Der Wind In den Zäunen - Eli Easton - E-Book
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Der Wind In den Zäunen E-Book

Eli Easton

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Beschreibung

Eddie  Grabers Traum von einem Gnadenhof, einem Zufluchtsort für gerettete Nutztiere, war gerade im Begriff, in Erfüllung zu gehen, als sein Lebensgefährte ihn in letzter Minute im Stich lässt. Jetzt läuft Eddie Gefahr, das zehn Hektar große Gelände in Lancaster County ‒ und alle Hoffnungen, die er daran gesetzt hatte ‒ zu verlieren, bevor das Projekt überhaupt in Gang gekommen ist. Er braucht Hilfe, er braucht Geld, aber was am wichtigsten ist: Er muss den Glauben an dessen höhere Bedeutung wiederfinden, die ihn überhaupt erst hergeführt hatte. Samuel Miller hat hart gearbeitet, um sich in seine Amish-Gemeinschaft einzufügen, trotz seines Klumpfußes. Aber als sein Vater herausfindet, dass Samuel schwul ist, wird er ausgepeitscht und verstoßen. Mit nur ein paar Hundert Dollar in der Tasche antwortet Samuel auf eine Stellenanzeige für einen Knecht und findet sich als Angestellter eines Stadtmenschen wieder, der ein sanftes Herz hat, aber seltsame Vorstellungen von Tieren und keine Ahnung, wie er seine kleine Farm führen muss.  Samuel ist nicht die einzige verlorene Seele, die glücklicherweise ihren Weg zur Meadow Lake Farm findet. Da sind Fred und Ginger, zwei Kühe, die in einer Garage gelebt haben, eine Herde Schafe und ein kleines schwarzes Schwein namens Benny, das der Schlüssel zu Leben, Liebe und Geld sein könnte ‒ und vielleicht sogar zum Happy End für zwei Außenseiter.

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Zusammenfassung

Widmung

Danksagung

I. Die Anfänge der Farm

1

II. Wie Samuel auf die Farm kam.

2

3

4

5

III. Wie das Schwein auf die Farm kam

6

7

8

IV. Wie Samuel sich verliebt

9

10

11

V. Und das Schwein soll sie leiten

12

13

14

VI. Was Benedict weiß

15

16

17

18

19

20

21

VII. Pig Bottom Farm

22

23

Epilog

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Copyright

Der Wind in den Zäunen

 

Von Eli Easton

Buch 2 in der Serie – Men of Lancaster

 

Eddie Grabers Traum von einem Gnadenhof, einem Zufluchtsort für gerettete Nutztiere, war gerade im Begriff, in Erfüllung zu gehen, als sein Lebensgefährte ihn in letzter Minute im Stich lässt. Jetzt läuft Eddie Gefahr, das zehn Hektar große Gelände in Lancaster County ‒ und alle Hoffnungen, die er daran gesetzt hatte ‒ zu verlieren, bevor das Projekt überhaupt in Gang gekommen ist. Er braucht Hilfe, er braucht Geld, aber was am wichtigsten ist: Er muss den Glauben an dessen höhere Bedeutung wiederfinden, die ihn überhaupt erst hergeführt hatte.

Samuel Miller hat hart gearbeitet, um sich in seine Amish-Gemeinschaft einzufügen, trotz seines Klumpfußes. Aber als sein Vater herausfindet, dass Samuel schwul ist, wird er ausgepeitscht und verstoßen. Mit nur ein paar Hundert Dollar in der Tasche antwortet Samuel auf eine Stellenanzeige für einen Knecht und findet sich als Angestellter eines Stadtmenschen wieder, der ein sanftes Herz hat, aber seltsame Vorstellungen von Tieren und keine Ahnung, wie er seine kleine Farm führen muss.

Samuel ist nicht die einzige verlorene Seele, die glücklicherweise ihren Weg zur Meadow Lake Farm findet. Da sind Fred und Ginger, zwei Kühe, die in einer Garage gelebt haben, eine Herde Schafe und ein kleines schwarzes Schwein namens Benny, das der Schlüssel zu Leben, Liebe und Geld sein könnte ‒ und vielleicht sogar zum Happy End für zwei Außenseiter.

Dieses Buch ist den mehr als sieben Jahren gewidmet, die Bob und ich auf unserer Farm in Lancaster County, PA verbracht haben, und all den Tieren, mit denen wir dort gesegnet waren ‒ besonders dem kleinen Schwein Watson, das sich auf unser Land verirrt hat.

Danksagung

 

 

VIELEN DANK an meine Betas Nico und Veronica für ihre tollen Vorschläge und ihre Hilfe, diese Geschichte zu verbessern. Außerdem vielen Dank an Dreamspinner Press, Elizabeth und Tricia für ihre Unterstützung und meiner Freundin Jamie, meiner kritischen Stimme via Skype.

I. Die Anfänge der Farm

 

 

Kann ein Traum so mächtig sein, dass er, auch wenn man den Glauben an ihn verliert, den Glauben an sich selbst nicht verliert?

1

 

 

DAS IST sowohl der beste, als auch der schlimmste Tag meines Lebens, dachte Eddie Graber, als er in die lange Auffahrt der Meadow Lake Farm einbog. Der Kaufvertrag für die zehn Hektar große Farm lag auf dem Rücksitz des Pick-ups und die Hausschlüssel waren in seiner Manteltasche. Dies war seit Jahren sein Traum ‒ ein eigenes Haus zu besitzen, wo er einen Gnadenhof aufbauen konnte. Heute sollte ein Freudentag sein. Nur dass die Person, die neben ihm saß, nicht Alex war, mit dem er sechs Jahre zusammen gewesen war, sondern Devin, sein bester Freund. Und diese Kleinigkeit bedrohte alles.

„Oh. Mein. Gott“, rief Devin aus, als sie die Auffahrt hinauffuhren. „Sieh dir das an, Eddie, das ist verrückt! Ich kann nicht glauben, dass du das hier gekauft hast.“

„Ja“, stimmte Eddie zu und lächelte trotz seiner Sorgen.

Er hatte drei Jahre lang im Internet Farmen in Pennsylvania angeschaut. Das war immer ein entfernter Traum gewesen, so wie andere von einem Ferrari oder Jaguar träumen. Dann war diese Farm auf dem Markt aufgetaucht und er hatte gewusst, dass er handeln musste.

Es ist so weit, hatte die Stimme in seinem Kopf versichert. Das ist das Richtige. Das ist dein Gnadenhof.

Er hatte das gesamte kleine Erbe von seinen Großeltern für die Anzahlung verwendet und eine enorme Hypothek aufgenommen.

An dieser Farm stimmte alles. Sie befand sich nicht weit außerhalb der Stadt, aber das Haus und die Scheune lagen abseits der Straße und waren von Feldern, die zur Farm gehörten, umgeben, deshalb hatte man das Gefühl, man befände sich mitten im Nirgendwo und es gäbe keine Nachbarn, die einen stören konnten. Das Farmhaus im Kolonialstil hatte sechs Schlafzimmer, war aus Feldsteinen gebaut und erstklassig renoviert. Ein wenig abseits lag ein kleiner Teich, perfekt für Wasservögel und wunderbar idyllisch. Die riesige alte Bank-Scheune war in gutem Zustand und hatte auf beiden Ebenen viel Platz für die Tiere. Es gab eine vier Hektar große eingezäunte Weide und auf dem übrigen Land war genug Platz für einen Gemüsegarten, Zwinger, ein Besucherzentrum, Parkplätze und was auch immer Eddie irgendwann wollen oder brauchen könnte.

Aber hauptsächlich war das Grundstück magisch, friedlich und wunderschön. Es war voller stattlicher alter Eichen, Weiden, Pinien, Obstbäumen und Beerenbüschen, wie eine liebevolle, immergrüne Oase. Es war schöner, als er zu hoffen gewagt hatte. Es fühlte sich an wie … ein besonderer Ort.

Es gab nur ein kleines Problem. Eddie hatte keine Ahnung, wie er die Hypothek bezahlen sollte, nachdem Alex ihn im allerletzten Moment im Stich gelassen hatte.

„Es ist so wunderschön. Wirklich“, murmelte Devin, als Eddie vor dem Haus parkte. Er drehte sich zu Eddie und drückte dessen Schulter. „Ich kann verstehen, warum du es dir unter den Nagel reißen musstest, bevor jemand anderer es tat.“

Eddie lächelte schwach. „Das stimmt. Aber darf ich zugeben, dass ich im Moment ein wenig Angst habe?“

Devin schmollte mitleidig. „Das ginge mir auch so. Aber du schaffst das schon.“

Devin sah immer das Positive. Das war einer der Gründe, die Eddie vor sechs Jahren angezogen hatten, als Devin neu in der Grafikabteilung von HarperCollins gewesen war, wo Eddie als Lektor arbeitete. Aber obwohl sie beide schwul waren und Devin mit seinem dunklen stacheligen Haar, seinen grün-braunen Augen und seinem kleinen Mund hübsch anzusehen war, hatte es nie auch nur einen Anflug von sexueller Spannung zwischen ihnen gegeben.

Eddie holte tief Luft. „Sicher. Ich komme schon klar. Na los. Ich führe dich herum.“

Er schloss zuerst das Haus auf, dann holte er ihre Taschen. Die Kisten beließ er vorerst auf dem Truck. Sie gingen durch das Haus und ihre Schritte und Stimmen hallten in den leeren Räumen wider.

„Diese beiden Räume gehören zu dem ursprünglichen Farmhaus.“ Die vorderen Räume hatten hohe Decken, dunkle Holzfußböden und einen Kamin an der Wand. „Es wurde später noch zweimal erweitert.“

„Oh mein Gott!“, rief Devin erneut aus, als sie das Esszimmer mit seiner sechs Meter hohen Decke und den Doppeltüren, die zum Teich zeigten, betraten. „Das ist atemberaubend!“

Stolz erfüllte Eddie. „Ja, nicht wahr? Ich dachte, diesen Raum könnten wir für Präsentationen nutzen. Komm weiter. Zur Küche geht es hier entlang.“

In der Küche war Devin ebenso enthusiastisch. „Ich will auf der Stelle eine Party schmeißen. Zum Beispiel morgen.“

„Ich weiß, dass es für mich allein zu groß ist, aber sobald alles läuft, werden wir hier vielleicht Veranstaltungen abhalten.“

„Ein doppelter Backofen. Nett.“ Devin öffnete eine der kleinen Ofentüren. „Oh Gott, Eddie.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist einfach zu viel. Ich habe ein wenig Angst um dich, wenn ich das so sagen darf.“

„Es war ein wirklich guter Deal“, sagte Eddie abwehrend. Das entsprach der Wahrheit, dennoch war er nervös und Angst beschmutzte diesen wundervollen Tag.

Die Farm war zu viel für ihn. Sie war auch zu viel für Alex und ihn zusammen, aber er hatte gedacht, dass sie hineinwachsen würden. Sobald die Farm lief, würde es freiwillige Helfer, viele Gäste, vegane Essen und Veranstaltungen geben. Da würden sie den Platz brauchen.

Aber würde das jetzt überhaupt passieren? Der Gedanke war überwältigend. Was Alex getan hatte, hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

 

 

VOR GERADE einmal zwei Wochen, nachdem der Kauf des Grundstücks verifiziert worden war, war Eddie nach Hause gekommen und hatte Alex in ihrem kleinen Appartement in Greenwich Village vorgefunden. Er hatte in der Mitte des Wohnzimmers gestanden, mit einem gequälten Ausdruck auf seinem gut aussehenden Gesicht und einer großen, gepackten Tasche zu seinen Füßen.

„Es tut mir leid“, hatte Alex zu ihm gesagt. „Ich wünsche dir alles Glück der Welt, Eddie, aber diese Sache ist einfach nicht das Richtige für mich. Ich habe mir schon seit einer Weile Gedanken über unsere Beziehung gemacht und ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um einen Schnitt zu machen. Ich ziehe fürs Erste zu Bill und Chris. Ich habe meine Sachen bereits ausgeräumt.“

Eddie war wie vom Donner gerührt. Nicht verletzt, noch nicht. Dieses Gefühl war später gekommen. „Ist das dein Ernst? Jetzt verlässt du mich? Vielleicht hättest du mich davon unterrichten können, bevor ich eine sechshunderttausend Dollar-Hypothek aufgenommen habe!“

Wenigstens sah Alex beschämt aus. „Es tut mir leid. Aber du wolltest die Farm so sehr, Eddie. Und ich wusste, dass du es ohne mich nicht über dich gebracht hättest. So hast du wenigstens bekommen, was du wolltest. Du wirst die Farm zum Erfolg führen. Ich kenne dich.“

„Aber du hast auch unterschrieben!“

„Das ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass du anständig bist. Wir können meinen Namen später aus den Unterlagen streichen lassen.“

Trotz Alex‘ Versicherung hatte seine Flucht den Anschein einer Ratte, die ein sinkendes Schiff verließ. Als würde er glauben, dass alles den Bach runtergehen würde und er nicht dabei sein wollte, wenn es passierte.

Wieso war Eddie nicht aufgefallen, wie halbherzig Alex bei der Sache gewesen war?

Es traf zu, dass ihre Beziehung seit einer Weile nur noch auf Sparflamme gelaufen war. Aber der Umzug aufs Land hätte das alles ändern sollen. Und was ebenfalls zutraf, der Gnadenhof war Eddies Traum gewesen. Doch Alex hatte sich auch darauf gefreut, auf dem Land zu leben. Er hatte mit seinem Boss vereinbart, dass er von montags bis mittwochs in New York sein und den Rest der Woche von der Farm aus arbeiten würde. Es war nicht seine Bestimmung, eine Tierrettung zu führen, aber er war froh gewesen, Eddies Vision zu unterstützen. Das hatte er zumindest gesagt.

Klar. Davon konnte Eddie sich allerdings nichts kaufen.

Eddie hatte an diesem Tag nicht nur seinen Partner verloren, mit dem er sechs Jahre zusammen gewesen war. Er hatte die Hälfte des Einkommens in seinem Budget verloren. Und Alex war Buchhalter, deshalb hatte Eddie sich darauf verlassen, dass er sich um die finanziellen Angelegenheiten kümmern würde.

Du warst der Stärkere von uns, Alex. Derjenige mit dem Plan. Ich war der Träumer. Wer wird mich jetzt unterstützen?

Vor Jahren hatte Eddie eine Wahrsagerin aufgesucht, die seine Kollegen ihm empfohlen hatten. Sie hatte Eddie gesagt, dass sein Geist gespalten war. Er hatte eine sehr spirituelle Seite und eine ebenso starke praktische Seite. Diese beiden Seiten bekämpften einander und waren der Grund dafür, dass er sich innerlich zerrissen fühlte. Zum Glück würde er jemanden finden, der sehr bodenständig war und das würde ihm helfen, seine Vision wahr werden zu lassen.

Das hatte er tatsächlich geglaubt. Und er hatte geglaubt, Alex wäre diese bodenständige Person. Aber … nein. Anscheinend hatte er unrecht gehabt.

Oder vielleicht war die Wahrsagerin, genau wie Alex, nur ebenso zuverlässig wie die meisten Träume ‒ sie lösten sich im kalten Licht des Tages in Luft auf.

 

 

UM DREI Uhr nachmittags an Eddies erstem Tag auf der Farm, fuhr ein Truck mit einem Viehanhänger vor der Scheune vor. Der Fahrer hatte Eddie eine Nachricht geschickt, deshalb wartete dieser mit Devin vor dem Haus. Eddie stieß das große Viehgatter neben der Scheune auf ‒ mein Gatter, meine Scheune ‒ damit der Fahrer auf die Weide fahren konnte ‒ meine Kühe. Heilige Scheiße. Es war schwer zu glauben, dass es wirklich passieren würde. Aber der Anhänger war sehr real, als er über das Gras holperte. Gleich würde er eigene Kühe haben.

„Ich warte hier“, meinte Devin nervös. Er kletterte über den Zaun an der Scheune, sodass er auf dem Betonweg, vor welchem Cthulhu-Monster auch immer, das aus dem Viehanhänger kommen würde, in Sicherheit war.

„Es sind bloß Kühe“, sagte Eddie lachend. Seine Vorfreude war zurück. Das war es. Die ersten Einwohner des Meadow Lake Farm Sanctuarys waren angekommen.

„Ja. Pflanzenfresser. Ich verstehe schon“, meinte Devin trocken. „Aber sie bocken und gehen durch und was weiß ich. Ich habe schon Rodeos gesehen. Deshalb warte ich lieber hier. Versuch, dir nicht an deinem ersten Tag als Farmer den Schädel eintreten zu lassen, Schnuckelchen.“

Das sollte offensichtlich ein Scherz sein und Devins Augen blitzten. Aber um ehrlich zu sein, war Eddie selbst ein wenig nervös. Er war bisher nur auf dem Watkins Glen Farm Sanctuary Kühen nah genug gekommen, um sie zu streicheln. Aber sein Herz war voller Vorfreude, zwar keiner Liebe, aber der Vorfreude auf Liebe.

Die armen Dinger. Ginger und Fred. Jetzt seid ihr zu Hause.

Der Fahrer, ein korpulenter Mann mittleren Alters mit einer roten Baseballkappe, ließ Eddie ein Formular auf einem Clipboard unterschreiben, dann riet er ihm zurückzubleiben, während er die große Tür des Anhängers öffnete. Er führte die erste Kuh an einem Seil, das an ihrem Halfter befestigt war, die Metallrampe herunter.

Eddie erkannte sie von ihrem Bild. Das war Ginger, die Mutterkuh. Sie hatte vor Angst die Augen weit aufgerissen, denn sie hatte keine Ahnung, wohin man sie gebracht hatte und warum. Eddie beeilte sich, das Tor zur Scheune zu öffnen, dann führte der Fahrer sie hinein und löste das Seil. Eddie schaute zu und wünschte sich, er könnte sie berühren, aber er wusste, dass das noch würde warten müssen.

Ginger trottete durch den Stall, schnüffelte und schielte nervös zu den Menschen.

„Jetzt die Große“, sagte der Fahrer. „Es war eine Aktion, sie in den Anhänger zu bekommen.“

Er eilte die Rampe wieder herauf, dann hörte man den Klang einer Tür. Er erschien wieder mit einer großen, dunkelbraunen Jersey-Kuh an einem Zügel. Das war Fred, Gingers Tochter. Sie war weniger führungswillig als Ginger und ihre Augen rollten panisch. Sie warf ihren Kopf hin und her und versuchte, den Mann mit dem Seil abzuschütteln. Als Reaktion darauf hielt der Fahrer das Seil dichter, und wahrscheinlich enger, an ihrem Hals. Eddie schaute eingeschüchtert zu. Er hatte keine Ahnung, wie man das machte.

Fred wehrte sich, in die Nähe der Scheune zu kommen und schaute stattdessen zur Weide. Aber dann rief Ginger aus dem Stall und Fred eilte in ihre Richtung, dabei zerrte sie den Fahrer hinter sich her. Eddie schaffte es gerade so, das Tor zu öffnen, bevor das Fünfhundert-Kilo-Tier mit furchterregender Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste. Der Fahrer ließ das Seil los und Eddie schloss mit hämmerndem Herzen das Tor hinter ihr.

Ginger begann sofort, Fred abzulecken. Das war irgendwie berührend, dachte Eddie. Sein Puls raste immer noch. Es schien, als wollte Ginger ihr riesiges Kalb beruhigen.

Der Fahrer schlüpfte in den Stall, holte das Halfter und kam wieder heraus.

„Viel Glück“, sagte er zu Eddie und schüttelte ihm die Hand. Er stieg in seinen Truck. Eddie öffnete ihm das Tor der Weide und der Truck fuhr mit dem leeren Anhänger die Auffahrt hinunter.

Eddie schloss das große Tor. Nachdem er die Weide gesichert hatte, wollte er den Kühen erlauben, sie zu erkunden. Er wollte nicht, dass ihr erstes Erlebnis auf der Farm das Eingesperrtsein war, deshalb öffnete Eddie das Tor zum Stall und ließ es geöffnet. Er stellte sich neben Devin.

Es war für März ein schöner Tag. Die Sonne schien und in der Luft lag eine kühle Brise. Eddie und Devin beobachteten, wie Ginger, die offensichtlich die Mutigere war, schnüffelnd aus dem Tor trat, sich umschaute und mit Fred auf den Fersen davonstob. Die beiden Kühe rannten über die offene Weide und buckelten, als hätten sie noch nie zuvor so viel Platz gehabt. Als wären sie im Kuhhimmel gelandet. Sie tänzelten über eine Stunde vor Freude herum, rannten bis zum hinteren Zaun, dann wieder zurück zur Scheune. Zwei Kühe, die über eine vier Hektar große Weide galoppierten.

Eddies Brust wurde eng, als er ihnen zuschaute, und er schluckte mehrmals. Dies. Dies war der Grund. Das war es wert, auch wenn Alex ihn verlassen hatte. Es war die riesige Hypothek wert, die ihm im Nacken saß. Das war es wert, auch wenn er ein kleiner schwuler Mann war, der Gefahr lief, von seinem Traum überrollt und im Schlaf erdrückt zu werden. Während er zusah, wie Fred und Ginger zum ersten Mal in ihrem Leben frei herumtollen konnten, wusste er, dass sein Traum einen Wert hatte.

Devin lehnte den Kopf an Eddies Schulter und sie sahen beide den Tieren zu. Es gab nichts zu sagen.

Als die beiden Kühe schließlich wieder zur Scheune kamen und Eddie erwartungsvoll anschauten, richtete er sich auf. „Ich sollte sie wohl füttern.“

Devin streckte die Hand aus und beugte sich über das Gatter. „Kommt her, Kühe! Yoo-dle-hoo!“

Anscheinend fanden die Kühe Devin nicht so amüsant wie Eddie, denn sie ignorierten ihn.

Eddie ging in den Fütterungsgang neben den Boxen. Er versuchte, einen Sack mit fünfundzwanzig Kilo Kuhfutter zu öffnen, den er früher am Tag gekauft hatte, aber er schaffte es nicht. Schließlich nahm er sein Taschenmesser und schlitzte ihn auf. Er schaufelte zwei Portionen Getreide in den Trog und Fred und Ginger stürzten sich darauf, als stünden sie kurz vorm Verhungern. Sie leckten es mit ihren Zungen auf, die grau und seltsam groß waren.

Eddie versuchte, durch die Öffnung des Trogs Gingers Nase zu streicheln, aber sie scheute sofort vor ihm zurück.

Sie hat keine Ahnung, was sie von dir halten soll. Gib ihr Zeit.

Er ließ sie in Ruhe fressen und gesellte sich wieder nach draußen zu Devin.

„Du hast keine Ahnung, was du da tust, nicht wahr?“, sagte Devin leichthin und beobachtete die Kühe.

„Nein. Nicht die geringste. Aber ich habe ein paar Bücher gelesen.“

„Na ja“, seufzte Devin. „Ich hatte früher einen Hund. Wie viel schwerer kann das schon sein?“

Eddie lachte. „Abgesehen davon, dass sie zehn Mal größer und nicht auf Menschen geprägt sind?“

Es würde eine Herausforderung werden, aber das machte Eddie nichts aus. Er war überglücklich, dass er Fred und Ginger hier hatte. Schließlich war eine Farm ohne Tiere keine Farm und ein Gnadenhof schon gar nicht.

„Ich kann nicht glauben, dass du sie so schnell zu dir genommen hast. Nur du, Eddie, würdest dir zwei Kühe aufhalsen, bevor du überhaupt eine Nacht auf deiner brandneuen Farm verbracht hast. Du hättest dir ein paar Wochen Zeit nehmen sollen, um auszupacken und dich einzugewöhnen.“

„Ich hatte keine Wahl. Das Paar, dem Fred und Ginger gehört haben, hat sein Haus vor zwei Monaten verkauft und sie hatten keinen Platz für sie. Sie waren seitdem in der Garage von irgendeinem Kerl untergebracht. Einer Garage. Er hatte mich immer wieder angerufen und gebeten, dass ich sie nehme. Schließlich hat er gedroht, sie zum Schlachter zu geben, wenn ich sie nicht bald abhole.“

„Oh nein!“

„Genau.“ Eddie rieb sich das Brustbein, um den plötzlichen Schmerz zu lindern. Allein die Vorstellung tat ihm in der Seele weh. „Und ihre vorherige Unterkunft war winzig. Ich habe ein Bild davon gesehen. Sie waren in einem kleinen Hinterhof mit einem überwucherten Baum als einzigem Schutz. Die Frau hat Ginger gemolken, nachdem Fred geboren war, aber dann hatte sie keine Lust mehr dazu. Wenigstens sind sie jetzt auf einer Weide mit richtigem Gras und haben einen richtigen Stall.“

Devin schlang den Arm um Eddies Schultern. „Glückliche Kühe.“

„Das hoffe ich.“

Die Nervosität kehrte zurück. Fred und Ginger waren hier und sie verließen sich auf ihn. Wenn er versagte, wären sie wieder obdachlos. Er seufzte. „Du hast ja keine Ahnung, wie viele Tiere in Not es gibt. Als ich den Papierkram für den Status 501(3)(c) eingereicht habe, musste ich mich als Gnadenhof registrieren lassen. Ich habe bereits Dutzende E-Mails von Leuten bekommen, deren Tiere ein neues Zuhause brauchen. Und es werden noch mehr. Ich habe noch drei Schafe angenommen, aber das reicht erst einmal, zumindest bis ich festen Boden unter den Füßen habe.“

Devin zog ihn fester an sich. „Du bist nur ein Mensch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich um dieses große Anwesen, die Tiere und deinen Vollzeitjob kümmern willst. Ich wünschte, ich könnte eine oder zwei Wochen bleiben, doch bei mir geht im Moment alles drunter und drüber. Aber nicht auf die gute Art. Nächste Woche starten zwei neue Werbekampagnen.“

„Es bedeutet mir sehr viel, dass du dieses Wochenende mitgekommen bist. Es wäre einfach schrecklich gewesen, wenn ich ganz allein gewesen wäre.“

„Alex ist ein Arschloch“, erklärte Devin. „Aber du wirst jemand anderen finden. Jemanden, der besser ist. Ich weiß es einfach.“

Eddie antwortete nicht, aber er dachte, dass einen neuen Freund zu finden im Moment die geringste seiner Sorgen war. Tatsächlich war er nach dem, was Alex getan hatte, nicht sicher, dass er überhaupt jemals wieder eine Beziehung wollte. Das Hauptproblem war, dass er die Farm allein führen musste. Und das Geld. Auf jeden Fall das Geld.

Devin tätschelte seinen Arm, als wäre er ein Kind. „Im Ernst. Alles passiert aus einem Grund. Du kommst schon klar und weißt du auch warum? Weil niemand ein so großes Herz hat wie du, und weil alles, was du tun willst, ist Tieren zu helfen. Das Karma ist auf deiner Seite und ein Engel sitzt auf deiner Schulter.“

Eddie schnaubte. „Ich wünschte, ich könnte das glauben.“

„Hör auf deine innere Stimme. Alles wird gut.“

„Ja, genau wie diese Typen, die andauernd das Ende der Welt prophezeien und dann, hey, wer hätte das gedacht. Sie haben unrecht. Oder, du weißt schon, Son of Sam. Innere Stimmen haben nicht immer recht.“

Devin streckte ihm die Zunge heraus. „Wie kannst du so ein Softie und gleichzeitig so ein eiskalter Zyniker sein?“

„Ich wurde nett geboren. Der Zynismus ist erlerntes Verhalten.“

„Ha“, machte Devin. „Na ja, vielleicht solltest du dir das wieder abgewöhnen, Schnuckelchen. Du führst jetzt eine Tierrettung. Da ist Zynismus verboten. Ich schlage vor, wir öffnen eine Flasche Wein und feiern deine neuen Kühe. Bist du dabei?“

Eddie eilte ins Haus und holte eine sechzig Zentimeter große Statue aus seiner Tasche, die er in Kleidung eingepackt hatte, damit sie nicht zerbrach. Er kehrte zur Scheune zurück und stellte sie in das nächstgelegene Blumenbeet, wo er sie ein wenig eingrub, damit sie nicht umfiel.

„Na bitte.“

Devin schaute das Teil aus Terrakotta an und hob eine Augenbraue. „Ist das nicht ein Heiliger? Ich dachte, du wärst Jude.“

„Das ist der Heilige Franziskus, der Schutzheilige der Tiere. Mein Boss hat ihn mir als Abschiedsgeschenk gegeben. Es ist ein Symbol. Oder vielleicht auch ein Scherz. Jedenfalls warst du derjenige, der mir gesagt hat, dass ich nicht so zynisch sein soll.“

„Das stimmt. Na ja, ich hoffe, Sankt Franziskus bringt dir Glück.“

Das hoffte Eddie auch. Fred, Ginger und Dutzende andere Tiere, die er noch nicht getroffen hatte, verließen sich auf ihn.

II. Wie Samuel auf die Farm kam.

 

 

Zuhause ist ein Ort, der dich findet.

2

 

 

„WAS ZUM Teufel machst du da?“ Vaters Stimme hallte über den Heuboden und erschreckte Samuel zu Tode. Er hatte mit dem Rücken zur Leiter aus dem Fenster geschaut und nun schloss er hastig den Latz seiner Hose. Er hatte kaum die Knöpfe geschlossen, als sein Vater neben ihm war, Samuel mit der Schulter zur Seite stieß und aus dem Fenster schaute.

Gedemütigt trat Samuel zurück und sein Mut sank. Oh Herr, bitte lass es ihn nicht sehen.

Aber sein Vater sah es und er verstand. Als er sich vom Fenster abwandte, trug sein bärtiges Gesicht einen harten Ausdruck und seine Augen brannten. „Du hast eine kranke, schmutzige Seele!“

„Nein, Da! Ich hab‘ nur zum Himmel geguckt.“

„Lügner! Mach deine Sünde nicht noch schlimmer, indem du mich anlügst!“

„Da …“

„Beweg dich nicht! Keinen Zentimeter!“

Vater eilte zur Leiter und stieg hinunter. Samuel wusste, dass er zurückkehren würde, und wenn er das tat, bedeutete das für Samuel Schmerzen. Er war neunzehn Jahre alt, um aller Liebe willen, und er hatte keine Prügel mehr bekommen, seit er vierzehn war. Er ging Bestrafungen aus dem Weg, indem er sich ruhig verhielt und tat, was ihm gesagt wurde. Aber das … er war in großen Schwierigkeiten.

Es war schlimm genug, dass Samuels Vater ihn ertappt hatte, wie er sich selbst berührte. Aber das allein hätte wahrscheinlich zusätzliche Bibelstudien nach sich gezogen, nicht die Peitsche. Dass Samuel dabei aus dem Fenster zu einem Feld gesehen hatte, machte es noch schlimmer. Das Einzige von Interesse auf jenem Feld war ihr Nachbar, der junge und gut aussehende John Snyder, der gerade mit Pflügen beschäftigt war. Sein Körper war stark und seine Muskeln spannten sich unter seinem weißen verschwitzten Hemd … Selbst jetzt entfachte die Erinnerung an diesen Anblick neben der Angst Wirbel der Erregung in Samuels Bauch.

Es war auch nicht das erste Mal, dass er bei etwas Derartigem ertappt wurde. Mit Vierzehn war er hinter dem Schulhaus mit einem Jungen gesehen worden, als sie die Hände in die Hose des anderen gesteckt hatten, als der Vater des anderen Jungen um die Ecke gekommen war. Der Mann hatte Samuel nach Hause gefahren und leise mit Samuels Vater geredet. In dieser Nacht hatte Samuel die schlimmsten Schläge seines Lebens bekommen. Aber er hatte seinem Vater versprochen, dass es das einzige Mal gewesen war, dass er das getan hatte, und dass es nur aus Neugier passiert war, nicht weil es seine Natur war. Er hatte gelogen.

In den Jahren seitdem hatte dieser Vorfall die Beziehung zu seinem Vater zerfressen wie verrottetes Fundament. Manchmal sah Samuel auf und bemerkte, wie Da ihn mit Misstrauen und Sorge in den Augen anstarrte. Aber Samuel hatte es ignoriert und versucht zu beweisen, dass er ein guter Arbeiter war, ein ehrbarer Mann und dass körperliches Verlangen kein Teil von ihm war. Und jetzt hatte ein Blick aus dem Fenster diese lang verdrängten Zweifel in Vaters Gedanken wiedererweckt und all die Jahre des Verleugnens zerfielen wie Staub zu Samuels Füßen.

Sein Bauch rumorte vor Scham und Selbstverachtung. Warum tat er diese Dinge? Warum quälte dieses Verlangen ihn so? Was stimmte mit ihm nicht? Er war ein erwachsener Mann. Er sollte keine Prügel mehr von seinem Vater bekommen oder klammheimlich beschämende Dinge tun, wodurch er sie sich verdiente.

Sein Vater kam die Leiter wieder herauf. „Zieh dein Hemd aus!“, befahl er, seine Stimme so dunkel und kalt wie eine Winternacht.

Mit zitternden Händen stand Samuel auf, zog seine Hosenträger herunter und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Seine Finger waren wenig graziös, denn die Angst machte ihn ungeschickt. Es gab nichts, was er sagen konnte, um seinen Vater jetzt noch umzustimmen. Jede Lüge würde es nur noch schlimmer machen.

Er legte das Hemd ordentlich auf einen Heuballen und drehte seinem Vater gehorsam den Rücken zu. Wenn er Demut zeigte, wäre sein Vater zufrieden. Seine Schulter zuckte, als sein schlimmer Fuß ihm das Umdrehen erschwerte. In der Bewegung entdeckte er die große Rute in der Hand seines Vaters. Sein Da hatte in der Scheune eine Kiste mit mehreren ähnlichen Ruten, die er hin und wieder durch neue ersetzte. Sie waren eine exzellente Methode zur Abschreckung für seine Kinder, aber wurden selten benutzt.

Das würde wehtun. Sehr. Samuel bereitete sich auf den Schmerz vor. Ein paar Schläge, sagte er sich. Vielleicht drei. Höchstens fünf. Dann würde ‒

Es gab ein leises, pfeifendes Geräusch, dann schoss Feuer über seinen Rücken. Der Schmerz war so scharf und so heftig, dass Samuel einen Schrei nicht unterdrücken konnte und einen halben Schritt vorwärts trat.

Bevor er sich erholt hatte, kam ein weiterer Schlag, und ein weiterer. Er fand sich halb liegend auf einem Stapel Heuballen wieder, wo er sich an die raue Oberfläche klammerte. In den Schlägen, die auf ihn einprasselten, lag ungezähmte Wut. Sein Da hielt sich nicht zurück und schlug Samuel wieder und wieder mit all seiner Kraft.

Samuel zählte die Schläge nicht mehr mit. Seine Schreie wurden zu einem beständigen Strom von Flehen und Leid. Das Feuer in seinem Rücken wurde schärfer und schneidend, als die Haut unter dem Angriff anschwoll und aufbrach wie eine Melone, die zum Verrotten auf dem Feld zurückgelassen worden war. Er fühlte, wie das Blut an seinem Rücken hinunterlief. Er versuchte, sich wegzudrehen, aber konnte den grausamen Schlägen und dem trübenden Effekt von Schock und Schmerz nicht entkommen.

Oh lieber Gott im Himmel, hilf mir.

Durch den Nebel der Qualen hörte er die zornige Stimme seines Vaters. „Hätte es wissen sollen! Dein Fuß ist ein Hinweis Gottes auf die kranke, unredliche Natur deiner Seele! Dein Fuß ist nicht die Abscheulichkeit hier! Das bist du! Du verlogener, lüsterner, kranker, vom Teufel gerittener …“

„Da, hör auf!“ Das war Matthews Stimme. „Da, bitte hör auf! Du wirst ihn umbringen!“

„Halt dich da raus!“, brüllte sein Vater.

„Ich hole Ma. Ma! Ma!“ Matthew war achtzehn und der einzige von Samuels Geschwistern, dem er wirklich nahestand. Er hörte, wie Matthews Stimme verhallte. Matthew würde Mutter holen. Sie würde dem ein Ende machen und die Hand seines Vaters aufhalten. Sie musste. Bitte, Herr.

Aber die Schläge hatten bereits aufgehört, bemerkte Samuel. Der einzige Laut war das harsche Keuchen seines Vaters. Das Adrenalin, das Samuel bisher größtenteils aufrecht gehalten hatte, verschwand, und er blieb erschöpft zurück, die Sinne überwältigt vom Schmerz. Er ließ den Kopf auf die Arme sinken, immer noch auf den Heuballen, und schluchzte. Es waren laute, gebrochene Geräusche, die er nicht zurückhalten konnte.

Sein Vater packte ihn am Oberarm und zerrte ihn hoch. „Steh auf. Sofort, Junge!“

Samuel stand zittrig auf und wischte sich über die Augen. Er schämte sich für seine Tränen, aber er konnte sie nicht unterdrücken.

„Hör mir genau zu! Du wirst diese Leiter heruntersteigen und die Straße entlanglaufen. Dann gehst du einfach immer weiter. Ich will dich auf dieser Farm nicht mehr haben. Denn wenn ich dich noch einmal beim Sündigen erwische, kann ich für nichts mehr garantieren. Und das will ich mir nicht auf mein Gewissen lasten. Hast du mich verstanden?“

Samuel stockte der Atem und er starrte seinen Vater ungläubig an. Er wischte sich erneut mit dem Ärmel über die Augen, als könnte er seinen eigenen Sinnen nicht trauen. „Aber … aber Da …“

„Ich meine es ernst!“ Das Gesicht seines Vaters und seine Stimme waren kalt und gnadenlos. „Nimm deinen Mantel und deinen Hut und verschwinde. Hier.“ Der Mund seines Vaters war zu einer schmalen Linie zusammengepresst, als er die Rute fallenließ, seine Geldbörse hervorholte und ein paar Zwanzig-Dollar-Noten hervorholte. Er steckte sie in Samuels Hand. „Nimm das und komm nie wieder zurück! Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

Da drehte sich um und stieg die Leiter hinunter, dabei schaute er Samuel nicht mehr an.

Samuels Ohren dröhnten. Sein Rücken stach und pulsierte, als wäre er in den Mähdrescher geraten. Sein Kopf schwamm. Nichts fühlte sich real an und dennoch war es zu schrecklich, um ein Traum zu sein. Sicherlich wäre ein Traum weder so schlimm noch so grausam. Er hob sein Hemd, seinen schwarzen Wollmantel und seinen schwarzen Hut auf, wo er sie vorhin abgelegt hatte, bevor seine Welt zerbrochen war. Einen Moment stand er da und hielt seine Kleidung fest. Er wollte das Hemd nicht anziehen. Es war weiß und wäre schnell von dem Blut durchtränkt, das er auf seinem Rücken spürte. Aber er konnte auch nicht im März halb nackt die Straße entlanggehen.

Er zog das Hemd an und versuchte, den Schmerz wegzuatmen, als die Bewegung seine gepeinigte Haut spannte. Dann zog er den Mantel an, setzte den Hut auf und steckte sein langes Haar mit zitternden Fingern hinter seine Ohren. Er wischte sich Tränen und Rotz aus dem Gesicht, schluckte den Schmerz hinunter und kletterte vorsichtig die Leiter hinunter. Das raue Holz der Sprossen fühlte sich zu fest unter seinen Handflächen an, der Moment zu wichtig. Ich bin auf dieser Leiter Millionen Male geklettert, seit ich klein war. Ich werde sie nie wieder erklimmen.

Als er die Einfahrt erreichte, schaute er zurück zum Farmhaus. Er erwartete, seine Mutter zu sehen oder Matthew oder Eliza, irgendwen. Sicher würde jemand herauskommen und sagen Wo gehst du hin, Samuel? Was ist los? Wir stimmen Da um, du wirst sehen. Aber vom Haus kam kein Geräusch und keine Bewegung, abgesehen vom Flattern eines Vorhangs, als jemand von einem der Fenster zurücktrat.

Sein Vater behielt sie im Haus. Er hinderte sie daran, herauszukommen.

Nicht dein Fuß ist die Abscheulichkeit! Das bist du!

Sein Herz schrumpfte in seiner Brust und zog sich in die hinterste Ecke seines Brustkorbes zurück wie ein geprügelter Hund, der sich in seiner Hundehütte versteckte. Abscheulichkeit. Er war hinausgeworfen worden und würde von Bischof gemieden werden. Seine Familie, Ma, Matthew, Jane, Sarah, Eliza, all seine älteren Brüder und Schwestern, Cousins … sie alle waren nun für ihn verloren. Er hatte nichts und niemanden mehr. Benommen und unter Schock drehte Samuel sich um und ging die Straße entlang. Sein für gewöhnlich kaum merkliches Hinken, verursacht durch seinen verdrehten Fuß, wurde durch den Schmerz in seinem Rücken verstärkt. Er wankte mitleiderregend hin und her.

Am Ende der Auffahrt wandte er sich nach rechts. Und er ging weiter.

3

 

 

IN DER ersten Nacht schlief Samuel in der Scheune der Oberfells. Die Familie war immer freundlich zu ihm gewesen, aber er wollte nicht, dass sie wussten, dass er da war. Er konnte nicht zugeben, was passiert war. Aber er konnte auch nicht weiterlaufen. Erschöpfung überkam ihn wie ein dicker, schwerer Mantel, der Vergessen versprach. Er stolperte über die Straße und war kaum noch in der Lage, die Augen aufzuhalten. Sein Rücken war steif und der stechende Schmerz drang in seine Knochen.

Er kletterte umständlich über den Zaun und fand eine dunkle Ecke in einer leeren Box in der Scheune der Oberfells. Es roch nach Ziege, aber das Stroh war sauber. Das Stroh und sein Mantel waren die einzigen Annehmlichkeiten, die er hatte. In der Nacht wachte er oft auf, denn der Schmerz in seinem Rücken zwang ihn, sich von einer Seite auf die andere zu drehen. Vor Sonnenaufgang stand er auf und stahl sich davon.

Während er an diesem kalten und regnerischen Märzmorgen lief und nachdem er den ersten Schock verdaut hatte, wurde Samuel sich seiner Situation bewusst.

Was sollte er nur tun? Er hatte zweihundertvierzig Dollar in der Tasche ‒ das Geld, das sein Da ihm gegeben hatte. Er hatte die Kleidung, die er am Leib trug ‒ eine schwarze Wollhose, ein weißes Hemd, das durch sein getrocknetes Blut ruiniert worden war, Hosenträger, seinen schwarzen Mantel, den schwarzen Hut, Unterhose, Unterhemd und seine Arbeitsstiefel, die speziell an seinen schlimmen Fuß angepasst worden waren. Das war alles, was er auf der Welt besaß.

Er musste einen Job und eine Unterkunft finden. Vielleicht konnte ihn das bisschen Geld, das er hatte, für ein paar Wochen über Wasser halten, bis er bezahlt wurde. Er brauchte nichts Außergewöhnliches, nur einen Ort, wo er sich ausruhen konnte und wo es trocken war. Und Essen, einfaches Essen, um zu überleben. Er verdiente nichts, das schmackhaft oder hausgemacht war.

Abscheulichkeit.

Wo konnte er Arbeit finden? Alles, was er konnte, war Farmarbeit. Er konnte einfache Reparaturen ausführen, aber er war kein guter Zimmermann. Und er konnte nicht in der Gemeinschaft der Amish suchen. Die Vorstellung, dass sein Da herausfand, wo er war, und mit seinem Buggy kam, um mit seinem Arbeitgeber zu sprechen und ihm erzählte, warum Samuel nichts mit anständigen Menschen zu tun haben sollte …

Abscheulichkeit.

Nein. Allein bei dem Gedanken daran wollte er sich übergeben. Das konnte Samuel nicht riskieren. Er musste in der Welt der Englischen nach Arbeit suchen. Dorthin würde sein Vater ihm nicht folgen.

Lieber Gott, warum hasst du mich so?

Samuel wusste, dass er Jungs mochte, seit seine Stimme sich verändert hatte. Er neigte dazu, sich schnell und heftig zu verlieben. Die anderen Kinder in der Amish-Schule hatten ihn ausgelacht, als er versucht hatte, mit seinen Freunden Händchen zu halten oder ihnen seine Zuneigung zu zeigen. Er hatte schnell gelernt, diese Wünsche zu verbergen. Das Verlangen zu berühren war nicht weniger geworden, als er älter und sein Körper reifer geworden war. Es wurde stärker, ein Hunger, der manchmal so heftig war, dass er das Gefühl hatte, er würde ihn von innen heraus verzehren.

Jahrelang war er heftig in Robert Yoder verliebt gewesen. Das weiche braune Haar des Jungen und seine großen braunen Augen waren der Inbegriff der Schönheit, was Samuel anging. Robert und er waren nicht miteinander befreundet. Robert hatte seine eigenen Brüder und Cousins, mit denen er spielte und er lebte auch nicht gerade in der Nähe. Aber Samuel sah ihn jeden Sonntag in der Kirche. Darauf freute er sich die ganze Woche. Dieses komische Gefühl in seinem Bauch tauchte auf, sobald er Robert sah. Er versuchte, ihn nicht zu beobachten. Nein, das stimmte nicht. Samuel versuchte, nicht dabei erwischt zu werden, wie er ihn beobachtete.

Im letzten Frühling hatte Robert sich mit Sophie Miller verlobt. Samuel hatte geweint, als er es herausgefunden hatte, allein in seinem dunklen Schlafzimmer. Das war ein peinliches Benehmen für einen Achtzehnjährigen. Er weinte nicht, weil er Robert verloren hatte, sondern weil es nie die Chance auf einen anderen Ausgang gegeben hatte. Er weinte, weil Robert mit Sophie ein normales Leben führen würde, ein reines und aufrechtes Leben, das Samuel verwehrt bleiben würde. Er weinte, weil er sich selbst dafür hasste, dass er Robert liebte, dass er ihn auf diese Weise begehrte. Diese Leidenschaft in ihm war ein nutzloses Gefühl, ebenso produktiv wie Saat auf Zement auszusäen. Aber er konnte sie nicht kontrollieren und er konnte sie nicht ändern.

Warum war sein Geist so zerrüttet? Warum hatte Gott ihn auf diese Weise erschaffen? Warum hasste Gott ihn so? War sein Fuß noch nicht genug der Bürde für einen einzelnen Mann? Sein rechter Fuß war um neunzig Grad nach innen verdreht, seine rechte Sohle zeigte zu seinem linken Knöchel. Der Bereich um seinen rechten Knöchel war dick und hart, da er gezwungen war, darauf zu laufen. Sein Stiefel, eine Spezialanfertigung, gab ihm zusätzliche Zentimeter auf der rechten Seite, damit der Längenunterschied nicht zu groß war, aber dennoch hinkte er. Einen Klumpfuß nannte man das. Entenfuß, hatten die Kinder in der Schule gesagt.

Vielleicht hatte Da recht. Vielleicht war sein schlimmer Fuß ein äußeres Zeichen dafür, dass sein inneres Verlangen verdreht war. Vielleicht war sein Fuß wie ein Makel auf einem Apfel, der aussah, als könnte man ihn einfach entfernen, der aber tief in das Innere zu einem kranken, verfaulten Kern reichte.

Der Fuß hätte ihn nicht eines erfüllten Lebens in der Gemeinschaft beraubt. Er konnte immer noch hart arbeiten ‒ und das tat er auch. Es gab nur wenige Dinge, die er nicht tun konnte, zum Beispiel gehen oder rennen, wenn er etwas Schweres trug. Aber er hätte eine Braut finden, Kinder aufziehen und einem Heim vorstehen können. Doch das Falsche, das in ihm war, machte ein solches Leben unmöglich.

Samuel konnte sein Verlangen verbergen und so tun, als wäre es nicht da. Aber er konnte niemals vorgeben, Gefühle für ein Mädchen zu haben. Seine angeborene Schüchternheit hatte ihn stumm und unangenehm ungeduldig gemacht, wenn er gezwungen war, eine infrage kommende junge Dame in seinem Buggy nach Hause zu bringen. Er konnte es nicht erwarten, von ihr wegzukommen, weg von seiner eigenen Unfähigkeit. Und sie waren froh, von ihm wegzukommen, als die Fahrt vorbei war.

 

 

SAMUEL LIEF die sechzehn Kilometer zu der Stadt Lancaster, wo es ein Obdachlosenasyl gab. Er war ein paar Mal dort gewesen, als er mit seinem Da etwas gespendet hatte. Wie die anderen in ihrer Kirche, hatte Da manchmal Mais oder anderes Erntegut gespendet, das zu klein war, Insektenfraß hatte oder zu unterentwickelt war, um es auf dem Markt zu verkaufen. Samuel konnte sich mit dem Geld in seiner Tasche ein billiges Hotelzimmer leisten, aber er musste so viel wie möglich sparen, bis er Arbeit gefunden hatte. Das Asyl war kostenlos.

Der lange Marsch war hart für seinen Fuß, seinen Rücken und seine Hüfte. Kurze Distanzen waren mit seinem schlimmen Fuß zu bewältigen, aber seine Knöchel waren nicht für lange Märsche gemacht und sie taten weh, wenn er zu weit gehen musste. Das Hinken war anstrengend für seinen Körper, was in seinem unteren Rücken große Schmerzen verursachte. Und neben diesem Schmerz, mit dem er seit seiner Geburt leben musste, wurde die verletzte Haut auf seinem Rücken von dem Stoff des Hemdes und seinem Gang gereizt. Die Striemen pulsierten bei jedem Herzschlag.

Um dem Schmerz und seinen dunklen Gedanken zu entfliehen, begab er sich in seine Lieblingsfantasiewelt, die er sich vor langer Zeit erdacht hatte und die er besuchte, wenn er eintönige Aufgaben zu erledigen hatte oder wenn er nachts in seinem Bett lag.

„Morgen, Samuel, ich hoffe, deinem Ehemann geht es gut?“

„Ja, Bischoff, es geht uns sehr gut, und den Kindern auch.“

Der Bischoff stand auf der Veranda der idyllischen und gepflegten Farm. Alles war hell und ordentlich.

„Ich muss sie sehen und Hallo sagen.“ Der Bischoff lächelte Samuel an und sagte ihm damit, dass er es nur tat, weil es seine Pflicht war. Er wusste, dass er nichts Ungehöriges finden würde.

„Sicher! Warum kommen Sie nicht herein und trinken etwas Limonade? Dann rufe ich die Kinder.“

Die Küche war gemütlich und üppig und der Geruch von Zimt und Äpfeln von den Pies, die im Ofen waren, lag in der Luft. Samuels Ehemann Ethan kam herein, gut aussehend und lächelnd, mit roten Wangen von der Arbeit im Freien. „Hallo Bischoff.“

„Ethan.“

Viele Jahre lang hatte Samuels Ehemann in seinen Tagträumen das Gesicht und den Namen von Robert Yoder gehabt, auch wenn alles andere an ihm Samuels Vorstellung entsprungen war. Aber nun hatte „Ethan“ Robert ersetzt. Ethan basierte auf niemandem, er war einfach ein Abbild der Sehnsucht. Er hatte dunkles Haar und war schlank, wie Samuel es am besten gefiel, aber seine Gesichtszüge waren nicht definiert, als wäre Samuels Vorstellungskraft nichts mehr eingefallen.

Die Kinder kamen herein, vier Jungen zwischen drei und zwölf Jahren, gesund und ordentlich angezogen.

„Geht es euch gut?“, fragte der Bischoff mit freundlicher Stimme.

„Ja, Bischoff“, sagten sie lächelnd. „Uns gefällt es hier sehr gut.“

In Green Valley, der Gemeinschaft, die Samuel sich erdacht hatte, waren männliche Paare vollkommen normal und sie zogen Waisen auf, die niemand sonst haben wollte, um sie vor einem schlimmen Schicksal zu bewahren. Die Waisen waren glücklich. Die Kirchenältesten waren glücklich. Alle profitierten von diesem Arrangement. Samuel und Ethan liebten ihre Kinder sehr und in den vier Wänden ihres erdachten Heims war stets alles im Reinen.

Samuel hatte viele Stunden in dieser Welt verbracht. Aber während er heute lief, brachte sie ihm nur kurzzeitig Erleichterung. Die Verdammung seines Vaters war zu frisch und zu demütigend.

Als Samuel sich der Stadt näherte, gab es mehr und mehr Autos und Menschen. Er musste aufmerksam sein. Er musste die Blicke ertragen, die sich dank seiner Amish-Kleidung und seines Fußes auf ihn richteten. Er musste auf Fremde achten, die ihm gefährlich werden konnten und nicht bloß neugierig waren.

Kurz bevor er das Obdachlosenasyl erreichte, ging er in einen Supermarkt und kaufte sich einen Hot Dog für 2.99$. Er belegte ihn mit so vielen Zutaten wie möglich, um mehr Kalorien zu bekommen und aß ihn in drei Bissen auf dem Gehweg vor dem Laden. Der Hot Dog linderte den nagenden Hunger, aber nicht die anderen Schmerzen. Er wollte eine Flasche Aspirin kaufen, aber vielleicht konnte er im Asyl welches bekommen. Er ging weiter, auch wenn sein Hinken nach der kurzen Pause umso schlimmer war.

Als er das Asyl erreichte, war es fast dunkel und er torkelte wie ein Junge, der Monster spielte. Alles tat ihm weh. Er war müde, ihm war übel und er war niedergeschlagener als je zuvor. Samuel musste sich anstellen und befürchtete schon, abgewiesen zu werden. Die Frau am Eingang hörte zu, wie er stockend um ein Bett bat und murmelte etwas Mitfühlendes. Sie hatte braune Haut, war kräftig und hatte eine mütterliche Ausstrahlung, die Samuels Scham, weil er um Hilfe bitten musste, beruhigte. Er musste warten, während sie nachschaute, ob für ihn noch Platz war. Als sie schließlich zurückkam, umgab Mitleid sie wie ein schweres Parfum.

„Sie haben Glück. Ich habe ein Bett für Sie gefunden, Samuel. Aber es ist nichts Besonderes. Abendessen gibt es um sieben, wenn Sie Hunger haben. Kommen Sie mit.“