Der vierte Ravensbrück-Prozess 1948 in Hamburg - eine Dokumentation - Lorenz Ingmann - E-Book

Der vierte Ravensbrück-Prozess 1948 in Hamburg - eine Dokumentation E-Book

Lorenz Ingmann

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Beschreibung

Der vierte Ravensbrück-Prozess fand in der Zeit vom 5. Mai bis zum 8. Juni 1948 im Curiohaus in Hamburg statt. Die Angeklagten waren Mitglieder des medizinischen Personals des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, wie die Ärzte Benno Orendi und Walter Sonntag. Aber auch Krankenschwestern waren angeklagt, Frauen misshandelt zu haben. Die Anklagen konzentrierten sich auf die Misshandlungen, die Folter und die Selektionen von Häftlingen für die Gaskammer. Im Prozess wurden grausame medizinische KZ-Verbrechen offengelegt. Lorenz Ingmann macht mit diesem Buch bislang unveröffentlichtes Archivmaterial zugänglich. Die Dokumentation des Prozesses ist ein aufschlussreiches Zeitdokument und Teil der Aufarbeitung der Geschehnisse des Holocaust und der justiziablen Verantwortung. Dieses Buchprojekt wurde mit Unterstützung des Zukunftsfonds der Republik Österreich realisiert.

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INHALT

Vorwort

Ein Ort systematischer Vernichtung – das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

1.1. Das Lagersystem

1.2. Die Außenlager

1.3. Das Krankenrevier

1.4. Krankheiten

1.5. Aktion »14f13«

1.6. Die Befreiung

Der vierte Ravensbrück-Prozess: Von der Strafverfolgung bis zur Urteilsvollstreckung

2.1. Exkurs: Allgemeine Verfolgungspraxis durch die britische Militärpolizei

2.2. Exkurs: Die Ermittlungspraxis des »War Crimes Investigation Team«

2.3. Ravensbrück-Prozesse unter britischer Militärgerichtsbarkeit

2.4. Weitere Erkenntnisse zum Medizinpersonal

2.5. Die Beschuldigten

2.5.1. Walter Sonntag

2.5.2. Benno Orendi

2.5.3. Martha Haake

2.5.4. Liesbeth (Lisa) Krzok

2.5.5. Gerda Ganzer

2.6. Die Zeugenaussagen

2.6.1. Doris Maase

2.6.2. Eugenie von Skene

2.6.3. Rosemarie von Lünink

2.6.4. Bertha Teege

2.6.5. Maria Katharina Wiedmaier

2.6.6. Johanna Sturm

2.6.7. Erika Buchmann

2.6.8. Rosa Jochmann

2.6.9. Vera Mahnke

2.6.10. Renée Govers

2.6.11. Helena Esther Goudsmit

2.6.12. Yvonne De Soignies

2.6.13. Ludwig Ramdohr

2.6.14. Denise Fresnel

2.6.15. Dorothea von Ripper

2.6.16. Annette Ibeltje Eeckman (auch: Eeckmann)

2.6.17. Erna Böhmer

2.6.18. Louise Le Porz

2.6.19. Gustawa Winkowska

2.6.20. Zofia Sokulska

2.6.21. Zofia Maczka

2.6.22. Jacqueline Prat

2.6.23. Claire van den Boom

2.6.24. Margarete Gahr

2.7. Der Ermittlungsbericht

2.8. Die Anklageerhebung sowie administrative Angelegenheiten

2.9. Die Verhandlung – 5. Mai bis 4. Juni 1948

2.9.1. Schlusswort für Walter Sonntag durch seinen Verteidiger Dr. Todsen

2.9.2. Schlusswort für Benno Orendi durch seinen Verteidiger Dr. König

2.9.3. Schlusswort für Martha Haake durch ihren Verteidiger Dr. John

2.9.4. Schlusswort für Liesbeth Krzok durch ihren Verteidiger Dr. John

2.9.5. Schlusswort für Gerda Ganzer durch ihren Verteidiger Dr. Jonas

2.9.6. Die Schlussverhandlung und Urteilsverkündung am 4. Juni 1948

2.10. Resümee aus Sicht der Anklagevertretung vom 11. Juni 1948

2.11. Resümee aus Sicht des Gerichtsberaters / Rechtsoffiziers vom 24. Juni 1948

2.12. Gesuche und Petitionen

2.13. Die Vollstreckung

Schlusswort

Anhang

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

Folgendes ist zu beachten:

Ab dem zweiten Abschnitt habe ich sämtliche Zitate aus Vernehmungsprotokollen und dergleichen, die in den Originalprozessakten in maschinenschriftlicher Form vorliegen, – unter Wahrung der Rechtssicherheit – modifiziert und in die neue Rechtschreibung überführt. Dieser Eingriff war notwendig, da die Originalzitate eine Vielzahl von störenden Fehlern in Grammatik und Rechtschreibung aufweisen. Den Wortlaut und den damit verbundenen Sinn habe ich jedoch nicht verändert. Ziel ist es, die Lesbarkeit zu erleichtern, da der Akzent vorrangig auf den britischen Prozessakten liegt. Bei einigen Zitattexten erschien es aufgrund der hohen Fehlerzahl ebenfalls zweckmäßig, sie vollständig zu paraphrasieren, was durch eckige Klammern kenntlich gemacht ist. Dieses Vorgehen stellt eine Ausnahmesituation dar, die selbstverständlich nicht der gängigen Handhabung von Zitaten entspricht. Diese Art der Anpassung von Zitaten versteht sich eher als eine Restaurierung und zeitgemäße Aufarbeitung historischer Dokumente. Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei diesen Zitaten keinesfalls um eine schöpferische Leistung im klassischen Sinn handelt, bei der strenge Zitationsregeln zwingend zu befolgen sind. Im Vordergrund steht die Vermittlung anschaulicher Fakten zur Wahrung der Erinnerungskultur.

Lorenz Ingmann, November 2022

Vorwort

»Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Ich werde niemandem, auch nicht auf Verlangen, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.«1

Die Medizin im Dritten Reich: Ein doppeltes Verbrechen

»Von ungefähr 90.000 damals in Deutschland tätigen Ärzten haben etwa 350 Medizinverbrechen begangen. Das bleibt noch eine stattliche Zahl, vor allem, wenn man an das Ausmaß der Verbrechen denkt.«2, resümiert Alexander Mitscherlich.

Da die Medizinethik das allgemeine Prinzip der Menschenwürde aufgreift und insbesondere das Wohlergehen des Menschen betont, stellen medizinische Versuche am Menschen und die Tötung von Menschen aus rassischen Gründen ein doppeltes Verbrechen dar.

In der nationalsozialistischen Diktatur beauftragte Hitler Medizinerinnen und Mediziner mit der Aufgabe, ein rassisch reines, erbliches, gesundes deutsches Volk durch Auslese heranzuzüchten.3 Ärztinnen und Ärzte stellten sich von Anfang an den nationalsozialistischen Machthabern zur Verfügung. In Konzentrationslagern und psychiatrischen Einrichtungen nahmen sie grausame medizinische Experimente an den Häftlingen und deren Tötungen vor. Einige von ihnen konnten auch nach 1945 in der BRD und in der DDR weiter als Medizinerinnen und Mediziner tätig sein, wie Werner Heyde, Herta Oberheuser oder Rosemarie Albrecht, um nur einige Beispiele zu nennen.

Lorenz Ingmann, im November 2022

1 Aus dem »Eid des Hippokrates«, abgedruckt in »Pschyrembel Klinisches Wörterbuch«, 268 Auflage, De Gruyter, 2020.

2 Mitscherlich, Alexander & Mielke, Fred, 2004: »Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses«, 16. Auflage. Fischer Taschenbuch.

3 Vgl. Doku »Hitlers Eliten nach 1945. Ärzte – Medizin ohne Gewissen«. Eine Dokumentation von Gerolf Karwath. Eine Produktion des Südwestdeutschen Rundfunks aus dem Jahre 2002.

1. Ein Ort systematischer Vernichtung – das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

1.1. Das Lagersystem4

Appellplatz des neu errichteten Frauen-KZ Ravensbrück, um 1939, aus dem SS-Fotoalbum. Quelle: Postkarte, Foto Eckelt.

Im KZ-System war Ravensbrück nach Auschwitz-Birkenau das größte Frauenkonzentrationslager. Nach der Schließung des Konzentrationslagers Lichtenburg im Jahre 1939 war Ravensbrück, im Gegensatz zu den Unterabteilungen für Frauen in anderen Konzentrationslagern, auch das einzige Hauptkonzentrationslager, das ausschließlich für Frauen vorgesehen war.

Die deutschen NS-Behörden begannen im November 1938 mit der Errichtung des Lagers nahe der ca. 90 km nördlich von Berlin entfernten Ortschaft Ravensbrück, bei Fürstenberg an der Havel in Brandenburg. Im April 1941 errichteten SS-Truppen ein kleines Männerlager neben dem Hauptlager.

Im November 1938 deportierten SS-Truppen ca. 500 männliche Insassen aus dem KZ Sachsenhausen zur geplanten Stelle, an der das KZ Ravensbrück errichtet werden sollte. Bei den ersten Insassinnen in Ravensbrück handelte es sich um ca. 900 Frauen, die von der SS aus dem sächsischen Frauenkonzentrationslager Lichtenburg im Mai 1939 deportiert wurden. Bis Ende 1942 war die Zahl der inhaftierten Frauen in Ravensbrück auf ca. 10.000 angewachsen. Im Januar 1945 zählte das Lager mehr als 50.000 Insassinnen und Insassen, darunter hauptsächlich Frauen.

Das Barackenlager des Frauen-KZ Ravensbrück. Bei den H-förmig miteinander verbundenen Baracken vorne links handelt es sich um den Häftlingskrankenbau, Aufnahme 1940–1941. Quelle: MGR/SGB.

Ilse Heinrich, Jahrgang 1924, Deutsche, wurde als »arbeitsscheu« eingewiesen:

»Bei Hitler war das ein Verbrechen, was ich gemacht habe. Asoziale … das hieß: arbeitsscheu, schwarzer Winkel. Aber in Wirklichkeit steckt da ganz was Anderes hinter. Heute, den Vergleich mit heute, meine ich … du kannst heute hinziehen, wo du willst … keiner sagt dir was. Du kannst arbeiten, was du möchtest … keiner sagt dir was. Bist du auf dem Lande geboren [zu Hitlers Zeiten], da musstest du auf dem Lande bleiben. […] Du durftest in der Stadt nicht arbeiten. [Von meiner Stiefmutter bin ich abgehauen]. Dann bin ich zu einer Familie [gekommen], die hatte elf Kinder. Es gab damals auch Lebensmittelkarten und alles … und da kam die Polizei … hatten sie mich geholt.«5

Lisl Jäger, Jahrgang 1924, Österreicherin, kam als »Antifaschistin« nach Ravensbrück:

»Mit dem Gefängnistransport aus Wien bin ich Ende September [19]44 in Ravensbrück angekommen … aber weil da schon andere gewartet haben auf die Aufnahme, [hat es noch eine Weile gedauert] bis ich meinen Namen abgegeben [habe] und eine Nummer gekriegt hab’, 68393 … könnt‘ ich im Schlaf sagen.«6

Die SS internierte alle möglichen Häftlinge in Ravensbrück, darunter politische Gefangene, »Asoziale« (einschließlich vieler Sinti und Roma), Jüdinnen, Zeugen Jehovas, »Verbrecherinnen«, »Arbeitsscheue« und »Rassenschänderinnen«. Die Zahl der Inhaftierten pro Kategorie war im Laufe des Bestehens des Konzentrationslagers starken Schwankungen unterworfen.

Die Lagerleitung war in fünf Abteilungen unterteilt: das Amt des Kommandanten, die politische Abteilung, das »Schutzhaftlager«, die Verwaltung und das Amt des Lagerarztes. SS-Standartenführer Günther Tamaschke war von Dezember 1938 bis zum 30. April 1939 Lagerkommandant im KZ Ravensbrück. SS-Obersturmbannführer Max Koegel ersetzte Tamaschke am 1. Januar 1940 offiziell als Lagerkommandanten. Am 20. August 1942 übernahm SS-Sturmbannführer Fritz Suhren die Position des Lagerkommandanten, die er bis Ende April 1945 innehielt.

Otto Max Koegel, geboren am 16. Oktober 1895 in Füssen, SS-Obersturmbannführer und Lagerkommandant des KZ Majdanek, des KZ Ravensbrück sowie des KZ Flossenbürg, undatiert. Quelle: BArch.

Neben dem männlichen SS-Personal wurden ausschließlich Aufseherinnen zur Bewachung der Gefangenen eingesetzt. Diese Aufseherinnen waren keine SS-Mitglieder, sondern Angehörige des weiblichen SS-Gefolges und galten somit als Reichsangestellte. Ab 1942 diente Ravensbrück auch als Hauptausbildungsstätte für SS-Aufseherinnen.

Dorothea Binz7, geboren am 16. März 1920 in Düsterlake (Kreis Templin), bewarb sich 1939 im Alter von 19 Jahren um eine Stelle im KZ Ravensbrück. Im Juli 1943 übernahm sie kommissarisch die Funktion der Oberaufseherin. Ab Februar 1944 oblag ihr als stellvertretende Oberaufseherin die Verantwortung für das gesamte Frauenlager. Zu ihren Aufgaben gehörte unter anderem die Vollstreckung der vom Kommandanten verhängten Prügelstrafen im Bunker. Am 23. Mai 1945 wurde sie vom US-Militär in Schweinfurt verhaftet und zunächst in Hersbruck, dann im britischen Internierungslager Staumühle bei Paderborn interniert. In Hamburg musste sie sich vom 5. Dezember 1946 bis zum 3. Februar 1947 zusammen mit fünfzehn weiteren Angeklagten im ersten britischen Ravensbrück-Prozess verantworten. Das Urteil lautete auf »Tod durch den Strang«. Ein Gnadengesuch ihres Anwalts blieb erfolglos, das Urteil wurde am 31. März 1947 bestätigt. Kurz vor ihrer Hinrichtung versuchte sie, sich die Pulsadern zu öffnen, was jedoch abgewendet werden konnte. Das Urteil wurde am 2. Mai 1947 morgens um 9.01 Uhr im Zuchthaus Hameln durch den englischen Henker Albert Pierrepoint vollstreckt.8 Privataufnahme aus dem Sommer 1943 in einem Fotostudio in Fürstenberg/Havel.9 Quelle: E. Schulz; diese Fotografie entstammt dem Nachlass von Binz.

SS-Aufseherin, Hundeführerin und Blockführerin Annemarie Grete N.10 Ihre Einsätze waren »vielseitig«, vorwiegend in den Industriewerkstätten und zum Schluss kurzzeitig im Vernichtungskommando in (ungeklärten) Bereichen des KZ Uckermark, der Torwache und dem Vorplatz des Krematoriums. Privataufnahme aus dem Frühjahr 1944 im renommierten Fotostudio in Fürstenberg/Havel. Quelle: VVN-Archiv, Reprofoto. Original im Privatbesitz.

Annemarie Grete N. (rechts, im geblümten Kleid) vergnügt sich in ihrer Freizeit mit anderem KZ-Personal, darunter eine weitere unbekannte Aufseherin (links) und ein unbekannter SS-Angehöriger, auf dem Außengelände des KZ Ravensbrück. Während die Häftlinge im Inneren des Lagers Not leiden, lacht und scherzt das in Zivil gekleidete Personal von Ravensbrück direkt außerhalb des Lagers. Auf der Rückseite steht in Sütterlin geschrieben: »Ravensbrück im Grünen an der Mauer / an einem schönen Sonntag im Sommer 1944«. Quelle: Privatarchiv E. Schulz.

Das Hauptlager umfasste achtzehn Baracken; zwei davon dienten als Patientenunterkünfte, zwei als Lagerhallen, eine als Strafblock und eine als Lagergefängnis, bis dieses 1939 durch einen separaten Zellenblock ersetzt wurde. Die übrigen Baracken dienten zur Unterbringung der Gefangenen, die in Drei-Etagen-Betten aus Holz schlafen mussten. Jede Baracke verfügte über einen Waschraum und Toiletten, doch die hygienischen Bedingungen waren mangelhaft und hatten sich nach 1943 stark verschlechtert. Die Lebensmittelrationen für Gefangene waren anfangs dürftig, und die Menge und Qualität der vonseiten der Lagerleitung pro Häftling zugewiesenen Lebensmittel nahmen nach 1941 weiter ab. Bis Januar 1945 waren die Baracken hoffnungslos überbelegt. Diese Flut an Menschen löste in Kombination mit den entsetzlichen hygienischen Bedingungen eine Typhusepidemie im Lager aus.

Vereinzelt wählte die SS schwache und arbeitsunfähige KZ-Gefangene zur »Selektion« aus und ließ sie ermorden. Zu Beginn wurden »selektierte« Gefangene erschossen. Ab 1942 wurden sie von der SS gemäß der »Aktion 14f13« in die mit Gaskammern ausgestattete Tötungsanstalt Bernburg deportiert, wo Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen im Rahmen des nationalsozialistischen »Euthanasie«-Programms ermordet wurden. Im Frühjahr 1942 deportierte die SS etwa 1.600 weibliche und 300 männliche Gefangene in die Tötungsanstalt Bernburg; davon waren rund die Hälfte Jüdinnen und Juden, mindestens 25 Sinti und Roma und ca. dreizehn Zeugen Jehovas.

Auf Befehl der Lagerleitung begann im späteren Verlauf des Jahres 1942 eine zweite Deportationswelle in die Tötungsanstalten, die bis 1944 anhielt. In diesem Zeitraum verließen etwa 60 Transportfahrzeuge Ravensbrück, um jeweils 60 bis 1.000 Gefangene in die Tötungsanstalt Hartheim nahe Linz in Österreich zu deportieren. Die SS ließ Patientinnen ebenso auf der Krankenstation durch Todesspritzen ermorden oder in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportieren.

Anfang 1945 ließ die SS eine Gaskammer in der Nähe des Lagerkrematoriums Ravensbrück errichten. Die Deutschen vergasten zwischen 5.000 und 6.000 Häftlinge in Ravensbrück, bevor das Lager im April 1945 durch sowjetische Truppen befreit wurde.

Die Holzbaracke im Vordergrund zeigt die Gaskammer. Dahinter liegt das Krematorium, dahinter die Lagermauer und der Zellenbau, zu sehen sind auch die Schornsteine der Häftlingsküche, auf der linken Seite die Garage, links daneben die Kommandantur, oben links im Bild sind die Führerhäuser zu erkennen. Auf der Rückseite steht in Anspielung auf die Gaskammer: »Eine der schlimmsten Ecken des Lagers – das Krematorium und Gefängnis des KZ Ravensbrück, wo mehr als 100.000 sowjetische und ausländische Bürger ermordet wurden.« Aufnahme im Sommer 1945. Quelle: Staatsarchiv der Russischen Föderation in Moskau (GARF), Fotograf: Lysenko.

Ab Sommer 1942 führten SS-Ärzte unethische, medizinische Experimente an Gefangenen im KZ Ravensbrück durch. SS-Ärzte experimentierten bei der Wundbehandlung mit verschiedenen chemischen Substanzen (wie Sulfanilamid), um Infektionen vorzubeugen. Sie probierten ebenso verschiedene Methoden bei Knochenoperationen aus; dazu gehörten Experimente mit Amputationen. Für diese Experimente selektierte die SS fast 80 Frauen, die zumeist polnischer Herkunft waren. Viele Frauen verstarben infolge des Eingriffs. Die Überlebenden litten oft unter den bleibenden körperlichen Schäden. Die SS-Ärzte führten Experimente bei der Sterilisation von Frauen und Kindern durch, um effiziente Methoden zur Sterilisation zu entwickeln. Die meisten Opfer waren Sinti und Roma.

Zofia Pociłowska, Jahrgang 1920, Polin, ehemalige politische Gefangene:

»Ich gehörte zu der Gruppe der Operierten, weil an mir und den anderen, fünf waren es, man nahm immer fünf Personen, hatte man schon die Experimente angefangen. Alle Untersuchungen durchgeführt, Spritzen gegeben und so weiter. Aber im Revier war kein Platz. Es war überfüllt. Also wir sollten zum Block zurückkehren und uns am nächsten Tag melden. Und dann hab‘ ich mir ausgedacht, dass es mir lieber ist, dass die mich erhängen oder erschießen, aber zu dieser Operation gehe ich nicht. Ich überzeugte diese vier Kameradinnen und am nächsten Tag haben wir protestiert. […] Damals waren schon Dutzende operiert worden … mit zerschnittenen Beinen. Alle waren [mit dem Protest] einverstanden. […] Damals war die Langefeld [Oberaufseherin]. Sie beruhigte uns so gut, wie es ging. Auf jeden Fall, außer einer Strafe, wie Einsperren im Strafblock, ist uns nichts mehr passiert. Und wir fünf wurden nicht mehr aufgerufen. Also auf diese Weise wurde die angefangene [vorbereitete] Operation nicht durchgeführt, das heißt, es gab keine Operation. Es ist schwer zu sagen, ob das die Ursache war oder etwas Anderes, warum wir zum Beispiel nicht mit Gewalt geholt wurden. In der Tat versteckten wir uns damals. Es gab schon solche Menschenmengen … Überfüllung im Lager. Das war, glaube ich, im Jahr [19]44. Ich erinnere mich nicht richtig. Wir wurden nicht gefasst und geholt. Aber zum Beispiel die, an denen schon Operationen durchgeführt worden waren und zerschnittene Beine hatten, wurden mit Gewalt geholt. Und die nächste Operation wurde im Bunker durchgeführt, unter völlig aseptischen Bedingungen. Man holte fünf deutsche Prostituierte mit Syphilis […], mit entstellten Gesichtern. Wie wir später erfuhren, sollte das ein Experiment der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten sein, die sich unter den Soldaten verbreiteten.«11

Zofia Pociłowska, geboren am 3. März 1920 in Charkow, im Jahr 1938. Quelle: Privat.

Johanna Langefeld, geboren am 5. März 1900 in Essen-Kupferdreh, in Zivilkleidung. Sie war die erste SS-Oberaufseherin in drei Konzentrationslagern: Lichtenburg, Ravensbrück und Auschwitz. Sie pflegte ein »gutes« Verhältnis zu den polnischen Gefangenen und gewann somit deren Vertrauen. Gegenüber Jüdinnen zeigte sie Ablehnung. Undatiert. Quelle: MGR/SGB.

Im Jahr 1942 ließ die SS in einigen Konzentrationslagern Bordelle eröffnen. Die Lagerleitung wollte Frauen zur Prostitution zwingen, um männliche Gefangene bei Erreichen oder Übertreffen der Produktionsquote zu belohnen. Die meisten Frauen, die zur Arbeit in den Bordellen gezwungen wurden, stammten aus dem KZ Ravensbrück. Es wurden mindestens 100 Frauen verpflichtet. Die Lagerleitung zwang einige der weiblichen Gefangenen zur Prostitution, wohingegen sich andere »freiwillig« meldeten, nachdem die Lagerleitung ihnen eine bessere Behandlung oder die Freilassung aus dem Konzentrationslager nach einem Zeitraum von sechs Monaten versprochen hatte. Entgegen aller Versprechen wurde keine einzige Frau vorzeitig entlassen.

1.2. Die Außenlager12

Die SS verpflichtete die Gefangenen im KZ Ravensbrück zur Zwangsarbeit, die hauptsächlich in den Landwirtschafts- und Industriebetrieben der Region stattfand. Ab 1944 war Deutschland zunehmend auf Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zur Rüstungsproduktion angewiesen. Ravensbrück wurde zum Verwaltungszentrum eines Systems aus mehr als 40 Außenlagern mit mehr als 70.000 überwiegend weiblichen Gefangenen.

Diese Außenlager, die hauptsächlich in der Nähe von Rüstungsbetrieben errichtet wurden, lagen überall im Großdeutschen Reich von Österreich im Süden bis zur Ostsee im Norden. Einige Außenlager lieferten nach den alliierten Luftangriffen auf deutsche Städte Zwangsarbeiter für den Wiederaufbau oder zur Entfernung von Schutt. Die SS ließ mehrere Fabriken in der Nähe von Ravensbrück für die Produktion von Textil- und Elektroprodukten errichten.

Zu den größten Außenlagern mit mehr als 1.000 Gefangenen zählten Rechlin/Retzow, Malchow, Grüneberg, Neubrandenburg, Karlshagen I, Barth, Leipzig-Schönefeld, Magdeburg, Altenburg und Neustadt-Glewe.

1.3. Das Krankenrevier13

Ilse Reibmayr, ehemalige Häftlingsärztin aus Österreich, erinnert sich an das Krankenrevier:

»Es war wie ein Krankenhaus. An der obersten Spitze war der Primararzt, das war der Dr. Treite, und eine Reihe anderer Ärzte, die immer wieder gewechselt haben. Es waren nicht viele. Und dann war die Schwesternschaft, das waren SS-Schwestern. Und diese Schwestern haben nicht selbst gearbeitet, sondern nur kontrolliert. Und die ganzen Schwestern, Pflegepersonal […] und alles, was da notwendig ist, in so einem Betrieb, das waren alles Häftlinge.«14

Ilse Reibmayr, geboren 1917 in Graz, Aufnahme aus dem Jahr 1942. Quelle: Archiv der österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück & Freunde (ÖLGR/F).

Schwesternzimmer mit drei NS-Krankenschwestern im Häftlingskrankenbau, 1940–1941. Quelle: MGR/SGB.

Percy Treite, geboren am 10. September 1911 in Berlin, erkennungsdienstliche Aufnahme. Vermutlich 1945 nach seiner Verhaftung. Er arbeitete insbesondere eng mit der Schweizerin Carmen Mory zusammen, die als Funktionshäftling im Block für geistig behinderte Frauen eingesetzt war. Quelle: Staatsarchiv Hamburg.

Hermann Richter, geboren am 13. August 1915 in Linz, österreichischer SS-Arzt. Er wurde unter anderem in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Groß-Rosen als Lagerarzt eingesetzt. Undatiert. Quelle: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland.

Die erste Krankenstation war in zwei miteinander verbundenen Hütten untergebracht. Sie wurde anfangs für kleinere Behandlungen eingerichtet. Doch ab 1942 erhöhte sich die Zahl der Patientinnen im Lager fortlaufend. Daher baute die SS die Krankenstation aus und verwandelte nach und nach sieben Hütten in Patientenunterkünfte. Bis Kriegsende wurde ein Fünftel aller Behausungen im Frauenlager zur medizinischen Versorgung beansprucht.

Hanka Housková, Jahrgang 1911, ehemalige Häftlingskrankenschwester aus Tschechien, erzählt:

»Das Revier war so aufgeteilt: Hier, in dem ersten Revier, war Untersuchung, Labor, Röntgen, Apotheke, Schreibstube, die Zimmer von den Ärzten, nachher Operationssaal, Vorbereitungssaal […], nachher auch Kreissaal. Und in der zweiten Hälfte waren Zimmer, für die Kranken, wie in einem normalen Spital.«15

Annette Eeckman, Jahrgang 1921, war eine belgische Krankenrevierarbeiterin:

»In der ersten Baracke war das Untersuchungszimmer. Das ist ein schöner Name. Aber das war für die [Kranken gedacht, die sich krankgemeldet hatten], die standen erst draußen stundenlang, dann kamen sie hinein und mussten sich ganz nackt ausziehen [egal, was sie hatten].«16

Fünf Häftlingsfrauen beim Wiegen. Zeichnung von Eliane Jeannin-Garreau17, Frankreich. Quelle: MGR/SGB.

Die französische Widerstandskämpferin Eliane Jeannin-Garreau beschreibt ihre Zeichnungen:

»Dieses Wiegen war eine unnütze Schikane, denn ich glaube mich zu erinnern, dass niemand das gemessene Gewicht aufschrieb. Die Frau, die die Waage bedient, war eine alte Gefangene im Lager, die Leute im Hintergrund gehören ohne Zweifel zum Personal des Krankenreviers. Die Frau, die sich den Bauch hält, war sicherlich krank: wegen der Nahrung hatten wir schon die ersten Fälle von Ruhr, die uns bald darauf geradezu heimsuchte.«18

»Dies war eine weitere demütigende Schikane: uns nackt in die Kälte zu stellen, nur um unsere Zähne zu untersuchen. Der dort sitzende ungenierte Militär war kein Zahnarzt, sondern ein autorisierter Voyeur, um für uns die Erniedrigung noch schlimmer zu machen. Auch mit dieser Quälerei konnten wir noch umgehen, indem wir uns über die Lächerlichkeit der Aktion lustig machten. Die Frauen wurden zu jeder Gelegenheit entblößt, gerade um ihnen zu beweisen, dass sie nichts waren außer Nummern. Übrigens wurde diese Zahnuntersuchung nicht gemacht, um uns zu behandeln, sondern um die Goldzähne zu registrieren.«19

Eliane Jeannin-Garreau, geboren am 18. März 1911 in Bayonne, im Jahr 1939. Quelle: Privat.

Fünf nackte Häftlingsfrauen bei der Zahnuntersuchung. Zeichnung von Eliane Jeannin-Garreau. Quelle: MGR/SGB.

Infektionen und Mangelerscheinungen breiteten sich ungehindert im Lager aus. Tuberkulose, Durchfall, eitrige Entzündungen und Hungerödeme traten am häufigsten auf. Viele Gefangene litten auch unter den Folgen von Arbeitsunfällen. Schon in den Anfangsjahren des Lagers wurden täglich Dutzende, kranke Gefangene auf die Krankenstation eingewiesen. Bis Kriegsende war diese Zahl auf täglich mehrere Hundert Frauen angestiegen. Tatsächlich nahmen die SS-Ärzte nur wenige Menschen in der Krankenstation auf. Die meisten von ihnen wurden nur notdürftig oder gar nicht behandelt und unmittelbar danach in ihre Unterkünfte und zur Arbeit zurückgeschickt. Jüdische und russische Gefangene wurden am besonders nachlässig behandelt.

Auch Cécile Goldet, Jahrgang 1914, ehemalige Häftlingspflegerin aus Frankreich, erzählt von den Zuständen im Krankenrevier:

»Ein saurer und erstickender Geruch umgibt einen bereits am Eingang. Dort, in drei Etagen, 150 Frauen, zu zweit in einem Bett, leidend und stöhnend. Wir sind drei Krankenschwestern für 150 Patientinnen. Alle leiden unter Erschöpfung, Ödemen, Ruhr. Horror … All diese Wunden eitern, Papierbandagen halten nicht, Eiter fließt überall.«20

Viele kranke Häftlinge hofften darauf, ihrer anstrengenden Arbeit für ein paar Tage entgehen zu können, wenn sie sich auf der Krankenstation behandeln ließen. Bei stationärer Aufnahme bestand jedoch die Gefahr, dass die SS sie als »arbeitsunfähig« betrachtete und sie zur Ermordung selektierte.

Georgia Peet-Taneva, Jahrgang 1923, Bulgarien, ehemaliger politischer Häftling:

»[…] Aber dann … das war … [19]45 muss das gewesen sein. So im Winter. [Da] hab‘ ich Typhus bekommen. Und da lag ich eine ganze Weile im [Kranken-]Revier. Und ich hab‘ mich eigentlich relativ schnell erholt und die Ärztin auf dem Block, das war nicht im Revier, das war im Block 11, […] … war eine französische [Häftlings-]Ärztin, Madame Hautval. Und die hat mich also richtig versorgt. [Sie sagte: ›ich schreibe dich noch nicht arbeitsfähig], du musst noch liegen bleiben!‹ Und die haben mich so lange da behalten, bis die chaotische Zeit in Ravensbrück einbrach. […] Und sie hat mich [zu meinem Wohl] immer noch nicht gesundgeschrieben.«21

Georgia Peet-Taneva, geboren am 1. August 1923 in Malko Tarnowo (Bulgarien), Jugendfoto. Undatiert. Quelle: Privat.

Häftlingskrankenbau, »Revier«, Krankenzimmer mit zwei bettlägerigen Patientinnen, 1940–1941, aus dem SS-Fotoalbum. Quelle: MGR/SGB.

Die schwere körperliche Arbeit, Unterernährung und schlechte hygienische Bedingungen im KZ Ravensbrück führten zur Erkrankung zahlreicher Gefangener. Das Krankenhauspersonal war für die Behandlung zuständig, doch die medizinische Versorgung in Ravensbrück war von Anfang an unzureichend. Während die Zahl der Internierten zunahm, stieg auch die Zahl der Behandlungsbedürftigen. Es gab kaum noch Medikamente zur Versorgung der Patientinnen und Patienten. Die SS-Ärzte versuchten lediglich, Epidemien einzudämmen und die Arbeitsfähigkeit einer bestimmten Anzahl von Gefangenen aufrechtzuerhalten. Die SS selektierte schwerkranke Patientinnen zur Ermordung. Ebenso führten die SS-Ärzte Zwangssterilisierungen, Abtreibungen und Menschenversuche bei Patientinnen durch. Einige Kinder wurden im Krankenhaus geboren, nur ganz wenige von ihnen überlebten.

Antonia Bruha, Jahrgang 1915, aus Österreich, wurde als politischer Häftling ins KZ Ravensbrück eingewiesen und beschreibt das Grauen:

»Lebende Leichname waren es, die hierherkamen, und Wunden hatten sie. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ein Mensch mit solchen Wunden noch leben und arbeiten kann. Durch Nahrungsmangel entstanden Ekzeme am ganzen Körper. Der Eiter fraß die Haut weg; fraß das Fleisch bis auf die Knochen. Die Frauen baten die Häftlingsärztinnen mit aufgehobenen Händen um ein schmerzstillendes Mittel, weil sie den Schmerz nicht mehr ertragen konnten. Aber was sollten diese tun?

Sie und die Häftlingspflegerinnen arbeiteten Tag und Nacht mit kaum vorstellbarer Aufopferung. Sie reinigten die Wunden, sie legten Verbände an, aber es gab keine Medikamente. Es gab zuletzt auch keine Desinfektionsmittel mehr. Keine Verbände.«22

Antonia Bruha, geboren am 1. März 1915 in Wien, erkennungsdienstliche Aufnahme, 1941. Quelle: Magistrat der Stadt Wien – MA 8, Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA).

In den Unterkünften der Patientinnen im Frauenlager und auf der kleinen Krankenstation im Männerlager erhielten die Gefangenen eine nur äußerst notdürftige Behandlung. Die männlichen und weiblichen Ärzte, die unter dem Kommando des SS-Lagerarztes standen, beschlossen willkürlich, welche Gefangenen untersucht, behandelt oder in die Patientenunterkünfte eingewiesen werden sollten.

Im Jahr 1943 »verbesserte« die SS die medizinische Versorgung von Gefangenen, deren Arbeitskraft für die deutsche Kriegswirtschaft ausgebeutet werden sollte. Nun wurden auch Gefangene mit medizinischen Kenntnissen als Arbeitskräfte im Krankenhaus eingesetzt. Allerdings erhielten Gefangene, die von der SS als »arbeitsunfähig« eingestuft wurden, fast gar keine medizinische Versorgung mehr. Im Frauenlager wurden solche Gefangenen in speziell errichteten Hütten gesondert untergebracht, deren Zustände katastrophal waren und den Tod vieler Gefangener forderten.

Der SS-Standortarzt war gleichzeitig Leiter der Krankenstation. Bis 1943 unterstanden Ärztinnen, die keine Lagerinsassinnen waren, seinem Kommando für die Behandlung von weiblichen Gefangenen. Er überwachte auch die Arbeit der SS-Lagerärzte, SS-Zahnärzte und Krankenschwestern.

Ab dem Jahr 1943 erlaubte die SS auch Gefangenen, die ausgebildete Ärzte und Krankenschwestern waren, auf der Krankenstation zu arbeiten. Diese neue Politik wurde auf Heinrich Himmlers Befehl hin umgesetzt, damit Gefangene zur Kriegswirtschaft beitrugen. Unter der Aufsicht der SS und nach deren strengen Richtlinien wurden Gefangene mit medizinischer Ausbildung für nahezu jede medizinische Behandlung von Gefangenen eingesetzt. Im Jahr 1944 gab es bereits mehr als vierzig weibliche Gefangene, die als Ärzte tätig waren, sowie Dutzende von Gefangenen, die als Krankenschwestern auf der Station arbeiteten.

Ilse Reibmayr beschreibt dieses System:

»Das war doch ein riesiger Wirtschaftsbetrieb. Und wir waren darin ein Glied an der Kette. Und der hat so funktioniert. Und die oberste Schicht war die SS, und die ganze Organisation der SS, die dort abkommandiert waren. Da hat es natürlich Büros gegeben und eine politische Führung und da hat es die ganze Sanität gegeben, mit dem Dr. Treite an der Spitze […] und die ganze Arbeit und auch die Organisation ist den Frauen überlassen worden, den Häftlingen.«23

Viele der Frauen waren wegen der fehlenden Medikamente zutiefst beunruhigt, da infolgedessen nicht alle Patientinnen ausreichend versorgt werden konnten. Dennoch konnten sie Gefangenen auch das Leben retten. So berichtet Annette Eeckman, die mit ihrer Mutter auf dem Revier arbeitete:

»Im Revier hat meine Mutter auch beim Tauschen von Namen und Nummern geholfen. Es ist eine scheußliche Geschichte. Ich war auch daran beteiligt. Wir tragen das wie eine ›notwendige Schuld‹. Denn wir haben sterbende Menschen weggeschickt und gesunden Menschen ihre Nummer gegeben. Damit die überleben konnten. Wir haben Sterbende in den Tod geschickt, das ist wahr. Das hat meine Mutter gemacht, das habe ich gemacht. Eine ganze Gruppe hat das gemacht.«24

Das Krankenrevier war von Beginn an ein Ort, der über Leben und Tod eines Gefangenen entschied. Den Lagerärzten wurde befohlen, die Gefangenen auf Erbkrankheiten zu untersuchen und Gefangene zur Zwangssterilisation zu selektieren. Durch das »Ausmerzen minderwertiger Erbsubstanz« wollten die Nazi-Ärzte und –Ärztinnen die »arische Rasse stärken«. Nach dieser Ideologie erfolgte auch die Behandlung von Schwangeren. Schwangere sollten im Konzentrationslager Ravensbrück zwar nicht aufgenommen werden, dennoch gab es unter den Gefangenen einige Schwangere, deren Schwangerschaft bei Ankunft noch nicht festgestellt wurde. Anfangs wurden sie zur Entbindung in ein Krankenhaus in Templin eingewiesen.

Die Lagerärzte zwangen mindestens fünfzig schwangere Gefangene zur Abtreibung. Die meisten von ihnen wurden von »fremdrassigen« Männern geschwängert. Abtreibungen wurden noch bis kurz vor Auflösung des Konzentrationslagers durchgeführt.

Im Zuge der Massendeportationen im Sommer 1944 wurden immer mehr Schwangere nach Ravensbrück deportiert. Die Lagerärzte richteten auf der Krankenstation einen Entbindungssaal sowie Patientinnenunterkünfte für Mütter mit Kindern ein. Allerdings war die Versorgung der Säuglinge so schlecht, dass kaum einer von ihnen länger als ein paar Wochen überlebte.

»Für Patientinnen mit offener TBC gibt es eine spezielle Abteilung. Die Ärztin wird angewiesen, auf der Stelle fünfzehn Kranke zu benennen. Wozu? Das ist nur allzu klar. Zum Schluss produziert sie vierzehn Namen von Todgeweihten. Die Letzte hätte eine Frau aus ihrem Land sein müssen, das kann sie nicht. An ihrer Stelle schreibt sie den Namen einer Anderen, die weniger schwer erkrankt ist. Gewissensbisse, quälende Gedanken. Vor derartigen Problemen steht jede von uns nur zu oft. Und wir müssen sie ganz allein lösen. Hier versagt unsere traditionelle medizinische Ethik. Etwas, das wir einmal in einer anderen Welt gelernt haben.«25

Adélaïde Hautval, Jahrgang 1906, französische Häftlingsärztin

1941 und 1942 kamen externe »Begutachter« in das KZ Ravensbrück, um kranke oder arbeitsunfähige Gefangene sowie Jüdinnen und Juden zu selektieren, die in die Tötungsanstalten Hartheim und Bernburg deportiert und anschließend durch Giftgas ermordet werden sollten. Später selektierten Lagerärzte auch kranke Gefangene, die dann in die KZ- und Vernichtungslager deportiert wurden. Manchmal mordeten Ärzte auch selbst, indem sie den Gefangenen Gift injizierten.

Auf Bestreben der Lagerärzte wurden zahlreiche Gefangene in Ravensbrück zwangssterilisiert. Ab 1934 war die Zwangssterilisation von Menschen mit »minderwertigem Erbgut«, von »Schwachsinnigen« oder »Behinderten« nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, zugelassen.

»Ich habe bei Zwangssterilisationen assistiert. Ist das nicht eine schreckliche, eine teuflische Sache, derartig in das Leben anderer Menschen einzugreifen, um zu verhindern, dass sie sich fortpflanzen? Und ich konnte nicht dagegen auftreten. Es wäre ja blödsinnig gewesen zu sagen: ›Herr Dr. Treite, ich assistiere nicht, weil ich dagegen bin.‹ Da hätte er eine andere genommen und ich wäre im Bunker gelandet. Ich habe assistiert, wie bei jedem anderen.«26

Ilse Reibmayr

Die Lagerärzte beantragten gegenüber den »Erbgesundheitsgerichten« die Erlaubnis zur Zwangssterilisation von Gefangenen und die selbstständige Durchführung derartiger Sterilisationen auf der Krankenstation. Die meisten Opfer waren Frauen, die als »asoziale Elemente« im Lager schwarze Dreiecke tragen mussten. Besonders auffällig ist die Zahl der zwangssterilisierten weiblichen Sinti und Roma.

Ab 1944 zwangen die Lagerärzte als Angehörige der Roma-Minderheiten klassifizierte Männer und Frauen, Einverständniserklärungen zur Sterilisation zu unterzeichnen. Die Gefangenen wurden durch leere Versprechungen der anschließenden Freilassung getäuscht, um das Verfahren für die Genehmigung von Zwangssterilisierungen zu umgehen.

»In diesem Operier-Zimmer habe ich zum Beispiel gesehen, dass er, der [Dr.] Treite [Sinti- und Roma-Kinder] sterilisiert hat. Ein Mädchen von neun, ein Mädchen von elf [Jahren]. […] Das war im Januar [19]44. Da ist ein Arzt gekommen, der hat einen Eingriff gemacht bei den [Sinti- und Roma-Frauen], weil man ihnen versprochen hat, sie würden freikommen, wenn sie sich sterilisieren lassen. Und da hat man das gemacht mit Bestrahlungen, wie genau kann ich nicht sagen, ich war natürlich nicht dabei. Ich habe nur gesehen, wie all die Frauen angekommen sind und wie sie dagelegen und geschrien haben vor Schmerzen.«27

Annette Eeckmann

»Diese zwölfjährigen [Sinti- und Roma-Mädchen] haben gebrüllt vor Schmerzen. Und die Mütter haben immer gesagt: ›weint nicht, wir gehen frei … wir gehen frei!‹«28

Antonia Bruha

Behandlungsraum im Krankenrevier, um 1941. Quelle: MGR/SBG.

Arzt- und Behandlungszimmer, um 1941. Quelle: MGR/SBG.

Zahnstation, um 1941. Quelle: MGR/SBG.

1.4. Krankheiten29

Typhus

Typhus ist eine schwere Darmkrankheit, die durch Bakterien verursacht wird. Die Erreger werden durch den Kontakt mit dem Kot infizierter Personen und durch verunreinigtes Wasser übertragen. Typhuspatienten leiden über Wochen an hohem Fieber, Magenkrämpfen und Verstopfung, gefolgt von Durchfall. Als weitere Symptome können Fieberträume und roter Hautausschlag auftreten. Bei Nichtbehandlung beträgt die Sterblichkeitsrate von Typhuspatienten zwischen zehn und fünfzig Prozent. Im Ersten Weltkrieg war Typhus eine weitverbreitete und gefürchtete Krankheit.

Typhus trat im KZ Ravensbrück zunächst im Jahr 1942 auf. Ab Sommer 1943 wurden Typhus- und Durchfallpatientinnen im Block 6, einer separaten Patientenunterkunft, untergebracht. Von Ende 1944 bis Anfang 1945 war das Lager von einer Typhus-Epidemie befallen. Die SS impfte zunächst alle Häftlinge, die regelmäßigen Kontakt zum Wachpersonal hatten. Typhuspatientinnen wurden wahrscheinlich nur mit Holzkohle behandelt. Nach Aussage des Häftlingsarztes Paulette Don Zimmet-Gazel war nicht diagnostizierter Typhus in Kombination mit körperlicher Schwäche aufgrund von Unterernährung mit fünfzig Prozent aller Sterbefälle die häufigste Todesursache in Ravensbrück.

Ruhr

Ruhr ist eine gefährliche Darmerkrankung, die durch Bakterien verursacht wird. Sie wird meistens durch die Aufnahme von mit Fäkalien verunreinigtem Wasser oder Essen übertragen, kann jedoch auch durch Fliegen übertragen werden. Zu den Symptomen zählen schwerer Durchfall, hohes Fieber und Unterleibsschmerzen sowie Krämpfe, Übelkeit, Erbrechen und Dehydration. Ruhr-Patienten leiden unter flüssigem, häufig mit Blut, Schleim oder Eiter durchsetztem Stuhl, und müssen bis zu dreißigmal pro Tag abführen. Die Patienten können die Infektion noch bis zu vier Wochen nach akutem Krankheitsausbruch in sich tragen. Bei Nichtbehandlung kann die Sterblichkeitsrate bis zu sechzig Prozent betragen.

Im Ersten Weltkrieg war Ruhr neben Typhus und Malaria eine weitverbreitete epidemische Krankheit. Im Zweiten Weltkrieg zählte sie auch zu den häufigsten Todesursachen in Gefangenenlagern.

Wegen Überbelegung und mangelhafter hygienischer Bedingungen traten Ruhr und andere Durchfallerkrankungen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück regelmäßig auf. Den Aussagen ehemaliger Häftlinge zufolge wurden Frauen, die an Ruhr und Typhus litten, in sogenannten Isolationsunterkünften gemeinsam untergebracht. Im August 1944 ließ die SS ein großes Zelt aufstellen, das in den Folgemonaten zu einem Schauplatz furchtbaren Elends werden sollte: Rund 4.000 Frauen vegetierten in einem Zelt dahin, dessen Boden lediglich mit einer dünnen Schicht aus Stroh bedeckt war. Epidemische Krankheiten wie Ruhr forderten tagtäglich unzählige Todesopfer.

Tuberkulose

Noch heute ist Tuberkulose eine der am weitesten verbreiteten Infektionskrankheiten. Lungentuberkulose ist die häufigste Form dieser Krankheit. Sie wird mittels Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen. Eine Lungentuberkulose äußert sich durch trockenen oder nassen Husten, allgemeine Schwäche, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, leichtes Fieber und übermäßiges Schwitzen.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts breitete sich Tuberkulose im Zuge des schnellen Städtewachstums immer weiter aus. Der Tuberkuloseerreger wurde im Jahr 1882 entdeckt. Ursprünglich wurden mangelhafte hygienische Bedingungen für die Ausbreitung der Krankheit verantwortlich gemacht. Tuberkulose war im Dritten Reich immer noch eine häufig auftretende Krankheit. Sie konnte durch die Entwicklung von Antibiotika erstmals erfolgreich bekämpft werden.

Im Sommer 1943 wurden im KZ Ravensbrück Hütten für Patienten errichtet, die unter verschiedenen Infektionskrankheiten litten, darunter auch der Block 10 für Tuberkulose-Patienten. Allerdings wurden diese Patienten nicht medikamentös behandelt. Ehemaligen Häftlingen zufolge bekamen Tbc-Patienten nur dann Haferschleim zu essen, wenn ihre Heilungschancen aussichtsreich waren. Im Winter 1944/45 gab es fast 500 Tuberkulose-Patientinnen im Block 10. Zwischen vier und fünf Patientinnen mussten sich gemeinsam zwei Betten teilen. Dem Häftlingsarzt Paulette Don Zimmet-Gazel zufolge waren die verschiedenen Formen von Tuberkulose oder Lungenentzündungen für rund fünfzehn Prozent aller Todesfälle im KZ Ravensbrück verantwortlich.

1.5. Aktion »14f13«30

1939 begannen die Nazis mit der Ermordung kranker und behinderter Menschen in Sanatorien und Pflegeheimen. Die SS-Führung beschloss 1941, die euphemistisch als »Euthanasie« bezeichnete Kampagne auszuweiten, um KZ-Häftlinge ebenfalls ermorden zu lassen. Diese erste zentral geplante Kampagne für den systematischen Massenmord wurde nach dem entsprechenden Aktenzeichen unter dem Decknamen »14f13« durchgeführt.

Von Ende 1941 bis Anfang 1942 selektierten SS-Lagerärzte und externe Gutachter rund 1600 Frauen und 300 Männer in Ravensbrück, um sie ermorden zu lassen. Unter den selektierten Häftlingen waren auch Kranke, Arbeitsunfähige, Juden sowie einige Oppositionelle und »asoziale Elemente«. Zwischen Februar und April 1942 wurden sie in die »Euthanasie«-Anstalt Bernburg deportiert und durch Kohlenmonoxid-Gas ermordet.

1944 wurden weitere kranke Häftlinge aus Ravensbrück in die Tötungsanstalt Hartheim nahe der österreichischen Stadt Linz deportiert. Obwohl die genaue Zahl der Ermordeten nicht bekannt ist, liegt sie nach Aussagen ehemaliger Gefangener bei schätzungsweise 3.600 Menschen.

1.6. Die Befreiung31

Ende April 1945 wurden das KZ Ravensbrück und dessen Außenlager mit ihren insgesamt mehr als 45.000 weiblichen und mehr als 5.000 männlichen Gefangenen befreit. Anfang März 1945 startete die SS die »Evakuierung« von Ravensbrück, indem sie 2.100 männliche Gefangene nach Sachsenhausen deportieren ließ. Ende März 1945 ließ die SS etwa 5.600 weibliche Gefangene in die Konzentrationslager Mauthausen und Bergen-Belsen deportieren.

Ende April zwangen SS-Aufseher über 20.000 weibliche Gefangene sowie den Großteil der verbliebenen männlichen Gefangenen zu einer brutalen Zwangsevakuierung, die zu Fuß in den Norden Mecklenburgs führen sollte. Die vorrückenden sowjetischen Truppen schnitten ihnen den Weg ab und befreiten die Gefangenen. Am 29. April flohen die letzten im Lager verbliebenen SS-Aufseher und Aufseherinnen und am 30. April traf der Vortrupp der Roten Armee im KZ Ravensbrück ein. Am 1. Mai 1945 folgten die regulären Einheiten und befreiten die letzten Gefangenen.

Kurz vor der Evakuierung des Lagers hatten die Deutschen einige hundert weibliche Gefangene, darunter überwiegend Französinnen, schwedischen und dänischen Rot-Kreuz-Mitarbeiter überlassen. Als die Rote Armee Ravensbrück am 29. und 30. April 1945 befreite, befanden sich mehr als 2.000 kranke Frauen und Kinder im Lager. Zwischen 1939 und 1945 durchliefen mehr als 130.000 weibliche Gefangene das Lagersystem von Ravensbrück. Zwischen 20.000 und 30.000 dieser Gefangenen starben in Ravensbrück.

»Liebe deutsche Freunde! […]. Ich erinnere mich an den Morgen des 30. April 1945, […] Zuerst erblickten wir einige Baracken, weitere standen hinter einer hohen Mauer, über die einige Reihen Stacheldraht gespannt waren. […] Als ich durch das Tor blickte, sah ich auf dem Territorium des Lagers keine Menschen. […] Aber im Verlauf von wenigen Sekunden kamen aus den Baracken einige Frauen. Unentschlossen kamen sie auf uns zu. Dann sahen sie auf unseren Mützen die roten Sterne und stürzten zum Tor. Sie riefen: ›Russen! Russen!‹ […] Die Stunde der Befreiung war gekommen. […] Magere, Zerlumpte, Kranke wurden von ihren Freundinnen aus den Baracken herausgetragen […]. Ich […] unterhielt mich mit unseren ukrainischen, russischen und belarussischen Frauen, deren Sprache ich verstand. […] Sie zeigten uns den Bunker, das Krematorium, den Karzer und andere faschistische Folterkammern.«32

Sergej Garbusik, ehemaliger russischer Soldat

Gedenktafel zur Erinnerung an Gertrud Stern, die ihr Leben noch vor der Befreiung verlor; Nähe Zellenbau des ehem. Frauen-KZ Ravensbrück, Aufnahme im Sommer 2007. Quelle: MGR/SBG.

»Bis ins kleinste Detail, alles war eine Tortur. Alles, was du nur anrührst … alles war nur Qual und Schmerz und Trauer … ja. Und wie viele Freundinnen ich dort lassen musste und verloren habe und deswegen gehe ich immer an den See und werfe dort Blumen in den See, weil, das ist ja der Friedhof dort, wo die Asche ist.«33

Irma Trksak, KZ-Überlebende aus Österreich

Hier auf dem Grund des Schwedtsees ruht die Asche der Toten; Aufnahme im Sommer 2007. Quelle: Privat.

4 MGR/SGB, vgl. Gedenktafeln zur Ausstellung.

5 Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), Audio-Interviews zum Frauen-KZ Ravensbrück. Link: https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ravensbrueck/60739/audio-interviews(Stand 13.05.2020).

6 Ebenda.

7 In den Erinnerungen vieler KZ-Überlebender galt Binz wegen ihres brutalen Verhaltens als berüchtigt. Binz übernahm auch die Unterweisung der angehenden SS-Aufseherinnen, insbesondere der dienstverpflichteten Frauen.

8 Vgl. National Archives UK, Prozessakten, WO 235/305 – 308, zu Dorothea Binz.

9 Im Stadtzentrum von Fürstenberg/Havel existierte ein renommiertes Fotostudio, in dem sich viele SS-Angehörige und Aufseherinnen privat ablichten ließen.

10 Annemarie Grete N., Jahrgang 1921, lebte in Neustrelitz. Nach fast einem Jahr im KZ Ravensbrück, in dem sie sich offenbar erfolgreich »bewährt« hatte, wurde sie Anfang November 1944 in Begleitung der 1919 geborenen Hildegard Neumann, einer neu eingestellten Aufseherin, in das Lager Theresienstadt versetzt. Neumann wurde zur Oberaufseherin ernannt, N. zu ihrer Stellvertreterin. Die Stelle der Oberaufseherin war ursprünglich für N. vorgesehen. Nach einigen Wochen kehrte N. nach Ravensbrück zurück, da sie aufgrund ihrer »Erfahrungen« den Aufbau des Vernichtungslagers Uckermark »mitgestalten« sollte. Ende Dezember 1944 sollte sie dort die Lagerleitung übernehmen, doch aufgrund der Folgen ihrer Diphtherie-Erkrankung wurde diese schließlich an Ruth Neudeck (auch: Closius) übertragen. Nach eigenen Angaben schied N. Mitte Februar 1945 aus dem Dienst aus. Neumann und Neudeck waren in der Endphase des Krieges an schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt, wovon N. zumindest in dieser Zeit vor der Auflösung verschont blieb. Nach Kriegsende verlor sich die Spur von N. und sie verschwand in der Anonymität. Eine strafrechtliche Verfolgung ist nicht bekannt. Aufgespürt wurde sie im Sommer 2006 von einer Mitarbeiterin des Ermittlungsdienstes der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die sie befragte. Auch nach der Befragung ergaben sich keine Ansätze für eine Strafverfolgung. N. lebte zuletzt mit ihrer Familie am Niederrhein. Sie starb im Jahr 2008. Auf Wunsch von Familienangehörigen steht der Familienname nicht ausgeschrieben. Quelle: Überlieferung des im Sommer 2006 geführten Interviews mit Frau N. und Angaben der Familienangehörigen von Frau N. im Frühjahr 2016.

11 Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), Audio-Interviews zum Frauen-KZ Ravensbrück. Link: https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ravensbrueck/60739/audio-interviews(Stand 13.05.2020).

12 MGR/SGB, vgl. Gedenktafeln zur Ausstellung.

13 Ebenda.

14 Videoproduktion Loretta Walz, 2005: »Die Frauen von Ravensbrück«.

15 Ebenda.

16 Ebenda.

17 Eliane Jeannin-Garreau (18. März 1911 bis 15. Juni 1999) verbrachte eine unbeschwerte Kindheit im Südwesten Frankreichs und erhielt eine umfassende humanistische Bildung. Nach dem Abitur studierte sie ab 1933 in Paris Malerei. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen sie 1937, ihr Studium abzubrechen, und sie arbeitete von da an als Bankangestellte. Nach der deutschen Besatzung Frankreichs schloss sie sich der Widerstandsbewegung an. Am 31. August 1943 wurde Eliane Jeannin-Garreau verhaftet und schließlich am 3. Februar 1944 in das Frauen-KZ Ravensbrück deportiert. Hier erhielt sie die Nummer 27492. Während der ersten 40 Tage der »Quarantäne« nutzte sie die ihr auferlegte Untätigkeit, um ihre unmittelbaren Eindrücke in Zeichnungen auf seltenen »organisierten« Papierschnipseln festzuhalten. Als sie im April 1944 zur Zwangsarbeit für die Skoda-Werke in das Außenlager Holleischen in der Tschechischen Republik versetzt wurde, musste sie ihre Zeichnungen in Ravensbrück zurücklassen. Ein französischer Kamerad rettete die Zeichnungen und nahm sie bei der Evakuierung durch das Internationale Rote Kreuz im Rahmen der »Bernadotte«-Aktion mit nach Schweden. Dort überließ sie die Zeichnungen Bernd Nathan, einem schwedischen Studenten, der als Wächter für die ankommenden Häftlinge eingesetzt war. Am 50. Jahrestag der Befreiung des Lagers erinnerte er sich an die Zeichnungen und schenkte sie der Gedenkstätte Ravensbrück. Nach der Befreiung setzte Eliane Jeannine-Garreau ihre Arbeit in der Bank fort, heiratete und bekam eine Tochter. Angesichts der Versuche revisionistischer Historiker, die Existenz von Konzentrationslagern und Gaskammern zu leugnen, sah sie sich in den späten 1980er-Jahren gezwungen, öffentlich Zeugnis von ihren schmerzhaften Erinnerungen abzulegen. »Wir sind die letzten Zeugen. Und wir müssen Zeugnis ablegen, koste es, was es wolle«, erklärte sie 1997 ihre Motivation, ihre Erlebnisse aufzuschreiben und zeichnerisch darzustellen. Quelle: Vgl. Auszug aus der Objektdokumentation, Inventar-Nr. 1624/19, Informant: Bernd Nathan, MGR/SGB.

18 Ebenda.

19 Ebenda.

20 AKF, »Die medizinische Versorgung im Konzentrationslager Ravensbrück durch das Häftlingspersonal (1939–1945)«, Dokumentations- und Ausstellungsprojekt, 1. Dezember 2014 – 31. Mai 2016.

21 Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), Audio-Interviews zum Frauen-KZ Ravensbrück. Link: https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ravensbrueck/60739/audio-interviews(Stand 13.05.2020).

22 MGR/SGB, vgl. Hörstation.

23 Videoproduktion Loretta Walz, 2005: »Die Frauen von Ravensbrück«.

24 MGR/SGB, vgl. Hörstation.

25 Ebenda.

26 Ebenda.

27 Videoproduktion Loretta Walz, 2005: »Die Frauen von Ravensbrück«.

28 Ebenda.

29 MGR/SGB, vgl. Gedenktafeln zur Ausstellung.

30 MGR/SGB, vgl. Gedenktafeln zur Ausstellung.

31 Ebenda.

32 MGR/SGB, Biografie zu Sergej Garbusik in der Ausstellung.

33 Österreichische Mediathek, Auszug aus dem Titel: Irma Trksak spricht über den Alltag im Konzentrationslager.

2. Der vierte Ravensbrück-Prozess: Von der Strafverfolgung bis zur Urteilsvollstreckung

Innenansicht des Krankenreviers im KZ-Ravensbrück, Aufnahme im Mai 1945. Quelle: MGR/SBG.

2.1. Exkurs: Allgemeine Verfolgungspraxis durch die britische Militärpolizei

Nach Kriegsende spürte die britische Militärpolizei Angehörige der SS, NS-Funktionäre, deren Helfer-Truppe sowie Zivilpersonen in der Nordwestzone34 auf. Teilweise wurden sie auch von amerikanischen Besatzungstruppen übergeben. Es kam zu Massenverhaftungen.

Folgende Gruppenzugehörigkeiten wurden nach einer Kategorie des »Automatischen Arrests« interniert: deutsche Geheimdienste, Sicherheitspolizei (SiPo), höhere Polizeibeamte, die Kriminalpolizei (Kripo), paramilitärische Organisationen, Beamte der Nazi-Partei, Staatsbeamte des höheren Dienstes. Ferner Personen, die verdächtigt wurden, Kriegsverbrechen begangen zu haben sowie Personen, von denen angenommen wurde, dass sie ein Sicherheitsrisiko darstellten.35 Als mutmaßliche Kriegsverbrecher wurden sie zunächst ohne eingehende Überprüfung ihrer Personalien in Gewahrsam genommen und anschließend in Internierungslager überstellt. In dem zweiseitigen »Detention Report«36, dem Haftbogen, wurden sie erkennungsdienstlich erfasst und standen vorerst unter Generalverdacht. Offensichtlich hofften die Verfolgungsbehörden so auf erste Hinweise oder weitere Erkenntnisse37, die auf Kriegsverbrechen an alliierten38 Staatsbürgern schließen ließen. Dies zeigt, wie bereits die ersten Ermittlungsansätze akribisch vonstattengingen, um Kriegsverbrechen gezielt und qualitativ zu ahnden.

Der aus Eisenach stammende Alfred Cott, Jahrgang 1913, war Tischler von Beruf. Verdächtig wurde er durch seine Zugehörigkeit der »Allgemeinen SS« und bekleidete den Rang eines SS-Oberscharführers. Er versah unter anderem seinen Dienst in den Konzentrationslagern Buchenwald und Ravensbrück.39