Der Uckermark-Prozess - Lorenz Ingmann - E-Book

Der Uckermark-Prozess E-Book

Lorenz Ingmann

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Beschreibung

Bevor es in ein Selektions- und Vernichtungslager umgewandelt wurde, unterstand das »Jugendschutzlager Uckermark« während des NS der »Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität«. Rund 1.200 Mädchen und junge Frauen waren hier als »Zöglinge« inhaftiert, unzähligen Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt. 1948 mussten sich im sogenannten »Uckermark-Prozess« drei SS-Aufseherinnen und zwei Mitglieder der »Weiblichen Kriminalpolizei« vor einem britischen Militärgericht verantworten. Ingmann zeichnet den Prozessverlauf gegen die Angeklagten detailliert nach. Durch Verhörprotokolle, Zeugenaussagen und Gespräche mit Überlebenden entsteht ein bedrückendes Bild vom Lageralltag der gefangenen Mädchen und Frauen.

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Genderhinweis

Zur besseren Lesbarkeit werden die in diesem Buch enthaltenen personenbezogenen Bezeichnungen überwiegend in der männlichen Form verwendet, soweit sich dies aus dem Zusammenhang ergibt. Im Sinne der Gleichbehandlung gelten die entsprechenden Begriffe selbstverständlich für beide Geschlechter.

Danksagung

Ich danke allen Mitarbeitern, die mir den Zugang zum Archivmaterial ermöglicht haben. Danken möchte ich auch Ursula Schmitz, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand, sowie Jenny Gohr und Ekaterina Kise-leva für die tatkräftige Unterstützung bei der Bereitstellung von Archivmaterial. Von ganzem Herzen danken möchte ich außerdem den KZ-Überlebenden Irma Trksak(†) und Maria Potrzeba(†).

Inhalt

1

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Einleitung

2

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KZ Uckermark – vom »Jugendschutzlager« zum Vernichtungslager

Die Todeszone: Die Auflösung des »Jugendschutzlagers« ist der Beginn des Vernichtungslagers

3

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Exkurs: SS-Aufseherinnen

4

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Der Uckermark-Prozess – von den Vorermittlungen bis zur Urteilsvollstreckung und danach

Annäherung

Ermittlungsansätze zum dritten Ravensbrück-Prozess (Uckermark-Prozess)

Die Zeugenaussagen ehemaliger KZ-Überlebender in der Zeit vom 4. Juni 1946 bis zum 11. März 1948

Die Einlassungen der Beschuldigten in der Zeit vom 2. Dezember 1947 bis zum 9. Februar 1948

Abschluss der Beweissammlung und Aufbereitung der Ergebnisse – 12. Februar 1948

Der Ermittlungsbericht – 13. Februar 1948

Die Anklageerhebung – 12. März 1948

Der Eröffnungsbeschluss – 12. April 1948

Die Verhandlung – vom 14. April bis zum 26. April 1948

Verhandlungstage zwischen dem 14. und 15. April 1948

Verhandlungstag am 16. April 1948

Verhandlungstag am 21. April 1948

Letzter Verhandlungstag am 26. April 1948

Petitionen und Gnadenanträge – vom 26. April bis zum 3. Mai 1948

Zusammenfassender Prozessbericht mit beratender Funktion – vom 18. Mai bis zum 20. Mai 1948

Die Begutachtung im Hinblick auf die endgültigeUrteilsbestätigung – vom 21. Mai bis zum 28. Juni 1948

Die Vollstreckung – vom 28. Juni bis zum 29. Juli 1948

Die Zeit danach

.

Resümee

5

.

Exkurs: Der Fall Erna Kube – das verdrängte KZ-Gelände

Annäherung

Vernehmungsprotokoll vom 4. März 1948 in Berlin

Vernehmungsprotokoll vom 17. März 1948 in Berlin

.

Vernehmungsprotokoll vom 20. März 1948 in Berlin

Vernehmungsprotokoll vom 30. März 1948 in Berlin

Vernehmungsprotokoll vom 20. April 1948 in Berlin

.

Vernehmungsprotokoll vom 10. Mai 1948 in Berlin, Gerichtsverhandlung und Urteil, die Zeit danach und der Vergleich mit dem Uckermark-Prozess

6

.

Erinnerungen

»Die Nummer vergesse ich nie« – Irma Trksak

»Es war ein KZ, so wie Ravensbrück« – Maria Potrzeba

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7

.

Schlussteil

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bildernachweis

Sach- und Ortsregister

.

Personenregister

.

1. Einleitung

Das vorliegende Buch widmet sich einem längst vergangenen Prozess über einen vergessenen Ort, an dem Verbrechen stattgefunden haben, die jahrzehntelang verschwiegen, bestenfalls verharmlost wurden, obwohl sie bereits 1948 in dem unter britischer Militärgerichtsbarkeit in Hamburg geführten »Uckermark-Prozess« aufgedeckt, benannt und bezeugt wurden.

Bei dem Begriff Uckermark denken die meisten von uns vor allem an eine wunderschöne Landschaft in Brandenburg, ein Reiseziel, das mit Wäldern, Wasser und viel Natur lockt. Dass sich hinter diesem Namen auch ein trauriges Kapitel unserer jüngeren Geschichte verbirgt, ist vielen nicht (mehr) bewusst. In Fürstenberg an der Havel lag nicht nur das Konzentrationslager Ravensbrück1, das größte Frauenkonzentrationslager der NS-Zeit, sondern auch ein sogenanntes »Jugendschutzlager«2 für »unangepasste« Mädchen und junge Frauen, die nicht der NS-Ideologie entsprachen und als »schwer erziehbar« galten. Von Juni 1942 bis Januar 1945 waren in diesem »Jugendschutzlager« Uckermark, das der »Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität« unterstand, rund 1.200 Mädchen und junge Frauen – zwischen 16 und 21 Jahren, zum Teil auch jünger – inhaftiert. Im Januar 1945 wurde das Lager bis auf wenige Baracken aufgelöst und in den folgenden Monaten bis zur Befreiung durch russische Truppen im April 1945 als Vernichtungsort für alte und kranke Frauen aus dem nahegelegenen KZ Ravensbrück genutzt. Die Bezeichnung für das Gelände und seine Funktion in diesen letzten Monaten ist nicht eindeutig definierbar: Vernichtungslager, Todeslager, Todeszone etc.3

Abb. 1: Ravensbrück bei Fürstenberg (Havel) in den Jahren nach 1910 in seiner noch unberührten und makellosen Idylle.

Nur wenige Täterinnen und Täter mussten sich für ihre Beteiligung an den Verbrechen, die hier begangen wurden, vor Gericht verantworten und wenn doch, dann sind die Erinnerungen an diese Prozesse längst verblasst und die Namen der Beteiligten mittlerweile vergessen. Es sei denn, so war es zumindest bei mir, man trifft auf Zeitzeugen. Schon als Schüler hat die Gedenkstätte tiefen Eindruck auf mich hinterlassen. Nicht nur das historische Material, das dort in vielen Jahren zusammengetragen und aufbereitet worden war, hat mich erschüttert – mehr noch waren es die Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen, die die schrecklichen Geschehnisse, die unmenschlichen Torturen und die tagtägliche Lebensgefahr mit viel Glück überlebt haben und noch selbst über diese Erlebnisse berichten konnten. Ihr Schicksal und das ihrer Leidensgenossen hat mich nachhaltig bewegt und geprägt. Seitdem galt mein Engagement unterschiedlichsten Projekten der Erinnerungsarbeit, in denen ich die Gelegenheit hatte, mit weiteren Zeitzeugen über die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ins Gespräch zu kommen.

Mittlerweile sind persönliche Begegnungen mit Überlebenden kaum noch möglich, entweder weil viele ehemalige Häftlinge der Lager inzwischen verstorben sind oder weil sie aufgrund ihres hohen Alters nicht mehr darüber berichten können. Es ist hauptsächlich dieser Umstand, der mich in die unterschiedlichsten Archive geführt und zu diesem Buch motiviert hat: Ich möchte die Spuren der Opfer bewahren, bevor sie vollständig verweht sind, möchte wissen, wie sich »Geschichte« anfühlt und wie sie erzählt wird, wenn sie selbst erlebt und vor allem erlitten wurde.

Auf der Suche nach bezeugten Aussagen, nach unverstellten Berichten, nach authentischen Stimmen bin ich auf den Gerichtsprozess gestoßen, der nun im Mittelpunkt dieses Buches steht. Der sogenannte »Uckermark-Prozess« war der dritte von insgesamt sieben »Ravensbrück-Prozessen« unter britischer Rechtsprechung, die nur wenige Jahre nach Kriegsende in Hamburg gegen einzelne Angehörige des Lagerpersonals geführt wurden. Im »Uckermark-Prozess« standen fünf Frauen vor Gericht, denen vorgeworfen wurde, in der Zeit von Mai 1942 bis Ende April 1945 Angehörige alliierter Nationen misshandelt zu haben und an Selektionen für die Vernichtung beteiligt gewesen zu sein: die Kriminalbeamtinnen Johanna Braach und Lotte Toberentz als Leiterinnen des »Jugendschutzlagers«, Ruth Closius, verwitwete Neudeck, als Oberaufseherin des Vernichtungslagers, sowie die beiden ihr unterstellten Aufseherinnen Elfriede Mohneke und Margarete Rabe.

Erst in diesem dritten Ravensbrück-Prozess wurde klar, wie improvisatorisch sich die Beschlagnahmung eines Teils des »Jugendschutzlagers« und seine Umwandlung in einen Ort der hastigen Vernichtung im Januar 1945 abgespielt hatten. Auch wenn dieser beschlagnahmte Teil des KZ-Geländes und die dortigen Geschehnisse schnell zum beherrschenden Verfahrensgegenstand wurden, gaben die Aussagen der Zeugen und der Angeklagten eine Reihe von Informationen auch über das Jugendkonzentrationslager preis.

Da im Mittelpunkt meiner Recherchen die Aussagen der Zeugen standen, werde ich auf die Geschichte des »Jugendschutzlagers« Uckermark und seine Entwicklung zu einem Vernichtungslager nur kurz eingehen.

Ebenfalls nur flüchtig, als Exkurs, werde ich einige Informationen zur Rekrutierung, Ausbildung und Einstellung der Aufseherinnen rekapitulieren, die als »SS-Gefolgschaft« im KZ Ravensbrück zur Bewachung der weiblichen Inhaftierten eingesetzt waren. Exemplarisch werden in diesem Kapitel auch einige der Aufseherinnen vorgestellt, denen es gelang, sich der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen.

Den Hauptteil des Buches wird der Verlauf des Uckermark-Prozesses einnehmen. Dabei liegt der Fokus auf der weiblichen Täterschaft, die auch heute noch viele Forschungsansätze bietet.

Primärquelle sind die Verfahrensakten des Uckermark-Prozesses (dritter Ravensbrück-Prozess). Die Akten sind Teil der Bestände WO (War Office) 235 und 311 der National Archives in Kew (London), die die Prozessakten der britischen Kriegsverbrecherprozesse unter dem Royal Warrant in Europa enthalten.

Umrahmt von dem Versuch, die einzelnen Vorgänge – von der Strafverfolgung bis zur letzten Urteilsbestätigung – zeitlich einigermaßen korrekt zu rekonstruieren, steht die Verlesung der Augenzeugenberichte und die anschließende Befragung der Angeklagten im Mittelpunkt. Gnadengesuche und Petitionen zeigen beispielhaft die verharmlosende Verteidigungsstrategie, die sich nicht nur durch fehlende Reue auszeichnet, sondern auch durch die gleichen Schutzbehauptungen, die bereits die Plädoyers der Verteidiger geprägt hatten.

Da sich mehrere Seiten aus der Prozessakte in einem teilweise unleserlichen sowie ungeordneten Zustand befinden, musste die Auswertung der Ermittlungs- und Prozessberichte auf das Notwendigste beschränkt werden. Die ausgewählten Passagen wurden von mir übersetzt und die wesentlichen Aspekte des Prozessverlaufs in chronologischer Abfolge rekonstruiert und skizzenhaft aufbereitet. Das Buch enthält Vernehmungsprotokolle der Angeklagten, Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge sowie größtenteils unveröffentlichtes Fotomaterial (vor allem auch erkennungsdienstliche Aufnahmen inhaftierter Aufseherinnen, die den KZ-Überlebenden im Rahmen der Strafverfolgung zur Identifizierung vorgelegt wurden).

Abb. 2: Verfahrensakte zum dritten Ravensbrück-Prozess mit Verweis auf andere Akten des Falles, 1947 – 48.

Abb. 3: Handschriftliche Aufzeichnungen während des Prozesses, aus der Verfahrensakte, 1948.

Im Vergleich dazu werde ich einen weiteren Exkurs anführen, der eine strafrechtliche Ermittlung gegen eine andere Aufseherin, Erna Kube, in der sowjetischen Besatzungszone darstellt. Grundlage hierfür bildete die russische Prozessakte. In der ausführlichen Vernehmung, nach dem Frage-Antwort-Prinzip, zwischen dem russischen Ermittler und Erna Kube, stehen die Erinnerungen, der Lebensweg und die Selbstreflexion dieser Aufseherin im Vordergrund. In diesem Abschnitt geht es weniger um die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Militärgerichtsbarkeit, auch wenn sie hier in gewisser Weise mit der britischen Verfahrenspraxis in Vergleich gebracht wird, als vielmehr um die Verdrängung des KZ-Geländes Uckermark.

Im nachfolgenden Abschnitt kommen die beiden KZ-Überlebenden und Zeitzeuginnen Irma Trksak und Maria Potrzeba zu Wort – stellvertretend für all die beinahe vergessenen Mädchen und Frauen, die im Lager Uckermark inhaftiert waren.

Im Kampf gegen das Vergessen wird zuletzt auch der aktuelle Stand zum KZ-Gelände Uckermark in den Blick genommen.

Zusätzlich zu dieser Forschungsarbeit habe ich im Jahr 2015 einen großen Suchauftrag angelegt, so dass die National Archives in London die entsprechende Datenbank auf rund 232 Fotos erweiterte und diese nun auch anderen Institutionen zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen. Bei diesen Fotos handelt es sich hauptsächlich um Haftfotos aus den sogenannten »Detention Reports«, die lange Zeit als verschollen galten und jetzt – nach rund siebzig Jahren – wieder aufgegriffen und digitalisiert wurden. Ich freue mich, damit einen entscheidenden Beitrag für weitere Forschungszwecke geleistet zu haben.

Als weitere Quellen dienten mir Verfahrensakten und themenbezogene Informationen aus dem Bundesarchiv Ludwigsburg bzw. Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, der Behörde des Bundesbeauftragten der Stasi-Unterlagen sowie der Begleitkatalog zur »Ausstellung über das ehemalige Konzentrationslager für Mädchen und junge Frauen und spätere Vernichtungslager Uckermark« (2010) der Hamburger Uckermarkgruppe, die Gedenktafeln des Gedenkortes KZ Uckermark, Audioaufnahmen der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema »Jugendschutzlager« Uckermark, das Videoarchiv »Die Frauen von Ravensbrück« von Loretta Walz sowie weiteres Material der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten / Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (StBG/ MGR).

Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, habe ich die Verhörprotokolle der englischen Version aus den Prozessakten gewählt und unter Beibehaltung des Sinns frei ins Deutsche übersetzt und leicht modifiziert, obwohl sie in der deutschen Fassung enthalten sind. Dennoch stehen sie in Anführungszeichen und werden als Zitattexte verstanden und heben sich deutlich vom übersetzten Fließtext ab. Die Verhörprotokolle in der deutschen Fassung, die lediglich zu Vergleichszwecken dienten, weisen störende Grammatik- und Rechtschreibfehler auf bzw. entsprechen einer alten Orthografie. Zitattexte außerhalb der britischen Verfahrens- und Prozessakten, die keine Übersetzungen darstellen, basieren auf gängigen Zitierregeln und sind entsprechend gekennzeichnet.

Schließlich befasst sich der Schlussteil vorwiegend mit dem Zustand und der Entwicklung des KZ-Geländes. Das Schlusswort zieht eine Bilanz des Prozesses und informiert über den aktuellen Forschungsstand über das KZ-Gelände.

Anschließend liefert das Quellen- und Literaturverzeichnis Angaben über die Herkunft der Abbildungen, der Aktenbestände und sonstiger Informationen. Erläuterungen zu Begriffen und Abkürzungen sind im Sachregister aufgeführt.

Zum schnelleren Auffinden enthalten die letzten Seiten das alphabetische Personenverzeichnis, in dem alle in diesem Buch namentlich erwähnten Personen mit thematischem Bezug aufgeführt sind. Nicht im Verzeichnis aufgeführt sind hingegen Namen, die auf Abbildungen erscheinen.

Im Prozess – und damit auch in diesem Buch – stehen verharmlosende und überwiegend empathielose Aussagen von Tätern in scharfem Kontrast zu höchst leidvollen, emotional aufwühlenden Berichten ehemaliger Häftlinge. Es war nicht mein Anliegen, die Plausibilitäten bzw. Ungereimtheiten in den zum Teil sehr widersprüchlichen Aussagen der Frauen herauszuarbeiten oder den Entscheidungsfindungsprozess des Gerichts im Detail nachzuvollziehen. Es sollen die Zeitzeugen zu Wort kommen, ohne dass viel Interpretation oder unangemessenes Urteilen erfolgt.

Mein Anliegen war und ist es, die Stimmen der Opfer, praktisch ihren O-Ton, der in den Aussagen über die erlebten Schikanen und Misshandlungen, die Selektionen und Tötungen so deutlich zu vernehmen ist, aus dem dunklen Archiv zurück ans Tageslicht zu holen und dadurch vor dem Vergessen zu bewahren.

Lorenz Ingmann

»Vergangenheit geht immer bis jetzt …«4

1Das Konzentrationslager Ravensbrück für Frauen wurde 1938/39 durch die SS in der Gemeinde Ravensbrück (heute Stadt Fürstenberg/Havel) errichtet. Es war ein weiträumiger Lagerkomplex, der neben dem Frauenlager ein (kleines) Männerlager, Industriebetriebe und ab Juni 1942 auch das Konzentrationslager Uckermark für Mädchen und junge Frauen umfasste. Als Außenlager war das KZ Uckermark verwaltungstechnisch dem Stammlager KZ Ravensbrück untergeordnet; dieses führte die Häftlingskartei und das Sterberegister und stellte auch das Wachpersonal.

2Der Begriff »Jugendschutzlager« wird im Folgenden durchgängig in Anführungszeichen gesetzt, um daran zu erinnern, dass es sich um eine verharmlosende Bezeichnung der Nationalsozialisten handelt. In den später zitierten Aussagen der Zeugen wird es zuweilen kurz »Jugendlager« genannt.

3Ein Beitrag auf der Webseite der »Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V.« macht das Problem der Begriffsfindung deutlich: »Seit etlicher Zeit diskutieren wir in der Initiative/Netzwerk für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark über die Bezeichnung Vernichtungslager für die Monate Januar bis April 1945 im Konzentrationslager Uckermark. Häufig gab es den Einwand, die Bezeichnung würde das KZ Uckermark Orten und Geschehen wie in Belzec, Sobibor, Auschwitz u. a. Vernichtungslager gleichsetzen. Wir wollten den Unterschied durch den Zusatz späteres Vernichtungslager deutlich machen, ausdrücken, dass das Lager kurz vor Kriegsende zu einem Ort des Massenmords umfunktioniert wurde. Für diese Zeit treffen die (wissenschaftlichen) Kriterien für die Bezeichnung Vernichtungslager zu, denn es wurde nicht mehr selektiert, sondern nur noch systematisch gemordet. Es gibt viele Überlebende, die dies bezeugen und für die dies zu ihren schlimmsten Erinnerungen gehört. Wir möchten mit einer Bezeichnung nicht verharmlosen oder verschleiern, was in den letzten Monaten vor der Befreiung dort geschehen ist. Auf der Stele 35 des Wegeleitsystems der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück ist dagegen von einem ›Selektions- und Sterbelager‹ zu lesen, die englische Übersetzung lautet sogar ›camp for dying prisoners‹ (›Lager für sterbende Häftlinge‹). Doch in den letzten Monaten vor Kriegsende wurde das Lager nicht zum Hospiz, sondern zum Ort gezielter Vernichtung. Wir suchen nach einer Bezeichnung, die den systematischen und willkürlichen Mord an tausenden von Menschen deutlich macht und die trotzdem die oben genannten Einwände berücksichtigt. Nach vielen Diskussionen entschied sich das Netzwerk, den Begriff Vernichtungsort als Bezeichnung zu wählen und wird ihn nach und nach in allen Veröffentlichungen und Neuauflagen z. B. von Büchern und Schildern verwenden.« http://www.gedenkort-kz-uckermark.de/info/chronik2-kz.htm.

4Ingrid Rabe: »Frauen bewegen Berlin«.

2. KZ Uckermark – vom »Jugendschutzlager« zum Vernichtungslager

Abb. 4: Wegweiser zum ehemaligen KZ-Uckermark, Aufnahme aus dem Sommer 2013.

Das »Jugendschutzlager« Uckermark, das der »Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität« unterstand, erhielt seinen Namen nach der umliegenden Region. Im Dezember 1939 hatte Reinhard Heydrich, SS-Obergruppen-führer und Chef der Sicherheitspolizei, die Einrichtung von »polizeilichen Jugenderziehungslagern« gefordert. Bereits zwei Monate später erhielt das Reichskriminalpolizeiamt von Reichsführer-SS Heinrich Himmler den Auftrag, solche Jugendlager einzurichten. Als Vorläufer galt das KZ Moringen für männliche Jugendliche zwischen 13 und 22 Jahren. Die SS erwarb daraufhin ein Grundstück in einem ausgedehnten Forstgebiet in der Nähe des Frauen-KZ Ravensbrück und installierte dort ein »Jugendschutzlager« für weibliche Minderjährige.

Die Baracken wurden von männlichen Gefangenen gebaut, die zu den rund 20.000 inhaftierten Männern gehörten, die für Schwerstarbeiten beim Ausbau des KZ Ravensbrück abgestellt wurden und dort auf dem Gelände in einem eigenen kleinen Männerlager untergebracht waren. Bis 1944 wurde das »Jugendschutzlager« immer weiter ausgebaut, jede neue Baracke dem Reichskriminalpolizeiamt gemeldet.

»Mit der Unterbringung einer vorläufig beschränkten Anzahl weiblicher Minderjähriger in dem Jugendschutzlager Uckermark, Post Fürstenberg (Mecklenburg), kann voraussichtlich ab 1. Juni 1942 begonnen werden. Die Richtlinien für die Unterbringung männlicher Minderjähriger gelten auch hier. Vorarbeiten für die Anträge auf Einweisung in das Jugendschutzlager für weibliche Minderjährige sind beschleunigt aufzunehmen und die dringlichsten Anträge spätestens bis 30.4.1942, weitere laufend, vorzulegen.«5

Abb. 5: Franz Winter6, geboren am 2. März 1908, war einer der Häftlinge des Männerlagers auf dem Gelände des Frauen-KZ Ravensbrück. Erkennungsdienstliche Aufnahme bei der Gestapo Wien, 1940.

Bereits 1937 war die »Weibliche Kriminalpolizei« als Referat V A 3 in das Reichskriminalpolizeiamt im Reichssicherheitshauptamt eingegliedert worden, dessen Aufgabe u. a. in der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« unter Jugendlichen bestand. Die Leitung dieses Referats wurde der Fürsorgerin und späteren Kriminalpolizeirätin Friederike Wieking übertragen. 1939 wurde dann eigens die »Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität« gegründet, ebenfalls geleitet von Friederike Wieking. Leiterin des »Jugendschutzlagers« Uckermark war Kriminalrätin Lotte Toberentz, ihre Stellvertreterin war Kriminalobersekretärin Johanna Braach, »Arbeitsdienstführerin« war Kriminalbeamtin Antonie Leutner. Zum weiteren Lagerpersonal gehörten rund 100 »Dienstführerinnen« und »Erzieherinnen«, die dem SS-Gefolge7 angehörten. Daneben gab es eine Volkspflegerin und zwei Gymnastiklehrerinnen.

Abb. 6: Friederike Wieking8, geboren am 3. August 1891 in Gildehaus, Leiterin der »Weiblichen Kriminalpolizei«, Ende der 1920er Jahre.

Abb. 7: Antonie Leutner, geboren am 23. Juli 1914 in Wiesbaden, absolvierte eine Ausbildung bei der »Weiblichen Kriminalpolizei« unter der Leitung von Friederike Wieking. Passfoto, undatiert.

Abb. 8: Grundriss des »Jugendschutzlagers« Uckermark, Rekonstruktion des Bauzustandes 1942 – 1944.

Von den »Fürsorgeeinrichtungen« wurden zumeist die Mädchen und jungen Frauen ins Lager eingewiesen, die durch »unangepasstes« Verhalten aufgefallen waren und nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen. Später war es auf polizeiliche Anordnung hin möglich, Minderjährige auch ohne gerichtliches Urteil einzuweisen. Damit nahmen die Befugnisse der nationalsozialistischen Kriminalpolizei gegenüber der Fürsorge und der Justiz weiter zu. Für die Inhaftierung von Mädchen, die als »unerziehbar«, als »asozial« oder als »hoffnungslose Fälle« galten, unter ihnen Polinnen, Sloweninnen, Sinti und Roma, gab es eine Vielzahl von Gründen:

•Mädchen, die der Fürsorgeerziehung unterstellt waren oder aus Fürsorgeheimen kamen

•Als »sexuell verwahrlost« Diskriminierte

•Als »asozial« Diskriminierte, zum Beispiel wegen Diebstahls, Wohnungslosigkeit und vermeintlichem »Schwachsinn«

•Jugendliche, deren Familien als »asozial« stigmatisiert wurden

•»Schwererziehbare«

•Zugehörigkeit zu den Swing-Kids oder der Schlurfbewegung

•Umgang mit Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen oder Juden

•Arbeitsverweigerung

•Roma- und Sinti-Mädchen

•Angehörige der Zeugen Jehovas

•Widerstand

•Wegen der jüdischen Herkunft

•Verwandtschaft und Verbindung mit politisch Aktiven

•Beteiligung am Partisanenkampf (z. B. in Slowenien)9

Nach ihrer Ankunft im »Jugendschutzlager« kamen die Mädchen zuerst zur Quarantäne in den Aufnahmeblock und wurden von dort aus, je nach Grad der »Erziehungsfähigkeit«, bestimmten Blocks zugewiesen. Die Trennung der Kategorien erfolgte nach höherem, mittlerem oder unterem Status. Darüber hinaus gab es einen Sonderblock für slowenische10 Jugendliche und einen für Gestapo-Häftlinge, eine Turnhalle (die später als Sterbe- und Vernichtungslager diente) und einen Strafblock. In zwei Arbeitsbaracken wurden Bauteile für Siemens & Halske produziert.

Die eingewiesenen Mädchen, die man als »Zöglinge« bezeichnete, wurden bei ihrer Einweisung im KZ Ravensbrück registriert und erhielten eine Häftlingsnummer. Anschließend mussten sie den Weg ins »Jugendschutzlager«, das rund anderthalb Kilometer vom KZ Ravensbrück entfernt lag, zu Fuß zurücklegen.

Der Tagesablauf folgte strengen Vorgaben: Um fünf Uhr wurden die Mädchen geweckt und gezwungen, in Unterwäsche Frühsport zu leisten. Sie mussten morgens und abends kalt duschen und dreimal täglich zum Zählappell antreten. Briefkontakte wurden kontrolliert und streng reglementiert. Es herrschte absolutes Redeverbot, das allerdings von manchen der Insassinnen bei jeder sich bietenden Möglichkeit umgangen wurde. Die medizinische Versorgung war mangelhaft, genauso wie die Ernährung, Kleidung und Hygiene – ein Umstand, der von der damaligen Lagerleiterin Lotte Toberentz in einer späteren Aussage verharmlost wurde. Nicht nur mussten die meisten Mädchen schwere körperliche Arbeit leisten, sie waren auch täglich Willkür und Schikanen ausgesetzt. Zu den Strafmaßnahmen zählten Essensentzug, Prügelstrafen und Einzelhaft im berüchtigten »Bunker« des benachbarten KZ Ravensbrück. Mehrere Mädchen starben nach schweren Misshandlungen durch Aufseherinnen oder an Bissverlet-zungen durch die eingesetzten Wachhunde. Mehrere Todesfälle im »Jugendschutzlager« gab es auch nach »kriminalbiologischen« Untersuchungen, die hier stattfanden, da nach nationalsozialistischer Ideologie »kriminelles Verhalten« vererbbar war. Die genaue Zahl der Todesopfer im »Jugendschutzlager« ist nicht bekannt.

Abb. 9: Käthe Anders, geboren am 27. Januar 1924 in Wien als Katharina Sommer, stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Nach Beendigung der Schule arbeitete sie als Hilfsarbeiterin in einer Schokoladenfabrik. 1939 nahm sie eine Stelle als Dienstmädchen in einem christlich-jüdischen Haushalt an, die sie jedoch aufgrund der Intervention der NSDAP aufgeben musste: Ein »deutsches Mädchen« durfte nicht bei einer Jüdin arbeiten. Danach wurde Käthe Anders als Kindermädchen einer SS-Familie zugewiesen. Nachdem sie von dieser Arbeitsstelle geflohen war, wurde sie verhaftet und als »schwer erziehbar« in eine Erziehungsanstalt eingewiesen. Da sie mit anderen Mädchen Hitler-Bilder beschmierte und Flugblätter mit »Heil Moskau« schrieb, wurde die damals 16-Jährige am 29. Juni 1940 verhaftet.

Käthe Anders wurde vom Jugendgericht zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und nach Verbüßung ihrer Strafe in eine Erziehungsanstalt zurückgeschickt. Im Verlauf einer Auseinandersetzung bezeichnete sie dort einen SS-Mann, der sie des Simulierens einer Diphtherie-Krankheit beschuldigte, als »Nazischwein«. Nach ihrer Genesung wurde sie verhaftet und in das KZ Ravensbrück und kurz darauf in das »Jugendschutzlager« Uckermark überführt. 1944 wurde Käthe Anders von dort entlassen.

Im Nachkriegsösterreich blieb ihre Haftzeit in der Uckermark unberücksichtigt, da die Behörden die nationalsozialistische Kategorisierung der Uckermark als Lager für »Asoziale« übernahmen. Infolge ihrer Inhaftierung durch die Gestapo und das Jugendgericht erhielt Käthe Anders 1952 eine behördliche Bescheinigung, doch erst 1984 – aufgrund der Unterstützung durch die Lagergemeinschaft ehemaliger Ravensbrücker Häftlinge – wurde ihr für ihre Haft in der Uckermark eine Entschädigung in Form einer Härteentschädigung gewährt. Über viele Jahre war Käthe Anders ehrenamtlich beim »Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes« (DÖW) tätig. Sie starb am 20. September 2010 im Alter von 86 Jahren.11

Die Todeszone: Die Auflösung des »Jugendschutzlagers« ist der Beginn des Vernichtungslagers

Ab Mitte 1944 räumte die SS die östlich gelegenen Konzentrationslager, um die Spuren ihrer Verbrechen vor den einmarschierenden Truppen zu verwischen. So kamen unter anderem auch weibliche Häftlinge aus Auschwitz nach Ravensbrück, obwohl das Lager bereits überfüllt war, die Versorgung mit Lebensmitteln deutlich abgenommen hatte und der Ernährungszustand der Insassinnen immer schlechter geworden war. Der letzte Lagerkommandant Fritz Suhren forderte daraufhin, dass dem KZ Ravensbrück Baracken des »Jugendschutzlagers« zur Verfügung gestellt werden sollten. Daraufhin wurde das »Jugendschutzlager« Ende 1944 aufgelöst und zu einem Vernichtungslager umfunktioniert.

Die Baracken wurden geräumt, abgeschirmt und für das Konzentrationslager beschlagnahmt. Die meisten der Mädchen und jungen Frauen, die bis dahin im »Jugendschutzlager« Uckermark untergebracht waren, kamen nach Ravensbrück, Bergen-Belsen oder in ein Übergangslager in Dallgow-Döberitz.

Abb. 10: Der ehemalige Lagerkommandant Fritz Suhren, geboren am 10. Juni 1908 in Varel, erkennungsdienstliche Aufnahme nach seiner Verhaftung, 1. November 1946. Am 10. März 1950 wurde er von einem Militärtribunal im Zuge der Rastatter Prozesse zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils erfolgte am 12. Juni 1950 in der Nähe des heutigen Baden-Badener Stadtteils Sandweier.12

Ein Teil von ihnen musste Zwangsarbeit in landwirtschaftlichen Betrieben leisten. Laut Lotte Toberentz, der damaligen Lagerleiterin des »Jugendschutzlagers«, wurden einige Mädchen auch in Arbeitsstellen vermittelt, in Heil-oder Pflegeanstalten eingewiesen oder nach Hause entlassen. Nur vierzig bis sechzig der weiblichen Häftlinge, darunter etwa zwanzig Sloweninnen, blieben in den wenigen, abseits gelegenen Baracken des nun aufgelösten »Jugendschutzlagers« zurück. Von hier aus konnten sie die Geschehnisse in dem beschlagnahmten Teil, der umfunktioniert wurde und sich zur Todeszone entwickelte, nur erahnen.

Abb. 11: »Zöglinge« aus dem »Jugendschutzlager« Uckermark, die sich aus Sicht der NS-Kriminalbeamtinnen bewährt hatten, nun im Übergangslager Dallgow-Döbe-ritz, undatiert.

In dem geräumten Teil des »Jugendschutzlagers« richtete die SS ein Sterbe- und Vernichtungslager ein, das seit Anfang 1945 dem benachbarten KZ Ravensbrück unterstand. Oberaufseherin des in den letzten Kriegsmonaten errichteten »Vernichtungslagers« Uckermark war Ruth Neudeck (auch Ruth Closius). Ihr unterstanden sechs oder sieben Aufseherinnen – darunter auch die später im Ermittlungsverfahren Beschuldigten: Elfriede Mohneke und Margarete Rabe (kurzzeitig vermutlich auch Anni Rauschenbach). Diese Aufseherinnen waren Anfang bis Mitte zwanzig.13 Zum Lagerpersonal gehörten auch zwei SS-Sanitäter und ein Funktionshäftling, die Tschechin Vera Salvequart (die im ersten Ravensbrück-Prozess zum Tode durch den Strang verurteilt wurde)14. Der Schutzhaftlagerführer des KZ Uckermark, Johann Schwarzhuber, war nach Angaben von Ruth Neudeck für den Aufbau des Vernichtungslagers verantwortlich. Schwarzhuber wurde schließlich im ersten Ravensbrück-Prozess zum Tode durch den Strang verurteilt.15 Im Januar 1945 wurden die ersten Frauen mit »Rosa Karten« in dieses Lager überstellt. Die SS machte ihnen vor, es handele sich um ein »Schonungslager« für ältere, kranke und geschwächte Frauen. Diese Frauen erhielten in Ravensbrück die sogenannten »Rosa Karten«, die nach Nummern gereiht waren. Die SS versprach ihnen, sie müssten in diesem vermeintlichen »Schonungslager« keinen Appell mehr stehen und nicht mehr hart arbeiten, sondern nur stricken und würden mehr Platz bekommen. Viele dieser todgeweihten Frauen meldeten sich freiwillig, um diese »Rosa Karten« zu bekommen. Dieses Versprechen der SS erwies sich als Trugschluss. Die Frauen sollten systematisch vernichtet werden und wurden vergast.

»Gegen Kriegsende war es allerdings Kantinengespräch, daß weibliche Häftlinge vergast würden.«16 (Anni Rauschenbach, ehemalige Aufseherin)

Mindestens 4.000 Frauen aus Ravensbrück waren für den Tod durch das Gas bestimmt. Die Essensrationen waren sehr gering.17 Jeder Häftling bekam 750 ml Steckrübensuppe und ein Stück Brot. Bei winterlicher Kälte wurden ihnen die Jacken und Decken abgenommen. Die geschwächten Frauen mussten tagelang zum Appell antreten. Sie waren in vier Baracken untergebracht. Laut Angaben der ehemaligen Oberaufseherin Ruth Closius wurden 400 – 500 Frauen in einer Baracke untergebracht. Die sogenannten Kastenbetten waren mit Strohsäcken sowie zwei bis drei Decken ausgestattet und lagen dreistöckig übereinander. Zwei Häftlinge teilten sich ein Bett. Es mangelte an Hygiene und sanitären Vorkehrungen. Es gab weder Bettwäsche noch wurden die Strohsäcke gewechselt und gereinigt.

Unter Aufsicht des Standortarztes Richard Trommer18 begannen im Frühjahr 1945 die Selektionen für das Sterbelager Uckermark sowie die Massenmorde in der Gaskammer.

Abb. 12: Erste Seite der Liste der in das Vernichtungslager Uckermark überstellten Häftlinge, im Februar 1945.

Abb. 13: Zweite Seite der Liste der in das Vernichtungslager Uckermark überstellten Häftlinge, im Februar 1945.

Die SS mordete zunächst mit dem Gift Luminal im Krankenrevier. Ende Januar 1945 wurden die Häftlinge mit Gas-Lastwagen abtransportiert und durch die freigesetzten Gase getötet. Die Oberaufseherin setzte die für die Vergasung bestimmten Frauen auf eine Liste. Die improvisierte Vernichtungsmaschinerie lief ab Mitte Februar 1945 auf Hochtouren. Ab diesem Zeitpunkt erfolgten die Selektionen willkürlich und ohne Listen. Nach den Selektionen brachte man die Frauen in eine Turnhalle, in der sich die Mädchen im ehemaligen »Jugendschutzlager« sportlich ertüchtigen mussten, auch »Block sechs« genannt.19 In dieser Turnhalle gab es keine Betten, sie war nicht beheizt und es gab keine Toilette. Dort verblieben sie oft Tage bis zum Transport in die Gaskammer. Die meisten Frauen verelendeten qualvoll. Einige wurden durch Giftinjektionen getötet, das waren zwanzig bis dreißig Frauen täglich. Wer nicht durch die Spritze starb, wurde dann mit Lastwagen in die Gaskammer nach Ravensbrück transportiert und dort ermordet. Die SS tötete im Zeitraum von vier Monaten 5.000 bis 6.000 Häftlinge.20 Die SS tarnte offiziell die Akten der für die Vergasung ausgesuchten Frauen mit dem Vermerk »Schonungs-lager Mittwerda«. Dieses Lager war eine Erfindung des »Schutzhaftlagerführers« Johann Schwarzhuber. Die Häftlinge in den Verwaltungsbüros zählten über 3.600 Namen auf den Überstellungslisten nach Mittwerda. Einigen gelang es, eine der vom Kommandanten Fritz Suhren unterschriebenen Listen an sich zu bringen. Die Mittwerda-Liste zeigt eine Aufstellung vom 6. April 1945 mit Namen und Nummern von 496 in der Gaskammer getöteten Frauen. Diese Liste diente 1949 als Beweismittel im Prozess gegen Fritz Suhren.21

Das Vernichtungslager wurde Ende April 1945 aufgelöst. Viele der überlebenden Frauen wurden auf Todesmärsche geschickt.

Gegen Ende April 1945 wurden die Lager Ravensbrück und Uckermark von der Roten Armee befreit. Die SS brachte einige der verbliebenen Häftlinge unter Bewachung in Gruppen und zu Fuß in Richtung Nordwesten, wo sie später an verschiedenen Orten in Mecklenburg befreit wurden.

Das Internationale Rote Kreuz stellte einen ersten Rettungstransport zur Verfügung und brachte 300 Häftlinge in die Schweiz. Sowohl das Schwedische als auch das Dänische Rote Kreuz brachten gegen Ende April 7.400 Frauen und vierzehn Männer nach Schweden. In den letzten Apriltagen entließ die SS über 2.000 Häftlinge, während zurückgebliebene marschfähige Häftlinge in Kolonnen zu Fuß aus dem Lager getrieben wurden. Das KZ-Gelände Uckermark wurde im Juni/Juli 1945 als Krankenstation genutzt, um geschwächte Gefangene zu versorgen. Die Baracken wurden dann später abgebrannt. Nach Kriegsende wurde das Lager Uckermark von russischen Truppen überbaut und für eigene Zwecke genutzt.22

Abb. 14: Krematorium – Außenansicht – mit Anbau, unmittelbar nach der Befreiung, wahrscheinlich Ende April oder Anfang Mai 1945.

Abb. 15: Überreste des »Jugendschutzlagers« Uckermark, Jahr 1948.

5Auszug aus einem »Schnellbrief« vom 30. März 1942 des Reichssicherheitshauptamtes, Bundesarchiv, R 22/21176, Heft 6, Bl. 24 (198).

6Am 29. November 1940 wurde der Landwirt und Ortsbauernführer Franz Winter aus Moos-brunn von der Wiener Gestapo wegen »verbotenen Umgangs« ins Visier genommen. Am 8. Februar 1941 wurde er in das KZ Dachau eingeliefert und von dort in das KZ Ravensbrück überstellt. Franz Winter wurde am 8. Mai 1941 aus der Haft entlassen. Vgl. DÖW.

7So wurden die weiblichen Zivilangestellten der SS genannt.

8Friederike Wieking galt als ranghöchste Kriminalbeamtin im Dritten Reich. Im Juli 1945 wurde sie verhaftet und war bis 1950 in verschiedenen sowjetischen Internierungslagern. Noch kurz vor ihrem Tod 1958 in »West-Berlin« veröffentlichte sie in der Reihe »Kleine Polizeibücherei« einen Aufsatz zum Thema »Das weibliche Jugendschutzlager Uckermark und das männliche Jugendschutzlager Moringen«. Vgl. StGB/MGR, Gedenktafeln zum Thema »Jugendschutzlager Uckermark«.

9Vgl. Gedenkort KZ Uckermark, Ausstellungskatalog Uckermark »kriminalisiert – typologisiert – inhaftiert«.

10Junge Partisaninnen aus Slowenien.

11Vgl. DÖW, Biografie zu Käthe Anders.

12Vgl. StGB/MGR, Angaben zu Fritz Suhren.

13Vgl. StGB/MGR, Gedenktafeln zum Thema »Jugendschutzlager Uckermark«.

14National Archives UK, vgl. Synopsis of Case WO 235/305, Vera Salvequart.

15Vgl. ebenda, Johann Schwarzhuber.

16Vgl. Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Gerichte Rep. 118, Nr. 1954.

17National Archives UK, vgl. diverse Aussagen aus WO 235/516 A, WO 235/516 B und WO 311/510 in Kombination mit den Gedenktafeln der StGB/MGR zum Thema »Vernichtungslager Uckermark«.

18Richard Trommer, geb. am 16. Juli 1910 (andere Quellen 19. April 1911) in Münnerstadt, war NSDAP-Mitglied und absolvierte 1936 sein Staatsexamen in Medizin. 1941 arbeitete er als »Lagerarzt« im KZ-Flossenbürg, in der Zeit von 1942 bis 1943 im KZ-Neuengamme und letztlich dann von 1943 bis 1945 im KZ-Ravensbrück. Trommer gilt seit 1945 als verschollen. Vgl. StGB/MGR.

19Die Forschungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen.

20Gedenkort KZ Uckermark, Ausstellung-Uckermark zum Thema »Vernichtungslager Uckermark« in Kombination mit den Gedenktafeln zu diesem Thema aus der StGB/MGR.

21Vgl. ebenda.

22Vgl. StGB/MGR, Gedenktafeln zum Thema »Vernichtungslager Uckermark« in Kombination mit den Gedenktafeln auf dem KZ-Gelände Uckermark.

3. Exkurs: SS-Aufseherinnen

Exemplarisch werden in diesem Kapitel einige Beteiligte des weiblichen Bewachungspersonals mit ihren Biografien, Dienstgraden und Aufgaben vorgestellt. Vor allem werden ihre Beziehungen zu den weiblichen Gefangenen aufgezeigt.23

Abb. 16: SS-Aufseherinnen im KZ Ravensbrück, darunter eine Hundeführerin, undatiert.

Im Frühjahr 1939 wurden die ersten Häftlinge vom KZ Lichtenburg in das neu errichtete Frauen-KZ Ravensbrück verlegt und mit ihnen auch das entsprechende SS-Personal. Der Kommandantur-Stab des KZ Ravensbrück gliederte sich, mit dem Kommandanten an der Spitze, in sechs Abteilungen. In der Verwaltung waren rund 90 Angehörige der SS tätig.24

Abb. 17: Appellplatz des KZ Ravensbrück, 1939.

Abb. 18: Eine SS-Aufseherin beaufsichtigt Gefangene im KZ Ravensbrück, undatierte Aufnahme.

Der Bedarf an Aufseherinnen erhöhte sich drastisch mit der Zunahme an Gefangenen. Sie wurden sowohl für die innere Bewachung der Lager als auch für die Bewachung außerhalb, wenn die weiblichen Arbeitskommandos ausrückten, eingesetzt. Bereits 1939 verzeichnete das KZ Ravensbrück 55 Aufseherinnen. Für die Bewachung wurden Hunde abgerichtet und eingesetzt. Mehr als 500 Aufseherinnen versahen im Januar 1945 ihren Dienst im KZ Ravensbrück und seinen Außenlagern. Das KZ Ravensbrück diente von 1942 bis Herbst 1944 als zentrales Ausbildungslager für Aufseherinnen, von denen ein Großteil in Außenlager versetzt wurde. Ihre Ausbildung wurde staatlich finanziert und betrug in der Regel mehrere Wochen. Die Ausbildung bestand aus einer weltanschaulichen Schulung sowie praktische und theoretische Grundlagen in Bezug auf die Lager- und Häft-lingsführung. Die praktische Einweisung wurde von erfahrenen Aufseherinnen durchgeführt. Die Aufseherinnen gehörten zum weiblichen Gefolge der Waffen-SS und waren Reichsangestellte. Sie wurden nach der Tarifordnung für Angestellte besoldet. In dem soldatischen Männerbund konnten sie zwar keine Mitglieder der SS werden, unterstanden aber bei Verfehlungen der SS-Gerichtsbarkeit.25

Frauen machten etwa zehn Prozent des Bewachungspersonals aus. Sie waren im Schnitt nicht älter als 30 Jahre. Mehr als 3.300 Aufseherinnen, die bis 1945 im KZ Ravensbrück eingesetzt waren oder dort ausgebildet wurden, konnten namentlich ermittelt werden.26

Die Mehrheit der Aufseherinnen bewarb sich bis 1943 auf eigene Initiative. Die meisten der angeworbenen Frauen hatten nur eine geringe Schulbildung oder keine Ausbildung und kamen größtenteils aus ärmlichen Verhältnissen. Den größten Teil der Aufseherinnen stellten Arbeiterinnen sowie Angestellte aus Rüstungsbetrieben dar.27

Abb. 19: SS-Aufseherin Edith Fraede, geboren am 6. Dezember 1915 in Berlin, bei ihrer Einkleidung im KZ Ravensbrück, 1940.

Die SS sowie die Arbeitsämter versuchten, in Rüstungsfirmen geeignete Aufseherinnen anzuwerben. Es hieß, dass die Aufseherinnen Frauen zu überwachen hätten, die wegen »Verstößen gegen die Volksgemeinschaft« einsitzen. Da es sich – so die Formulierung der Arbeitsämter – lediglich um Überwachungsaufgaben handele, seien berufliche Kenntnisse nicht erforderlich. Die Bewerberinnen sollten zwischen 21 und 45 Jahren, gesund und ohne Vorstrafen sein. Infolgedessen wurden die Frauen von den Arbeitsämtern in Zusammenarbeit mit den Rüstungsbetrieben zur Ausbildung als Aufseherin für das KZ Ravensbrück dienstverpflichtet. Von dieser Maßnahme waren insbesondere ledige und arbeitslose Frauen mit geringer Bildung betroffen. Die Dienstverpflichtung beruhte auf der allgemeinen »Verordnung über die Meldung von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung«. Nach dieser Verordnung sollten die letzten Arbeitskräftereserven ausgeschöpft werden, was vor allem die weibliche Bevölkerung betraf.28

Die Frauen wurden zu einem 14-tägigen Ausbildungslehrgang und zur Einkleidung ins KZ Ravensbrück geschickt. Die meisten kehrten anschließend in die Firmen zurück, um dort Zwangsarbeiterinnen oder Gefangene zu überwachen. Einige wurden in andere Lager versetzt oder blieben im KZ Ravensbrück. Die Hundeführerinnen unter den Aufseherinnen erhielten zusätzliche Schulungen.29

Abb. 20 und 21: Porträts von SS-Aufseherinnen, undatiert.

Abb. 22, 23 und 24: Porträts von SS-Aufseherinnen, undatiert.

Abb. 25, 26 und 27: Porträts von SS-Aufseherinnen, undatiert.

Abb. 28, 29 und 30: Porträts von SS-Aufseherinnen, undatiert.

Abb. 31, 32 und 33: Porträts von SS-Aufseherinnen, undatiert.

Abb. 34, 35 und 36: Porträts von SS-Aufseherinnen, undatiert.

Abb. 37, 38 und 39: Porträts von SS-Auf-seherinnen, undatiert.

Abb. 40: Dienstausweis der SS-Aufseherin Marianne Minges, ausgestellt im KZ Ravensbrück, undatiert.

Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen waren ihre Karrieremöglichkeiten begrenzt. Eine Aufseherin konnte bei Bewährung im Einsatz bis zur Oberaufseherin aufsteigen. Die Aufseherinnen waren für die direkte Bewachung der weiblichen Häftlinge zuständig. Somit unterstand die Oberaufseherin dem Kommandanten und dem Schutzhaftlagerführer und war für das Frauenhäft-lingslager verantwortlich. Zudem gab es einzelne Aufseherinnen mit übergeordneten Funktionen. Die Rapportführerin war für die Zählung der Häftlinge zuständig und die Arbeitsdienstführerin stellte die Arbeitskommandos zusammen. Die Arrestführerin war für die Durchführung von Strafen im Zellenbau – im sogenannten »Bunker« – verantwortlich. In den Außenlagern konnten sie ab 1943 auch zur Erstaufseherin aufsteigen. Die Oberaufseherin nahm den Aufseherinnen-Appell direkt vor ihren Wohnhäusern ab und ordnete die Bewachungsaufgaben an. Ihr unterstand das gesamte weibliche Bewachungspersonal.30

Abb. 41: Dienstausweis der SS-Aufseherin Gertrud Heise, ausgestellt im KZ Majdanek, vermutlich im Frühjahr 1943.

Seit Frühjahr 1940 trugen die SS-Aufseherinnen eine einheitliche feldgraue Uniform ohne SS-Embleme, die im Bekleidungswerk des KZ-Ravensbrück hergestellt und den Aufseherinnen kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Diese Uniform bestand aus einer Jacke, einem Hosenrock, Stiefeln und einem Käppi in Schiffchenform. Aufgrund des Rohstoffmangels wurde die Ausstattung ab 1944 allerdings reduziert. Nach bestandener dreimonatiger Probezeit erhielten die Aufseherinnen das Hoheitsabzeichen der Reichsangestellten: einen Reichsadler, der auf den linken Uniformärmel genäht wurde. Ein schwarzes Dreieck mit einem Balken auf dem unteren Ärmel kennzeichnete den Rang einer einfachen Aufseherin, dem in einer höheren Besoldungsstufe ein Stern hinzugefügt wurde. Die Oberaufseherin war durch drei silberne Streifen am Ärmel und eine silbergraue Paspel am Mützenrand gekennzeichnet. Die Aufseherinnen verfügten zwar offiziell nicht über die SS-Ränge, ihre Dienstgrade waren aber an eine militärische Rangordnung angelehnt.31

Abb. 42: Johanna Langefeld, geboren am 5. März 1900 in Kupferdreh (heute Stadtteil Essen), war die allererste Oberaufseherin in drei Konzentrationslagern, Lichtenburg, Ravensbrück und Auschwitz. Sie beeinflusste die Entwicklung der Konzentrationslager am nachhaltigsten und prägte sie nach ihren eigenen Vorstellungen. Besonders polnische Häftlinge wurden von ihr bevorzugt und verschont, jüdische Häftlinge hingegen wurden von ihr nachteilig behandelt. Im KZ Auschwitz selektierte sie Häftlinge für die Gaskammer. Am 23. Dezember 1946 konnte sie mit Hilfe ihrer ehemaligen polnischen Häftlinge aus dem Gefängnis Montelupich in Krakau fliehen. Sie starb am 20. Januar 1974 in Augsburg. Sie galt als überzeugte Nationalsozialistin.32 Passfoto, undatiert.

Viele Aufseherinnen empfanden das KZ Ravensbrück als normalen Arbeitsort, sodass es von den meisten Aufseherinnen als praktisch empfunden wurde, in der Nähe dieses Lagers zu wohnen. Sie genossen die komfortablen Verhältnisse, die sie von zu Hause aus meist nicht gewohnt waren, da viele unter ihnen aus ärmlichen Verhältnissen kamen. Gefangene mussten die Kinder betreuen, die Zimmer säubern, die Haare frisieren und überhaupt für das Wohlergehen der Aufseherinnen sorgen.33

Abb. 43: SS-Oberaufseherin Dorothea Binz, geboren am 16. März 1920 in Düsterlake, Kreis Templin. Im Alter von 19 Jahren bewarb sie sich 1939 um eine Stelle im KZ Ravensbrück. Sie wurde stellvertretende Oberaufseherin und war für das Frauenlager zuständig. Zu ihren Aufgaben gehörte es unter anderem, die vom Kommandanten verhängten Prügelstrafen im Bunker umzusetzen.34 Nach Angaben von Olga Benario beaufsichtigte Binz den Strafblock und die Isolierzellen. Zum Dienst erschien sie immer mit perfekt frisierten blonden Haaren und akkurater Kleidung, begleitet von ihrem Hund. Binz genoss es, die Gefangenen zu schlagen und zu quälen. Von den Gefangenen wurde sie »die schöne Bestie« genannt.35 Aufnahme während des ersten Ravensbrück-Prozesses, 1946/47.

Ravensbrück gehörte für einen Teil der Aufseherinnen zu ihrem Lebensmittelpunkt. Sie verbrachten ihre Freizeit außerhalb des Lagers, gingen zum Schützenfest in Fürstenberg an der Havel und ins Kino, ruderten im Sommer auf dem Schwedtsee und so weiter. Vor allem bauten sie Beziehungen zum männlichen Personal auf, sodass auch Hochzeiten gefeiert und Kinder geboren wurden. Sie hielten ihre Erinnerungen an ihre »Dienstzeit« in Fotoalben fest. Dass einige unter ihnen stolz auf ihre Position waren, beweisen einige Fotos, auf denen sie entweder in Uniform, mit Kolleginnen oder mit Diensthunden posierten.36

Abb. 44: »Die Prügelstrafe«, eine SS-Aufseherin schlägt auf eine Gefangene ein, Zeichner unbekannt, undatiert.

Abb. 45: Ehemalige Wohnhäuser der SS-Aufseherinnen auf dem KZ-Gelände Ravensbrück, Aufnahme aus den frühen Nachkriegsjahren, undatiert.

1942 wurde in der Nähe des Schwedtsees ein Heim sowie ein Kindergarten für die Kinder des KZ-Personals errichtet. Dort waren die Kinder wochentags untergebracht und schliefen an den Wochenenden bei ihren Müttern, den Aufseherinnen. Neben Säuglingsschwestern und Kindergärtnerinnen wurden die Kinder von der Häftlingsgruppe der Bibelforscherinnen betreut. Die älteren Kinder besuchten die Schule in Fürstenberg/Havel.37

Da es den Aufseherinnen überlassen blieb, wie sie ihre Kontroll- und Disziplinargewalt einsetzten, nutzten sie ihre Handlungsspielräume aus, schikanierten die Gefangenen und setzten sie ihrer willkürlichen Gewalt aus. Viele ehemalige Gefangene des KZ Ravensbrück haben präzise Erinnerungen an Erniedrigungen, Brutalität und Schikanen durch Aufseherinnen. Besonders in Erinnerung sind die willkürlichen Misshandlungen und Schikanen, wonach Aufseherinnen ihre Wachhunde auf die Gefangenen hetzten sowie ohne ersichtlichen Grund Schläge austeilten und sogar nach Belieben den Toilettengang verweigerten.38

Abb. 46: Bildtitel: »Das Recht der Stärkeren«, eine SS-Aufseherin schlägt eine Gefangene mit einem Lederriemen, Zeichnung von Violette Lecoq, undatiert.

Aufseherinnen durften nicht namentlich angesprochen werden, daher blieben sie vielen Gefangenen namenlos. Trotz weniger Ausnahmen werden sie in der Mehrzahl als brutal, abgestumpft und gleichgültig beschrieben. Sie gehörten zu einer Einheit des verbrecherischen Systems der SS und bildeten das letzte Glied der Befehlskette.39

Obwohl viele Aufseherinnen nach Kriegsende insbesondere in den britischen Internierungslagern interniert waren, wurden nur wenige vor Gericht gestellt. Insgesamt sind 77 Anklagen bekannt, darunter waren auch SS-Krankenschwestern.

Abb. 47: Bildtitel: »Bodennahrung«, eine SS-Aufseherin schlägt eine Gefangene, weil sie auf dem Boden nach Nahrung suchte, Zeichnung von Violette Lecoq, 1945.

Die meisten von ihnen waren bereits in Spruchkammerverfahren zu einer milden Strafe verurteilt worden.40

In den Nachkriegsvernehmungen beriefen sich viele der ehemaligen Aufseherinnen auf ihre Dienstverpflichtung, was jedoch in den meisten Fällen als Schutzbehauptung gewertet wurde, da auch Fälle bekannt waren, in denen eine Dienstverweigerung keine Sanktionen nach sich gezogen hatte.41

Abb. 48: Die ehemalige SS-Aufseherin Christine Holthöwer, geboren am 9. Februar 1899 in Lengsdorf bei Bonn, in britischer Internierungshaft, 1947/48. Sie wurde im Mai 1943 als SS-Aufseherin in das KZ Ravensbrück eingezogen. Dort war sie bis März 1945 Kommandoführerin in den Siemens-Werkstätten. Im siebten Ravensbrück-Prozess in Hamburg wurde sie mit fünf weiteren Frauen angeklagt, aber wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Diese Aufnahme war Gegenstand der Ermittlungen zu den Ravensbrück-Prozessen.42

Abb. 49: Die ehemalige SS-Aufseherin Gertrud Sickrodt, geboren am 2. Dezember 1921 in Erfurt, in britischer Internierungshaft, 1945, arbeitete als Büroangestellte in Erfurt. Von dort wurde sie Anfang November 1944 als SS-Aufseherin in das KZ Ravensbrück einberufen und blieb dort bis Ende April 1945. Obwohl sie unter Beobachtung britischer Ermittler stand,43 kam sie, wie viele andere internierte ehemalige SS-Aufseherinnen, für die Ravensbrück-Prozesse in Hamburg nicht infrage. Eine Strafverfolgung nach ihrer Entlassung aus der Internierung ist nicht bekannt.

Abb. 50: Die ehemalige SS-Aufseherin Margaret Kapschak, geboren am 13. März 1923 in Bochum, in britischer Internierungshaft, 1945, arbeitete zunächst als Verkäuferin in Bochum und dann als Angestellte in Duderstadt. Vom 2. November 1944 bis zum 8. April 1945 war sie als SS-Aufseherin im KZ Ravensbrück eingesetzt. Neben vielen anderen internierten ehemaligen SS-Aufseherinnen stand auch sie unter Beobachtung britischer Ermittler.44