Der Weg durch Wytham Woods - Colin Dexter - E-Book
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Der Weg durch Wytham Woods E-Book

Colin Dexter

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Beschreibung

Inspector Morse genießt seinen wohlverdienten (und eigentlich nicht besonders erquicklichen) Urlaub in Dorset, als er auf einen seltsamen Brief in der Times stößt. Ein Jahr zuvor war eine schwedische Studentin in Oxfordshire verschwunden, nur ihr Rucksack wurde gefunden. Die Ermittlungen liefen ins Leere. Jetzt scheint es, als könne jemand seine Geheimnisse nicht länger für sich behalten und veröffentliche hinweisträchtige Gedichte. Morse kann dem Rätsel nicht widerstehen und folgt den Spuren auf einen verschlungenen Pfad durch die Wytham Woods.

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Über dieses Buch

Inspector Morse genießt seinen Urlaub, als er auf einen seltsamen Brief in der Times stößt. Ein Jahr zuvor war eine Studentin verschwunden, die Ermittlungen liefen ins Leere. Jetzt scheint es, als veröffentliche jemand hinweisträchtige Gedichte. Morse kann nicht widerstehen und folgt den Spuren auf einen verschlungenen Pfad durch die Wytham Woods.

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Colin Dexter (1930-2017) studierte Klassische Altertumswissenschaft. Er ist der Schöpfer der vierzehnteiligen Krimireihe um Inspector Morse. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem CWA Diamond Dagger und dem Order of the British Empire für Verdienste um die Literatur ausgezeichnet.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Colin Dexter

Der Weg durch Wytham Woods

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Karin Polz

Ein Fall für Inspector Morse 10

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die englische Originalausgabe erschien 1992 bei Macmillan, London.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1992 unter dem Titel Finstere Gründe im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek.

Für die vorliegende Ausgabe hat Eva Berié die deutsche Übersetzung nach dem Original überarbeitet.

Originaltitel: The Way Through The Woods

© by Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International 1992

Übernahme der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Reinbek

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: John Glover (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape und Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31033-9

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Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 03.06.2022, 13:59h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DER WEG DURCH WYTHAM WOODS

Prolog1 – Immerwährender Urlaub ist eine gute Definition von Hölle2 – 1804 ging es Mrs Austen so gut …3 – Ist Ihnen aufgefallen, dass das Leben, das echte …4 – Der Morgen ist weiser als der Abend5 – Auszug aus einem Tagebuch vom 26. Juni 19926 – … und so durchs Leben7 – Ich bin ein leidenschaftlicher Zeitungsleser8 – Auszug aus einem Tagebuch vom 2. Juli 19929 – Und ich frage mich, wie sie zusammenkommen konnten10 – Mrs Kidgerbury war die älteste Bewohnerin von Kentish …11 – Nec scit qua sit iter12 – Beseufze eine erbärmliche Geschichte13 – Wer liest und nicht klüger wird, argwöhnt selten …14 – Nur der Förster sieht15 – Im kleinsten Räderwerk unseres Denkens können eine Handvoll …16 – Zwischen 1871 und 1908 veröffentlichte er zwanzig Bände …17 – Auszug aus einem Tagebuch vom Freitag, dem 10 …18 – »Seltsamen Zufall« nennt, durch welchen Namen19 – Ich habe die Dinge lieber angedeutet als weitschweifig …20 – Als ich mich beklagte, dass ich an einem …21 – Nur die erste Flasche ist teuer22 – In einem Definitionen- und Buchstaben-Rätsel besteht jeder Hinweis …23 – Bei anderer Gelegenheit dachte er darüber nach …24 – Es wird sorgfältig darauf geachtet werden, dass der …25 – Wo das Aas ist, da sammeln sich die …26 – Wissenschaft ist Spektralanalyse; Kunst ist Photosynthese27 – Foxeys Maxime hieß (ich spreche von unserm ehrwürdigen …28 – Sei es noch so bescheiden – es gibt …29 – Jedes Dach ist dem Auge angenehm, bis es …30 – Für einen Mann ist sein Bett ein Ruheplatz …31 – Der Hintergrund enthüllt das wahre Wesen eines Menschen …32 – Und Apollo vertraute Sarpedon zur Führung den beiden …33 – Was ist ein Komitee? Eine Gruppe von Unwilligen …34 – Der Neuzugezogene in Nord-Oxford wird wahrscheinlich feststellen …35 – Geschäfte zu machen, ohne zu werben, ist …36 – Neun Zehntel des Reizes der Pornografie sind den …37 – Lebend begraben zu werden ist fraglos der schrecklichste …38 – Es macht die Menschen stärker, wenn sie erkennen …39 – In einer Welt, in der Pflicht und Selbstdisziplin …40 – Dann lernte der kleine Hiawatha41 – Nun, die Welt ist voll von Makkern …42 – In geringem Grade machten diese griechischen Philosophen Gebrauch …43 – Es sind nicht die kriminellen Dinge, die am …44 – Es mag Eindrücke geben, die mit Bindegliedern ausgestattet …45 – Seine Alkoholsucht veranlasste mich eine Zeit lang …46 – Ein Dummkopf sieht nicht denselben Baum wie ein …47 – Erleichternd manche andre schwere Last48 – Spieler, Sir! Ich sehe in ihnen nichts Besseres …49 – Eine Vereinigung von Männern, die nicht miteinander streiten …50 – Es gibt nur ein wahrhaft ernst zu nehmendes …51 – Wer unten ist, braucht keinen Fall zu fürchten …52 – Es kommt alles, wenn man nur wartet53 – Als wir den Torweg an der Einfahrt passierten …54 – Michael Stich (Deutschland) schlug Boris Becker (Deutschland) 6:4 …55 – THANATOPHOBIE, die: Krankhafte Angst vor dem Tode oder …56 – Der West glimmt noch von schwachen Tagesstreifen57 – Falstaff: Wir haben die Glocken um Mitternacht spielen …58 – Wer Fragen stellt, kann den Antworten nicht aus …59 – Aus diesem Grund hängen Mütter mehr an ihren …60 – Musik und Frauen muss ich einfach nachgeben …61 – Eine angemessene Wahrscheinlichkeit ist die einzige Gewissheit62 – Der große Reiz einer Ehe besteht darin …63 – Alles, was offensteht64 – Ihre Lippen öffneten sich häufig in einem Wortgemurmel …65 – Was für seltsame Streiche das Gedächtnis uns spielt …66 – Wie wenn die in der tiefsten Hölle aus …67 – Scire volunt secreta domus, atque inde timeri68 – Das Licht der Lichter69 – Ebenso wie jeder Mensch seine Eigenarten hat …EpilogZitatnachweis

Mehr über dieses Buch

Über Colin Dexter

Colin Dexter: »Ich liebe es, von einem Krimi an der Nase herumgeführt zu werden.«

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Für Brian Bedwell

Der Autor dankt den zuständigen Stellen von Wytham Woods und von Blenheim Park für ihre Hilfe und die so bereitwillig erteilten Auskünfte, ebenso wie Detective Inspector John Hayward von der Thames Valley Police und Simon Jenkins, Redakteur der Times.

Wetter und Regen haben ihn aufgelöst,Und jetzt würde man nicht mehr sehn,Dass einst ein Weg führte durch den Wald,Bevor sie die Bäume pflanzten.Er ist verborgen unter Dickicht und Heide,Wo die zarten Anemonen tanzten.Nur der Förster sieht,Dass, wo das Gurren der Tauben halltUnd der Dachs durchs Unterholz zieht,Einst ein Weg führte durch den Wald.

Rudyard Kipling, The Way Through the Woods

Prolog

Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden.

Jesaia, Kap. 1, Vers 18

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus

Ich muss mit Ihnen sprechen.«

»Sprich, meine Tochter.«

»Ich bin nicht oft in Ihre Kirche gekommen.«

»Es ist nicht meine Kirche – es ist Gottes Kirche. Wir sind alle Kinder Gottes.«

»Ich bin gekommen, um eine schwere Sünde zu beichten.«

»Es ist richtig, dass alle Sünden gebeichtet werden sollten.«

»Können alle Sünden vergeben werden?«

»Wenn wir, sündige Sterbliche, die wir sind, in unseren Herzen feststellen, dass wir einander vergeben können – denk nur an unseren unendlich barmherzigen Vater, der jede unserer Schwächen versteht, der uns alle viel besser kennt, als wir selbst uns kennen.«

»Ich glaube nicht an Gott.«

»Und du betrachtest das als besonders wichtig?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Wäre es nicht von weitaus größerer Wichtigkeit, wenn Gott nicht an dich glaubte?«

»Sie sprechen wie ein Jesuit.«

»Vergib mir.«

»Es sind nicht Sie, ich bin es, die Vergebung sucht.«

»Erinnerst du dich an den Pilger, als er endlich Gott seine Sünden beichtete? Wie das Gewicht seiner schweren Bürde auf der Stelle von seinen Schultern gehoben wurde – wie der Schmerz, der sich lindert, wenn eine Eiterbeule aufgestochen wird?«

»Sie hören sich an, als hätten Sie das alles schon öfter gesagt.«

»Eben dieselben Worte habe ich schon zu anderen gesagt, ja.«

»Zu anderen?«

»Ich kann nicht über sie sprechen. Was auch immer Männer und Frauen mir beichten mögen, sie beichten – durch mich – Gott.«

»Sie werden dann eigentlich gar nicht gebraucht – ist es das, was Sie meinen?«

»Ich bin ein Diener Gottes. Manchmal ist es mir vergönnt, jenen zu helfen, die ihre Sünden aufrichtig bereuen.«

»Was ist mit jenen, die das nicht tun?«

»Ich bete darum, dass Gott ihre Herzen bewegt.«

»Wird Gott ihnen vergeben – was sie auch getan haben? Glauben Sie das, Hochwürden?«

»Ja, das tue ich.«

»Die Sünden aus den Konzentrationslagern …«

»An welche Szenen denkst du, meine Tochter?«

»Die ›Sünden‹, Hochwürden.«

»Noch einmal, vergib mir. Meine Ohren lassen nach – doch nicht mein Herz! Mein eigener Vater wurde 1943 in einem japanischen Lager zu Tode gefoltert. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Ich weiß ganz genau, wie schwer es ist zu vergeben. Ich habe das nur sehr wenigen erzählt.«

»Haben Sie den Folterern Ihres Vaters vergeben?«

»Gott hat ihnen vergeben, wenn sie jemals seine Vergebung gesucht haben.«

»Vielleicht ist es leichter, Gräueltaten zu vergeben, die in Kriegszeiten begangen wurden.«

»Es gibt keine Waagschale für besser oder schlechter, ob in Friedenszeiten oder in Kriegszeiten. Die Gesetze Gottes sind die, die Er schuf; sie sind so unerschütterlich und standhaft wie die Fixsterne am Himmel – unwandelbar bis in alle Ewigkeit. Sollte ein Mann sich kopfüber vom Tempel stürzen, so bricht er selbst das Gesetz Gottes, aber er wird nie das allumfassende Gesetz brechen, das Gott einst erlassen hat.«

»Sie sind ein Jesuit.«

»Ich bin auch ein Mensch. Und alle Menschen haben gesündigt und dem Ruhm Gottes nicht entsprochen.«

»Hochwürden …«

»Sprich weiter, meine Tochter.«

»Vielleicht werden Sie Bericht erstatten über das, was ich beichte …«

»So etwas könnte ein Priester niemals tun.«

»Aber wenn ich wollte, dass Sie Bericht erstatten?«

»Mein heiliges Amt ist es, im Namen unseres Herrn und Erlösers, Jesus Christus, all jene von Sünden loszusprechen, die aufrichtige Reue zeigen. Es ist nicht mein Amt, die Wege der weltlichen Mächte zu verfolgen.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Das ist mir klar.«

»Was wäre, wenn ich wollte, dass Sie der Polizei Bericht erstatten über mich?«

»Ich wäre mir meiner Pflicht nicht sicher. Ich würde den Rat meines Bischofs suchen.«

»Man hat Sie noch nie zuvor um so etwas gebeten?«

»Nie.«

»Was wäre, wenn ich meine Sünde wiederholte?«

»Enthülle deine Gedanken. Enthülle mir deine sündigen Gedanken.«

»Das kann ich nicht.«

»Würdest du mir alles sagen, wenn ich die Gründe für deine Weigerung erraten könnte?«

»Das könnten Sie nie.«

»Vielleicht habe ich es schon getan.«

»Dann wissen Sie, wer ich bin?«

»O ja, meine Tochter. Ich glaube, ich habe dich schon vor langer Zeit kennengelernt.«

1

Immerwährender Urlaub ist eine gute Definition von Hölle.

George Bernard Shaw

Morse nutzte seinen Urlaubsanspruch nie aus, fand er. Und das erklärte er Chief Superintendent Strange auch an jenem Morgen Anfang Juni.

»Sie müssen aber auch die Zeit berücksichtigen, die Sie regelmäßig in Pubs verbringen, Morse!«

»Hin und wieder vielleicht ein paar Stunden, das gebe ich zu. Es wäre gar nicht so schwer auszurechnen, wie viel …«

»›Quantifizieren‹ ist das Wort, das Sie suchen.«

»Ich suche nie so scheußliche Wörter wie ›quantifizieren‹.«

»Ein nützliches Wort, Morse. Es bedeutet … nun, es bedeutet, wie viel …«

»Sage ich doch gerade, oder?«

»Ich weiß nicht, warum ich mit Ihnen streite!«

Das wusste Morse auch nicht.

Schon seit Jahren war der Urlaub für Chief Inspector Morse vom Thames Valley Criminal Investigation Department eine Zeit ständigen und praktisch unerträglichen Stresses. Und wie ein Urlaub für Männer mit Ehefrauen und womöglich auch noch Kindern erst aussehen musste, vermochte Morse sich trotz all seiner ausschweifenden Einbildungskraft kaum vorzustellen. Aber in diesem Jahr, dem Jahr des Herrn 1992, sollte, so schwor er sich, alles anders aussehen: Er würde Urlaub außerhalb Oxfords machen. Doch nicht im Ausland. Es zog ihn nicht nach Xanadu oder Isfahan; tatsächlich ging er nur sehr selten ins Ausland – wenn auch aufgezeichnet werden sollte, dass mehrere seiner Kollegen diese insulare Engstirnigkeit in erster Linie auf Morse’ zaghafte Angst vor Flugzeugen zurückführten. Doch zufällig war es gerade einer dieser Kollegen gewesen, der als Erster die Dinge in Gang gesetzt hatte.

»Lime, Kumpel! Lime ist großartig!«

Lime?

Erst einige Monate später, als er die Anzeige im Observer las, registrierte Morse das Wort endlich:

BAYHOTEL

Lyme Regis

Sicher eine der landschaftlich schönsten Lagen im Westen Englands. Wir sind das einzige Hotel an der Strandpromenade, und wir bieten einen Rundblick von Portland Bill im Osten bis zum historischen Cobb Harbour im Westen. Das Hotel garantiert äußerste Bequemlichkeit und eine erlesene Küche in einer freundlich entspannten Atmosphäre. Bequeme Spaziergänge führen zu Einkaufsmöglichkeiten und zum Hafen, und der Zugang zum direkt vor dem Hotel gelegenen Strand ist frei von Fahrzeugverkehr.

Für ausführliche Informationen schreiben Sie bitte an das Bay Hotel, Lyme Regis, Dorset, oder rufen Sie einfach an unter der Nummer (0297) 442059.

»Es wird heikel«, begann Strange wieder, »wenn ein älterer Mann länger als vierzehn Tage Urlaub macht. Das ist Ihnen natürlich klar.«

»Ich nehme nicht mehr, als mir zusteht.«

»An welchen Ort denken Sie?«

»Lyme Regis.«

»Ah. Herrliches Devon.«

»Dorset, Sir.«

»Ist doch nebenan, oder?«

»Persuasion – dort wurden einige der Szenen von Persuasion gedreht.«

»Ah.« Stranges Gesicht war ausdruckslos.

»Und von The French Lieutenant’s Woman.«

»Ah. Ich weiß schon. Das hab ich mit meiner Frau im Kino gesehen … Oder war es in der Glotze?«

»Nun, das hätten wir«, sagte Morse lahm.

Für eine Weile herrschte Schweigen. Dann schüttelte Strange den Kopf.

»Sie werden es nicht aushalten, so lange fort zu sein. Sandburgen bauen? Mehr als vierzehn Tage lang?«

»Ist auch Coleridge-Land, Sir. Ich werde wahrscheinlich ein bisschen rumfahren – mir Ottery St. Mary mal ansehen … einige der alten Plätze.«

Ein leises Glucksen ertönte irgendwo tief in Stranges Bauch. »Er ist seit Ewigkeiten tot, Mann – eher Max’ Bier als Ihres.«

Morse lächelte matt. »Aber Sie hätten nichts dagegen, wenn ich mir seinen Geburtsort ansehe?«

»Ist nicht mehr da. Das Pfarrhaus ist nicht mehr da. Vor Jahren planiert.«

»Wirklich?«

Strange spitzte den Mund und nickte. »Sie halten mich für einen ungebildeten Burschen, nicht wahr, Morse? Aber ich sag Ihnen etwas. Als ich zur Schule ging, gab es all diesen Unsinn mit dem Kind im Mittelpunkt nicht. Damals mussten wir Sachen auswendig lernen – Sachen wie Ihren verdammten Alten Seemann.«

»Als ich zur Schule ging auch, Sir.« Es ärgerte Morse, dass Strange, nur ein Jahr älter als er selbst, ihn immer behandelte, als käme er aus einer viel jüngeren Generation.

Aber Strange war nicht zu stoppen.

»Das vergisst man nicht, Morse. Es bleibt an einem hängen.« Er warf einen kurzen, aber konzentrierten Blick in die Rumpelkammer seiner Erinnerungen, fand, was er suchte, und zitierte mit großer Ernsthaftigkeit eine Strophe, die er vor langer Zeit gelernt hatte:

»In einem Himmel kupferfarben

Stand blutrot und ungewohnt

Die Sonne mittags über dem Mast

Nicht verdammt größer als der Mond«

»Sehr gut, Sir«, sagte Morse, nicht sicher, ob das Zitat absichtlich so scheußlich entstellt war oder aus Versehen, jedenfalls sah er, dass der Chief Superintendent ihn listig beobachtete.

»Nein. Sie werden es nicht durchhalten. Innerhalb einer Woche sind Sie wieder in Oxford. Sie werden sehen!«

»Und wenn schon. Ich habe hier eine Menge zu tun.«

»Ach ja?«

»Als Erstes wäre da das Abflussrohr in meiner Wohnung. Es leckt.«

Strange zog die Augenbrauen hoch. »Und Sie wollen mir erzählen, dass Sie das in Ordnung bringen werden?«

»Ich werde es flicken«, sagte Morse mehrdeutig. »Ich hab schon ein Stück Rohr besorgt, aber der äh … Durchmesser des Querschnitts ist … etwas zu eng.«

»Es ist zu klein, meinen Sie? Ist es das, was Sie sagen wollen?«

Morse nickte etwas verlegen.

Es stand eins zu eins.

2

1804 ging es Mrs Austen so gut, dass sie mit ihrem Ehemann und Jane Ferien in Lyme Regis machen konnte. Hier klingt Janes Bericht wieder fröhlich. Sie erzählt von der Unterkunft und den Dienstboten, von neuen Bekanntschaften und Spaziergängen auf dem Cobb, vom erfrischenden Baden im Meer und von einem Ball im Gesellschaftssaal von Lyme Regis.

David Cecil, A Portrait of Jane Austen

Wenn ich das sagen darf, Sir, eigentlich haben Sie wirklich Glück.« Der Besitzer des einzigen Hotels an der Strandpromenade schob Morse das Gästebuch zu, und Morse füllte rasch die Spalten Datum – Name – Anschrift – Kfz-Kennzeichen – Nationalität aus. Während er das tat, registrierte er, eher aus langer Gewohnheit denn aus Interesse oder Neugier, einige der Angaben über die sechs oder sieben Personen, ledig oder verheiratet, die sich kurz vor ihm eingetragen hatten.

Unter Morse’ Mitschülern in der sechsten Klasse hatte es einen Jungen gegeben, der ein buchstäblich fotografisches Gedächtnis besaß – ein Gedächtnis, das Morse sehr bewundert hatte. Nicht, dass sein eigenes Gedächtnis etwa schlecht gewesen wäre; kurzfristig funktionierte es sogar hervorragend. Und das ist der Grund, warum ein einziges kleines Detail in den Eintragungen sehr bald an die Gestade seines Bewusstseins treiben würde …

»Um die Wahrheit zu sagen, Sir, Sie haben großes Glück. Die gute Dame, die absagen musste – eine unserer Stammgäste –, hatte das Zimmer reserviert, sobald sie erfuhr, dass bei uns die Saison begonnen hatte, und sie legte besonderen Wert auf ein Zimmer – sie legte immer Wert darauf –, mit Blick auf die Bucht, mit eigenem Bad und WC natürlich.«

Morse nickte anerkennend zu dem hervorragenden Geschmack der unbekannten Dame. »Für wie lange hatte sie gebucht?«

»Drei Nächte: Freitag, Samstag, Sonntag.«

Morse nickte wieder. »Ich werde auch drei Nächte bleiben – wenn das möglich ist«, entschied er und fragte sich, was die arme alte Lady davon abhielt, wieder einmal den Blick auf die Wellen und die exklusive Benutzung eines WCs zu genießen. Die Blase, höchstwahrscheinlich.

»Genießen Sie Ihren Aufenthalt bei uns!« Der Hotelbesitzer händigte Morse drei Schlüssel an einem Ring aus: einen für Zimmer 27, einen (wie er erfuhr) für die zwei Minuten von der Strandpromenade entfernte Garage des Hotels und einen für den Haupteingang, für den Fall, dass Morse erst nach Mitternacht zurückkehren sollte. »Wenn Sie Ihr Gepäck herausnehmen würden, sorge ich dafür, dass es auf Ihr Zimmer gebracht wird, während Sie das Auto in die Garage fahren. Die Polizei gestattet unseren Gästen natürlich, vorübergehend hier zu parken, aber …«

Morse sah hinunter auf den Straßenplan, der ihm überreicht wurde, und wandte sich zum Gehen. »Vielen Dank. Und hoffen wir, dass die Gute es etwas später schafft, hierherzukommen«, fügte er hinzu, weil er es für angebracht hielt, maßvoll sein Bedauern auszusprechen.

»Ich fürchte, das wird nicht gehen.«

»Nein?«

»Sie ist tot.«

»Oje!«

»Sehr traurige Geschichte.«

»Na ja, vielleicht hatte sie ein langes, ausgefülltes Leben?«

»Ich würde einundvierzig nicht als besonders lang bezeichnen. Sie?«

»Nein.«

»Hodgkin’sche Krankheit. Sie wissen ja, was das bedeutet.«

»Ja«, log der Chief Inspector, während er sich ernüchtert rückwärts zum Ausgang bewegte. »Ich hole nur schnell mein Gepäck. Wir wollen schließlich keinen Ärger mit der Polizei. Komische Typen, manchmal.«

»Vielleicht dort, wo Sie wohnen. Bei uns verhalten sie sich sehr anständig.«

»Ich wollte nicht …«

»Werden Sie bei uns zu Abend essen, Sir?«

»Ja. Ja, bitte. Das würde ich sehr gerne.«

Wenige Minuten nachdem Morse den kastanienbraunen Jaguar langsam durch die Lower Road gesteuert hatte, betrat eine Frau (die sicher nicht älter aussah als jene Frau, die früher im Jahr geschrieben hatte, um sich Zimmer 27 reservieren zu lassen) das Bay Hotel, stand ein oder zwei Minuten an der Rezeption und drückte dann auf den Bitte-Läuten-Knopf.

Sie war gerade von einem Spaziergang über den westlichen Teil der Strandpromenade und hinaus auf den Cobb zurückgekehrt, jenem großen Damm aus Granit, der einen schützenden Arm um den Hafen legt und das stetige Tosen des Meeres mildert. Es war kein angenehmer Spaziergang gewesen. Spät am Nachmittag war von Süden eine Brise aufgekommen, der Himmel hatte sich bewölkt, und mehrere Leute, die auf der Promenade entlanggingen, hatten sich zum Schutz gegen den gelegentlichen Sprühregen in ihre Regenhäute gezwängt.

»Keine Anrufe für mich?«, fragte sie, als der Hotelbesitzer wieder auftauchte.

»Nein, Mrs Hardinge. Es war auch sonst nichts.«

»Okay.« Aber sie sagte es so, als wäre es nicht okay, und der Besitzer fragte sich, ob der Anruf, den er früher am Nachmittag entgegengenommen hatte, vielleicht wichtiger gewesen war, als er vermutet hatte. Aber wahrscheinlich doch nicht, denn plötzlich schien sie sich zu entspannen, und sie lächelte ihn an – ein sehr attraktives Lächeln.

Das Gitter, das die Getränke hinter der Rezeption bewacht hatte, war verschwunden, es saßen schon zwei Paare an der Bar und tranken mit Genuss ihren trockenen Sherry, und bei ihnen saß eine ältliche Jungfer, die viel Wirbel um einen Dackel machte, einen jener »kleinen Hunde, die vom Management geduldet werden; £ 2.50 pro Tag ohne Futter«.

»Ich denke, ich nehme einen doppelten Malt.«

»Mit Soda?«

»Nur normales Wasser, bitte.«

»Sagen Sie Halt.«

»Halt!«

»Auf Ihre Zimmerrechnung, Mrs Hardinge?«

»Ja, bitte. Zimmer 14.«

Sie setzte sich auf das grüne Lederpolster der Fensternische direkt neben dem Haupteingang. Der Whisky schmeckte gut, und sie sagte sich, wie schwerwiegend auch die Argumente für eine totale Abstinenz sein mochten – nur wenige könnten bestreiten, dass nach dem Genuss von Alkohol die Welt stets besser und freundlicher erschien.

Die Times lag auf dem kleinen Tisch neben ihr, und sie nahm sie auf, überflog die Schlagzeilen und wandte sich der Rückseite zu. Sie faltete die Zeitung horizontal, dann vertikal, und dann studierte sie »1 Waagerecht«.

Es war ein ziemlich leichtes Rätsel, und etwa zwanzig Minuten später hatte sie mit ihrem nicht unbeträchtlichen Geschick im Lösen von Kreuzworträtseln alle Lösungen bis auf zwei gefunden; eine davon war ein quälend halb vertrautes Zitat von Samuel Taylor Coleridge, über dem sie noch immer brütete, als die Dame des Hauses mit der Speisekarte zu ihr trat und fragte, ob sie im Hause zu Abend essen werde.

Nachdem sie Suppe aus Meeresfrüchten mit frischen Gartenkräutern und Perlhuhn in Lauch- und Champignonsauce bestellt hatte, saß sie einen Augenblick mit gesenktem Blick da und rauchte eine Kingsize-Dunhill-Zigarette. Dann ging sie, wie einer plötzlichen Eingebung folgend, in die Telefonzelle mit den gläsernen Wänden neben dem Eingang, wählte eine Nummer, und bald bewegten ihre Lippen sich wie in einer stummen Scharade, wie der Mund eines aufgeregten Goldfisches, während sie ein 20-Pence-Stück nach dem anderen in den Schlitz warf. Aber niemand konnte hören, was sie sagte.

3

Ist Ihnen aufgefallen, dass das Leben, das echte, wirkliche Leben, mit Morden und Katastrophen und sagenhaften Erbschaften, sich beinahe ausschließlich in den Zeitungen abspielt?

Jean Anouilh, Die Probe oder Die bestrafte Liebe

Morse hatte keine Schwierigkeiten, dem Straßenplan zu folgen. Er verließ den kleinen Parkplatz am östlichen Ende der Strandpromenade, bog nach rechts ab, dann, kurz vor der Ampel, nach links, und da sah er auch schon das große, schuppenähnliche Gebäude an der linken Seite der engen Einbahnstraße Coombe Street: »Privatgarage für die Gäste des Bay Hotel«. Drinnen befanden sich, wie Morse sah, nachdem er die beiden hohen Holztore aufgestoßen hatte, achtzehn Parkplätze, durch diagonale weiße Linien markiert, neun an jeder Seite des DURCHFAHRT-FREIHALTEN-Gangs in der Mitte. Weil seine Bandscheiben ihm Probleme machten, war er in der letzten Zeit nicht mehr besonders geschickt bei Dingen wie rückwärts in eine schräge Parklücke einparken, und da die Garage fast voll war, brauchte er länger, als er hätte brauchen sollen, um den Jaguar in gleichen Abstand zu einem Mercedes mit einer J-Zulassung und einem Vauxhall mit einer Y-Zulassung zu bringen. Aus langer Gewohnheit, wie schon vorher, überflog er die Nummernschilder der geparkten Autos, aber als er vor etwa einer Viertelstunde das Gästebuch durchblätterte, hatte wenigstens etwas bei ihm geklingelt.

Aber jetzt? Nichts. Überhaupt nichts.

Es gab keinen dringenden Grund für Morse, die Annehmlichkeiten von Zimmer 27 sofort zu erkunden, und sein Blick fiel auf die Bar, als er das Hotel betrat. Er bestellte sich also ein Best Bitter und setzte sich in die Fensternische, direkt neben dem Eingang, und beinahe genau auf den Abschnitt grünen Leders, der zehn Minuten früher von einem der beiden für Zimmer 14 eingetragenen Gäste frei gemacht worden war.

Er hätte doch sicherlich Grund, einigermaßen zufrieden mit dem Leben zu sein? Aber er war es nicht. Nicht so richtig. Im Augenblick sehnte er sich nach den beiden Dingen, die für den Rest seines Urlaubs aufzugeben er sich noch an diesem Morgen feierlich geschworen hatte: Zigaretten und Zeitungen. Das Rauchen hatte er in der Vergangenheit schon so oft aufgegeben, dass ihm ein solcher Kraftakt verhältnismäßig einfach schien; nie zuvor jedoch hatte er beschlossen, dass es ein echter Gewinn für seinen Seelenfrieden sein könnte, wenn er eine ganze Woche oder so völlig frei von der Katastrophendiät wäre, die die guten Tageszeitungen täglich servierten. Aber vielleicht war das auch eine dumme Idee …

Seine rechte Hand griff instinktiv nach der beruhigenden rechteckigen Schachtel in seiner Jackentasche, als die Dame des Hauses zu ihm trat, ihn willkommen hieß und ihm die Speisekarte gab. Es war vielleicht etwas mehr als reiner Zufall, dass Morse keine Sekunde zögerte, die Suppe aus Meeresfrüchten und das Perlhuhn zu wählen. Aber vielleicht auch nicht – und es ist eigentlich ziemlich unwichtig.

»Etwas zu trinken dazu, Sir?« Sie war eine angenehm unbeschwert wirkende Frau, Ende vierzig, und Morse warf einen anerkennenden Blick auf das Dekolleté ihres schwarzen Kleides, als sie sich mit der Weinkarte vorbeugte.

»Was empfehlen Sie?«

»Eine halbe Flasche Médoc? Hervorragender Jahrgang! Etwas Besseres werden Sie kaum finden.«

»Eine ganze Flasche wäre vielleicht besser«, schlug Morse vor.

»Eine ganze Flasche also, Sir!« Das Abkommen wurde von beiden mit einem Lächeln unterzeichnet.

»Könnten Sie die Flasche gleich öffnen und auf dem Tisch stehen lassen?«

»So machen wir es immer.«

»Ich, äh … Das wusste ich nicht.«

»Er atmet gern ein wenig, nicht wahr?«

»Wie wir alle«, murmelte Morse, aber zu sich selbst, denn sie war schon fort.

Ihm wurde klar, dass er Hunger hatte. Er hatte nicht oft Hunger; gewöhnlich nahm er die meisten Kalorien in flüssiger Form zu sich; gewöhnlich schaffte er, wenn er zu einem Festessen im College eingeladen war, nur zwei der vorgesehenen Gänge, gewöhnlich tauschte er eine Vorspeise oder ein Dessert bereitwillig gegen eine Extraration Alkohol ein. Aber an diesem Abend hatte er Hunger, ganz entschieden, und er war froh, dass ihm, unmittelbar nachdem er sein zweites Bier geleert hatte (noch immer keine Zigarette!) mitgeteilt wurde, sein Essen sei fertig. Er hatte schon einige Male durch die Glastüren links von ihm in den Speisesaal geschaut, wo viele jetzt an den Tischen saßen, über die weißen Tischtücher mit den dunkelbraunen Platzsets gebeugt, unter dem gedämpften Licht der Kronleuchter aus Kristallglas. Es sah einladend aus, fast romantisch.

Als er für einen Augenblick an der Tür zum Speisesaal stehen blieb, war die Dame des Hauses schnell neben ihm und verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, er werde nichts dagegen haben, den Tisch mit jemand anderem zu teilen, nur für diesen Abend? Es seien ziemlich viele Gäste von außerhalb zum Dinner gekommen …

Morse bat die Dame, sich deswegen keine grauen Haare wachsen zu lassen, und folgte ihr zu einem Tisch an der anderen Seite des Raumes, wo ein Gedeck gegenüber einer Frau aufgelegt war, die, das Gesicht halb zur Seite gewandt, die Times las, einen fast geleerten Teller mit Suppe aus Meeresfrüchten vor sich. Sie senkte die Zeitung, lächelte etwas geziert, als kostete es sie einige Mühe, die angemalten Lippen zu einem mechanischen Gruß zu verziehen, und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf etwas offensichtlich Interessanteres, als ihr Tischnachbar es war.

Im Speisesaal waren fast alle Tische besetzt, und es war Morse bald klar, dass er als Allerletzter bedient werden würde. Der Servierwagen mit den Desserts wurde herumgeschoben, und er hörte, wie das ältere Ehepaar rechts von ihm Pfirsiche in Karamellsauce mit Nüssen und Sahne bestellte, aber er spürte – ungewöhnlich für ihn! – kein Aufwallen von Ungeduld. Außerdem stand die Suppe bald vor ihm, der Wein hatte schon an seinem Platz gestanden, und rund um ihn herrschten Wohlwollen und Freude, ein leiser, stetiger Fluss von Unterhaltung und gelegentlich ein gedämpftes Lachen. Die Zeitung ihm gegenüber jedoch verharrte, im Augenblick jedenfalls, standhaft an ihrem Platz.

Während des Hauptgangs – er wurde bald nach ihr bedient – versuchte er es mit dem ersten, nicht eben originellen Zug. »Schon lange hier?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht. Genau gesagt, gerade angekommen.«

»Ich auch.« (Sie konnte sprechen!)

»Ich bin nur für ein paar Tage hier …«

»Ich auch. Ich fahre am Sonntag.«

Es war vermutlich die längste Mitteilung, die er von ihr bekommen würde, denn er sah, dass ihre Augen sich wieder nach unten auf das Perlhuhn gerichtet hatten. Und bei dem Perlhuhn blieben.

Du kannst mich mal!, dachte Morse. Doch trotzdem begann sein Interesse zu erwachen. Ihre unteren Zähne – vielleicht etwas zu lang? – standen dicht nebeneinander und waren leicht nikotinverfärbt, doch ihr Zahnfleisch war frisch und rosa, ihr voller Mund zweifellos attraktiv. Aber ihm fiel auch etwas anderes auf: Ihre gefleckten, schildpattfarbenen Augen schienen, obwohl mit Lidschatten getarnt, von einer dauerhafteren Traurigkeit verdunkelt, und er sah ein kompliziertes kleines Gewirr von roten Linien in den äußeren Winkeln beider Augen. Sie könnte natürlich eine leichte Erkältung haben.

Oder sie könnte früher am Tag ein wenig geweint haben …

Als der Wagen mit den Desserts kam, war Morse froh, dass er erst die Hälfte vom Médoc getrunken hatte, denn etwas Käse würde gut dazu passen (»Cheddar … Gouda … Stilton …«, bot die Serviererin an). Er bestellte Stilton, wie auch die Frau gegenüber es getan hatte. Die Zeit für den zweiten Zug schien gekommen. Er versuchte es mit: »Wir scheinen fast den gleichen Geschmack zu haben.«

»Anscheinend genau den gleichen.«

»Mit Ausnahme des Weins.«

»Hm?«

»Würden Sie, äh … gern ein Glas Wein trinken? Er ist recht gut. Er passt zum Stilton.«

Diesmal schüttelte sie nur den Kopf und verschmähte es, eine verbale Erläuterung zu geben.

Du kannst mich mal!, dachte Morse wieder, als sie erneut die Times aufnahm, sie in voller Größe ausbreitete und sich selbst völlig versteckte – zusammen mit ihren Problemen.

Die Finger, die die Zeitung hielten, stellte Morse fest, waren sehr schlank und geschmeidig, wie die einer professionellen Geigerin, mit nichtlackierten, makellos manikürten Nägeln, deren Halbmonde sich weiß über der gepflegten Nagelhaut wölbten. Auf dem Mittelfinger ihrer linken Hand trug sie einen schmalen goldenen Ehering, darüber einen Verlobungsring mit vier großen Diamanten in einer ungewöhnlichen Fassung, die in jedem heller beleuchteten Raum vielleicht gefunkelt hätten.

An der linken Seite der aufgeschlagenen Zeitung hielt ihre rechte Hand das Blatt genau über dem Kreuzworträtsel, und er stellte fest, dass nur noch zwei Lösungen gefunden werden mussten. Vor ein paar Jahren hätten seine Augen wenig Mühe gehabt, doch jetzt konnte er, obwohl er einige Male heftig blinzelte, die schwierige Formulierung des ersten Hinweises nicht ganz entziffern; es schien sich um ein Zitat zu handeln. Mit der anderen Hälfte der Zeitung hatte er mehr Glück, da sie ihm näher war – besonders mit dem Artikel, dem ganz ungewöhnlichen Artikel, der plötzlich seine Aufmerksamkeit erregte, beanspruchte und fesselte. Unten auf der Seite stand die Schlagzeile »Polizei reicht unheimliche Verse an Times-Mann weiter«, und Morse hatte fast die ganze erste Spalte entziffert:

Der Literaturkritiker der Times, Mr Howard Phillipson, ist von der Polizei in Oxfordshire gebeten worden, bei der Lösung eines komplizierten Rätsels zu helfen. Von der Lösung verspricht man sich einen Hinweis auf die Stelle, wo vielleicht die Leiche einer jungen Frau …

als die Serviererin an den Tisch zurückkehrte.

»Kaffee, Madame?«

»Ja, bitte.«

»In der Bar – oder in der Lounge?«

»In der Bar, denke ich.«

»Sie auch, Sir?«

»Nein. Nein danke.«

Bevor sie ging, goss die Serviererin den Rest vom Médoc in Morse’ Glas, und an der anderen Seite des Tisches wurde die Zeitung zusammengefaltet. Das Mahl war sozusagen beendet. Merkwürdigerweise jedoch schien keiner der beiden es besonders eilig zu haben, den Tisch zu verlassen, und für kurze Zeit saßen sie schweigend zusammen, das vorletzte Paar im Speisesaal: Er sehnte sich nach einer Zigarette und hätte brennend gern gelesen, was noch in dem offenbar hochinteressanten Artikel stand; außerdem fragte er sich, ob er einen letzten Überfall auf feindliches Gebiet riskieren sollte – denn er war nach einigem Nachdenken zu der Überzeugung gekommen, dass sie wirklich sehr attraktiv aussah.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«, fragte er zögernd und war schon im Begriff, nach der verführerischen Schachtel zu greifen.

»Mir macht es nichts aus.« Sie stand abrupt auf und nahm Handtasche und Zeitung an sich. »Aber ich glaube, das Management wird nicht ganz so entgegenkommend sein.« Sie sprach ohne Feindseligkeit – noch schlimmer, ohne Interesse, so schien es – und zeigte kurz auf eine Mitteilung neben der Tür.

IM INTERESSE DER VOLKSGESUNDHEIT BITTEN WIR SIE HÖFLICH,

IN DEN SPEISERÄUMEN AUF DAS RAUCHEN ZU VERZICHTEN.

DANKE FÜR IHR VERSTÄNDNIS.

Du kannst mich mal!, dachte Morse.

Aber er hatte sich nicht sehr klug verhalten, das sah er ein. Er hätte sie nur zu bitten brauchen, ihm die Zeitung für zwei, drei Minuten zu leihen. Er konnte sie natürlich noch immer bitten. Aber das würde er nicht tun – o nein! Sie konnte ihre verdammte Zeitung seinetwegen ins Klo stopfen. Es war ihm egal. Fast jeder Zeitungsverkäufer in Lyme Regis würde ein paar unverkaufte Exemplare der Zeitungen von gestern haben, die erst im Lauf des Vormittags zusammengepackt werden und zurück an den Großhändler gehen würden. So etwas hatte er schon unzählige Male gesehen.

Sie würde in die Bar gehen, hatte sie gesagt. In Ordnung, er würde in die Lounge gehen … wo er sehr bald in einem tiefen Sessel saß, ein weiteres Bitter und einen doppelten Malt vor sich. Und nur um den Abend abzurunden, sagte er sich, würde er eine Zigarette rauchen, nur eine, na ja, höchstens zwei.

Es wurde jetzt dunkel – aber die Abendluft war sehr mild: Und während er am halb geöffneten Fenster saß, lauschte er wieder dem Knirschen der Kieselsteine, die vom zurückgehenden Wasser mitgeschleift wurden, und eine Zeile aus Dover Beach kam ihm in den Sinn.

Doch jetzt höre ich nur

sein schwermütiges langsam schwindendes Getöse.

Ein oft unterschätzter Dichter, Matthew Arnold, hatte er immer gefunden.

Mrs Hardinge trank in der Bar ihren Kaffee, nippte an einem Cointreau – und dachte, um die Wahrheit zu sagen, für einen kurzen Augenblick an die durchdringenden blauen Augen des Mannes, der ihr beim Dinner gegenübergesessen hatte.

4

Der Morgen ist weiser als der Abend.

Russisches Sprichwort

Am nächsten Morgen stand Morse um 6.45 Uhr auf, stellte seinen Wasserkocher an und machte sich aus einem der vielen Tütchen und einem Milchdöschen eine Tasse Kaffee. Er zog die Vorhänge zurück und schaute auf das ruhige Meer und ein gerade den Cobb verlassendes Fischerboot hinunter. Zum Teufel! Er hatte vorgehabt, sein Fernglas mitzunehmen.

Die Möwen schwebten und kreisten über der Strandpromenade und blieben manchmal bewegungslos an einer Stelle stehen, als hingen sie vom Himmel, bis sie abdrehten wie Kampfflugzeuge, die sich von ihrer Formation lösten, und aus Morse’ Blickfeld verschwanden.

Die Sonne war schon aufgegangen, ein großer orangefarbener Ball über den Klippen im Osten, über Charmouth – wo man, so wurde gesagt, einen Dinosaurier gefunden hatte, oder einen Flugsaurier oder so etwas, der in einem fernen, prähistorischen Zeitalter gelebt hatte, einer Zahl mit etwa zwölf Nullen. Oder waren es zwanzig?

Morse sagte sich, dass er wirklich mehr über Naturgeschichte lernen sollte, leerte seine Tasse und ging, ohne sich rasiert zu haben, hinunter ins ausgestorbene Erdgeschoss, verließ das Hotel und wandte sich auf der Strandpromenade nach links – wo seine Suche begann.

Der Zeitungshändler an der Ecke war ziemlich sicher, dass er keine Times vom Vortag hatte: Sun ja, Mirror ja, Express ja … aber nein, keine Times. Tut mir leid, Kumpel. Morse wandte sich wieder nach links und kämpfte sich die steil ansteigende Broad Street hinauf. Noch außer Atem, erkundigte er sich in dem Zeitungsladen links auf halber Höhe. Telegraph, Guardian, Independent – half das weiter? Nein? Tut mir leid, Sir. In dem Zeitungsladen genau gegenüber wurde Morse ein zweites Mal »Sir« genannt – aber eine Times gab es auch da nicht. Er ging weiter bis zum Gipfel des Hügels, wandte sich bei einem ziemlich schäbig aussehenden Kino nach links, dann wieder nach links in die Cobb Road und hinunter zum westlichen Ende der Strandpromenade – wo ein vierter Zeitungshändler auch nicht helfen konnte und den Chief Inspector wieder zum »Kumpel« degradierte.

Egal! Büchereien hoben zurückliegende Nummern aller größeren Tageszeitungen auf, und wenn er völlig verzweifelt war – was er ganz gewiss nicht werden würde –, konnte er immer noch Mrs Trübsal auf den Knien bitten, ihn einen Blick in ihre Zeitung werfen zu lassen. Wenn sie sie noch hatte … Vergiss es, Morse! Was bedeutete es schon?

Was bedeutete sie?

Morse ging jetzt munteren Schrittes über die Strandpromenade und atmete die frische Morgenluft tief ein. Zigaretten waren heute nicht drin. Keine einzige. Er war, wie ihm gerade klar wurde, eine Art Rechteck gegangen; nun, eigentlich eher ein Trapez, ein »Vierseit« mit zwei parallelen Seiten. Und zweifellos hätte er sich gesagt, es sei keine schlechte Idee, seine Geometrie etwas auf Vordermann zu bringen, wenn er nicht, etwas zweihundert Meter vor ihm, eine Gestalt entdeckt hätte. Denn dort, unter dem weißen Baldachin des lederfarbenen Hotels mit seinem gelben Zwei-Sterne-AA-Schild, stand Mrs Hardinge, Mrs Nörglerin persönlich, in einem langen schwarzen Ledermantel, und suchte etwas in einer weißen Umhängetasche. Portemonnaie vielleicht? Doch bevor sie es gefunden hatte, hob sie die rechte Hand, als ein Taxi auf der tiefer gelegenen Straße vorfuhr und am Wendeplatz eine Wendung von hundertachtzig Grad beschrieb. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Hintertür für die elegante, gepäcklose Frau, die gerade die Auffahrt hinuntergegangen war. Morse war stehen geblieben, scheinbar um die Reihen der Spielautomaten im Novelty Emporium zu besichtigen, und warf einen Blick auf seine Armbanduhr: 7.50 Uhr.

Das Erdgeschoss war noch immer wie ausgestorben, und kein köstlicher Duft nach gebratenem Speck deutete auf den Beginn der täglichen Routine im Bay Hotel hin. Morse ging an der eingetopften Riesenpalme vorbei, vorbei an der Statue eines Mädchens, das aus einem Krug ununterbrochen Wasser in den Teich zu ihren Füßen rieseln ließ, und stand schon auf der Treppe, als sein Blick auf den Rezeptionstisch rechts von ihm fiel: eine Vase mit künstlichen Blumen, eine Sammelbüchse für die Königliche Seenotrettung, und – unter einem Stapel von Broschüren und Prospekten – das Gästebuch. Er blickte sich um. Es war niemand zu sehen.

Er schaute noch einmal die Angaben durch:

3.7.1992 – Mr und Mrs C. A. Hardinge – 16 Cathedral Mews, Salisbury – H 35 LWL – Britisch – Zimmer 14.

Es war das Kennzeichen für Oxfordshire, LWL, gewesen, das ihm am Abend vorher aufgefallen war. Jetzt war es etwas anderes: das C. Aber zweifellos war es sie; er hatte beim Essen ihre Zimmernummer am Schlüsselring gesehen. Mit einem leichten Stirnrunzeln ging er die Treppe hinauf; er fragte sich, wie viele verheiratete Frauen fähig waren, die übliche Formulierung für ihren Ehestand einzutragen, ohne über die Initialen zu stolpern. Vielleicht hatte sie erst vor Kurzem geheiratet? Vielleicht war sie eine jener emanzipierten Frauen, die beschlossen, wenn nur eine Initiale erforderlich war, würde sie ihre eigene nehmen? Vielleicht … vielleicht waren sie überhaupt nicht »Mr und Mrs«, und sie war im Augenblick nicht ganz sicher gewesen, unter welchen Namen sie sich diesmal eintragen wollten?

Es war wohl Letzteres, dachte er – ein wenig traurig.

Das Frühstück (8.45 bis 9.30 Uhr) war für Morse eine einsame Angelegenheit, doch empfand er es, wie jedes Mal, als das größte einsame Vergnügen eines jeden Urlaubs. Nach einer Portion Cornflakes und einem Mixed Grill schlenderte er noch einmal am Meeresrand entlang. Er fühlte sich angenehm gesättigt und (vermutlich) so zufrieden, wie es ihm möglich war. Die Wettervorhersage war gut, und er beschloss, nach Westen zu fahren, nach Ottery St. Mary, und dann, wenn ihm der Sinn danach stand, nach Norden, hinauf nach Nether Stowey und in die Quantock Hills.

Als er nach seiner Rückkehr ins Hotel in den zweiten Stock kam, stand er fast genau vor Zimmer 14, dessen Tür halb geöffnet war. Ein Zimmermädchen in blauer Dienstkleidung kam mit einem Staubsauger heraus, und im Zimmer sah er eine weitere Angestellte damit beschäftigt, die Pulverkaffee- und Teebeutel und die kleinen Milchbehälter zu ergänzen. Er versuchte sein Glück. Er klopfte (nicht zu zaghaft) und steckte den Kopf durch die Tür.

»Ist Mrs Hardinge da?«

»Nein, Sir.« Sie sah nicht älter als achtzehn aus, und Morse fühlte sich ermutigt.

»Es geht nur darum, dass sie mir versprochen hat, die Zeitung von gestern für mich aufzuheben – wir haben gestern Abend hier gegessen. Es war die Times.«

Sie sah Morse unschlüssig an, während er rasch einen Blick durch das Zimmer schweifen ließ. In dem Bett näher am Fenster war geschlafen worden – das Kissen war tief eingedrückt, und ein hauchdünnes schwarzes Negligé war nachlässig über die Bettdecke geworfen. Aber hatte Mr Hardinge im anderen Bett geschlafen? Es hätte natürlich schon gemacht sein können … aber wo war sein Koffer, wo waren seine Kleider und anderen Siebensachen?

»Ich fürchte, hier ist keine Zeitung, wo ich sehen kann, Sir. Und überhaupt würde ich nich …«

»Gewiss, gewiss! Ich verstehe das vollkommen. Ich meine, wenn sie nicht im Papierkorb liegt …«

»Nein, tut sie nich.«

»Es gibt doch sicher noch einen zweiten Korb? Im Badezimmer? Es ist nur, sie hat gesagt …«

Die junge Frau schaute vorsichtig um die Badezimmertür, schüttelte aber den Kopf.

Morse lächelte freundlich. »Schon in Ordnung. Sie muss mir die Zeitung woanders hingelegt haben. Wahrscheinlich in mein Zimmer. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.«

Zurück in Zimmer 27, fand er sein eigenes Bett gemacht, den Boden gesaugt und seine Kaffeetasse abgewaschen und verkehrt herum auf der Untertasse stehen. Er stand wieder einige Minuten am Fenster und schaute hinaus aufs Meer und sagte sich, dass er die Odyssee mal wieder lesen sollte, dann, fast unbewusst, rauchte er plötzlich eine seiner verbotenen Zigaretten und fragte sich, warum der braune Lederkoffer, den er eben geschlossen auf der Kommode in Zimmer 14 hatte liegen sehen, in hübscher gotischer Schrift die vergoldeten Buchstaben »CSO« trug. Das Einzige, was ihm zu diesen Initialen einfiel, war Community Service Order – aber das schien völlig fehl am Platz. Es mussten doch sicher ihre Initialen sein? Aber was auch das C bedeuten mochte – Carole? Catherine? Claire? Celia? Constance? –, es musste selbst einem Siebenjährigen, der im Lesetest durchgefallen war, klar sein, dass das O nicht Hardinge bedeutete. Es mochte vielleicht der Anfangsbuchstabe ihres Mädchennamens sein. Aber der Koffer war neu, sehr neu …

Na und, Morse? Na und, verdammt!

Er setzte sich und schrieb einen Brief.

Liebe Mrs H., ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie die Times von gestern für mich aufbewahren könnten. Nicht den Wirtschafts-/Sportteil, nur den Hauptteil – tatsächlich möchte ich mir nur die Sache auf Seite 1 (und wahrscheinlich die Fortsetzung im inneren Teil) über den »Unheimliche Verse«-Artikel ansehen. Ihre Belohnung, die Sie annehmen müssen, wird ein Drink an der Bar auf meine Kosten vor dem Abendessen sein, wobei ich verspreche, mich peinlich genau an jede Verordnung des Managements zu halten.

Zimmer 27

Morse hinterlegte diese unschuldige, wenn auch etwas aufgeblasene Mitteilung an der Rezeption und begab sich zur Garage des Hotels, wobei er darüber nachsann, warum die weibliche Hälfte von Zimmer 14 nicht Auto H 35 LWL benutzt hatte, anstatt ein Taxi zu nehmen. Er sann aber nur kurz darüber nach, weil er dachte, er wisse jetzt, warum Mrs C. Sowieso (Hardinge?) sich so seltsam benommen hatte. Nun, nein – nicht »seltsam«, wenn man es aus Ihrer Sicht betrachtete. Vergiss es, Morse! Nimm deinen Straßenatlas und such dir den einfachsten Weg nach Ottery St. Mary!

Kurze Zeit später war der Jaguar auf dem Weg dorthin, die Sonne schien von Minute zu Minute wärmer, und der tiefblaue Himmel zeigte kaum eine Wolke. Bis er Honiton erreichte, hatte Morse schon fast die merkwürdige Tatsache vergessen, dass in der Garage des Hotels kein Fahrzeug mit dem Kennzeichen H 35 LWL gestanden hatte, als er das erste Mal dort gewesen war.

5

Auszug aus einem Tagebuch vom 26. Juni 1992

(Eine Woche bevor Morse in Lyme Regis eintraf.)

Wörter! Irgendwer – ein Yankee, glaube ich – hat gesagt, man könne Leute mit Worten streicheln. Ich sage, Wörter sind Scheiße! Besonders der Anblick von Wörtern ist Scheiße. Sie sind zu stark. »Nackt« ist stark. »Brüste« ist stark. Larkin hat gesagt, für ihn sei »aufknöpfen« das großartigste Wort in unserer Sprache. Aber wenn die Wörter ein Scherz sind? O Gott, hilf mir! Bitte hilf mir, Gott! Gestern schrieb Tom mir einen Brief aus seinem neuen Haus in Maidstone. Hier ist ein Ausschnitt daraus:

Ich habe Great Tits im Garten. Nun musst Du nicht denken, wenn ich mit dem Fernglas, das Du mir gekauft hast, aus dem Fenster meines Arbeitszimmers hinunterschaue, sonne sich dort eine bronzefarbene Signora vollbusig und oben ohne auf einer Luftmatratze. Nein! Nur ein wundervoll unterhaltsames Pärchen Kohlmeisen, die sich häuslich eingerichtet haben – etwas spät im Jahr, nicht wahr? – in dem Nistkasten, den wir unter der Buche angebracht haben. Kannst Du Dich noch an jene Zeile erinnern, die wir in der Schule gelernt haben? Titvre tu patulae recubans sub tegmine fagi …

Das sind Toms Worte. Würde man nicht denken, dass jeder normale zivilisierte Mensch entzückt wäre bei dem Gedanken an diese kleinen blau-schwarz-weiß-gelben Vögel (mein Spezialgebiet!!), wie sie mit ihren schlanken kleinen Körpern in einen Nistkasten schlüpfen? Würde man nicht denken, dass nur ein verderbter und pervertierter Geist stattdessen bei dem Bild jener Frau auf der Luftmatratze verweilt? Würde man nicht denken, dass jeder sensible Mensch sich freuen würde über diesen großartigen Hexameter von Vergil, anstatt im ersten Wort eine weitere »Titte« zu sehen? Jesus Christus, es war nur ein Wortspiel, nicht wahr? Der griechische Ausdruck dafür ist »Paronomasie«. Das hatte ich vergessen, aber ich habe es gerade in meinem Buch über literarische Begriffe nachgeschlagen. Und die Wörter verfolgen mich noch immer. Während ich durch die Ps blätterte, stieß ich wieder auf »Pornografie«. Wörter! Zur Hölle mit Wörtern! Gott, hilf mir!

Zu solchen Formen von Pornografie gehören Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Transvestismus, Voyeurismus (oder Skopophilie), Narzissmus, Päderastie und Nekrophilie. Weniger übliche Formen sind Koprophilie, Kleptolagnie und Zoophilie.

Es sollte ein kleiner Trost sein, dass diese letzten drei »weniger üblichen« Perversionen – wenn das der richtige Ausdruck ist – noch nicht nach meinem Geschmack sind. Was bedeutet die mittlere überhaupt? Steht nicht im Chambers.

(Später) Dinner im SCR sehr gut – »Barbue Housman«. Danach C. angerufen, und fast wage ich zu glauben, dass sie sich wirklich auf das nächste Wochenende freut. Ich wünschte nur, ich könnte einschlafen und am Dritten aufwachen. Aber ich scheine die Hälfte meiner Zeit damit zu verbringen, mein Leben wegzuwünschen. Ich habe zu viel getrunken. O Gott, lass mich gut schlafen!

6

 … und so durchs Leben,

Auf der Jagd nach Freundschaften, die der Zufall brachte.

Samuel Taylor Coleridge, To the Rev. George Coleridge

Mitte des Nachmittags schaute Morse mit nicht unbeträchtlicher Enttäuschung auf seine Coleridge-Pilgerfahrt zurück.

Etwa sechs Meilen westlich von Honiton war er von der A30 nach links abgebogen, um zum Marktflecken Ottery St. Mary zu gelangen. Das Parken hatte sich als buchstäblich unüberwindliches Problem erwiesen, und als er endlich zum Verkehrsverein kam, erfuhr er nur, dass »Coleridge 1772 hier im Pfarrhaus (nicht mehr vorhanden) geboren wurde, als zehntes Kind des Reverends J. Coleridge, Vikar von 1760 bis 1781 und Leiter der Höheren Schule (nicht mehr vorhanden). Die schnell größer werdende Familie zog bald in das alte Schulhaus (nicht mehr vorhanden) …« Aber St. Mary’s gab es noch, und er wanderte durch die große Kirche und las ein paar Mitteilungen über »Sehenswürdigkeiten« an einem Stück Holz, das wie ein Handspiegel geformt war. Während er las, bekam er allmählich das Gefühl, er müsse sich einmal wieder mit »Kragsteinen« und »Hohlkehlen« und »Rinnleisten« vertraut machen, aber es überraschte Morse etwas, dass der Verfasser der Mitteilungen noch nie etwas von Coleridge gehört zu haben schien. Nur durch Zufall entdeckte er, als er die Kirche verließ, an der Kirchhofsmauer eine Gedenktafel, mit einer Flachrelief-Büste des Dichters unter den ausgebreiteten Flügeln eines Albatros.

Eineinhalb Stunden später, nach einer schnellen Fahrt über die M5, war Morse ebenso enttäuscht von dem Dorf Nether Stowey. »Das kleine, strohgedeckte Cottage, feucht und ungemütlich«, in dem Coleridge 1796 gelebt hatte, war jetzt ausgebaut, hatte ein Ziegeldach und (ohne Zweifel) auch eine Zentralheizung. Und was noch wichtiger war – es war samstags geschlossen, und es war Samstag. Innerhalb der Kirche erwies sich die Broschüre für Besucher (»Bitte mitnehmen – kostenlos!«) als außergewöhnlich schlecht informiert, und Morse verspürte keine Neigung, der Aufforderung des Vikars nachzukommen, sich den »Freunden der Kirche« anzuschließen – »Schwerpunkt Freudige Zwanglosigkeit«. Er warf fünfzig Pence in einen Schlitz in der Wand und machte sich freudlos auf die Rückfahrt nach Lyme Regis.

Vielleicht hatte Strange die ganze Zeit recht gehabt. Vielleicht gehörte er, Morse, zu jenen Menschen, die einen Urlaub nicht wirklich genießen können. Selbst das Bier, das er in einem Pub in Nether Stowey getrunken hatte, hatte ihm nicht geschmeckt, und er wusste nicht, was er eigentlich wollte. Oder er wusste es doch: erst mal eine Zigarette und dann etwas, das seinen Verstand forderte, wie ein schwieriges Kreuzworträtsel oder ein Verbrechen – oder die Vortagsausgabe der Times. Und es gab noch etwas anderes, obwohl er es kaum vor sich selbst zugeben mochte: Er hätte Mrs Hardinge (oder Mrs Sowieso) gern auf dem Beifahrersitz neben sich.

Eine innere Stimme sagte ihm, dass er sich ungewöhnlich töricht verhalte. Aber er hörte nicht auf die Stimme.

Um 15.45 Uhr parkte er den Jaguar in der Hotelgarage; es standen jetzt nur drei andere Wagen dort, und keiner davon hatte ein Kennzeichen aus Oxon.

Am Eckladen an der Strandpromenade gab er zwei Versuchungen nach und widerstand einer dritten. Er kaufte zwanzig Dunhill International und eine Times, doch das Magazin mit der halb bekleideten Sirene in verführerischer Pose auf dem Hochglanz-Titelblatt blieb im obersten Regal – und wenn auch nur deswegen, weil es ihm zu peinlich war, dem Mann mit den harten Augen hinter dem Ladentisch ins Gesicht zu sehen.

Wieder im Hotel, nahm er gemächlich ein Bad und ging dann hinunter in die Lounge, wo er die Hülle von dem großen Billardtisch nahm und etwa eine halbe Stunde lang so tat, als wäre er Steve Davis. Schließlich hatte der Oxford Companion to Music »Mozart am Billardtisch« auch eine ganze Seite gewidmet. Morse jedoch war praktisch unfähig, irgendetwas einzulochen, unabhängig vom Winkel oder der Entfernung, und genauso sorgfältig, wie er die Hülle abgenommen hatte, legte er sie jetzt zurück und ging wieder in sein Zimmer, fest entschlossen, sein Billardspiel ebenso aufzupolieren (falls das Leben es zuließ) wie seine Kenntnis von Fachausdrücken der Architektur. Dies war genau der Grund, warum Ferien immer so nützlich waren, sagte er sich: Sie gestatteten einem, etwas Abstand zu gewinnen und festzustellen, wo man allmählich einrostete.

Während er voll bekleidet auf seinem Einzelbett lag und an die Decke starrte, klopfte jemand an die Tür, und er stand auf, um sie zu öffnen. Es war der Hotelbesitzer persönlich, der eine Tragetasche von Sainsbury’s in der Hand hatte.

»Mrs Hardinge möchte Ihnen dieses geben, Mr Morse. Ich habe schon vorher versucht, Sie zu finden, aber Sie waren weggefahren, und sie bestand darauf, dass ich es Ihnen persönlich übergebe.«

Wie klang das Morse in den Ohren? Wie Musik, Musik, himmlische Musik!

In der Tragetasche befand sich der begehrte Times-Artikel, zusammen mit einem Bay-Hotel-Umschlag, in dem eine kurze Mitteilung auf einem Bay-Hotel-Bogen steckte:

Für 27 von 14. Ich habe ein Taschenbuch mit dem Titel The Bitch von einer der Collins-Schwestern gesehen. Ich habe es nicht gelesen, aber ich glaube, es muss sich um mich handeln, meinen Sie nicht auch? Wenn ich zum Dinner noch nicht zurück bin, komme ich wahrscheinlich bald danach, und wenn Sie noch da sind, dürfen Sie mir einen Brandy spendieren. Schließlich kosten diese Zeitungen einen Haufen Geld!

Für Morse war diese unschuldige Botschaft Balsam für die Seele. Es war, als hätte er auf einer Dinnerparty versucht, die Aufmerksamkeit einer hinreißenden Frau auf sich zu lenken, die ihn offensichtlich nicht beachtete, sich dann aber plötzlich vorbeugte und die Lippen in einem mehr als flüchtigen Kuss an seine Wange presste.

Merkwürdigerweise jedoch nahm Morse den Hörer vom Telefon neben seinem Bett auf und wählte das Polizeipräsidium in Kidlington, bevor er den Artikel in der Times las.

7

Ich bin ein leidenschaftlicher Zeitungsleser.

Zeitungen sind für mich die einzige Form von fortlaufender Dichtung.

Aneurin Bevan im Observer vom 3. April 1960

Polizei reicht unheimliche Verse an Times-Mann weiter

Der Literaturkritiker der Times