war gesagt.

Zögerlich drehte Heinrich ab und entfernte sich langsam vom Grab. Er war orientierungslos und ging in Richtung Ausgang.

Der weitläufige Zentralfriedhof hatte ihn immer schon mit Ehrfurcht erfüllt, all diese Gräber in Hunderten von Reihen, fast kam es ihm vor wie ein Soldatenfriedhof. Wie er sich einen vorstellte, wie er sie gesehen hatte in der Wochenschau.

Zuerst schaute er nur auf seine Füße, die nassen, dann versuchte er, ein wenig mehr Orientierung zu erlangen, spähte nach vorne, blickte sich um – und da plötzlich sah er sie wieder. Frau Marek, wie sie völlig selbstvergessen an einem Grab stand. Ganz in ihre Gedanken versunken oder gar in ihre Gebete? Was machte sie hier bloß? Wer lag in dem Grab? Eine gewisse Neugierde packte ihn, aber gleichzeitig schien es ihm undenkbar, diese zu stillen. Unmöglich konnte er jetzt näher treten und einen Blick auf den weißen Grabstein vor ihr werfen. Nein, er musste so tun, als hätte er sie nicht gesehen, er musste seine Blicke weiter umherschweifen lassen und endlich den Ausgang ansteuern.

Als er an dem Seitengang, in dem er sie erblickt hatte, vorübergegangen war, fühlte er ihren Blick in seinem Rücken. Hatte sie ihn doch gesehen? Was dachte sie sich jetzt? Er würde es nicht erfahren, denn sie ging ohne ein Wort an ihm vorüber. Er würde sie am nächsten Tag aufsuchen müssen, wie es seiner guten Erziehung und Höflichkeit entsprach. Er würde ihr nur einen kurzen Besuch abstatten, ein paar Takte sprechen und sie vor allem sprechen lassen. In diesem Punkt schien sie nicht anders veranlagt zu sein als alle anderen Frauen, die er bislang in seinem Leben kennengelernt hatte. Mit Ausnahme seiner Mutter. Selbstverständlich würde er sich nicht die Blöße geben, dieser so inbrünstig vorgetragenen Bitte einer Dame nicht zu entsprechen. Doch er würde ihr rasch zu verstehen geben, dass es sich lediglich um einen Anstandsbesuch handelte. Ihn würde sie nicht so leicht einwickeln können. Ganz bestimmt nicht! Im Gegenteil, er würde sich verabschieden, und zwar mit klaren Worten und einem festen Händedruck und ihr verdeutlichen, dass ein Wiedersehen nicht beabsichtigt und somit äußerst unwahrscheinlich war.

Kapitel 3 – 1910 Martha und ihr Vater

Die Einschulung stand bevor und dieses Thema versetzte Martha in große Aufregung. Während der Kindergarten ihr Angst machte und auch eine gewisse Abscheu hervorrief, so wurde sie regelrecht euphorisch, wenn sie daran dachte, dass sie nun alsbald ein Schulkind sein würde und alle wichtigen Fertigkeiten des Lebens erwerben würde.

Marthas Vater Egon konnte sich auch über den baldigen Schuleintritt seiner Tochter freuen. Das war offenkundig und steigerte ihre eigene Freude sehr. Der Vater war ihr schon immer der liebste Mensch auf der Welt gewesen. Seine Nähe war so kostbar und wundervoll. Sein Körper war zwar nicht sonderlich kräftig und muskulös, aber dennoch war er ein Mann und konnte seine langen Arme um sie schließen, sodass sie sich wirklich sicher und geborgen fühlte. Ja, Geborgenheit war es, was die kleine Martha bei ihrer Mutter furchtbar vermisste und die ihr der Vater gab. Leider konnte er nicht viel Zeit mit ihr verbringen, schließlich gab es viel zu tun an der Universität. Unzählige Bücher mussten gelesen werden, unzählige Schriften verfasst, Texte durchgeackert und korrigiert werden. Zweifellos hatte der Vater viel zu tun und die allermeiste Zeit war er zu beschäftigt und in Gedanken ganz woanders als bei seiner Familie.

Abgesehen von der wunderbaren körperlichen Nähe liebte sie es auch, sich mit dem Vater zu unterhalten.

»Vati, warum geht draußen so ein starker Wind?«

»Aber Martha, es ist doch gut, dass der Wind nur draußen weht und wir hier zu Hause geschützt sind. Findest du nicht?«

»Ja, Vati, aber ich mag den Wind nicht. Woher kommt der Wind?«

»Der Wind ist ein ganz natürliches Phänomen, mein Liebes. Weißt du, das Wetter hat verschiedene Facetten, es kann nicht nur Sonnenschein geben. Der Wind kommt zustande durch Luftmassen mit unterschiedlicher Temperatur. Verstehst du das, kleine Martha?«

»Nein. Warum kann es nicht immer nur Sonnenschein geben? Ich mag es, wenn die Sonne scheint.«

»Natürlich. Ich mag es auch. Aber so ist das Leben. Es gibt schöne Dinge und hässliche, gute und schlechte. Das Leben kann niemals nur gut sein, aber es ist auch niemals nur schlecht.«

»So wie es gute und schlechte Menschen gibt?«

»Ja, genau. Aber weißt du, manche Menschen sind wirklich sehr gut, man kann in ihnen eigentlich nichts Schlechtes finden und manche Menschen sind so böse, dass man Schwierigkeiten hat, auch nur irgendetwas Gutes an ihnen zu finden, aber eigentlich ist niemand nur gut oder nur schlecht.«

»Wirklich?«

»Ja, mein Liebes.«

»Auch nicht der liebe Gott?«

»Mit Ausnahme des lieben Gottes, würde ich sagen.«

»Der liebe Gott ist also nur gut?«

»Ja, das denke ich schon.«

»Und du, Vati, bist du nicht auch gut?«

»Ich versuche es natürlich, aber es gelingt mir nicht immer.«

»Warum?«

»Weil es manchmal ganz leicht ist, gut zu sein, aber manchmal sehr schwer.«

»Ich finde es gar nicht so schwer. Ich bemühe mich, gut zu sein.«

»Das machst du auch sehr gut, mein Kind. Aber fällt es dir nicht manches Mal schwer, das Richtige zu tun?«

»Ja, vielleicht schon, weißt du, Vati, ich glaube, es ist deshalb manchmal so schwer, weil man nicht weiß, was das Richtige ist.«

Da musste der Vater lachen und nahm sie auf seinen Schoss, was für ein kluges kleines Geschöpf seine Tochter doch war. Es war schön zu sehen, dass Kinder auch in schwierigen Zeiten wohlbehütet heranwachsen und sich prächtig entwickeln konnten. Er selbst hatte ein schreckliches Gefühl, was die Zukunft betraf. Für seine naturwissenschaftliche Forschung verlangte es ihn nach einem fortschrittlicheren Umfeld. Aber auch, was diverse gesellschaftspolitische Themen und Entwicklungen betraf, empfand er die Situation im Österreich der Habsburger Monarchie zunehmend beklemmend. Er befasste sich nicht allzu viel mit politischen Themen und internationalen Verstrickungen, aber seine Kollegen an der Universität Wien und seine wenigen Freunde und Bekannten, alles Intellektuelle aus der gehobenen Wiener Gesellschaft, sprachen des Öfteren davon, dass etwas unter der Oberfläche des schönen heiteren Lebens in der Hauptstadt gärte und die von kultureller und lebensfroher Stimulanz durchzogene Atmosphäre zunehmend vergiftete.