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Der Autor bezeichnet sich als DDR-Mensch 2.Klasse. Er muss sich bewähren, um als soge-nannter Kapitalistensohn im Arbeiter- und Bauernstaat anerkannt zu werden. Dieses Han-dicap belastet den parteilosen Ingenieur von Kindheit bis zum Mauerfall 1989. Ungeniert plaudert er über Interna seiner Anbiederungen der 50ger Jahre um Studieren zu dürfen, seinen Diskriminierungen mit Prozess bis zum Obers-ten Gericht der DDR, der Kungelei von Alltag und Reisen ins sozialistische Ausland, privat und als Botschafter der Ost-Wirtschaft. Beim Erfinden und Realisierung von Patenten im Sozialismus kommen skurrile Erlebnisse ans Tageslicht. Die Stasi mit dem Neid der Spitzel hat seine Erfolge auf Staatstreue aufmerksam begleitet.
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2020
Friedrich Bude
Der Überhebliche
„Im Namen des Volkes“- Erinnerungen eines Ost-Erfinders -
Copyright: © 2020 Friedrich Bude
Autor: Friedrich Bude
Titelbild: SAX / Sylke Kilian
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-06676-2 (Paperback)
978-3-347-06677-9 (Hardcover)
978-3-347-06678-6 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Mein besonderer Dank gilt Frau Doris Kufferath, ARTOZ AG, Schweiz, und Herrn Jürgen Heinrich, Märkischer Bote, Cottbus, welche mich in meinen Vorhaben gestärkt und meine Arbeit mit Rat und Tat unterstützt haben.
Vorwort
Der vorliegende Roman, in welchen der Leser sich hinein vertiefen wird, beinhaltet Erinnerungen eines Ost-Erfnders. Diese beziehen sich im Wesentlichen auf den Zeitraum vom Einmarsch der amerikanischen, später dann der sowjetischen Truppen von 1945 bis zum Mauerfall 1989 und handeln von der Entwicklung eines besonderen und zugleich doch wieder normalen Lebens in der DDR. Derjenige Leser, der selbst Teilnehmer – oder zumindest eines Teils – dieser Zeit gewesen ist, wird in vielen geschilderten Beschreibungen ähnliche Erfahrungen entdecken, Absurditäten des sozialistischen Alltages belachen – der Abstand nach 30 Jahren macht´s möglich – aber auch zugleich berührt werden von den mit bestaunender Ehrlichkeit aufgeschriebenen Selbstreflexionen dieses Erfinders. Ohne Rausreden und Beschönigungen erfährt der Leser, wie sich der aus bürgerlichem Haus stammende „Ost-Intellektuelle ohne Parteibuch“ ideelles – und materielles Ansehen erschaffen möchte, seinem Leben einen Sinn zu geben versucht im Rahmen der eng gesteckten Räume. Wie er sich listig versucht „nach OBEN“ zu bewegen, um Anerkennung- und auch Wohlstand zu erlangen - in dem Lebensabschnitt, der ihm in seinen „besten“ Jahren zur Verfügung steht. Wenn man etwas erlangen wollte, musste man sich natürlich mit und in den gesellschaftlichen Umständen arrangieren, Nischen entdecken und als „Mensch 2.Klasse“ versuchen auf einen Trumpf zu setzen, wo selbst die sozialistische Nomenklatura anfällig war, andere anzuerkennen: Leistung!
Herausragende Leistungen auf einem Gebiet, möglichst mit Weltgeltung, die sich auch mit Valuta vermarkten ließ. Auf solche Menschen war man angewiesen, die brauchte die DDR dringend. Und auf diese Chance setzte Friedrich Bude, alias Edub, in seinem Leben – nachvollziehbar in Romanform aufgeschrieben, mit Humor und einem Schuss Selbstironie durchsetzt.
Aber auch für den Leser, der diese Zeit nicht durchlebt hat, ist dieser Roman äußerst aufschlussreich und vergnüglich zu lesen. Man bekommt doch einen unverblümten Einblick in die Zwänge, die typischen Verhaltensmuster vieler Menschen dieser_Zeit, versteht warum und wieso viele so handeln und reagieren mussten, um dieses Leben in der Diktatur des Proletariats irgendwie zum Erfolg zu führen. Und dafür ist die vorliegende Erinnerung einerseits beispielhaft, beschreibt aber auch die Zwänge der Gegenspieler (damit meine ich die IM`s von der FIRMA, sprich: Informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit), die Edub beschatten und überwachen.
Der Roman endet mit dem berührenden und außergewöhnlichen Erlebnis des Mauerfalls, ausgerechnet beim West-Besuch von Edub bei seinem Bruder. Die DDR löst sich auf– der Überhebliche, wie er von seinen-Neidern bezeichnet wurde, hatte seine Zeit in dem nun untergehenden Staat irgendwie so gut genutzt, dass er nun relativ wohlhabend in der Bundesrepublik ankam. Seine Erfindungen mündeten in vielen Patenten – und die überstanden die Wende, wurden auch danach in freier Erfindertätigkeit vermehrt.
Heute blickt der 80jährige auf die Ereignisse, meist gelassen und mit Humor, zurück und hinterlässt den Nachgeborenen ein Stück gelebter, authentischer deutscher Geschichte.
„Ja, so war es“ – das macht das Buch so lesenswert.
Martin Schüler
Opemdirektor und Intendant des Staatstheaters Cottbus(1991 – 2018)
INHALT
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkungen
1 Vater ist tot
2 Rückblende
3 Blauer Edub
4 Der 17Juni 1953
5 Pubertäres Geplänkel
6 Rauch in der Knopfstadt
7 Jugendliebe
8 Kampf um Anerkennung im Arbeiter- und Bauernstaat
9 Mensch 2Klasse
10 Mauerbau
11 Magdeburg
12 Schicksal
13 Gezeichnete Pornographie
14 Tapetenwechsel
15 Geltungsbedürfnis
16 Die Gauck-Behörde
17 IM „Rolf“
18 Im Namen des Volkes
19 Freizeitnischen
20 IM „Fabian“
21 Die Kuh
22 Die 2. Ölkrise
23 Walter Pohle
24 Der Überhebliche
25 IM „Herbert Schlunz“
26 Besuch aus dem Westen
27 Reiseverweigerung als Lebensretter
28 Niederungen der Macht
29 Ummauerte Ruhmesblätter
30 Mangel und Markt
31 Bildersturm
32 Die Loreley
Vorbemerkung
Der „blaue Edub“, SED-Verweigerer, Kläger vor dem Obersten Gericht der DDR, „Verdienter Erfinder“ und nach dem Mauerfall an der Frauenquote gescheiterter erster Bundestagskandidat der Cottbuser SPD, betritt die Außenstelle der GAUCK-Behörde - liest seine komprimierte Akte, deren Kopie in der STASI-Zentrale Berlin, Normannenstraße, unter der Rubrik besonders zu schützende Personen, wie Generaldirektoren, Parteisekretäre, aber auch Dissidenten wie Havemann und Biermann, abgelegt war: IM-Berichte, wie die Einschätzungen geheimer Informeller Mitarbeiter betitelt, und Einschätzungen der Führungsoffiziere DER FIRMA, wie der Volksmund das allwissende Netzwerk dieser Einrichtung genannt.
Lebenserinnerungen werden wach…
Die erste Fassung dieser Texte von 1996 veranlasste den Autor zu einer schonungslosen Abrechnung mit dem real existierenden Sozialismus und dessen Zweiklassengesellschaft.
Mit dem Abstand der Jahre und den Erfahrungen der heutigen sozialen Marktwirtschaft bleibt allerdings von dieser sogenannten Abrechnung oft nur noch ein vergnügliches Schmunzeln zu den Ereignissen, dem Lavieren des Autors als ostdeutscher Erfinder.
Seit einem Viertel Jahrhundert ruht das Manuskript. Wenige Ergänzungen aus heutiger Sicht in kursiver Schrift ordnen die Geschehnisse in den geschichtlichen Rahmen, wobei der Originaltext unverändert das Denken und Handeln zu Ostzeiten beibehält.
Der Autor möchte auch den Lebensstil und die Denkweise ostdeutscher Menschen hinter der Mauer den Vorurteilen der Freiheit gewohnten Westlern entgegenstellen.
Die handelnden Personen während seiner beruflichen Tätigkeit und in der Stasi-Akte werden durch pseudonyme Namen geschützt.
1. Vater ist tot
Radabum-radadam, radabum-radadam.
Es ist kalt im Bummelzug. Eine klare Nacht, der Mond starrt grausam durchs Fenster. 9-jährig sitzt der kleine Frieder mit kurzen Hosen zitternd auf der Holzbank - gegenüber ein Polizist, in dessen Obhut er vom Umsteigebahnhof Falkenberg zurück zu Tante Kläre nach Bad Liebenwerda gebracht wird. Der döst vor sich hin. Im dunklen Abteil, vom Mondlicht beschienen, sah er auch aschgrau, wie tot aus - gruslig!
Die vergangenen Stunden waren so unwirklich! - Vati soll tot sein? Habe ich tatsächlich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig die Elektrokarre wegfahren sehen? Vorn stand ein „Bahner“ drauf, bediente die Hebel. Hinter ihm die tief liegende Ladefläche mit meinem toten Vati - auf dem Rücken liegend, die Beine auf der Erde schleifend?
Wie bei einer Schallplatte, deren Nadel in defekten Rillen immer wieder die gleichen Melodiefetzen abspielt, wiederholen sich an seinem geistigen Auge die Bilder des irreal erscheinenden Ereignisses:
Vati winkt zum Abschied lange mit dem großen Taschentuch am Fenster, bis der Bahnhof mit Tante Kläre nicht mehr zu sehen ist. In Falkenberg wollen sie umsteigen.
„Wie lange haben wir Aufenthalt?“ fragt Vati einen Mitfahrenden.
„Nur zwei Minuten! Manchmal ruft der Schaffner schon bei der Einfahrt: Beeilen, der Zug fährt gleich ab.“
„Mach dich bereit, Frieder, wir müssen schnell machen!“
Er rennt gleich los. Der einfahrende Zug nach Leipzig rattert schon über ihnen auf den Bahnsteig. Er hastet mit dem Koffer die Treppen hinauf, immer schneller: „Vati, renn nicht so!“ Ich komme gar nicht hinterher.
Abteiltür aufgerissen, hochgeklettert. Im überfüllten Abteil sagt er: „Mir ist schlecht!“
Zurück in den langen schmalen Gang bis zum letzten Abteil, dieses ist leer. Er schiebt dort die Tür auf: „Mir ist schlecht!“, hetzt zurück, Ich hinterher, Wagentür auf, die Stufen runter.
Er schwankt, bleich im Gesicht, erschöpft, mit steifen Knien, jeden Schritt ausbalancierend in Richtung Treppe. Den Koffer in der Hand, den Mantel über dem Arm, lässt beides fallen, sinkt auf die Knie, als wenn er brechen wolle. Es kommt aber nichts. Rafft sich wieder auf, Koffer und Mantel liegen am Boden, dreht sich plötzlich mit letzter Kraftanstrengung zu mir um, quält sich hoch. Mit erhobenen Händen stakst er auf mich zu - mit steifen hölzernen Schritten - immer langsamer, Ich weiche erschrocken aus, - seine Fußspitzen schleifen über das Pflaster – er kippt wie ein abgesägter Baum nach vorn ab, die Hände an der Hosennaht - fällt aufs Gesicht. – ich stehe daneben!
Der Zug fährt lange, sehr lange an uns vorbei - und Vati guckt nicht mal hin!
Kein Bahner, kein Sanitäter, nur zwei Leute sind noch auf dem Bahnsteig, als der Zug weg ist. Einer dreht Vati um, öffnet den Hemdkragen, greift ihm an den Hals:
„Geh mal runter, Kleiner, zur Sanitätsstelle und sag, es möchte jemand hochkommen.“
Ich, die Treppe hinunter, finde die Rotkreuzbaracke, keiner drin, nur Baugeräte. Da kommt ein Bahner:
„Ich soll einen Sanitäter holen, oben liegt jemand, mein Vati!“
Sie gehen zum Hintereingang, auch dort ist keiner. Man schickt mich ins Büro der nächsten Baracke. Dort sage ich wieder, dass mein Vati oben auf dem Bahnsteig liegt… und muss noch mal zum Sani-Gebäude:
„Es muss einer dort sein!“ - War aber wieder keiner da! Zurück ins Büro, jetzt sind sie zu dritt.
„Mein Vati liegt oben auf dem Bahnsteig, in der Sanitätsstelle ist niemand!“
Einer telefoniert - sagt dann: „Ja hier oben liegt einer, der ist tot. Geh nur wieder rauf, es kommt gleich jemand.“
Männer kommen mit einer Trage, legen Vati drauf, wollen ihn in einen Keller tragen, kommen mit Tragebahre nicht um die Ecke, stellen diese mit Vati in einen Lagerraum. Ich immer dabei. Polizisten mit Hund, dann kommt der Arzt, mit hellem Mantel. Betrachtet Vati - dessen offene Augen - streicht mit der Hand übers Gesicht, da waren sie zu, gibt mir die Hand und geht.
Vati sieht bleich und fremd aus - nicht wie mein Vati.
Man fragt, wo ich hingebracht werden will: „Zurück zu Tante Kläre.“
„Später sehe ich die bewusste Elektrokarre mit Vati fahren. Die Schienen trennen uns. Im dusteren Licht zerhacken die Säulen bei der Fahrt von einem zum anderen Ende des Bahnsteiges den sich als Schatten abzeichnenden Körper, die Füße, welche auf dem Boden schleifen!“
Immer wieder rollt der gleiche Gedankenfilm ab:
Der Bahnmann thront vorn auf der Elektrokarre, die Hände am den lenkenden Bediengriffen. Die dunkle liegende lange Gestalt, fast schwarz gegenüber dem Abendlicht, deren abgewinkelten Beine am Ende der Ladefläche bei jeder Unebenheit das Pflaster streifen, das Zwielicht der kargen Deckenleuchten und der Dämmerung im Hintergrund mit dem Aufblinken der Totenlade bei ihrer Fahrt zwischen den Stützpfeilern der jetzt tiefschwarzen Überdachung - ein ständig zurückkehrender bildhafter Alptraum.
Der 10-jährige Frieder durfte das erste Mal mit der Bahn von Schmölln, allein mit Vati, dessen Basen und Vettern in Bad Liebenwerda besuchen. Die große V erwandtschaft seiner Großmutter Ernestine, geb. Hübner, hatte dort das städtische Tischler-Monopol. Es gab drei Hübner-Tischler. Auch die Großmutter heiratete einen Tischlermeister, Robert Bude aus Schönborn/Brandenburg. Er gründete seine Tischlerei in Schmölln/Thüringen am Bahnhofsplatz. Sie arbeitete anfangs im städtischen Zeitungsverlag auf der gegenüber liegenden Bahnseite als Redakteurin. Kein Wunder, dass Vater in Liebenwerda sein Furnierholz für die Werkstatt einkaufte.
Hinter des Onkels Garten fließt ein schlammiger Bach. „Mein jüngerer Cousin zeigte mir, was man mit den Zehen im Bachgrund wühlend erfühlen, ans Ufer bugsieren konnte. Zwei äußere ovale Scheiben mit etwas Schwabbeligem dazwischen, Muscheln. So was hatte ich noch nie gesehen. Das machte Spaß.“
„Auch wenn wir im Kinderzimmer herumtollten. Seine größere Schwester balgte mit. Ich hätte sie auch gern mal angefasst, traute mich aber nicht. Ein komisches, noch nicht gekanntes Gefühl kam bei diesem Gedanken auf.“
Der Urlaub war schön. Frieder durfte mit Tante Kläre im Zug nach Kreischa fahren, im großen Baggersee baden.
Radabum-radadam, jetzt sitzt ein Polizist ihm gegenüber im kalten Abteil, der grelle Vollmond beleuchtet unwirklich sein schlafendes Gesicht, maskenhaft weiß schimmert es in kalten Lichtstrahlen der gelben Himmelsscheibe. Der Schrecken überzieht seine Arme und Beine mit Gänsehaut.
Erst auf Tante Kläres kuscheligem Sofa - endlich allein - kann Frieder weinen, den erlebten Schock, irreal, wie in einem Kinofilm, begreifen.
29.8.50, Kriegstagebuch der GroßmutterEmstine Bude:
„Ein Marmorkränzchen im Strauchwerk versteckt, ein Hügel mannshoch mit Blumen bedeckt darunter mein Junge, den keiner mehr weckt. Kein Kindslachen, kein zärtliches Wort aus Frauenmunde beglückt ihn hinfort.
Von Bruders Lippen kein froher Scherz, nichts rührt mehr an das stille Herz.
Die Hand, die die seinen so treu umhegtsich nie mehr warm in die meine legt.
Und doch hör ich oft seine lieben Schritte, er weilt doch immer in unserer Mitte.“
Ab jetzt war alles anders!
2.Rückblende
27.05.1940 Kriegstagebuch Ernstine Bude:
Heute wurde Fritz Bude ’s Abend 9 Uhr unter Blitz u. Donner ein kleiner Junge geboren. Fried rich heißt er u. ist das 3.Kind. Er kam ein bißchen voreilig u. infolgedessen entstanden in den 1 ½ Std. da er endgültig unterwegs war allerhand Situationen,über die man nachträglich herzlich lacht. Johanna ist sehr mobil. Der Kleine ist niedlich u. artig.
Heute kam der Heeresbericht, daß die Auflösung des noch vorhandenen franz. u. engl. Heeres nur noch eine Frage der Zeit sei. Heinz liegt jetzt in Wien auf dem größten Truppenübungsplatz Großdeutschlands. Auch Fritz hat sich melden müssen u. ich mache mir um die nächste Zukunft Sorgen. In der Werkstatt ist viel zu tun.
Damals war die kindliche Welt in der Kleinstadt noch in Ordnung. Sieg und Niederlage weit weg.
Das grausame Geschehen des 1. und 2. Weltkrieges mit den vielen Toten der näheren Verwandtschaft, den Selbstmorden während der Inflationszeit, die Überlebenskämpfe der Handwerkerfamilie hat Frieders Großmutter in ihrem sogenannten „Kriegstagebuch“ festgehalten. Dort findet sich auch der erste schriftlich fixierte „Kommentar zur politischen Lage“ des damals Dreijährigen.
Kriegstagebuch Ernestine Bude:
1.6.1943
Kam Heinz aus Russland auf Urlaub, am 22.6. ging er wieder an die Front. … Wann wird endlich das furchtbare Morden enden?
Damals sagte unser kleiner Frieder zu ihm:
„ Onkel Heinz, geh nur nicht wieder bei die alten Russen, geh lieber bei die Feuerwehr.“
Wir haben die Ansicht des Kleinen geteilt, u. sein Ausspruch wird bei uns wohl zum geflügelten Wort werden.
„Fritz!“ - wie ein Pistolenschuss, kurz und hell, schallte es über den Hof, wenn Mutter unseren Vater rief. Alle nannten ihn so. Laut Geburt und Taufe durfte er dagegen den etwas hochtrabenden „Friedrich“ beanspruchen. Mutter war diese Verkürzung ein Dorn im Auge. Sie bestand erneut auf diesem königlich-preußischen Taufnamen. Aber auch das Sonntagskind Friedrich II. von Budes Gnaden verlor durch die kindgemäße namentliche Verniedlichung über Friederlein zu Frieder seinen adligen Glanz.
In früher Kindheit entdeckte der kleine Frieder in Muttis Nachttisch einen dicken hölzernen Stab mit aufgezogenen Vierecken, Sternen, Rollen und Kugeln. Die konnte man drehen, hin- und herschieben, an der Wand oder am hohen Kopfteil der glänzenden Mahagonibetten abrollen. Was aber langweilig war - bis auf die kleinen winzigen Kratzer, die auf der Holzpolitur entstanden. Sie waren kaum zu sehen: Kreise, und Schlaufen, Haken und krumme Linien, immer waren sie anders.
Einmal sah der Vierjährige, wie Mutti sich mit dem rollenden Stab den Rücken rieb, wagte aber nicht zu fragen, ob dort auch Kratzer gemacht werden sollten?
Mehr Spaß machten schon die kleinen dehnbaren durchsichtigen Röllchen aus Vatis Nachttisch. Wozu braucht der die denn? - Heißa! Die konnte man aufrollen, den Finger hinein stecken und lang ziehen. Wurde damals schon Frieders Entdecker- und Erfinderveranlagung geweckt?
Mit großer Mühe zerrt er, als Mutter nicht im Haus, einen Stuhl bis zum eisernen becherförmigen Ausguss der Küche, klettert auf den Sitz, um kniend das auf zwei Finger aufgezogene Gummibeutelchen über den Wasserhahn zu stülpen.
Wasser marsch! - Der Beutel wird immer größer.
„Wau!“ - fast so groß wie das Becken war jetzt der schwere Sack. Seine Hände können das wabbelnde Gebilde nicht mehr halten:
Patsch, kaputt, Stuhl nass, der Küchenboden voller Pfützen.
Also, dafür waren die kleinen Gummiringe nicht gedacht.
Aber Aufblasen konnte man sie ohne Mühe! Vorn bildete sich ein klitzekleines Köpfchen, dann blähte sich eine dicke wellige Wurst auf, noch mehr blasen, wurde die Wurst ein richtiger langer Luftballon, nur das Köpfchen wurde nicht viel größer. Man konnte damit herumrennen. Bis die Nachbarin, Frau Hoffmann, dem Kind im Hofgang eindringlich dies verbot, die restlichen Gummis seiner Hosentasche einkassiert hat.
„Wozu braucht denn Vati die Gummiröhrchen im Schlafzimmer!“
Am 16. April 1945 eroberten die amerikanischen Soldaten von General Patton Ostthüringen und befreiten damit ganz Thüringen von der nationalsozialistischen Herrschaft. Nur 100 Tage dauerte die amerikanische Besatzung.
„Die Amis kommen!“ In wenigen Minuten flüchteten alle Hausbewohner in den Keller, ausgebaut als „Luftschutzbunker“. Dass heißt, es wurden Fensteröffnungen zu ebener Erde eingebaut, welche nur so hoch waren, dass jeder mühsam heraus kriechen konnte. Die Luftschutzübung war damals spannend, Leiter anlegen – hochsteigen – raus kriechen. Und die Erwachsenen hatten schon da erhebliche Schwierigkeiten.
Großes Gedränge am Fenster, als die ohrenbetäubenden Geräusche den Marktplatz erschütterten. Plötzlich und nur Sekunden ratterten und quietschten direkt vor dem Fenster bullige Räder mit Ketten vorbei. Mehr war nicht zu sehen, nur drei Meter entfernt lärmen die amerikanischen Panzer.
Als der Spuk vorbei war, zeigte der Vater seines Freundes Peter, Zahnarzt im 1 .Stock, den Kindern zwei Patronen. Nach Kriegsverletzung wieder als Mediziner tätig, hatte der den Einmarsch am Markt durch die drei Erkerfenster voll überblicken können, ist von den Scharfschützen auf dem Panzerturm auch erkannt worden. Die Einschusslöcher in der Glasscheibe waren einzige langfristige Zeugen militärischen Geschehens am Markt der Stadt.
Sie haben ihr Lager aufgeschlagen unterhalb des Felsens mit der katholischen Kirche. Frieders zehn Jahre älterer Bruder Albrecht wurde nach erfolgreichen Diebstählen von Kaffee, Schokolade, vor allem Zigaretten, dort dann doch noch erwischt, musste im hilfsweise errichteten Gefängnis in der Rathaustoreinfahrt, vier Häuser nebenan, einsitzen. Mutti und Frieder haben dann „belegte Bemmen“ vorbei gebracht.
Überraschender kam für die Thüringer Bevölkerung Anfang Juli 1945 der Besatzungswechsel. Die Frage der Rückverlegung der amerikanischen Truppen aus künftigem sowjetischen Besatzungsgebiet in die ihnen zugewiesene Zone war Mitte Juni in ein entscheidendes Stadium getreten und nach einem Briefwechsel zwischen Stalin und Truman für die Zeit ab 1. Juli 1945 befohlen worden.
Der Einmarsch der Roten Armee begann am 2. Juli 1945 in Ostthüringen durch die 8. Gardearmee unter Generaloberst Tschuikow, die in Stalingrad gekämpft, Berlin mit erobert und dann in Sachsen stationiert war.
05.09.45 Kriegstagebuch Ernstine Bude:
Seit 1. Sept. gibt es neue Lebensmittelkarten. Die Empfänger in 6 Gruppen: Schwerstarbeiter, Schwerarbeiter, Arbeiter (zu denen unser Betrieb gehört), Kinder von 3 - 5 Jahr. bis Schüler und Angestellte, Sonstige, Hausfrauen u. alte Leute. In der Gruppe Sonstige gibt es weder Fleisch noch Fett oder Butter. Die Tagesration ist folgende: 200 gr. Brot, 10 gr. Nährmittel, 30 gr. Marmelade, 15 gr. Zucker, 0 gr. Fleisch u. Fett. Die nach uns kommen und sich geregelt ernähren können, mögen sich das vorstellen und nach Bedarf genau überdenken. Sie werden auch begreifen, daß wir ohne Mühe eine schlanke Generation geworden sind. Raucher bezahlen im Schleichhandel für eine Zigarette 5 - 8 RM (Reichsmark). Wir fertigen in unserer Werkstatt eine mittelmäßige Küche für 450 bis 580 RM, dafür bekommt man gerade ein Pfund Kaffee (300 - 800 RM).
Morgens schon schwül-warm. Mutti hantiert in der Küche.
„Ich 5-jähriges Sonntagskind hocke am Fenster, denke darüber nach, warum der Storch, als Belohnung für auf dem Fensterbrett ausgestreuten Zucker, Babys bringt. Wie er das macht, das Tuch mit dem Baby im Schnabel! Er kann sich doch gar nicht auf das schmale Fensterbrett setzen! Wir wohnen ganz oben im 3. Stock von Oma Knorrs Haus. Da kommt der Storch leicht ran. Wie soll das aber bei den unteren Stockwerken funktionieren, bei dem schmalen Hofgang zum Nachbarhaus?“
Markt 7, das größte Haus am Platz. Die städtische Feuerwehrleiter wurde danach gebaut.
Die drei Türme bilden den Blickfang der oberen Marktseite.
Es hat auf der oberen Marktseite den dritten großen Turm. Einige Häuser weiter steht das Rathaus mit dem zweiten Turm. Gleich hinter der Rathausecke überragt der Kirchturm beide.
Auf unserem Dachboden im Turmgewölbe ist es dunkel. Dort eine runde Luke, seine große Schwester Renate hat ihn einmal hochgehoben, man kann über die ganze Stadt sehen. Früher wurde bei Festlichkeiten, wie der 600-Jahrfeier, dort immer eine große, sehr lange Hakenkreuz-Fahne rausgehängt. Jedenfalls ist das auf den vielen schönen Fotos zu sehen, die Opa gemacht hat.
Schmölln, Markt 1958
Opa ist tot, betitelt als Ratsuhrmachermeister war er für den richtigen Gang aller Stadtuhren verantwortlich. Albrecht, Frieders großer Bruder, durfte Opa helfen, täglich in den Kirchturm steigen, die Turmuhr aufziehen. Muss spannend gewesen sein. Jetzt ist Opas großes Geschäft geschlossen. Die lange Fahne liegt noch auf dem Boden, wird aber nicht mehr rausgehängt, weil das abgetrennte Hakenkreuz dort einen hellroten Fleck hinterlassen hat, ihre wahre Vergangenheit verrät.
Vom Küchenfenster kann man weit runter in den schmalen Gang bis zum Hof sehen. Frieder traut sich nur selten, bekommt Angst vor der Tiefe unter ihm. Aber geradeaus hat man einen schönen Blick auf die Dächer der oberen Marktseite - und die anderen beiden Türme. Noch schöner ist es, im Turm-Erker des Wohnzimmers zu sitzen. Aus drei Fenstern sind alle Seiten des großen Marktes zu überblicken. - Ihnen entgeht somit nichts!
Früher hatte er neben Mutti am offenen Erker gehockt: an den Fenstern der meisten Häuser rundum standen Leute, Musik hat gespielt. Alle streckten wie Mutti die Hand raus - das war der Hitler-Gruß!
Als Frieder so nachdenkend über Klapperstorch und Kinderkriegen am Küchenfenster hockt, klingelt es zweimal - ganz heftig. Mutti kommt, guckt mit ihm aus dem Fenster den steilen Hofgang runter. Unten stehen zwei Polizisten und rufen:
„Ihr Haus wird von der russischen Kommandantur bezogen. In zwei Stunden muss das Haus geräumt werden. Außer Koffern darf nichts mitgenommen werden!“
Vieles ist dem kleinen Frieder danach verschwiegen worden. Aber er weiß noch, mit welcher Eile Vater aus der Werkstatt geholt wurde. Die Tischlerei stand drei Straßen weiter am Bahnhofsplatz neben dem Haus der Budens-Oma. Dort wohnten auch Tante Anneliese und sein riesengroßer Cousin Henner. Onkel Heinz, in russischer Gefangenschaft, war Tapezierer, betrieb die Polsterwerkstatt, welche im Nebengebäude untergebracht war.
Die nächsten Stunden stand er nur im Wege! Bruder Albrecht und mehrere Gesellen schleppten heimlich Möbel aus dem dritten Stock nach unten.
Frau Hoffmann hatte im Hof gerade Wäsche aufgehängt. Sie musste die großen Betttücher so umhängen, dass den Polizisten, welche an der Hausecke am Markt standen, der Blick durch den schmalen Gang bis in den Hof verdeckt wurde.
Vom Ende des langen Hinterhofes gelangte man in den Garten. An Apfelbäumen vorbei ging es über schmale Treppen zwischen Büschen im Zickzack den steilen Berg hoch. Dort stand links im benachbarten Fleischereigrundstück ein Holzgerüst. Dieser mehrere Meter hohe Bretterverschlag, im Viereck um eine Wasserspritze angeordnet, diente winters als Eismaschine. Wenn diese bei Minusgraden sich drehte und Wasser versprühte, bildeten sich rundum an den Holzwänden dicke Eisschichten, welche abgeklopft, im Eiskeller des Berges unterhalb des Gerüstes Fleisch und Wurst frisch hielten.
Einmal war der Antrieb defekt, die Spritze drehte sich nicht. Der Wasserstrahl zielte die ganze Nacht über die Mauer auf unser Gebüsch. Am nächsten Morgen glitzerte dort ein fester Eisberg in der Sonne, rau, hüglig, mit Schluchten und Spitzen bis zur Laube des oberen Gartenteiles. Man konnte drauf rumklettern. In Frieders Fotoalbum gibt es ein imposantes Bild mit dem Untertitel: „Ich auf dem Eisberg.“
Vom oberen Garten führte durch ein festes hohes Tor die Treppe wieder runter bis zur Schulstraße. Gegenüber unser Felsen, steil zum Klettern und Spielen, dahinter die Lohsen, unser Stadtwald.
Vor der Russenbesetzung schleppten Albrecht und Tischlergesellen die Möbel im Schutz der Hoffmannschen Bettwäsche durch den Garten bis zur Schulstraße. Dort stand schon ein Platten-Handwagen. Ab ging es durch die Stadt zur Budens-Oma am Bahnhof. Das dortige Möbellager, während des Krieges sowieso leer, wurde jetzt wieder voll gestellt. Auch vom Studienrat Brodeck kamen später noch Möbel rein; große, mit Schnitzereien versehene Schränke, welche dem Raumbedarf von Besatzung und Flüchtlingen weichen mussten.
Nach dem Rausschmiss wohnten sie in Oma Budes Schlafzimmer am Bahnhof. Frieder hat das nicht gestört. Jetzt konnte er oft in der benachbarten Tischlerei zusehen. Das war interessant. Vor allem, wenn gehobelt wurde, die Späne mit einem großen Ventilator durch dicke Rohre über das Dach in einen Holzverschlag gesaugt wurden. War dort die obere Tür offen, konnte man hinein springen und rumtollen.
Eigentlich durfte er nicht im oberen Stock der Tischlerei bleiben. Dort arbeiteten die Gesellen an Hobelbänken, wo er unerwünscht war. Aber von Omas Wohnung gelangte man auch durch Tapeziererwerkstatt und Tischlerei in den Hof, weshalb er diesen Weg meist neugierig nutzte.
Wenn der Zug am Haus vorbei ratterte und fauchte, konnte man aus Omas Fenster alles beobachten. Die Betriebsamkeit der „Bahner“ ganz oben im Stellwerk verfolgen, wie sie mit der Kurbel die dann klingelnde Bahnschranke öffneten und schlossen, die Hebel für die Weichen stellten. Alles konnte man verfolgen.
Außer Hoffmanns, welche in einer Mansarde unter der Bodentreppe wohnten, die Hausmeisterarbeiten für die Russen machen sollten, mussten alle raus aus dem schönen großen Haus mit Turm. Zahnarzt Pauling mit Peter, meinem Freund, zog in die Kellerwohnung einer Villa auf der anderen Seite der Bahn.
Am Tag nach dem Einzug der Russen schlich er mit Peter durch den schmalen Hofgang bis zum Zaungitter. Den ganzen Hofkonnten sie, vorsichtig um die Ecke guckend, überblicken. Welch ein Schock:
Im Sonnenschein auf dem Gullydeckel im Hof stand die schöne Glasvitrine aus Omas Korridor mit dem zierlichen Porzellan! Zwischen deren Glasplatten spielten die Russenkinder mit Puppen, stellten diese zu den zierlichen Figuren! So was hätte Frieder nie machen dürfen! Natürlich lag dann auch schon eine kleine Porzellantänzerin kaputt auf dem Hofpflaster.
Als er entsetzt in der neuen Notunterkunft seiner Knorrs Oma diese Untaten berichte, schlägt diese entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Vati kam zufällig mit der schmutzigen Tischlerschürze vorm Bauch ins Zimmer. Und noch Mal musste er berichten: „Das has’de nu davon, wie kann mo nur so däämlich sein, das Zeug nicht mitzunähm’. Wenn’ch mo überleg, was mo alles durch den Garten rausgeschleppt ham! - Und du lässt dei Porzellan drin!“ Furchtbar hat er sich aufgeregt.
Auf den Tag genau ein Jahr wohnten sie bei der Budens-Oma am Bahnhof.
Als die Russen auszogen, war es wieder spannend.
Vorm Haus stand ein großer Laster. Die Russen schleppten mit eifrigen deutschen Helfern die Möbel raus. Diesmal hat Oma aufgepasst, „wie ein Heftelmacher“: Sie stand aufgeregt im Tor des uns gegenüberliegenden Einganges der Fleischerei. Ihre Wohnzimmerstühle wurden verladen. Kaum waren die Möbelträger wieder im Haus, schwuppdiwupp, war Oma am Wagen, zerrte Stühle vom Wagen, rein in den Hausflur der benachbarten Fleischerei.
Die schweren Möbel nahmen die Besatzer nicht mit. So war ihnen vieles geblieben. Vati zeigte auf die Kerben seines Kirschbaumschrankes:
„Da haben sie die Flaschenköpfe abgeschlagen!“
Jetzt zog die Familie in eine größere Wohnung im Haus mit dem dritten Turm der Stadt - ein Stockwerk tiefer, langer Korridor mit elf Türen!
Das Schönste war, dass sein großer Bruder am Korridorbalken Haken für die Schaukel einschraubte. Er hat ihm das Schaukeln gelehrt, konnte bei den Schwüngen mit den Füßen sogar die Decke berühren. Aufpassen musste man. Auf der einen Seite stand Vatis Meisterstück: ein großer Kleiderschrank, welcher heute noch auf der Datsche in Ehren gehalten wird. Passgenau schließen nach Jahrzehnten Fächer und Türen, so dass eingeklemmte Kleidungsstücke ständigen Ärger verursachen.
Auf der anderen Seite Opas zwei große Standuhren: sein Glanzstück, eine „ganz alte wertvolle“, wie ihm sein großer Bruder erklärte, „die Zahnräder wären von Hand gefeilt“, was das Kindergartenkind natürlich nicht verstand - und Omas Standuhr, welche heute noch den Westminstergong in des Autors Wohnzimmer schlägt.
Wegen der Flüchtlingswelle musste Oma ihre Parterrewohnung aufgeben und bei der Familie mit einziehen.
Kein Mensch hat sich in diesen Umbruchszeiten für die Uhren interessiert, wahrscheinlich landete das Glanzstück später aus Platzgründen in Vaters Möbellager am Bahnhof.
Erst sechs Jahrzehnte später wird Großvaters Attraktion wieder zum Leben erweckt, kommt ihre Besonderheit beim Sichten alter Unterlagen mit der „Deutsche Uhrmacher-Zeitung, Juli 1941“ erneut ans Licht. Sie gibt einen interessanten Einblick in die Familiengeschichte der letzten zwei Jahrhunderte:
Frieders Ur-Ur-Großvater, 1822 geboren, hatte den Bau der bewussten Uhr schon 1848 begonnen. Unfertig wurde diese gegen 1880 von dessen Schwiegersohn, Frieders Urgroßvater, Franz Knorr, fertig gestellt, ging aber nur fehlerhaft, blieb erneut unvollendet.
Dieser Franz Knorr gründete eine wahre Uhrmacherdynastie. Alle vier Söhne errichteten in Ostthüringen, in Kraftsdorf, Weida, Roda und Schmölln Uhren-, Optik- und Goldwarengeschäfte.
Der Zweite, Frieders Großvater Richard Knorr, geboren 1874, eröffnete sein Geschäft 1906 in Schmölln, welches er von Oskert Lückert übernahm, der nach Las Palmas auswanderte. Bereits 1912 konnte er den Altbau aufstocken und mit dem Turm am Markt 7 vollenden.
Er erbte die unvollendete Uhr somit in dritter Generation und hat diese um 1920 zum Laufen gebracht. Das Besondere daran ist, dass das Uhrwerk nur aus drei Rädern und einem sogenannten „ Stiftscherengang“ besteht, so dass die drei Räder ohne Zwischenantrieb die Zifferblätter für Sekunden, Minuten und Stunden antreiben - eine wahre Rarität.
Diese Standuhr schmückte noch 1933 als Ausstellungsstück die Druckerei Böckel vom „Tagesblatt“ auf der anderen Seite der Bahnschienen, gegenüber dem Stellwerk, welches für Frieder als Kind so interessant war. Dort, wo auch seine Großmutter Ernestine früher als Redakteurin schriftstellerte.
Wieder musste mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis ein Urenkel von Frieders Großmutter, väterlicherseits, also kein Nachkomme der Knorr-Familie, diese Standuhr im Möbellager Bude entdeckte, aufmotzte und zum Leben erweckte.
Nach gütlicher Familieneinigung der väterlichen und mütterlichen Nachkommen wurde die Uhr der Blutsverwandtschaft zurückgegeben, tickt heute im Wohnzimmer von Frieders Neffen, einem Knorr´schen Urenkel in Jena. Dessen Ur-Ur-Ur-Großvater hatte das Werk 1848 begonnen, durfte es damals als vorgesehenes Meisterstück nicht weiter bearbeiten, weil die Arbeit vor dem offiziellen Prüfungsbeginn schon begonnen wurde.
Winter 47/48, Kriegstagebuch Ernstine Bude:
Wir haben, wie fast alle Mitmenschen keine Kartoffeln mehr, noch keine Butter, keine Nährmittel, keine Waschmittel, keine Schuhe.
Die Leute vertauschen gegen Nahrungsmittel die notwendigsten Wäsche- u. Kleidungsstücke. Wir kauften in diesen Tagen 1 Ltr. Speiseölfür 400 RM, 1 Pfund Schwarztee kostet 1000 RM, 1 Pfund Weizen oder Roggenmehl 25 RM. Ein normaler Wochenlohn beträgt 40 - 50 RM. Die Zustände sind katastrophal. Die Arbeitsleistungen sinken, weil die Menschen keine Kraft mehr haben. Fast 3 Monate konnten wir infolge der großen Kälte nicht arbeiten.. Oster-Sonnabend, ich bekam von ganz fremden Leuten aus Brooklyn (New Yorker Stadtbezirk),die durch Zufall meine Adresse erhalten hatten, ein 8 kg Paket mit allerhand guten Sachen, die wir gar nicht mehr kennen.
Zwei Jahre nach dem Schaukelbau neben der geschichtsträchtigen Uhr: Ohne Abschied blieb der Bruder weg! Gedrückte Stimmung, Mutti tröstet den kleinen Frieder:
„Albrecht ist auf Handwerksburschen-Wanderschaft!“
Als Geselle in Vatis Werkstatt angestellt, musste der auf den Lohn am längsten warten, bekam am wenigsten. Überhaupt war die Familie nicht durch die Tischlerei bevorzugt, eher benachteiligt. Mutter sagte immer: „Bevor Vati bei uns was macht, muss mindestens ein Donnerwetter von mir passieren und dann dauert es noch ein Jahr, bis alles fertig ist.“
Albrecht war nach dem Westen abgehauen, wollte richtig Geld verdienen. Nur Mutti war eingeweiht.
Wenige Wochen nach des Bruders Abwesenheit - die Schwester tat ganz geheimnisvoll: „Frieder, Du hast ein Päckchen mit der Post bekommen!“
Das erste Päckchen, ganz allein für den achtjährigen Knirps?
Klein, mit Packpapier fest verklebt. Auf dem Deckel konnte er seinen Namen buchstabieren. Etwas kleines Buckliges, braun und klebrig, mit durchsichtigem Glitzerpapier umwickelt, war eingepackt, sah aus, wie getrocknete Pflaumen, mit kleinen Körnern, schmeckte sehr süß - Feigen.
Es war der Start der brüderlichen 40-jährigen Familienzusatzversorgung aus dem Westen.
Brütende Sommerhitze zum ersten Wiedersehen in der Heimat. Das Freibad brechend voll. Albrecht, der große Bruder „aus dem Westen“ spielte mit Freunden „Turmhaschen“. Wie gern hätte Frieder dort mitmachen wollen, klebte förmlich am Beckengeländer, stolz jauchzend, wenn der Bruder dem Häscher entkam.
Auf dem 3-Meterbrett standen die Jungs, bereit zum Springen. Sobald der Fänger die dritte Stufe der Leiter berührt, musste er über den Turm den anderen hinterher springen, einen der zum Beckenrand flüchtenden abschlagen. Alle hasteten dann zurück auf den Turm, der alte oder neue Fänger hinterher.
Klatsch, klatsch, klatsch - in alle Richtungen hechteten sie in die warme Brühe. Albrecht, diesmal Fänger, sprang nach.
Kurz tauchten sein Kopf, ein Arm auf, dann ging er unter. Alle lachten, dachten, er macht Spaß. Nur einer sprang zurück, zog Frieders Bruder an die Oberfläche, wissend, dass er ihn unter Wasser getreten hatte.
Albrecht konnte beide Füße nicht mehr bewegen. Bis zum Bauchnabel gelähmt, wurde er auf die Bank gelegt. Später bugsierten sie ihn auf die Sitzfläche eines alten OPEL, mit welchem Vati vorfuhr. Es war schrecklich grausam. Der Fuß des Ausreißers hatte den Halswirbel gerammt. Durch den sitzenden Transport im OPEL staute sich Blut im Nervensystem. Dessen Folgen und die brütende Hitze der Tage im Krankenhaus gaben ihm den Rest.
Das erste und einzige Mal, dass Vater weinte:
„Heut Nacht geht es zu Ende, sagt der Arzt.“
In dieser bewussten Nacht schlug unerwartet das Wetter um, kühl und frisch.
Nach Wochen konnte Albrecht aufstehen, fuhr zurück nach Westen, den rechten Fuß bei jedem Schritt hinter sich herziehend.
Der blockierte Nerv am Hals, unheilbar - ein Leben lang wird er behindert sein.
Spärliche Erinnerungen an Vater werden erneut wach.
Bis auf donnerstags und sonntags saß er abends bei der Mia oder „Prößdorfs“ beim Skaten. Obwohl ein guter Spieler, seine Skatfreunde aber weit begüterter, Großbauern, Fabrikbesitzer, ging die Spielerei doch ins Geld. Dies war immer knapp.
Einmal brachte Vati ein großes Briefmarkenalbum mit, was er seinem Jungen klammheimlich zeigte. War er doch leidenschaftlicher Sammler. Vati muss dieses beim Skaten als Pfand für nicht bezahlte Spielschulden erhalten haben, was Frieder natürlich nicht wusste. Supermarken, große schöne bunte aus Ecuador und viele vollständige Sätze.
Mehrere Tage lag das Album oben auf dem Küchenschrank. Öfter ist Frieder heimlich raufgeklettert, hat die Marken angesehen - als es immer noch da oben lag - einige stibitzt. Die Steckreihe im Album wieder mit den restlichen Marken aufgefüllt.
Dann war das Album weg. - Wächst Gras drüber?
Wochen später. Abends in der Küche sagt Vati: „Frieder, aus dem Album fehlen Briefmarken, es gehört nicht mir, hast du sie gemopst?“
Das Skatpfand war eingelöst, die fehlenden Marken vom Schuldner moniert worden.
Mutti guckte sehr vorwurfvoll. Frieder, der Lüge nicht fähig, gab mit rotem Kopf alles zurück.
Viel hat der Vater nicht mit dem Kind gemeinsam unternommen, vielleicht ist ihm deshalb das Wenige besonderes in Erinnerung: Wie er an seinen skatfreien Abenden auf dem Sofa liegend ihn mit dem Kopf an sein Fußende lockte, blitzschnell die Decke von den Schweißfüßen mit ihren ekelhaft riechenden Socken zog, ihn mit deren stechendem Mief erschreckte.
Komisch, trotzdem durfte in seinem Beisein keiner zum Abendbrot stinkigen Käse essen.
Oder, wie er beim Sonntagsspaziergang nach Sommeritz mit ihm von Bäumen abgeschnittene Äste geschnitzt, als Speere nutzte.
Den nachhaltigsten Einfluss auf seine Entwicklung werden wohl dessen Anregungen zum Tüfteln, „knobeln“ genannt, gewesen sein: verblüffende Lösungen von Denkspielen und Rechenaufgaben, das Schachspielen hat er ihm auch beigebracht.
Ob das aber Frieders erfinderische Veranlagung mit geprägt hat? - ist zu bezweifeln, immerhin üben das wohl viele Väter.
Nun ist er tot!
So wie das Beil einen Holzklotz teilt, ein einzelner Scheid seine ursprüngliche Kraft verliert, so verlor der bürgerliche Familienstamm seine Bedeutung, seinen Wohlstand, seine Reputation in der Stadt.
Mütterlicherseits hatte der Großvater Richard Knorr noch vor dem 1.Weltkrieg zwar das herrschaftliche Haus mit dem 3.Turm der Stadt in der Mitte des Marktes, dem Zentrum der Stadt gebaut. Betitelt als Ratsuhrmachermeister wachte er über die städtischen Uhren im Kirch- und Rathausturm und am Bahnhof, Optiker zugleich und Händler für Porzellan und Schmuck. War längst verstorben, das Geschäft still gelegt, die Großmutter, ihr Leben lang Hausfrau. Ohne Rente, muss sie von den spärlichen Mieteinnahmen des Hauses leben.
Väterlicherseits brach auch alles weg. Jetzt kam raus, Werkstatt und Haus am Bahnhof wären verschuldet. Der ursprünglich vorgesehene Nachfolger für das Handwerk eines Tischlers am Bahnhofsplatz war jetzt im Westen, fürchtete Repressalien bei Rückkehr, hatte sich eingerichtet in der besseren Welt. Somit verzichtete die Mutter auf die gesamte Erbschaft, besser auf die Hypothekenschuld.
Vater zahlte bisher knappes Wirtschaftsgeld, womit sie die Familie im Haus am Markt versorgen musste. Die Geschäfte wurden dagegen im Vaterhaus am Bahnhofsplatz mit der Großmutter Ernestine besprochen. Mutter war außen vor! Traditionell besuchten junge Mädchen von Handwerkerfamilien nur eine Haushaltsschule, heirateten anschließend. Sie war ohne Beruf!
Jetzt nähte die 72-jährige Oma und deren 48-jährige Tochter in Heimarbeit bis in die Nacht Knöpfe auf Pappen und an Hosen, bügelten und nähten Bündchen an Kleider, um die Familie mit dem 9-jährigen Frieder und dessen 17-jähriger Schwester, welche im Klosterinternat zu Erfurt wohnte, um Kindergärtnerin zu erlernen, zu ernähren. - Schmalhans zog ein!
Aus war es mit dem Streunen durch die Tischlerei, mit dem Spielen im Spänebunker.
Oma Knorr hatte sich was ganz Besonderes für den kleinen Frieder ausgedacht. Einen Muff aus schwarzem Katzenfell, in welchen er wie ein Mädchen seine Hände stecken musste, beim winterlichen fast täglichen Gang auf den Friedhof, von Mutti und Oma, auch in Schwarz, eskortiert. O Gott, war das peinlich!
Bis in die Nacht ratterte die Nähmaschine, auf der Mutti und Oma in Heimarbeit für die THÜDAMA, unsere Kleiderfabrik, nähten, um weniges zu verdienen.
Nur wenn Albrechts Westpäckchen kamen, zog Wohlstand ein.
3. Blauer Edub
Am 2.8.1951 wird das erste Stalin-Denkmal Deutschlands in Ost-Berlin errichtet.
Im August 1951 finden die „III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ mit 26.000 Delegierten aus 104 Ländern in Ost-Berlin statt.
08.10.1951: In der DDR werden die Rationierungen bis auf Fleisch, Fett und Zucker aufgehoben und Preissenkungen für Textilien und Backwaren eingeleitet.
Am 1.11.1951 beschließt die Volkskammer das Gesetz über den Fünfjahresplan (1951-55). Es ist der Beginn der zentralen staatlichen Planwirtschaft. Die Volkseigenen Betriebe (VEB) werden dem Industrieministerium unterstellt.
DDR-Rückblick 1951
Der 11-jährige Frieder stellte dem Lehrer vor versammelter Klasse eine blöde Frage. Der schmunzelt und antwortet: „Das wäre das Gleiche, als wenn wir Dich Edub nennen würden!“ Die Klasse hat den Familiennamen gleich rückwärts erkannt, sich ausgeschüttet vor Lachen – von da an hieß er nur noch „Edub“.
Mit dem Namen Bude hatte Frieder immer Schwierigkeiten: Alte Bude, Zuckerrute, alte Schnute! - der Name war als Kind ein Grauen.
Dann kam noch der Beschiss mit der Bio-Note! In der zweiten Bankreihe saß der dicke Burkhardt, anerkannt stärkster der Klasse. Der Hüne sollte Erbe der Lederfabrik am Flüsschen Sprotte, direkt neben dem Freibad, werden. In solchen Kreisen durfte man nicht sitzenbleiben. Der Biologie-Lehrer bekam eine wertvolle Ledertasche geschenkt und Lederburkhardt in Bio eine Zwei. Das war zuviel! Vorlaut, in die erste Reihe gesetzt, verhöhnt, provoziert „Edub“ den Dicken hinterlistig. Irgendwann hat der den Lästerer auf dem Heimweg geschnappt, ausgerechnet vor der Polizeiwache an der Hauswand hochgezogen. Ein Auge des Gesetzes, nicht untätig, befreite den Bedrängten, nahm beide mit aufs Revier.
Nach Protokoll soll Edub durch die Strangulierung blau im Gesicht angelaufen sein. So bekam dieser den weiteren Zusatz „Blauer Edub“.
Hundertfünfzig Meter lang, über 30 Meter breit: der Marktplatz. In dessen Zentrum das Haus mit Turm. Blickpunkt dort, zwei ca. 100 Meter voneinander entfernte „Kandelaber“, Beton-Poteste mit großem dicken Mast und zwei breiten Beleuchtungsarmen in sieben Metern Höhe - der Blickpunkt des Platzes. Der Asphalt war spiegelglatt. Der Krieg hatte die Kleinstadt komplett verschont.
Ideal, wenn Edub mit Freund in den sommerlichen Abendstunden unter den wohlwollenden Blicken der Markbewohner, mit Kissen an den Fenstern hockend, die Kandelaber umrundeten. Mit Rollschuhen, Luxusbesohlung der Vorkriegszeit, die nur wenige Schmöllner Kinder besaßen.
5. März 1953, mit 73 Jahren stirbt Partei- und Regierungschef Josef Stalin an den Folgen eines schweren Schlaganfalls.
Betretene Aufregung in der Schule. Auf dem Markt ist ein großes Stalin-Bild vorm Kandelaber mit dem Hintergrund unserer herrlichen Kirche „Sankt Nikolai“ aufgebaut.
Mann, war mir das peinlich! Wir Jungen Pioniere“ mussten Ehrenwache stehen. Und ich war einer der Auserwählten.
Ich hatte Mutti genervt dort mitmachen zu dürfen. Gegen ihren Willen, und vor allem dem meines Vaters, der sich dann doch breitschlagen ließ. Fast alle wollten bei den Spielen und Ausflügen der „Pioniere“ mitmachen.
Vier Pioniere mit blauem Halstuch, 20 Minuten still stehen neben einem Bild! Der Marktplatz war menschenleer. Am Bürgersteig wacht unser Pionierleiter, einige Erwachsene stehen daneben, beobachten, wie zufällig. Ich wusste vor Aufregung nicht, wohin mit den Augen, stierte verbissen geradeaus, zählte die Sekunden. Das Unangenehmste war nicht das Strammstehen. Aber direkt vor unsrem Haus! - der missgünstige Blick der Mutter, hinter der Fensterscheibe des 3.Turmes der Stadt! Mir stand die Schamröte im Gesicht, wäre am liebsten im Boden versunken!
Warum der Pionierleiter ausgerechnet den bürgerlichen Bude ausgewählt hatte? Wahrscheinlich sollte demonstriert werden, dass alle Bevölkerungsschichten dem großen Führer huldigen!
4. Der 17.Juni 1953
Die Versorgungslage spitzt sich zu. Otto Grotewohl, der Ministerpräsident, fordert alle Werktätigen zu strengster Sparsamkeit auf. Das ZK der SED beschließt eine Erhöhung der Arbeitsnormen um mehr als zehn Prozent.
DDR-Rückblick 1953
Früher Nachmittag. Auf dem drehbaren Klavierhocker im schönen Erkerzimmer am Markt sitzend, versucht der 13-Jährige an einer Czerny-Etüde, sich die Finger verrenkend, den Lehrer von seinen Klavierkünsten zu überzeugen.
Bruder Albrecht hat Schuld, dass er heute nach Noten spielen kann.
Bewundert hat er seinen Bruder Albrecht, wenn der sich bei Besuchen im Osten ans Klavier setzte, ohne Noten alle möglichen Schlager spielte - nur mit dem kleinen linken Finger, zwei Fingern der rechten Hand: „In the mood, Chattanooga choo choo“ und andere amerikanische Schlager.
Was „der Kleene“ nicht wusste: Der Große konnte nur improvisieren, die Tasten mit rechts zu Melodien, die Bässe mit dem linken kleinen Finger per Gehör so schlecht und recht zusammensuchen. Als Kind keine Geduld für den Unterricht, durfte Albrecht mit Klavierüben aufhören, sich sein Leben lang darüber ärgern: „Mutti, der Kleene muss richtig Klavier lernen. Wenn das Geld nicht reicht, schicke ich paar West-Päckchen mehr. Fehler, wie ich sie gemacht, sollen sich bei dem nicht wiederholen!“
So musste der kleine Frieder üben. Bankwitzens mit dem Haushaltwarengeschäft auf der anderen Marktseite, seit dem Auszug der Russen statt Zahnarzt Pauling unter ihnen wohnend, klingelten oft entnervt: „Das kann man ja nicht aushalten. Muss der Junge denn immer das Gleiche spielen? Und dann noch um die Mittagszeit!“
Eigentlich tat er nur das Nötigste.
Erst am Vortag des wöchentlichen Klavierunterrichtes begann das intensive Üben. Sein mäßiges Können wurde vom Lehrer geduldig ertragen, die Klavierstücke seinem Niveau angepasst. Arbeitslos, als von der neuen Gesellschaft entlassener Lehrer, war er auf dieses geringe Zubrot angewiesen. Einer der vielen Altlasten des kommunistischen Neulehrersystems, verdingte sich mit Privatunterricht, spielte zu Tanzstunden auf.
Einmal, voller Neugier, ob er das merkt, lauerte der Klavierschüler dem Lehrer am Erkerfenster auf, als der unter dem gegenüber der Hausfront vorstehenden Turm vorbeiging. „Dem kann ich ja direkt auf den Kopf spucken - nee, das geht nicht. Der Wind weht alles weg!“ Mit einer vollen Tasse Wasser zielt er, schließt schnell das Fenster. - Es klingelte, der Lehrer muss sich beschwert haben. Außer Schimpfe gab es aber zum Glück von Muttern nichts. Der Lehrer brauchte diesen Job, hat sich beim Schüler nie was anmerken lassen.
Am bewussten 17. Juni 1953 stümpert Edub diesem gerade sein Geübtes vor, als vom Markt laute Rufe und Sprechchöre ins Wohnzimmer schallten. Natürlich wird Edub unruhig, begehrte auf, machte darauf aufmerksam.
Jetzt Pause machen und die Stunde ist schneller vorbei!
Neugierig rennt er ans Fenster. Vor dem Rathaus, ein Pulk von Menschen. Über die gesamte Marktbreite. Immer neue kamen hinzu, das Podest vom Kandelaber war besonders dich besetzt. Plakate wurden hochgehalten. Jetzt wurde aus dem Rufen ein Chor: „Butter und Brot statt höhere Normen!“
Auf das Rathausportal über dem Torbogen des früheren Ratskellers führt eine Treppe. Dort oben hält jemand eine Rede. Auch das Portal ist voller Leute.
Immer wieder neue Redner. Die Menschen auf dem Markt schreien durcheinander, sich gegenseitig an.
So was gab es doch noch nie!
Sonst wurde nur „Hurra“ rufend marschiert, gesungen, wurden Plakate und Fahnen geschwenkt. Vor dem Haus, direkt unterm Schlafzimmerfenster, war dann eine Tribüne aufgebaut. Dort stand der Bürgermeister mit vielen anderen wichtigen Leuten, winkte den Demonstranten zu. Marschmusik schallte schon früh um Sieben über den Marktplatz, so dass zeitig geweckt wurde.
Oben auf dem Rathausportal hatte aber noch nie etwas stattgefunden.
Der Klavierlehrer wohnte auf der unteren Marktseite. Besorgt wegen der Massen vor seinem Haus verabschiedet er sich.
Klasse, dass der ging!
Am geöffneten Erkerfenster des Turms kann Edub alles genau überblicken.
Die oben auf dem Rathausportal versuchen ein Lied anzustimmen. Na endlich - so wie am 1 .Mai - nee - jetzt wieder laute Pfiffe, Buhrufe! Der Gesang stirbt langsam, durch Gegröle und Gelächter unterbrochen.
Ein Russen-Jeep kommt angebraust. Vier Uniformierte drin, einer schießt mit der Pistole in die Luft.
„Frieder, sofort zurück vom Fenster! Mach das Fenster zu!“ ruft Mutti aufgeregt, besorgt.
Ein Teil der Leute flüchtet. Andere ziehen Richtung Amtsplatz um die Ecke. Wir hören diese noch lange durch die Straßen ziehen.
Er durfte das Fenster nicht wieder öffnen, auch nicht auf die Straße, hockte anfangs hinter der Scheibe.
Eigentlich wollten sie im Garten Skat spielen. Sein Klassenlehrer, der welcher ihm wegen seiner dummen Frage den Spitznamen „Edub“ verpasste, hatte den damals 11-Jährigen schon das Skatspielen gelehrt. Diesmal blieben die Freunde aus. Der Topf für die Limo stand schon bereit. Nur das Wasser, dem Zucker und Essig zugemischt wurde, fehlte.
Gelangweilt klimpert Edub wieder auf den Klaviertasten:
„Bravo, bravo, beinah wie Caruso“, in C-Dur lässt sich das leicht spielen. Sein erster Schlager! Seine Schwester Renate hat ihm die Bass-Begleitung der linken Hand dazu beigebracht.
Immer wieder wechselt er zum Fenster:
Laufend kommen neue Leute in kleinen Gruppen, versammeln sich erneut vorm Rathaus, es wird diskutiert.
Der dicke Konditor Döring mit schneeweißer Arbeitskleidung, bei dem gibt es in der Mittelstraße im Treppenhaus in der Nische unter den Stufen den Eisstand, ist auch dabei. Weitere Leute schreien, zeigen Fäuste Richtung Rathaus. Der Weißkittel liefert sich ein Rededuell hoch zum Rathausportal, stürmt die Treppe dort hinauf - Gedränge, Schubsen - legt sich mit dem Redner an. Zu weit entfernt, kann Edub vieles nur undeutlich wahrnehmen.
Später, dumpfer brummender Motorenlärm von der Gößnitzer Straße - auf, auf, zum Fenster - nichts zu sehen - aber das Geräusch kannte er von damals.
1945, als die Amis mit den Panzern über den Markt fuhren. Nur die dicken Ketten, die großen Räder, die vorbeiratternden Eisenflächen der Panzer konnte er damals sehen. Höher reichte der Blickwinkel des Fenstersturzes im Keller nicht.
Diesmal hört er am Turmfenster nur Brummen und Rumpeln. Es muss ein Panzer bis zur Marktecke gefahren sein, denn erschrocken ängstlich lösen sich die Grüppchen auf, flüchten in die angrenzenden Straßen.
Der Markt ist menschenleer.
So die Erinnerungen des 13-jährigen Blauen Edub.
Schluss mit lustig! - Rekonstruktion der Schmöllner Ereignisse durch den gealterten Edub.
Die Macht aus dem Osten mit ihren grausamen deutschen Handlangern, die abgeschirmt vom Volk, anonym als Staatssicherheit nach stalinistisch-tschekistischem Vorbild ungestraft agierten, prägten das grausame Geschehen des „Tages X“, des 17. Juni 1953.
Ob Kommunisten, welche zur damaligen Zeit des Umbruchs felsenfest überzeugt, oder Leidtragende, welche verbittert vom Ort der Geschehnisse berichten - alle waren ohnmächtig der zentralisierten Herrschaft ausgeliefert.
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen. Die Erinnerungen verblassen. Der Rückblick von Zeitzeugen ist gekennzeichnet durch subjektive Detaildarstellung, aus ihrer Sicht, ihrer Überzeugung, je nach Betroffenheit.
Heinz Horn wurde am Morgen des Tages X in die Zentrale nach Gera abkommandiert. Den neuen Sekretär für Organisation beim RAT, wie die Verwaltung des Landkreises volkstümlich genannt, hatte man durch das Studium an der kommunistischen Parteischule als zukünftige politische Führungskraft der SED qualifiziert.
Nachdem die ersten Arbeiterunruhen im Raum Halle bekannt wurden, sollte er Direktiven für das weitere Verhalten des RATES einholen.
Der junge Horn, vom Vater politisch geformt, stammte aus einfachen Arbeiterkreisen, hatte Schlosser gelernt, im Gaswerk als Monteur gearbeitet. Vater Ernst Horn, Knopfarbeiter und alter SPD-Mann, hörte schon zu Beginn der Machtübernahme Hitlers RADIO MOSKAU, war so über dessen Grausamkeiten aufgeklärt.
Durch Zufall stehen damals bei einem Ausflug des Arbeitersportvereins der alte und der junge Horn auf der Gößnitzer Bahnhofsbrücke. Unter ihnen rollt ein langer Güterzug, voll gestopft mit Menschen: „Guck dir das genau an! Juden - zusammengepfercht in den offenen Waggons. Der Zug geht nach Auschwitz oder auf den Weimarer Ettersberg - die werden vergast!“
Ein schrecklicher Anblick für den Jungen.
Nur einmal bekam Sohn Horn vom Vater eine gelangt, dass er unter den Tisch flog:
„Vater, ich will nach Hamburg zur Handelsmarine!“
Wumm, da hat es geknallt, die Backe färbte sich rot:
„Die bereiten einen Krieg vor! Dann bist du nicht mehr Handelsmarine, wirst zur Kriegsmarine abkommandiert!“
Fortan musste der Junge täglich abends heimlich mithören, am Radio.
Nach dem Krieg hat Vater Horn mit einem weiteren Genossen die KPD mit der SPD in der Stadt zusammengebracht und so die
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