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London, 1871. Jacob Jacobus ist ein wahrhaft berüchtigter Antiquar mit einem Laden im zwielichtigen Viertel Limehouse, ein schlitzohriger Halunke, Vertrauter von Gaunerbanden - aber auch Augen und Ohren für Scotland Yard. Inspector Benjamin Ross sucht ihn regelmäßig auf, um an Informationen zu kommen. Auch jetzt, als er den spektakulären Diebstahl eines Diamanthalsbandes aufklären muss, eines wertvollen Erbstücks der Familie Roxby. Doch Jacobus ist tot, jemand hat ihm die Kehle aufgeschlitzt. Hängen der Mord und der Diebstahl miteinander zusammen? Ben und seine Ehefrau Lizzie ermitteln wieder einmal gemeinsam und kommen bald einem tragischen Geheimnis auf die Spur ...
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Inhalt
Über das Buch
Über die Autorin
Weitere Titel
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Kapitel Eins
Inspector Ben Ross
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Elizabeth Martin Ross
Inspector Ben Ross
Kapitel Vier
Elizabeth Martin Ross
Kapitel Fünf
Inspector Ben Ross
Kapitel Sechs
Elizabeth Martin Ross
Inspector Benn Ross
Kapitel Sieben
Elizabeth Martin Ross
Kapitel Acht
Inspector Ben Ross
Kapitel Neun
Elizabeth Martin Ross
Kapitel Zehn
Elizabeth Martin Ross
Inspector Ben Ross
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Elizabeth Martin Ross
Inspector Ben Ross
Kapitel Fünfzehn
Inspector Ben Ross
Elizabeth Martin Ross
Über das Buch
London, 1871. Jacob Jacobus ist ein wahrhaft berüchtigter Antiquar mit einem Laden im zwielichtigen Viertel Limehouse, ein schlitzohriger Halunke, Vertrauter von Gaunerbanden – aber auch Augen und Ohren für Scotland Yard. Inspector Benjamin Ross sucht ihn regelmäßig auf, um an Informationen zu kommen. Auch jetzt, als er den spektakulären Diebstahl eines Diamanthalsbandes aufklären muss, eines wertvollen Erbstücks der Familie Roxby. Doch Jacobus ist tot, jemand hat ihm die Kehle aufgeschlitzt. Hängen der Mord und der Diebstahl miteinander zusammen? Ben und seine Ehefrau Lizzie ermitteln wieder einmal gemeinsam und kommen bald einem tragischen Geheimnis auf die Spur …
Über die Autorin
Ann Granger war früher im diplomatischen Dienst tätig. Sie hat zwei Söhne und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Oxford. Bestsellerruhm erlangte sie mit der Mitchell-und-Markby-Reihe und den Fran-Varady-Krimis. Nach Ausflügen ins viktorianische England mit den Kriminalromanen "Wer sich in Gefahr begibt" und "Neugier ist ein schneller Tod" knüpft sie mit "Stadt,Land, Mord", dem ersten Band der Reihe um Inspector Jessica Campbell, wieder unmittelbar an die Mitchell-und-Markby-Reihe an.
Weitere Titel der Autorin
Aus der Mitchell-und-Markby-Reihe:
Mord ist aller Laster Anfang
Fuchs, du hast die Gans gestohlen
Warte, bald ruhest auch du
Messer, Gabel, Schere, Mord
Wer andern eine Grube gräbt
Ein schöner Ort zum Sterben
Blumen für sein Grab
Kerzenlicht für eine Leiche
Ein Hauch von Sterblichkeit
Ihr Wille geschehe
Tote kehren nicht zurück
In dunkler Tiefe sollst du ruhn
Mord wirft lange Schatten
Der Fluch der bösen Tat
Und sei getreu bis in den Tod
Ein unerledigter Mord
Eine mörderische Gesellschaft
Aus der Lizzie-Martin-und-Benjamin-Ross-Reihe:
Wer sich in Gefahr begibt
Neugier ist ein schneller Tod
Ein Mord von bessrer Qualität
Ein guter Blick fürs Böse
Die Beichte des Gehenkten
Die Tote von Deptford
Mord ist eine harte Lehre
Die Frau des Inspektors
Aus der Jessica-Campbell-Reihe:
Stadt, Land, Mord
Mord hat keine Tränen
Asche auf sein Haupt
Mord mit spitzer Feder
In des Waldes düstren Gründen
Ein unerledigter Mord
Mord will keine Zeugen
Ann Granger
Dertote AntiquarvonLimehouse
Ein Fall für Lizzie Martin und Benjamin Ross
Kriminalroman
Übersetzung aus dem Englischen von Axel Franken
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe: Copyright © 2023 by Ann Granger Titel der englischen Originalausgabe: »The Old Rogue of Limehouse« First published in Great Britain in 2023 byHEADLINEPUBLISHINGGROUP
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2025 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Lektorat: Stefan Bauer Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung eines Designs von Sophie Ellis Covermotiv: Cover design: Sophie Ellis; Bilder: © Neizu / Shutterstock; Robert Adrian Hillman / Shutterstock; Maryia Ihnatovich / Shutterstock; Dave Scar / Shutterstock; Everilda / Shutterstock; tan_tan and Malika Keehl / Shutterstock; Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7517-6125-3
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
Gewidmet dem Andenken an meine langjährigen und lieben Freundinnen Angela Arney und Isabel Dunjohn. Wir teilten die Liebe zu Büchern, zum Schreiben, zum Reisen und zu vielem anderen. Ich wünschte, ich könnte immer noch einfach zum Telefon greifen …
»Willst du in meine gute Stube gehen?«, sagte die Spinne zur Fliege. »Es ist die hübscheste kleine Stube, die du je gesehen hast. Der Weg in meine Stube führt über eine Wendeltreppe, und ich habe dir viele seltsame Dinge zu zeigen, wenn du dort bist.«
Gedicht von Mary Howitt, veröffentlicht 1829
»Nun, in Frankreich, so habe ich gehört,« sagte Mr. Jacobus, »respektiert man das, was man ein Verbrechen aus Leidenschaft nennt. Denn Liebe, Mr. Ross, ist ein starkes Motiv. Die Leute geraten deswegen völlig aus dem Häuschen. Es ist dort eine anerkannte Verteidigung, sich auf ein Verbrechen aus Leidenschaft zu berufen.«
Er gab ein Kichern von sich, das kleine Wellen in seinem Doppelkinn schlug. Auf sein Halstuch gestützt, glich es eher einem mehrstöckigen Pudding, und auf seine Heiterkeit folgten pfeifende Atemgeräusche. Schließlich hörte das Kinn auf zu wackeln, und er tupfte sich die tränenden Augen mit einem gepunkteten Taschentuch ab.
»Nun, das habe ich auch schon gehört«, sagte ich ihm, als er sich wieder gefangen hatte. »Aber ob es stimmt oder nicht, das kann ich Ihnen nicht sagen. Sagen würde ich nur, sollte man sich je in Frankreich befinden und so unklug sein, dort jemanden zu ermorden, würde ich mich nicht darauf verlassen, mich auf ein Verbrechen aus Leidenschaft zu berufen. Ich denke, man müsste schon etwas mehr zu seiner Verteidigung vorbringen.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, meinte er. »Schließlich sind Sie ein Gesetzeshüter und wissen über solche Dinge Bescheid. Aber ich bin ein sentimentaler Mensch, Mr. Ross, und ich will es gerne glauben.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Er wollte auch gerne glauben, dass 1688 einer seiner Vorfahren im Gefolge Wilhelm von Oraniens nach England gekommen war. Oder sollte ich sagen, es gefiel ihm, wenn andere Leute dies glaubten? Vielleicht war es sogar wahr; wahrscheinlich aber nicht. Ob er es im Grunde seines Herzens wirklich selbst glaubte? Jedenfalls hatte er, wie so mancher Spitzbube, seine Geschichte einstudiert, und er blieb dabei.
Als ich ankam, hatte er festgestellt, dass er mich schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sich vorwurfsvoll geäußert, als wäre ich ein Verwandter, der seine Pflicht nicht erfüllt hatte, und nicht ein Polizist, der ebendies versuchte. Ich hatte ihm geantwortet, dass ich anderweitig beschäftigt gewesen war, nämlich mit Ermittlungen in einem Mordfall auf dem Lande. Jacobus äußerte sein Bedauern darüber, dass ich ein solches Abenteuer hatte wagen müssen. Er hatte ein Gräuel vor dünn besiedelten Gegenden und erzählte mir, dass er London nie verließ. Irgendwie hatte dies zu seinen Beobachtungen über Verbrechen aus Leidenschaft geführt. Vielleicht hatte er gehofft, ich würde ihn mit Details meiner ländlichen Heldentaten unterhalten – falls dem so war, so hatte er Pech gehabt.
Wir saßen in seinem stickigen Wohnzimmer im ersten Stock seines schmalen Häuschens, das sich zwischen einen Eisenwarenladen und ein Gasthaus zwängte. Ich stellte mir vor, dass diese Nachbarn es aufrecht hielten wie eine Scheibe Brot in einem Toastständer. Das Haus war schon recht alt. Es hatte auf jeder Etage nur ein Zimmer, das über eine klapprige Treppe mit einer beängstigenden seitlichen Neigung der Stufen zu erreichen war. Aber es war drei Stockwerke hoch und besaß noch einen Dachboden. Man hätte meinen sollen, dass das mühsame Hinauf- und Hinabsteigen der Treppe dazu geführt hätte, dass sein Besitzer etwas von seinem beträchtlichen Gewicht verloren hätte. Jedoch schien das nicht der Fall zu sein. Ich vermutete, dass Jacobus, sofern er nicht gezwungen war, aus seiner Höhle herauszukommen, die Treppe nur benutzte, um morgens sein Schlafzimmer zu verlassen und abends dorthin zurückzukehren; wohl nur selten stieg er ins Erdgeschoss hinab und verbrachte stattdessen den größten Teil des Tages zusammengekauert in diesem Wohnzimmer, wie die Spinne in dem Gedicht. Das Gerippe des Gebäudes bestand aus Holzbalken mit bröckelnden Ziegeln dazwischen, und das Wohnzimmerfenster ragte auf die Straße hinaus. Die bleiverglasten Fensterteile bestanden aus winzigen rautenförmigen Scheiben aus ungleichmäßigem Glas. Sie hatten einen grünlichen Farbton und waren wahrscheinlich schon da gewesen, als William und Mary regiert hatten – mit oder ohne Hilfe des mythischen Vorfahrens Jacobus’. Wann immer ich Jacobus aufsuchte, rief ich von der Straße zu ihm hinauf, und er öffnete dieses Gitterfenster und warf mir seinen Schlüssel hinunter, sodass ich hereinkommen konnte.
Nie hatte ich erlebt, dass das Fenster aus irgendeinem anderen Grund geöffnet wurde. Wir waren hier in der Nähe des Flusses und der Docks, in Limehouse, und jede Luft, die hereingelassen würde, wäre noch übler gewesen als die schlechte Luft im Inneren des Hauses. Außerdem wäre der Lärm der Straße nach oben und in den Raum gedrungen. Das fest verschlossene Fenster diente zumindest dazu, ihm diese lärmende Welt vom Leibe zu halten.
Für ein Leben auf so engem Raum war Jacob Jacobus ein großer Mann. Er war in den Sechzigern, ziemlich kahlköpfig und hatte einen Teint, der so rosa und rein war wie der eines Säuglings. Aus seinen Pausbacken lugten funkelnde blaue Augen heraus, und sein allgemeines Erscheinungsbild war so unübersichtlich wie das seines Hauses oder die Details seines Gewerbes. Er trug einen abgetragenen schwarzen Gehrock und eine karierte Hose. Unter dem Rock war eine Brokatweste mit einer goldenen Kette, die zu der Halbsavonnette führte, die in einer kleinen Tasche steckte, sodass sie jetzt den Blicken entzogen war, aber ich hatte ihn sie in der Vergangenheit schon konsultieren gesehen. Auch sie war aus Gold.
Als Beruf gab er an, mit Antiquitäten zu handeln, beinhaltend Gemälde, alte Bücher und Kunstgegenstände. Gelegentlich verkaufte er ein bestoßenes Porzellanstück, ein Nachschlagewerk, das inzwischen seit einem Jahrhundert überholt und von Bücherwürmern befallen war, oder ein düsteres Ölporträt. All dies kam aus seinem ›Warenbestand‹, wie er es stolz nannte.
Er hatte mich schon oft eingeladen, diese Vielfalt an Gerümpel zu besichtigen, das im Erdgeschoss unter unseren Füßen aufbewahrt wurde. »Wann immer Sie wollen, Inspector!« Das bedeutete, dass er wollte, dass ich es sehe, weil es seine ›Tarnung‹ war. Ich hatte ihm den Gefallen getan und mich bei einigen meiner Besuche dort umgesehen, obwohl wir beide wussten, dass ich meine Zeit verschwendete. Es versteht sich von selbst, dass die ganze verstaubte Kollektion von Kunstwerken, schimmelnden Büchern und Kitsch rechtmäßig erworben und verbucht worden war, auch wenn es sich bei den Gegenständen selbst überwiegend um Fälschungen handelte. Nicht einen Moment lang ging ich davon aus, dass Jacobus damit seinen Lebensunterhalt verdiente. Was Scotland Yard betraf, so war er mit ziemlicher Sicherheit ein Hehler, der mit gestohlenen Gegenständen von weitaus höherem Wert handelte. Leider war der Yard nie in der Lage gewesen, dies zu beweisen. Er hatte immer irgendwelche Papiere, um die Legitimität von allem, was wir nachfragten, nachzuweisen. Und wenn dem nicht so war, dann leugnete er jede Kenntnis der fraglichen Gegenstände, und wir konnten nichts beweisen. Er war ein raffinierter Bursche, unser Jacob Jacobus.
Aber er war einen Besuch wert, denn von Zeit zu Zeit gab er ein paar Informationen über gestohlene Gegenstände weiter. Natürlich nie auch nur das Geringste über sein eigenes Geschäft. Er nannte dies ›der Polizei einen kleinen Gefallen tun‹ und sah es als eine Art Versicherung an.
»Eines Tages wird er einen Fehler machen, und dann haben wir ihn!«, sagte Superintendent Dunn gern. »Bis dahin hat er seinen Nutzen, der alte Jacobus.«
Ich selbst bezweifelte es. Ich war gerade mit meiner Frau aus dem New Forest zurückgekehrt, wo ich in polizeilichen Angelegenheiten unterwegs gewesen war. Sie war dort mit der Witwe ihres Patenonkels, Mrs. Julia Parry, zu einem Erholungsaufenthalt gewesen. Sie war einmal Mrs. Parrys Gesellschafterin gewesen, und die Dame mochte es, wenn Lizzie sie als ›Tante Parry‹ anredete. Dieser Gebrauch – oder Missbrauch – einer erloschenen Verbindung war wie Mr. Jacobus’ Berufung auf eine dünne Verbindung zu Wilhelm von Oranien: Beides diente den Zwecken der Anspruchsteller.
Der Grund, warum ich heute hier bei Jacobus war, war der, dass Scotland Yard aufgefordert worden war, eine Reihe von schwerwiegenden Einbrüchen in wohlhabenden Haushalten in der Hauptstadt zu untersuchen. Wir befanden uns mitten in der Zeit, die von denen mit sozialen Ambitionen ›die Saison‹ genannt wird. Ich hatte immer den Eindruck, dass es sich um nichts anderes als einen Heiratsmarkt für Begüterte handelte. Das bedeutet eine Reihe von Festen, Bällen, Unterhaltungsveranstaltungen und so weiter, mit der die Öffnung von Stadthäusern, die pompöse Zurschaustellung von Juwelen und silbernem oder goldenem Familiengeschirr und eine steigende Zahl von Einbruchsmeldungen einhergehen. Ungewöhnlicherweise hatten wir im Moment keinen Mordfall zu verzeichnen. Diese Situation konnte nicht von Dauer sein, aber sie hatte zu meinem heutigen Besuch geführt.
»Ich kann nicht zulassen, dass Sie Däumchen drehen, Ross!«, hatte Superintendent Dunn erklärt. »Ich wage zwar zu behaupten, dass wir über kurz oder lang aus Wapping hören werden, dass eine Leiche aus der Themse gefischt worden ist oder jemand seine Vermieterin vergiftet hat. Aber in der Zwischenzeit statten Sie Jacobus einen Besuch ab. Wenn etwas in der Luft liegt, hält er es vielleicht für angebracht, es zu erwähnen. Sie verstehen sich doch gut mit ihm, oder?«
»Noch ein Gläschen?«, erkundigte sich Mr. Jacobus jetzt fürsorglich.
Wir hatten eine Flasche seines selbst gebrannten Aprikosenschnapses probiert, auf den der alte Knabe sehr stolz war. Wenn ich einen zweiten Schluck getrunken hätte, würde ich das Haus mit den ersten Anzeichen von rasenden Kopfschmerzen verlassen. Ich lehnte ab, stand auf und holte meinen Hut von einem kleinen antiken Klapptisch. Jacobus behauptete, er habe seinem mythischen Vorfahren gehört. Wie bei den meisten Dingen, die Jacobus gehörten, konnten wir nicht beweisen, dass es nicht so war – und glaubten auch nicht einen Moment lang, dass es so war.
»Sie sagen mir also Bescheid, wenn Sie hören sollten, dass die von mir erwähnten Schmuckstücke auf dem, sagen wir mal, freien Markt angeboten werden?«
Jacobus kicherte. »Sie sind geistreich, Inspector Ross, und Sie können gut mit Worten umgehen! Fürwahr, es ist ein Vergnügen, sich mit Ihnen zu unterhalten! Schauen Sie doch mal wieder vorbei, werter Herr, vielleicht habe ich dann ja etwas für Sie. Vielleicht aber auch nicht. Sie passen doch auf, wenn Sie die Treppe hinuntersteigen, nicht wahr? Die Putzfrau, die ich beschäftige, hat sie abgespritzt, und dabei kann es ein bisschen rutschig werden. Sie spritzt gern mit dem Wasser herum; es sieht dann so aus, als ob sie gründlich gearbeitet hätte. Das hat sie allerdings noch nie.« Wieder kicherte er.
Während des letzten Teils meines Besuchs hatte ich Geräusche vor der Wohnzimmertür, auf dem Treppenaufgang, wahrgenommen. Als ich das Treppenhaus betrat, sah ich direkt unter mir besagte Putzfrau, zumindest sah ich von oben einen verblassten Schopf rötlicher Haare, die unordentlich hochgesteckt waren. Sie zog den Eimer zur Seite, um mich vorbeizulassen, und schaute auf.
Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Hallo, Mr. Ross!«, rief sie aus. »Ich wusste gar nicht, dass Sie den alten Knaben besuchen! Sie erinnern sich doch an mich, oder?« Sie wischte sich die Hände an ihrer schmutzigen Schürze ab und lehnte sich auf den Absätzen zurück.
»Meine Güte, das ist ja Daisy Smith!«, erwiderte ich.
Ich hatte sie zu der Zeit kennengelernt, als ein Serienmörder, genannt das Flussphantom, sich seine Opfer unter den vielen Prostituierten gesucht hatte, die an den Ufern der Themse arbeiteten. Daisy hatte damals dieser Schwesternschaft angehört, eine lebhafte, hübsche Rothaarige. Das gute Aussehen hatte sie zwar eingebüßt, aber nicht ihre Londoner Munterkeit. Sie setzte sich auf die Treppe und sah zu mir hoch. »Na los doch!«, befahl sie. »Seien Sie ein Gentleman! Sagen Sie mir, dass ich mich nicht verändert habe. Dass ich immer noch die Blicke der jungen Stutzer in der Stadt auf mich ziehen würde.«
Leider war das nicht der Fall. Die wenigen Jahre seit unserer letzten Begegnung hatten es nicht gut mit ihr gemeint. Ihre Haut war rauer und faltig geworden und von den Narben einer Infektion gezeichnet. Außerdem hatte sie einen ihrer beiden oberen Vorderzähne verloren, was dazu führte, dass die Zischlaute beim Sprechen ein schwaches Pfeifen erzeugten.
»Ich hätte Sie sofort wiedererkannt, Daisy«, antwortete ich höflich.
»Nein, hätten Sie nie im Leben!«, entgegnete sie. »Sie wären an mir vorbeigegangen und zur Tür hinaus, wenn ich Sie nicht an mich erinnert hätte.«
Ich spürte, wie ich errötete, denn es stimmte. »Ich habe gerade Ihren Arbeitgeber besucht, Daisy. Meine Gedanken waren woanders.«
»Was wollten Sie denn bei dem alten Gauner? Sie werden es mir nicht verraten, stimmt’s? Das weiß ich.«
Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, deshalb fragte ich: »Wie lange arbeiten Sie schon für Jacobus?«
»Streng genommen«, erklärte Daisy, »arbeite ich in dem Wirtshaus nebenan.« Sie hielt inne, um mit ihren geröteten Händen eine verirrte Haarsträhne zurückzustecken, und fuhr dann fort: »Dort wohne ich auch, ich habe ein Zimmer im Dachgeschoss. Aber dem alten Mann gehört auch das Wirtshaus, also könnte man sagen, ich arbeite für ihn. Genau wie Tom hinter der Theke, auch wenn er sich selbst Hausherr nennt. Ich putze nicht nur die Treppe. Als Erstes komme ich morgens her und bringe Mr. Jacobus seinen Kaffee und seine Muffins. Am frühen Abend bringe ich ihm sein Abendessen aus dem Pastetenladen unten an der Straße. Als Letztes komme ich dann später am Abend wieder her, helfe ihm ins Bett und schließe das Haus ab, wenn ich gehe.«
»Sie kümmern sich also um ihn? Und Sie haben einen Schlüssel?«, stellte ich fest. Ich fragte mich, was genau unter ›ihm ins Bett helfen‹ zu verstehen war.
»Genau genommen ist es Tom, der den Schlüssel hat«, korrigierte mich Daisy. »Ich frage ihn danach, wenn es nötig ist. Der alte Mann geht fast nie aus. Er kann die Treppe nicht bewältigen, und er hat eine Sterbensangst vor freien Plätzen.«
Ich erinnerte mich an seine Bestürzung, als ich ihm erzählt hatte, dass ich gerade vom Land zurückgekehrt war. »Mir war nicht klar, dass er ein begüterter Mann ist«, sagte ich jetzt. »Abgesehen von diesem Haus.«
»Und der Eisenwarenhändler nebenan!«, ergänzte Daisy. »Das Gebäude gehört ihm auch.«
Welchem Geschäft Jacobus auch nachging, er verdiente offensichtlich gut damit. Mit seinem ›Warenbestand‹ hätte er sich das sicher nicht alles leisten können. Zu gegebener Zeit würde ich dies alles Dunn berichten.
In der Zwischenzeit kramte ich in meiner Tasche und fand ein paar Zweishillingstücke, die ich ihr gab. »Schön, Sie wiedergesehen zu haben, Daisy.«
»Danke!«, antwortete sie und steckte die Münzen ein. »Gleichfalls! Passen Sie beim Gehen auf.« Sie grinste mich an, und ich fragte mich, wie sie den Vorderzahn verloren hatte. »Wir sehen uns wieder, könnte ich mir denken!«, meinte sie.
In der Tat sollten wir uns wiedersehen, und zwar viel früher, als einer von uns zu diesem Zeitpunkt ahnte.
*
Auf der Straße blieb ich kurz stehen, während die Menschenmenge um mich herumwuselte. Es ist keine ruhige Gegend; die engen, verwinkelten Gassen sind immer überfüllt. Fast jede Nationalität, die man sich vorstellen kann, ist hier anzutreffen, und zu allen Zeiten bestürmt ein babylonisches Sprachengewirr das Ohr. Viele der Sprecher sind Seeleute von den verschiedenen Schiffen, die die Docks anlaufen, und wo es Seeleute gibt, gibt es auch viele Wirtshäuser, ganz zu schweigen von Bordellen, Spielhöllen, Opiumhöhlen und Speiselokalen mit Gerichten aus aller Welt. Hinzu kamen die neu eingetroffenen Einwanderer aus allen Teilen Europas und von weiter her, alle auf der Suche nach einem besseren Leben, auch wenn ich befürchtete, dass nicht viele es hier fanden. Aber viele waren entschlossen, Erfolg zu haben, und gründeten alle möglichen Geschäfte in Kellergeschossen und Räumen, die gleichzeitig als Wohnräume für die Familie dienten.
Dank Daisy wusste ich nun, dass das Wirtshaus nebenan ebenfalls Jacobus gehörte. Auch dieses schien von beträchtlichem Alter zu sein. Ein knarrendes Schild an der Fassade verkündete, dass es sich um das ›Crossed Keys‹ handelte. Ich wusste, dass die gekreuzten Schlüssel mit dem Apostel Petrus zusammenhingen; dies und die mittelalterliche Fachwerkkonstruktion brachten mich auf den Gedanken, dass das Haus womöglich Eigentum der Kirche gewesen war, bevor die Klöster durch Heinrich VIII. enteignet wurden. Vielleicht war es eine Herberge für Pilger gewesen. Andererseits mochte dies auch bloß sein neuester Name sein. An der Fassade war eine Uhr angebracht, wie es seit dem Aufkommen der Eisenbahn und der Vereinheitlichung der Zeit im ganzen Land gesetzlich vorgeschrieben war. Sie gab jetzt ein unharmonisches Bimmeln von sich und begann, die Stunde zu verkünden. Ich verglich meine eigene Taschenuhr mit ihr: Es war zwölf Uhr mittags. Der Laden war gut frequentiert. Arbeiter, Straßenhändler, Droschkenkutscher und geschniegelte Kerle von zweifelhafter Profession gingen ein und aus, um ein oder zwei stärkende Pints zu sich zu nehmen. Ich warf auch einen Blick auf den Eisenwarenladen auf der anderen Seite von Jacobus’ Haus. Von außen wirkte er wie ein recht seriöses Geschäft.
Ich fragte mich, ob der alte Mann noch andere Immobilien besaß; wo er überall mit seinen fleischigen Händen mitmischte.
Während ich andere beobachtet hatte, waren sie auch auf mich aufmerksam geworden und hatten mich als Polizeibeamten eingestuft. Dass ich keine Uniform trug, spielte keine Rolle. Sie erkannten mich als den, der ich war, und jemand, den ich beim Betreten der Schenke gesehen hatte, hatte den Wirt informiert. Er kam heraus und stellte sich in den Eingang und starrte mich an. Das, so vermutete ich, war wohl Tom, von dem Daisy gesprochen hatte. Er war ein großer, kräftig gebauter Bursche mit strohfarbenem Haar und einer Nase, die so unförmig war, dass ich nur den Schluss ziehen konnte, dass sie ihm mehrmals gebrochen worden war. Ich nahm an, dass er früher einmal den Preisring mit seiner Anwesenheit beehrt hatte. Wir taxierten uns gegenseitig, wie es Gegner zu Beginn eines Boxkampfes tun mochten. Ich hielt seinem Blick stand, und schließlich drehte er sich um und ging wieder hinein.
Während dieser Zeit wurde ich auch von einer Gruppe zerlumpter, schmutziger Gassenkinder beobachtet. Sie hatten die funkelnden Augen und scharfen Blicke von Sperbern. Viele von ihnen hatten sich gewiss bereits an der Kleinkriminalität versucht und würden, wenn sie älter wurden, zu schweren Gesetzesbrüchen übergehen. Ihre Konterfeis würden eines Tages die Galgenstrickgalerie des Yards zieren.
Auch diese Bengel erkannten meinen Beruf, natürlich hatten sie ihn erkannt. Um dies zu bestätigen, rief einer von ihnen: »Bulle!« Sie johlten verächtlich, bevor sie wie Ameisen aus einem aufgestörten Nest in alle Richtungen davonstoben. Die Uhr erinnerte mich daran, dass ich eigentlich schon wieder im Yard sein sollte, und mit schnellen Schritten machte ich mich auf den Weg.
Es war gut, dass ich nicht länger bei Jacobus geblieben war. Bei meiner Rückkehr zu Scotland Yard wurde ich von Sergeant Morris abgefangen, noch bevor ich meinen Schreibtisch erreichen konnte. Er tauchte plötzlich auf und versperrte mir den Weg und wirkte aufgeregt und übellaunig. Das war nicht ungewöhnlich, und als er mich entdeckte, schien dies seine Laune zu bessern. Wenn er sich über meine Ankunft freute, dann war ich auf der Hut. Was war hier passiert?
»Gut, dass Sie gekommen sind, Sir!«, knurrte er in einem Tonfall, den er für ein Flüstern hielt. »Der Superintendent fragt schon seit einer halben Stunde nach Ihnen. Es ist eine Dame bei ihm!«
»Alt oder jung?«
»Sie ist in einem gewissen Alter«, sagte Morris in dem Versuch, galant zu klingen. Es klappte nicht, und er gab es auf. »Und sie hat ein bisschen Geld, so wie sie aussieht. Sie sollen gleich reinkommen, Sir.«
»Irgendeine Ahnung, worum es geht, Sergeant?«
»Ich weiß nur«, antwortete Morris, »dass Smaragde im Spiel sind.«
Nicht schon wieder ein Diebstahl in einem wohlhabenden Haus! »Einzelne Steine oder Schmuck?«, fragte ich resigniert. Jeder Beamte, den wir hatten, war bereits damit beschäftigt, einen Juwelendieb zu fassen oder seine Beute zu finden. Im Stillen verfluchte ich ›die Saison‹ und all die zusätzliche Arbeit, die sie uns bescherte.
»Ein Familienerbstück«, erklärte Morris. »Zumindest meint die Dame das. Sie sagen alle, dass es Familienerbstücke sind, die verschwunden sind. Man ist ein Niemand, wenn man nicht ein oder zwei Familienerbstücke in der Wohnung herumliegen hat. Mrs. Morris hat eine Teekanne, die zur Zeit des zweiten Königs Georg in die Familie kam, wie sie sagt. Sie legt großen Wert darauf, obwohl ich nichts Besonderes darin sehe. Aber so ist das mit Erbstücken: Sie müssen einem nicht gefallen, man muss sie nur besitzen. Oder wenn man wirklich reich ist, muss man sie einfach nur gestohlen bekommen. Wenn niemand versucht, einen zu bestehlen, bedeutet das, dass man nichts hat, was es wert wäre, gestohlen zu werden, und die Reichen wollen nicht, dass man das von ihnen denkt. Andererseits wollen sie alle, dass das Zeug gefunden und zurückgegeben wird – und zwar möglichst sofort. Zögern Sie nicht, Sir, ich bitte Sie! Der Superintendent ist ganz schön aufgebracht. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, denn mehr weiß ich auch nicht darüber! Die Dame«, schloss er mit gequälter Stimme, »hat es nicht für angebracht gehalten, mich ins Vertrauen zu ziehen.«
Wie Jacobus war auch er also im Dunkeln gelassen worden.
*
Als ich Dunns Büro betrat, fand ich nicht eine, sondern zwei Frauen vor, zwischen denen eindeutig ein gewisser Standesunterschied bestand. Dominiert wurde der Raum von einer beeindruckenden Dame in fortgeschrittenem mittlerem Alter (meiner Schätzung nach). Ich bin kein Experte für Damenmode; in diesem Punkt bin ich auf die Angaben meiner Frau angewiesen. Ich kann nur sagen, dass ich froh bin, dass die Krinoline ihre Popularität verloren hat. Die Röcke dieser Besucherin, die früher durch den Rahmen gestützt worden wären, waren nun zu einem Wasserfall aus Stoff zurückgezogen, der nach hinten unter die Taille ragte. Sie trug eine Samtjacke mit Bortenbesatz und einen Hut mit schmaler Krempe und viel Tüll, welcher wie ein Turban um die Kalotte gewickelt war. Unter dem Hut taxierte mich ein Paar sehr aufgeweckter Augen. Dann, als ob wir bemerkten, dass jeder von uns den anderen musterte, richtete sie ihren Blick abrupt wieder auf Superintendent Dunn.
Ich taxierte kurz die Dame in ihrer Gesellschaft. Ich verwende das Wort mit Bedacht, denn eine bezahlte Gesellschafterin war sie eindeutig. Ich schätzte sie auf etwa fünfzig Jahre, vielleicht ein oder zwei Jahre weniger, eine unscheinbare Frau, aber mit derben Gesichtszügen und intelligenten Augen. Auch ihr Kleid war unscheinbar, geradezu von einer gewissen Strenge. Sie hatte es offensichtlich für diese Zusammenkunft angelegt. Ihr allgemeines Auftreten ließ mich vermuten, dass sie schon seit einiger Zeit in Diensten der Beschwerdeführerin stand. Es war keine Beschäftigung, die ich irgendeiner Frau gewünscht hätte.
Ebenfalls anwesend war Constable Biddle, der diskret in einer Ecke saß und ein aufgeschlagenes Notizbuch auf dem Knie hatte. Ich bin mit Biddle gut bekannt. Er gehört nicht nur zur Truppe hier im Yard, sondern geht auch seit ein paar Jahren mit unserem Hausmädchen aus, trotz der energischen Einwände seiner besitzergreifenden Mutter.
»Ah, Ross!«, rief Dunn aus. »Da sind Sie ja endlich!«
Er wirkte etwas mitgenommen. Er wandte sich an die Besucherin und sagte: »Darf ich Ihnen Inspector Ross vorstellen, Ma’am? Er ist einer unserer erfahrensten Beamten.«
Der angriffslustige Blick unter dem Tüllturban wurde wieder auf mich gerichtet. »Soso«, sagte sie. »Weiß er, warum ich hier bin?«
Ich nahm es auf mich, selbst zu antworten; ich mag es nicht, wenn man sich indirekt an mich wendet. »Nicht in allen Einzelheiten, Ma’am. Der Sergeant teilte mir mit, dass es um verschwundene Edelsteine geht, aber das ist alles.«
Es war nicht beabsichtigt gewesen, aber es war mir gelungen, die Besucherin zu verärgern.
»Dies ist kein einfacher Diebstahl!«, versetzte sie. »Es handelt sich um ein außergewöhnliches Collier aus Smaragden und kleineren Diamanten, eingefasst in Gold, das in Südamerika für die Urgroßmutter meines verstorbenen Mannes angefertigt wurde. Sie stammte aus einer wohlhabenden brasilianischen Familie. Er schenkte es mir zu unserer Vermählung. Jetzt ist es aus meinem Haus gestohlen worden. Sie werden verstehen, dass ich mir Sorgen um seinen Verbleib mache und es so schnell wie möglich zurückhaben möchte. Ich habe Superintendent Dunn alles erklärt, und der junge Mann dort drüben hat sich alles notiert.«
Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich eine kurze Regung im Gesicht ihrer Begleiterin wahrnehmen. Ich war mir nicht ganz sicher, was es war, aber es mochte Unmut sein.
»Diese Dame«, beeilte sich Dunn, die Zügel des Gesprächs in die Hand zu nehmen, »ist Mrs. Charlotte Roxby.«
»Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Roxby.« Ihre Miene wurde weniger frostig, und sie nickte mir recht huldvoll zu. Leider verspielte ich sofort jedes Quäntchen ihrer Billigung, als ich so höflich wie möglich fragte: »Und die andere Dame?«
»Meine Gesellschafterin, Miss Chalk!«, blaffte Mrs. Roxby.
Miss Chalk blickte kurz auf, sah mich an und senkte dann den Blick wieder auf die gefalteten Hände in ihrem Schoß. Nun, dachte ich, mit ihr zu reden würde sich sicher lohnen. Sie weiß wahrscheinlich alles, was es über die Familie zu wissen gibt. Ich mochte Mrs. Roxby ohnehin jetzt schon nicht und würde auch nicht alles für bare Münze nehmen, was sie sagte. Ja, ich würde unter vier Augen mit der Gesellschafterin sprechen müssen. Aber eine Frage hatte ich, die sofort gestellt werden musste.
»Darf ich fragen, Ma’am, ob das Collier normalerweise in einem Banktresor aufbewahrt wird, oder ob es für gewöhnlich im Haus vorzufinden ist?«
»Es wird in einem ausgezeichneten Safe in meinem Haus aufbewahrt!«, erwiderte sie bissig. »Wenn es in einem Banktresor aufbewahrt würde, müsste es jedes Mal, wenn es benötigt wird, von dort geholt und am nächsten Tag zurückgebracht werden. Ich wohne in Hampstead. Der Weg über die Heide kann sehr einsam sein; es wäre eine Einladung zur Straßenräuberei. Es ist – war – in meinem eigenen Safe besser aufgehoben.«
Die Ironie dieser letzten Bemerkung entging niemandem im Raum. Die Dame errötete, und Miss Chalk sah kurz so aus, als genösse sie es, dass ihre Arbeitgeberin kurzzeitig die Fassung verlor.
»Ich werde Inspector Ross mit den bekannten Einzelheiten vertraut machen, Ma’am«, schaltete Dunn sich frostig ein.
»Ich erwarte, dass Sie mich in meinem Haus in Hampstead aufsuchen, Inspector, morgen um halb drei«, sagte Mrs. Roxby zu mir. »Dann können Sie mich über Ihre Fortschritte in dieser Angelegenheit auf den neuesten Stand bringen. Ich danke Ihnen, Superintendent Dunn, für Ihre freundliche Unterstützung.«
Und damit ging sie, die schweigsame Miss Chalk im Schlepptau.
»Gehen Sie und schreiben Sie Ihre Notizen für den Inspector ins Reine, Constable!«, befahl Dunn Biddle, der folgsam mit seinem Notizbuch in der Hand aus der Tür wieselte.
»Wo waren Sie bloß, Ross?«, schnauzte Dunn mich an. »Diese Frau hat nicht den geringsten Respekt vor Rang oder Prozedere! Ich komme mir vor, als hätte ich vor einem Kriegsgericht gestanden!«
»Ich habe den alten Jacobus aufgesucht, wie Sie es vorgeschlagen haben, wegen der Juwelendiebstähle, die sich in letzter Zeit ereignet haben. Er hat natürlich jede Kenntnis davon abgestritten. Aber er weiß, dass ich seine Aktivitäten beobachte, und wenn jemand an ihn herantritt –«
»Schon gut«, unterbrach mich Dunn. Er sah stets mehr wie ein Gutsbesitzer aus denn wie ein hoher Polizeibeamter. Er war von stämmiger Statur und trug gerne Tweed. Sein Haar war borstig und sehr kurz geschnitten, und sein Teint, normalerweise gerötet, glich in diesem Moment eher dem eines Cholerikers. »Konzentrieren wir uns für den Moment auf Mrs. Roxby.«
Er hielt inne, um eine Porträtfotografie in die Hand zu nehmen, und reichte sie mir. »Der verschwundene Schmuck.«
Ich betrachtete das Foto. Es zeigte eine sehr junge Frau, die so eng in ein Ballkleid geschnürt war, dass ich mich wunderte, dass sie noch atmen, geschweige denn tanzen konnte. Sie trug einen prächtigen Halsschmuck. Er sah schwer aus und war, wie ich mir vorstellte, nicht sehr angenehm zu tragen, aber er fiel auf jeden Fall ins Auge. Das Aussehen der jungen Dame ohne all diesen Zierrat schätzte ich als gewöhnlich ein; und es fiel mir sofort auf, dass sie nicht glücklich aussah. Gewiss, es ist sehr schwierig, auf einem Porträtfoto entspannt oder munter auszusehen; wenn man seine Pose so lange halten muss, wie es nötig ist, geht jede Spontaneität verloren. Aber in ihren Augen, die in die Linse starrten, lag auch eine gewisse Verbitterung.
»Die junge Dame ist Miss Roxby?«
»Nein, das ist Miss Gray, die Tochter von Mrs. Roxbys verstorbenem Bruder. Sie wurde von ihrem Onkel und ihrer Tante adoptiert; ihre Eltern sind gestorben, als sie noch ein kleines Kind war. Es ist eine traurige Geschichte. Offenbar war die Familie in Italien unterwegs, als die Kutsche in der Nähe von Turin umkippte. Die Eltern kamen dabei ums Leben. Das Kind, das mit seinem Kindermädchen in der Kutsche reiste, überlebte, war fortan aber eine Waise. Es wurde nach England zurückgebracht, und die Roxbys, die selbst kinderlos waren, nahmen es auf.«
»Und das Kindermädchen?«, fragte ich. »Ist sie mit dem Kind nach England zurückgekehrt?«
Dunn schaute mich verblüfft an. »Das weiß ich wirklich nicht. Spielt es eine Rolle?«
Für das Kindermädchen und seine eventuelle Familie hatte es eine Rolle gespielt, aber es brachte nichts, irgendeinen Kommentar abzugeben.
»Entschuldigung, Sir«, sagte ich, »aber wissen wir, wann das Collier gestohlen wurde und warum es nicht im Safe weggesperrt war? Oder waren die Diebe in der Lage, den Safe zu öffnen? Dann könnten wir uns auf die bekannten Geldschrankknacker beschränken und die Suche eingrenzen.«
Dunn lächelte freudlos. »Das wissen wir in der Tat. Es geschah in Mrs. Roxbys eigenem Zuhause, gestern Abend während einer Abendgesellschaft, die unten stattfand. Alle Gäste sind Personen, die über jeden Verdacht erhaben sind. Das Collier wurde aus einer gut gefüllten Schmuckschatulle entwendet, die normalerweise im Safe aufbewahrt wird, aber zu diesem Anlass herausgenommen und unbeaufsichtigt auf einem Schminktisch im Obergeschoss liegen gelassen wurde. Ach, es ist doch immer dasselbe!«
»Kein Wunder, dass sie so verärgert ist und sich mehr als nur ein bisschen schuldig fühlt«, brummte ich.
»Sie ist außer sich vor Wut und hat niemandem etwas vorzuwerfen außer sich selbst«, erwiderte Dunn freimütig. »Sie werden sich Biddles Notizbuch von ihm geben lassen und sich mit allem befassen, was er aufgeschrieben hat. Ich möchte, dass diese Angelegenheit aufgeklärt wird, damit wir uns mit dem möglicherweise begangenen Verbrechen befassen können. Je eher, desto besser. Wir haben genug Wichtigeres zu tun. Die Dame kann so aggressiv sein, wie sie will –«
»Entschuldigen Sie, Sir«, unterbrach ich ihn und zögerte. Dunn gab mir bloß mit einer Handbewegung zu verstehen, fortzufahren. »Wie alt ist ihre Nichte?«, fragte ich.
»Siebzehn!«, blaffte Dunn.
»Siebzehn und gerade in die Gesellschaft eingeführt, wie man so sagt. Ziemlich früh, finden Sie nicht?«
»Ich habe eine Tochter«, erklärte Dunn. »Sie ist fünfundzwanzig und mit einem Geistlichen verheiratet. Sie ist nie ›eingeführt‹ worden. Es war nicht nötig, und mein Gehalt hätte die Kosten nicht getragen.«
»Aber Mrs. Roxby ist vermögend!«, entgegnete ich. »Also wird die junge Frau mit modischen Kleidern und teurem Schmuck herausgeputzt und wie ein Köder vorgeführt, um einen Ehemann zu angeln. Dieses fotografische Porträt wurde aufgenommen, um als Werbung zu fungieren. Die Jagd nach einem reichen Verehrer, vorzugsweise von Rang, ist eröffnet, möchte ich meinen.«
»Unsere Aufgabe«, sagte Dunn streng, »ist es nicht, den Puritaner zu spielen. Unsere Aufgabe ist es, den Schmuck zu finden und zurückzugeben. Also gehen Sie und tun Sie das, Ross! Solch eine Beute ist vielleicht inzwischen schon zerlegt und die Steine ausgefasst worden.« Er klatschte mit den Handflächen auf den Schreibtisch. »Haben Sie bei Ihrem Besuch bei Jacobus etwas von Interesse in Erfahrung gebracht?«
»Nichts, was mit gestohlenen Schmuckstücken zu tun hat. Aber ein paar andere Dinge, die interessant sind.« Ich erzählte ihm, dass ich erfahren hatte, dass Jacobus mindestens drei Immobilien besaß. Und dass er anscheinend an einer Form von Agoraphobie litt. »Er geht nie aus dem Haus, Sir.«
»Wo bewahrt er dann sein Bargeld auf?«, murmelte Dunn. »Es ist uns bisher nicht gelungen, ihn zu ertappen, aber wenn wir der Spur des Geldes folgen können, haben wir vielleicht mehr Glück. In ein oder zwei Wochen, wenn der Diebstahl bei Mrs. Roxby untersucht worden ist, sollten Sie Jacobus noch einmal aufsuchen.«
Aber ich sollte die schmale kleine Behausung in Limehouse schon früher besuchen.
»Ich nehme an«, hatte Tante Parry einmal zu mir gesagt, »ich nehme an, dass es eine sehr respektierliche Sache ist, mit einem Mann verheiratet zu sein, der den Rang eines Detective Inspectors bei Scotland Yard hat.«
Dessen allzu sicher hatte sie nicht geklungen. Ich hatte ihr geantwortet, ja, so sei es. Ich sagte das, weil es wahr war, und nicht nur, weil sie es hören wollte. Tante Parry mag es, wenn man einer Meinung mit ihr ist. Nicht einer Meinung mit ihr zu sein ist reine Zeitverschwendung. Sie hört sich niemals Einwände jeglicher Art an, weder gegen ihre Pläne noch gegen ihre Vorstellungen noch gegen ihre Meinung zu irgendeinem Thema. Sie will schlicht und einfach Bestätigung. Und wenn die nicht erfolgt, schreibt sie im Kopf einfach das ganze Gespräch um. Sie hört sozusagen, was sie hören will.
Ich hätte hinzufügen können, dass der Beruf, auch wenn er respektierlich war, nicht zu einem ereignislosen Leben zu Hause führte. Ben tut sein Bestes, da bin ich mir sicher, um abends rechtzeitig zum Essen zu Hause zu sein, und morgens verlässt er das Haus zu einer festen Stunde. Aber dennoch kommt es zu allen möglichen Störungen.
An diesem Abend war Ben pünktlich erschienen, es hatte also gut angefangen. Bessie, unser Hausmädchen, hatte gerade die Suppenterrine auf den Tisch gestellt und eilte zurück in die Küche. Ich schöpfte eine Portion und reichte sie ihm. Wir hatten die Angewohnheit, am Abendbrottisch darüber zu sprechen, wie wir den Tag verbracht hatten. Bens Tag war zwangsläufig fast immer interessanter als meiner. (Er ließ in seinen Berichten allerdings die blutrünstigeren Stellen aus.) An diesem Abend hatte er mir schon von dem verschwundenen Roxby-Collier erzählt. Aber ich wusste auch, dass er früher am Tag vorgehabt hatte, einen grässlichen alten Gauner namens Jacobus aufzusuchen, und ich war neugierig zu erfahren, wie es ihm ergangen war. Als er zuvor von ihm gesprochen hatte, hatte ich den Eindruck gehabt, dass er diesen speziellen Bösewicht recht gut leiden konnte. Er hatte gerade begonnen, seinen Besuch in Limehouse zu beschreiben, als Bessie mit der Terrine gekommen war. Wir unterbrachen unser Gespräch, bis sie wieder aus dem Zimmer gehuscht war.
»Was genau hat Jacobus damit gemeint?«, fragte ich Ben. »Dass er vielleicht etwas für dich hat oder auch nicht?«
»Nun, Liebes«, antwortete er, »so wie ich den alten Jacobus kenne, bedeutet das, dass er, wenn er von jemandem hört, der gestohlenen Schmuck anbietet, und der Dieb einer ist, mit dem er selbst gelegentlich Geschäfte macht, uns kein Wort sagen wird, denn er wird seine eigenen Geschäftsinteressen schützen wollen. Andererseits, wenn er erfährt, dass die Gegenstände von einem Neuling angeboten werden, mit dem weder er noch ein anderer Empfänger von Diebesgut je zu tun hatte oder von dem er je gehört hat …«
Er schwieg kurz, um die Suppe zu kosten. »Die ist sehr gut! Die hast doch sicher du gemacht, oder? Bestimmt nicht Bessie, wette ich.«
»Pst …« Ich blickte zur Tür. »Ja, ich habe sie gemacht, aber sag nichts, was sie verärgern könnte!«
»Die Tür ist zu. Und sie muss doch wissen, dass sie keine besonders gute Köchin ist.«
»Sie hat sich enorm verbessert!«, verteidigte ich unsere einzige Haushaltshilfe. »Und nur weil die Tür zu ist, heißt das nicht, dass sie nicht hören kann, was gesagt wird. Sie hat ein ausgezeichnetes Gehör, und sie horcht.«
»Als ich durch den Flur ging, meinte ich Stimmengemurmel in der Küche zu hören. Hat sie Besuch?«
»Constable Biddle.«
»Ah, er speist auf meine Kosten, was?«, brummte Ben. »Er muss hierher gelaufen sein, um vor mir anzukommen! Nun, halte ihn mir vom Leib. Ich habe bereits eine Stunde damit verbracht, seine Notizen zu lesen und mit Dunn über das verschwundene Roxby-Collier zu diskutieren.«
»Sie muss eine sehr reiche Frau sein.« Ich war fasziniert von Bens Beschreibung der prächtigen Halskette gewesen, die auf der Fotografie zu sehen war.
»Sehr reich und, wie mir Dunn sagte, mit einigen einflussreichen Leuten bekannt. Der verstorbene Mr. Roxby war Reeder, Partner im Familienunternehmen. Mrs. Roxby selbst entstammt einer wohlhabenden Familie. Frag mich nicht, woher Dunn das weiß. Ich vermute, dass ihm jemand von hohem Rang bereits in den Ohren gelegen hat. Mrs. Roxby ist die Art von Frau, die einen Gefallen sofort einfordern würde. Ich vermute, dass die Dame darauf aus ist, ihre Nichte mit einem Adelsprädikat zu verkuppeln.«
»Das arme Kind«, sagte ich. »Aber vielleicht hat sie ja auch denselben Ehrgeiz wie ihre Tante.«
Ben wirkte gereizt, und vielleicht war es an der Zeit, das Thema fallen zu lassen. Ich schloss mit den Worten: »Hoffen wir, dass Jacobus etwas erfährt.«
Ben brummte: »Hoffen müssen wir, dass das Stück nicht zerbrochen, die Steine ausgefasst und die Fassung eingeschmolzen wurde, um nur den Goldwert zu erhalten. Aber es ist ein so unverwechselbares Objekt, dass ich befürchte, dass genau das damit passieren wird. Aber vielleicht haben wir ja auch Glück und es handelt sich bei dem Täter um einen Gelegenheitsdieb, vielleicht ein Diener, der versuchen wird, es intakt zu veräußern. Dann wird Jacobus mich vielleicht benachrichtigen.«
»Warum sollte er das tun?«, fragte ich.
»Weil diejenigen, die sehr wertvolle Gegenstände veräußern, in der Regel Experten sind, Profis auf höchstem Niveau. Sie wollen nicht, dass ein Amateur in ihrem Geschäft herumpfuscht. Das könnte ihre sorgsam geschaffenen Strukturen durcheinanderbringen, auch die von Jacobus und seinen kleinen krummen Geschäften, die er womöglich laufen hat. Er würde misstrauisch werden und vielleicht, aber auch nur vielleicht, beschließen, die Polizei zu informieren. Er ist ein umsichtiger Mann. Er handelt mit Ganoven, die er kennt. Der Amateur merkt sofort, dass es eine Sache ist, zum Beispiel dieses Smaragdcollier zu stehlen, es zu veräußern jedoch eine ganz andere. Vergiss nicht, wir reden hier von einem prächtigen und unverwechselbaren Stück; das macht es umso schwieriger. Es lässt sich nicht einfach weiterverkaufen, und Amateurdiebe machen Fehler. Aber nehmen wir einmal an, der Dieb hat das Glück, einen Käufer zu finden. Nun, zunächst einmal wird er nicht den erhofften Preis erzielen. Letztendlich muss er sich mit dem zufriedengeben, was der Hehler zahlen will. Das führt zum nächsten Problem, dem er sich gegenübersieht: Er kann nicht erklären, warum er plötzlich über Bargeld verfügt, das er vorher nicht hatte. Wenn er deswegen zur Rede gestellt wird, insbesondere von der Polizei, könnte er zusammenbrechen und nicht nur zugeben, dass er den fraglichen Gegenstand gestohlen hat, sondern auch, an wen er ihn weiterverkauft hat. Professionelle Hehler haben es gerne mit professionellen Dieben zu tun. Es ist ein Geschäft.« Ben blickte nachdenklich in seine Suppentasse. »Dunn hat recht. Ich muss Jacobus noch einmal besuchen, vielleicht in ein oder zwei Tagen. Aber meine Vermutung ist, dass es sich um die Arbeit einer Leiterbande handelt –«
Die Tür flog auf, und Bessie erschien mit einer Platte mit gekochtem Rindfleisch und Gemüse. Sie stellte sie auf den Tisch und fragte: »Was ist eine Leiterbande?«
»Ach, das hast du gehört, Bessie?«, fragte Ben.
»Ja, als ich gerade hereingekommen bin!«, erklärte ihm unser Dienstmädchen unverfroren.
»Nun, Bessie«, sagte er. »Warum fragst du nicht deinen Küchengast, Biddle? Er wird es dir sicher erzählen.«
»’s geht um die Smaragde, stimmt’s?« Bessie rauschte mit der leeren Suppenterrine hinaus, und die Tür schlug hinter ihr zu.
»Siehst du? Sie horcht!«, sagte Ben triumphierend. »Und was sie nicht mitbekommt, erzählt ihr Biddle. Sie ist fast so gut über jeden unserer interessanten Fälle informiert wie wir selbst.«
»Aber nicht vom Herumspionieren!«, nahm ich Bessie in Schutz. »Wie du gesagt hast, wahrscheinlich hat Biddle ihr alles darüber erzählt. Und was ist jetzt eigentlich eine Leiterbande?«
»Professionelle Diebe, die sich auf Landhäuser spezialisiert haben. Mrs. Roxby wohnt in der Nähe von Hampstead Heath. Nach Einbruch der Dunkelheit ist das ein einsamer Ort. Die Bande sucht sich ihr Opfer aus. Sie bringen eine lange Leiter mit, die sie in Büschen auf dem Grundstück oder in der Nähe verstecken, in diesem Fall wahrscheinlich auf der Heide selbst im Gestrüpp. Dann warten sie, bis die Familie beim Abendessen ist. Sobald es dunkel ist, holen sie die Leiter; einen abgelegenen Bereich haben sie schon ausgewählt. Sie stellen sie an der Rückseite des Hauses auf, klettern hoch und stemmen ein Fenster auf. Die Damen des Haushalts werden sich fürs Abendessen sorgfältig zurechtgemacht haben. Die Schmuckschatullen, die normalerweise in einem Tresor aufbewahrt werden, liegen alle auf den Schminktischen und warten darauf, dass der fehlende Inhalt zurückkommt, wenn die Familie sich zur Nachtruhe begibt. Erst dann werden sie wieder weggeschlossen. In der Zwischenzeit, drei oder vier Stunden lang, sind alle, Familie und Bedienstete, im Erdgeschoss. Die Familie und die Gäste plaudern. Vielleicht gibt es Musik. Das Personal arbeitet emsig in der Küche. Der Dieb hat die oberen Stockwerke für sich allein. Er bedient sich an dem Schmuck, der in den Schatullen zurückgelassen wurde, steckt ihn ein und steigt die Leiter wieder hinunter. Er und seine Komplizen machen sich aus dem Staub und nehmen die Leiter mit, um sie bis zum nächsten Coup zu verstecken.«
»Aber würde man denn ein Collier wie das verschwundene in einer Schmuckschatulle lassen? Würde die junge Dame es nicht tragen?«
Ich runzelte die Stirn und überlegte kurz. »Nein, es sei denn, es handelt sich um einen glanzvollen Anlass wie einen Ball oder einen Empfang. Für eine einfache Abendgesellschaft würde sie etwas weniger Pompöses anlegen.«
»Und warum wurde gerade dieses spezielle Collier aus dem Safe genommen? Ich hätte gedacht, dass es in einem eigenen Etui aufbewahrt wird und nicht in einer Schatulle mit anderen Schmuckstücken.«
»Das ist eine Sache, nach der ich werde fragen müssen. Siehst du, warum ich solche Dinge gerne mit dir bespreche, Liebes? Du findest immer schnell die Schwachstelle in einer Rüstung. Das ist auch der Grund, warum ich nicht mit dir streite!« Ben lächelte. »Jedenfalls ist das Haus unten hell erleuchtet und voller Menschen, jeder fühlt sich sicher. Oben ist es dunkel und verlassen, und niemand wird dorthin hochgehen, erst viel später, wenn die Gäste das Haus verlassen. Die Leiterbande geht kaum ein Risiko ein. Mrs. Roxby hat niemandem außer sich selbst die Schuld zu geben. Solche Diebe handeln mit professionellen Hehlern und sind diesen bekannt; Jacobus würde sie nicht verraten. Aber der Amateur ist, wie ich schon sagte, eine Gefahr für alle. Seine Identität ist im Allgemeinen schnell bekannt. Wenn er den Gegenstand verkauft, kann er danach nicht verbergen, dass er mehr Geld ausgibt, als er plausibel erklären kann. Jacobus würde uns mit Freuden alles über ihn erzählen.«
Damit machte sich Ben an sein Abendessen, und ich fand, dass es nur angemessen war, ihn in Ruhe speisen zu lassen, bevor ich ihn erneut ausfragte. Leider konnte keiner von uns beiden seine Mahlzeit ungestört zu Ende bringen.
Das erste Anzeichen für das, was kommen sollte, war ein Lärmen, das aus unserer Küche zu dringen schien. Ich hörte Bessies Stimme und die eines Mannes, die ich als die von Biddle erkannte, sowie eine weitere Frauenstimme. Letztere war laut, eindringlich und klang verzweifelt.
»Bleib hier!« Ben stand auf und warf seine Serviette beiseite. »Das ist, wenn ich mich nicht irre, das Zeichen für Ärger!«
Und das war es auch. Die Tür wurde aufgestoßen, und Biddle erschien, hemdsärmelig und mit einer Serviette, die er in den Hemdkragen gesteckt hatte. Er speiste tatsächlich auf unsere Kosten!
»Kommen Sie lieber, Sir!«, schnaufte er. »Sie dreht durch. Verzeihung, Ma’am!« (Dies mit einem Kopfschütteln zu mir.) »Ich meine nicht Bessie; sie versucht, sie zu beruhigen. Die andere, die meine ich. Sie ist gerade durch die Hintertür hereingeplatzt und faselt irgendetwas von einem Mord, das sagt sie jedenfalls!«
In diesem Moment flog erneut die Küchentür auf, und zwei weibliche Gestalten kamen auf den Flur getaumelt. Bessie fand zuerst das Gleichgewicht wieder und breitete die Arme weit aus, um zu verhindern, dass die Besucherin weiter vordrang. »Hilf mir, Walter, wirst du wohl?«, forderte sie Biddle auf. »Sie ist verrückt geworden!«
Hinter ihr tauchte eine weitere Gestalt auf und rief: »Ich muss mit Mr. Ross sprechen! Mr. Ross, sind Sie da? Sie müssen mit mir kommen, sofort! Er ist tot, ermordet, und überall ist Blut!«
»Daisy?«, rief Ben alarmiert. »Lassen Sie sie rein, Biddle!« An mich gewandt fügte er hinzu: »Tut mir leid, Liebes, aber ich glaube, es handelt sich um einen Notfall.«
»Da haben Sie recht, genau darum handelt es sich!«, rief die Besucherin und stürmte in den Raum.
»Gütiger Himmel!«, rief ich aus. »Es ist tatsächlich Miss Smith!«
Ich hatte Daisy Smith seit der Sache mit den vom Flussphantom begangenen Morden nicht mehr gesehen. Auch wenn hier ein Notfall vorliegen mochte, so fand ich doch, dass sie zerzauster aussah, als nötig gewesen wäre, und dass sie, zumindest für den Moment, ihre alte Cockney-Manier und -Dreistigkeit eingebüßt hatte. Sie sah ganz verängstigt aus.
»Tut mir leid, Mrs. Ross!«, schnaufte sie in meine Richtung. »Ich wäre nicht gekommen, aber der Inspector war heute Morgen da …«
Meine Zuversicht schwand – unser Abend würde ruiniert werden.
Ben jedoch nahm es gelassen hin, denn schlecht waren Neuigkeiten allesamt. »Wer ist tot?«, fragte er.
»Der alte Mann, der alte Jacobus! Sein Hals ist von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt!« Zur Veranschaulichung zog sie mit dem Zeigefinger eine gerade Linie über ihren eigenen Hals. »Überall ist Blut, wirklich! So was habe ich noch nie gesehen! Ich bin losgerannt und habe es Tom erzählt. Er hat Quig mit mir zurückgeschickt, um zu sehen, ob es wahr ist. Quig kam hoch, und er ist nicht leicht zu schockieren, glauben Sie mir. Aber er stand mit offenem Mund da, als hätte ihn der Blitz getroffen. Mir ging es ja nicht anders!«
Ben war so verblüfft, dass er wissen wollte: »Und Sie sind den ganzen Weg von Limehouse hierhergekommen, um mir das bei mir zu Hause zu melden? Meine Güte, Daisy, Sie hätten doch sicher einen Polizeibeamten in der Nähe finden können …«
»Das haben wir, das haben wir ja auch! Ein paar Männer, die in der Schankstube tranken, meldeten sich freiwillig, um einen Bobby zu holen. Sie hatten Glück, es war eine reguläre Abendstreife in der Nähe. Aber ich wusste, dass ich kommen und es Ihnen sagen musste, weil Sie doch heute Morgen da waren! Also komme ich«, schloss Daisy und setzte sich ohne Vorwarnung auf den Fußboden und brach in Tränen aus. »Ich mochte den alten Gauner, ich schwöre es, Mr. Ross! Ich habe ihm sein Abendessen gebracht, so wie immer, Pastete und Püree. Ich bekam von Tom, dem Wirt, den Schlüssel und wollte das Tablett hochbringen, aber die Tür zur Straße war offen. Ich dachte, das ist nicht richtig! Er hat seine Besucher, Mr. Jacobus, aber sie melden sich erst im Pub, damit Tom oder Quig oder ich sie ins Haus lassen. Er mag keine Überraschungen.«
»Wer ist dieser Quig?«, unterbrach Ben sie.
»Der Kellner im Keys. Sein richtiger Name ist Obadiah Quigley, nur wird er von allen Quig genannt.«
»Es tut mir leid, Liebes«, sagte Ben zu mir, »aber ich denke, unter diesen Umständen muss ich los. Sie auch, Biddle. Wenn ich mein Abendessen nicht zu Ende essen kann, sollen Sie Ihres auch nicht zu Ende essen. Bessie, lauf los und such eine Kutsche, einen viersitzigen Growler, denn es werden drei Fahrgäste sein. Sag dem Kutscher, dass es nach Limehouse geht und dass es sich für ihn lohnen wird, uns schnell dorthin zu bringen!«
Bessie und ich standen an der Tür und sahen zu, wie der Growler mit Ben, dem jungen Biddle und Daisy Smith davonratterte. Ich fragte mich, ob ich, sollte Tante Parry mich in naher Zukunft wieder fragen, ob es eine respektierliche Sache sei, mit einem Detective Inspector verheiratet zu sein, mit der gleichen Zuversicht antworten könnte.
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