Deutschland oder Jerusalem - Claus-Steffen Mahnkopf - E-Book

Deutschland oder Jerusalem E-Book

Claus-Steffen Mahnkopf

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am 27. März 2011 starb mit nur 36 Jahren die jüdische Religionsphilosophin Francesca Yardenit Albertini, gebürtige Römerin, emphatische Wahldeutsche, Grenzgängerin zwischen Italien, Deutschland, den USA und Israel, eine leidenschaftliche Forscherin und Hochschullehrerin. „Eine Begabung, wie sie nur einmal in einem halben Jahrhundert anzutreffen ist“, so der Religionsphilosoph Bernhard Casper. Mit großer Kenntnis der Sprachen, dem Renaissanceideal einer klassischen Bildung und tief verwurzelt in der aufklärerischen Moderne kämpfte sie für die Idee eines neuen Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden und für eine deutsch-jüdische Aussöhnung jenseits der Schuldfrage. Ihr Blick richtete sich auf jene Stärken des Judentums, die es als Träger einer kritischen Modernität auszeichnen könnten. Die Heirat des deutschen Avantgardekomponisten und Autors Claus-Steffen Mahnkopf begründete eine besondere, nicht nur intellektuelle Symbiose, in der jeder der beiden den gleichen Lebensentwurf erkannte. In großer Offenheit legt Mahnkopf hier das Porträt seiner geliebten Frau vor. Es zeichnet das Bild einer Frau, deren Hunger nach Wirklichkeit die kurze Frist dieses Lebens um so schmerzlicher werden läßt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 393

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Claus-Steffen Mahnkopf

Deutschland oder Jerusalem

Das kurze Leben der Francesca Albertini

zu Klampen

© 2013 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 [email protected] · www.zuklampen.de Umschlaggestaltung: michon, hofheim Satz: michon, hofheim 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013 ISBN 9783866742871

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Villa Massimo

Vita

Naturell

Partnerin

Reisen

Politik

Verrat

Judentum

Deutschtum

Sprache

Bibliothek

Werdegang

Bücher

Forschung

Lehre

Projekte

Krankheit

Ende

Tod

Bilder

All denen, die Francesca mochten

Dieses Buch legt Zeugnis ab, es erzählt die lebenssatte, am Ende jedoch traurige Geschichte der Francesca Yardenit Albertini, einer römischen Jüdin, die in jungen Jahren nach Deutschland kam, um für die Idee eines anderen, besseren, jüngeren Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden zu werben und zu kämpfen. Einer jungen Frau, die einen deutschen Avantgardekomponisten heiratete, der eine außergewöhnlich steile Karriere als Hochschullehrerin und Intellektuelle gelang, einer jungen Frau, die mit 36 Jahren viel zu früh starb.

Francesca stellt einen exemplarischen Fall unserer Zeitgeschichte da: eine Grenzgängerin zwischen Italien und Deutschland, zwischen Israel und den USA. Eine literarisch-sprachliche Hochbegabung mit einer in Deutschland unüblichen Renaissance-Bildung und einem Politikverständnis, das auch einem Pier Paolo Pasolini verpflichtet ist. Eine Frau mit einem Heißhunger auf Realität und Leben. Eine Denkerin mit einem messianischen Blick auf die Zukunft der Menschheit. Und zugleich eine Frühbegabung, die sich wie eine auf beiden Seiten brennende Kerze rasch verbrauchte. Eine ihrer Heldinnen in der Geschichte war Simone Weil, sie starb ähnlich jung.

Francesca ist eine ausgesprochen interessante Frau gewesen, die Biographie allein rechtfertigte ein Buch, trotzdem stehen das intellektuelle Porträt, die politische Mission, das geistige Profil im Vordergrund. Ein Mensch und seine Ideen werden gezeichnet. Und zwar zentriert auf die deutsch-jüdische Frage. Vielleicht kann nur ein jüngerer Vertreter des Judentums mit dem nötigen Abstand zum Holocaust uns einen anderen Blick auf das Judentum lehren. Nur wer aus einem anderen Land kommt und doch emphatisch Deutscher wird, vermag uns zu zeigen, daß Judentum mehr ist als der tragische Komplex aus Shoah, Zweitem Weltkrieg, Israel und der Schuldfrage.

Das war eines der vielen Anliegen meiner Frau. Ihr Erbe kann nur mit Erinnerung gelingen, dem einzigen Mittel, Verstorbenen den zweiten Tod, das Vergessen, zu ersparen.

VILLA MASSIMO

Der erste Eindruck prägt. Anfang April 1998 als neuer Stipendiat der Villa Massimo in Rom angekommen, fest entschlossen, die schöne italienische Sprache zu erlernen, und zwar richtig: mit einem privaten Lehrer, finde ich an der Pforte eine Notiz: »Italienischunterricht von examinierter Philosophin, günstige Preise«. Ich rufe an und vereinbare einen Termin für den kommenden Tag. Es klingelt, ich durchschreite das weiträumige Anwesen, öffne das Tor, und da steht sie: Francesca Albertini, keine 24 Jahre jung, aber doch so bestimmt auftretend, geradezu professionell, mit dem klaren Ethos der Lehrerin, daß ich sie auf dreißig schätze. Ich bin beeindruckt. Der erste Blick ihrer ausdrucksvollen Augen trifft mich.

Wir haben immer zweistündige Sitzungen angesetzt. Als die erste zu Ende ist, gehe ich zu meiner Komponistenkollegin, die zum Abendessen eingeladen hat. Etwas benommen von den ersten Eindrücken, erzähle ich von der neuen Lehrerin. »Francesca? Die ist klasse, nicht?«, bekomme ich zur Antwort, Francesca unterrichtet auch sie. Am nächsten Tag wird der Unterricht fortgesetzt, wie immer unternimmt Francesca die mühevolle Fahrt durch den unberechenbaren Straßenverkehr Roms. Sie hat gleich beim ersten Mal, als sie das großzügige Atelier betrat, im Bücherregal die Adornobände und ein Buch über mittelalterliche Ritualmordprozesse entdeckt, auf dessen Umschlag hebräische Schriftzeichen stehen. Sie spürt sofort, daß etwas in der Luft liegt. Nachdem ich sie auf ihre universitäre, auf ihre philosophische Arbeit anspreche, beginnt sie mit einem langen Vortrag in einem mir unverständlichen Italienisch über das Thema ihrer Abschlußarbeit. Ich verstehe nichts, im doppelten Sinne nichts. Aber hier spricht eine Person so bestimmt, so konzentriert, so mit der Sache eins, daß ich sie nicht zu unterbrechen wage. Es ist eine Faszination, ihr zuzuhören, dem Klang der Stimme, der Rhythmik ihrer Sätze.

Francesca wurde zur persönlichen Führerin, einer Art Vergilius, der mich durch die verschlungene, immer auch chaotische Stadt und Kultur geleiten wird. Zweimal die Woche kommt sie für eine Doppelstunde, aber man sieht sich häufiger, denn sie unterrichtet auch andere Stipendiaten. Diesen Job macht sie seit längerem. Sie hat in der Villa Mirafiori, dem Sitz der Philosophie der Universität La Sapienza, studiert, die ein paar hundert Meter von der Villa Massimo entfernt liegt. Francesca suchte immer die Nähe zu Deutschen, der deutschen Kultur und vor allem der deutschen Sprache. Sie unterrichtet privat auch in der Stadt und übersetzt, wenn es sich anbietet. Sie hat sogar einen Didaktikkurs für den Italienischunterricht besucht. Und ihre Stunden sind streng – sie duldet keine Nachlässigkeiten –, aber begeisternd zugleich. Man spürt, daß sie ihre italienische Sprache mit der rationalen Grammatik und dem musikalischen Klang liebt. Ihre Aussprache ist perfekt und vor allem nicht schnell, was uns Ausländern zupaß kommt.

Francesca zeigt sich als unkomplizierte junge Frau, ohne Attitüde, ohne intellektuelle Arroganz. Es gibt Photos aus dieser Zeit, sie sitzt im Garten der Villa Massimo und hält den kleinen Felix, Sohn der Stipendiaten Carola Bauckholt und Caspar Johannes Walter, auf dem Schoß. Sie strahlt in die Kamera mit einer Kraft, mit einer Lebensfreude und einer Energie, die noch heute den Betrachter umhauen – eine junge Frau mit einem hellwachen Blick, der zwar Intelligenz ausdrückt, dem man aber das Philosophische, Hochgeistige gerade nicht anmerkt. Das wird eines der faszinierendsten und zugleich anmutigsten Züge von Francesca sein: Sie, die geisteswissenschaftliche Sonderbegabung, strahlt das zunächst überhaupt nicht aus. Sie ist immer ein Mensch wie du und ich gewesen.

Francesca, die Lehrerin, umwirbt ihren neuen Schüler. Es ist leicht, wir haben regelmäßig Kontakt, face-to-face, wir gehen zusammen aus, ins Restaurant, durch die Stadt, durch das jüdische Viertel, das Ghetto di Roma, das zu zeigen für sie, die Jüdin, eine besondere Ehre bedeutet. Alles ist so unkompliziert, südländische Mentalität. Auch kommen die Massimo-Partys gelegen. In kurzen Abständen präsentieren im warmen, ja heißen Sommer die Stipendiaten ihre Arbeiten und stellen sie zur Diskussion, woran sich opulente Abendessen für alle und die Gäste anschließen, ein geselliges Zusammensein, das meist bis tief in die Nacht geht. Es ist meine Anfangsphase, ich denke zuweilen, hier werde überhaupt nicht gearbeitet. Aber wir sind in Italien, es ist auch meine Italienische Reise. Francesca gehört fest zum »Personal« der Akademie, fühlt sich pudelwohl im Hin und Her zwischen der italienischen und deutschen Sprache und ist mit den Stipendiaten freundschaftlich verbunden. Sie ist für uns Deutsche wie eine Botschafterin der italienischen Kultur.

Bei meiner eigenen Präsentation kommt es, wie so häufig, wenn Künstler und Kunstliebhaber, aber auch Möchtegern-Intellektuelle zusammensitzen, zu begrifflichem Durcheinander. Auf der Treppe zur Küche meine ich zu Francesca, es lohne sich, Philosophie zu betreiben, man sei vor solchen Wirrungen gefeit. Ein unglaublich warmes Gesicht bedeutet mir: Endlich jemand, der mich versteht. Einige Zeit später kommen wir uns näher. In diese Zeit fällt Francescas erster Auftritt im Wissenschaftsbetrieb. Sie ist für eine Woche nach Toledo bei Madrid für eine jüdische Konferenz eingeladen, um dort einen Vortrag zu halten. Am Ende der Woche, nachdem sie zurückgekehrt ist, werden wir ein Paar. Am nächsten Morgen frühstücken wir im Garten, hinter meinem Studio, bei bestem Sommer- und Sonnenwetter. Das Leben ist schön – auf Italienisch: »La vita è bella« (übrigens der Titel eines Filmes, der zu dieser Zeit weltweit für Furore sorgt und über den Francesca sich maßlos ärgert). Ach ja, wir diskutieren auch darüber, welcher Philosoph bedeutender sei – Lévinas oder Derrida. Francesca hat sehr früh schon ihre festen Ansichten. Ich bin sehr froh, jemanden getroffen zu haben, der mir, bestimmt, aber nicht aufdringlich, widerspricht. Francesca ihrerseits hatte ihren »Deutschen« gefunden, hier in Rom, inmitten der Stadt der Machos. Eine neuer Lebensabschnitt beginnt.

Die nächsten Wochen sind Ferien in einem emphatischen Sinne. Es ist Ferienzeit, Juli, August, September, Sommer, ja Hochsommer. Wir unternehmen viele Ausflüge, Francesca führt durch die Stadt, die an Dokumenten und Sehenswürdigkeiten bekanntlich nur so platzt, vor allem wenn eine Insiderin sie zeigt. Wir machen drei Reisen. Die erste führt nach Neapel, von dort auf die Insel Ischia und natürlich nach Pompeji, einer der sicherlich tiefsten Eindrücke, die ich in Italien erhalte. Francesca, mit ihrem »operatore turistico«-Abitur, ist eine perfekte Reiseleiterin. Wir verbringen einige Tage in den Abruzzen und genießen die Sonne, das luftige Wetter, die beeindruckenden Bergformationen und natürlich die mit Deutschland in keiner Weise vergleichbare Cuisine. Schließlich fahren wir nach Venedig, just an dem Wochenende, da Gerhard Schröder die Bundestagswahl gewinnt. Die Serenissima ist von Anfang an für uns beide ein »sogno«, ein Traum. Eine weitere Reise nach Florenz müssen wir wegen Geldmangels absagen, holen sie aber im Jahr darauf nach. Dafür lädt mich Francesca zum Geburtstag auf ein Landgut am Lago di Bracciano ein, mit einem derart üppigen Abendessen, daß ich kaum mehr von meinem Lieblingsdolce, der großen Profiteroltorte, naschen kann.

Francesca ist seit längerem als Privatlehrerin in der Villa Massimo bekannt. Ihr häufiges Erscheinen wird als normal empfunden. Nicht einmal der Akademiedirektor, der sich stets bemüht, alles zu wissen, ahnt etwas von unserer Beziehung, die wir nicht öffentlich machen. Monate später, ich komme von einer Konzertreise zurück, ruft er mich an, er müsse mich belehren, während meiner Abwesenheit habe im Studio Licht gebrannt, der Hausmeister habe Frau Albertini vorgefunden. »Ich muß Ihnen von Amts wegen sagen, daß Sie, wenn Sie nicht da sind, keinen Besuch beherbergen dürfen.« Ich nehme Francesca an die Hand und gehe ins Büro. Da sitzen wir dem vermeintlich allwissenden Chef gegenüber. »Lieber Herr Schilling«, sage ich, »Frau Albertini kennen Sie ja. Sie ist seit Monaten meine Lebensgefährtin.« Er ist sichtlich überrascht, doch hocherfreut und gibt uns seinen Segen. Weihnachtsgrüße in den folgenden Jahren werden liebevoll überschrieben mit »An die Mahnköpfe«. Wir besuchten ihn viele Jahre später in Berlin; es war ein sehr herzliches Wiedersehen.

Daß ich so schnell Anschluß an die Bevölkerung der Stadt finde, ist natürlich ein Glücksfall. Es ist eben »bella estate«, um den Titel eines Romans von Cesare Pavese zu zitieren, den ich zu dieser Zeit lese. Ich spreche auch im Alltag italienisch, Francesca zeigt die Stadt, wir machen Ausflüge, nicht nur ans Meer, und reisen durch das ganze Land. Auch wenn wir uns immer wieder über die Unzuverlässigkeiten des römischen Betriebs aufregen, rückblickend kann ich sagen, daß dieses Jahr vielleicht das schönste meines Lebens gewesen ist. Es kommt selten alles zusammen: Italien, Rom, das Klima, der Sommer, die Freiheit des Arbeitens, die großzügige Wohnsituation – und die Frau fürs Leben. Kann man mehr verlangen? Eine gute Freundin zu Hause meinte spontan, als sie hörte, ich hätte das Massimo-Stipendium gewonnen, »Du wirst Dich verlieben«. Sie, die Lateinlehrerin, meinte die Ewige Stadt, sie konnte nicht ahnen, wie sehr ihre Prophezeiung Wirklichkeit werden sollte.

Francesca hat ihren Universitätsabschluß bereits ein Jahr hinter sich und studiert in einem Zweitstudium Theologie, leidet aber darunter, in Philosophie nicht promovieren zu können. Anders als in Deutschland, wo die Promotion allen offensteht, sofern sich ein Betreuer findet, durchläuft der italienische Kandidat einen »concorso«, den Francesca mit einem Projekt zur jüdischen Philosophie aber nicht gewinnt. Ich bin irritiert. Sie erklärt, daß man, wie so häufig in Italien, guter Beziehungen und einer Lobby bedürfe und es daran gemangelt habe. Sie ist nicht einfach frustriert, sie ist in ihrer Würde als Intellektuelle, als Wissenschaftlerin – und vermutlich auch als Jüdin – zutiefst verletzt und gedemütigt. Ich spüre etwas von ihrer Verachtung des eigenen Landes und seiner Gebräuche. Aber noch sind ihr die Hände gebunden. Sie muß sich durchschlagen und versuchen, so gut es geht Geld zu verdienen, was allerdings mit Unterricht und Übersetzungen nur vorübergehend möglich ist. Als ihr ein versprochener Job verwehrt wird, kommt sie völlig aufgelöst zu mir. Sie heult, ihre Existenzangst ist offensichtlich.

Im Herbst erhält Francesca auf Vermittlung eines römischen Professors – an der Universität genießt sie einen hervorragenden Ruf – ein Promotionsangebot aus Deutschland. Das ist natürlich ein großes Glück, und zwar ein dreifaches. Sie kann wissenschaftlich weiterarbeiten; die Pläne liegen ja bereits in der Schublade. Francesca wollte schon als Teenager Italien verlassen, ein Wunsch, der mit den Jahren kaum an Dringlichkeit verloren hatte. Schließlich kommt das Angebot aus Freiburg, mithin jener Stadt, in der ich lebe. Ich traue meinen Ohren nicht. Freiburg! Da hat das Schicksal es gut mit uns gemeint. Dieser Tag ist der Beginn von Francescas deutscher Laufbahn, sie wird in den nächsten Jahren einen beispiellosen Arbeitseifer an den Tag legen und sich selber übertreffen.

Francesca bereitet sich langsam, aber zielstrebig auf ihre Emigration vor. Bernhard Casper, der Freiburger Religionsphilosoph, bietet ihr eine kleine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität ab Januar 1999 an. Damit ist ihr Einstieg in das neue Land abgesichert. Obwohl ich beteuere, daß ihrer Immatrikulation in Freiburg nichts im Wege stehe, ist Francesca skeptisch und geht davon aus, daß sie zuerst einen Sprachtest für Deutsch bestehen müsse. In der Angst, bei diesem zu scheitern, besucht sie einen Fortgeschrittenenkurs am Goetheinstitut und arbeitet wie eine Wahnsinnige, die um ihr Leben fürchten muß. Einmal, bei einem scheußlichen Wetter, gerät sie in Panik, weil sie des typisch römischen, mithin undurchdringlichen Verkehrs auf den Straßen wegen zu spät kommen sollte. Francesca ist überpünktlich und extrem gewissenhaft.

Francesca hat sich sehr früh als Jüdin zu erkennen gegeben, und zwar auf eine Weise, als sei das das Normalste der Welt. Dabei lebt sie gänzlich unorthodox. Zu keinem Zeitpunkt ist etwas unmöglich, nur weil ein jüdisches Gebot dies unterbunden hätte. Sie geht zur Synagoge, gewiß, erwartet aber von mir keine Änderung der Gepflogenheiten. Ich erfahre, daß Francesca in der römischen jüdischen Gemeinde sehr aktiv und für ihr junges Alter bereits ausgesprochen angesehen ist. Sie könnte sich dort entfalten, will aber ihre Leidenschaft für das Jüdische mit dem Beruf verbinden, und das sollte erst in Deutschland möglich sein.

Als Lebensgefährte von Francesca, die immer häufiger in der Villa Massimo als bei ihren Eltern anzutreffen ist, werde ich in ihre Familie integriert. Gemeinsame Ausflüge, Treffen und Mahlzeiten werden regelmäßig. Vater und Mutter haben kein Problem mit mir, dem Deutschen und dem Nichtjuden. Sie sind liberale, aufgeklärte Menschen mit dem politisch linken Hintergrund der 1970er Jahre, im Alter meiner älteren Geschwister. Auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester mag mich; sie frotzelt ab und an mit den schweren deutschen Sprüchen aus der Sprache der Hundeerziehung, auf die sie sich spezialisiert hat (»Sitz«, »Platz«), hat mich aber von Anfang an akzeptiert. Als wir zum ersten Mal zu den Großeltern, die im Krieg Schlimmes durchmachen mußten, gehen, werde ich um Umsicht gebeten. Doch vor allem die Großmutter, mit der Francesca eine große Liebe verbindet, akzeptiert mich – zumindest spüre ich keine Ablehnung –, weil sie Vertrauen in die richtigen Entscheidungen ihrer Enkelin setzt. Francesca ihrerseits konfrontiert mich niemals, zu keinem Augenblick, mit einer möglichen Schuld oder Verantwortung für das, was »mein« Volk der Welt, Europa und vor allem den Juden antat. Natürlich ist die Shoah für uns ein zentrales Thema, aber von Rancune, Ressentiment, gar Rache ist Francesca gänzlich frei.

Sylvester 98/99 feiern wir auf der Villa Massimo mit den anderen – ein großes heiteres Fest, wie ein lieto fine in der Oper, mit allen Protagonisten. Ein paar Tage später packt Francesca die Koffer, darunter einiges Übergepäck für die vielen Bücher, die sie benötigt. Ihre Eltern und ich fahren sie zum Flughafen, meine Neffe holt sie in Basel ab. Drei Monate später werden alle ihre Habseligkeiten, darunter kistenweise Bücher, nach Freiburg transportiert. Francesca hat Italien verlassen, sie ist nach Deutschland gezogen, ihre Zeit auf der Villa Massimo ist zu Ende.

VITA

Anfang 1999 zieht Francesca nach Deutschland und wohnt in Freiburg in meiner kleinen Wohnung, während ich noch drei Monate Stipendiat auf der Villa Massimo bleibe. Sie muß sich einleben, sich mit der Universität vertraut machen. Und mit dem extremen Winter zurechtkommen. Trotz meiner Schwester und ihrer Familie ein paar Fußminuten entfernt, fühlt sie sich verständlicherweise einsam. Ihr Piccolo ist in Rom; sie faxt Hunderte von Briefseiten. Ende März kommt sie nach Rom und berichtet von ihren ersten universitären Erfahrungen. Man habe ihr bedeutet, sagt Francesca, daß für eine universitäre Laufbahn bis zum höchsten Punkt (schon damals wollte sie sich alle Türen offen halten) eine deutsche Staatsangehörigkeit von großem Vorteil sei. Diese erhält man nach acht Jahren Residenz in Deutschland oder nach dreien, wenn man verheiratet ist. Spontan mache ich ihr einen Heiratsantrag. In meinem Inneren gibt nicht den geringsten Zweifel, daß Francesca die Frau meines Lebens ist. Francesca stimmt sofort zu. Uns verbindet, wie so häufig, eine tiefe Syntonie. Die Heirat in Deutschland wird Francesca in fast allen Belangen helfen, nicht zuletzt bei den Ärzten, die sie teilweise zurückweisen, weil die Honorare aus Italien nicht überwiesen werden. Nach meiner Rückkehr aus Rom betreiben wir zielstrebig die Planung für die – standesamtliche – Hochzeit, die am 3. September im kleineren Familienkreis stattfindet. In der Familie herrscht anfänglich Skepsis, da man unseren Schritt für übereilt hält. Aber sie ist unbegründet. Als wir nach unserer Hochzeit in die gemeinsame, für unsere damaligen Verhältnisse großzügige Wohnung ziehen, funktioniert das Zusammenleben wunderbar.

Francesca wurde am 20. Mai 1974 in Rom geboren. Sie war das erste Kind. Ihre Eltern sind assimilierte Juden mit sephardischem Hintergrund. Im Übergang von den Urgroßeltern zu den Großeltern paßten sich die Familien an den in Italien üblichen Katholizismus an, ohne diesen gläubig zu leben. Die Eltern, die bald noch eine zweite Tochter bekamen, kauften in diesen Jahren eine Wohnung, die sowohl in der Nähe des Monte Mario als auch der Vatikanstadt, also ausgesprochen zentral liegt. Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in der Nähe. Das zu erwähnen, ist nicht unerheblich. Später, als die Immobilienpreise in der italienischen Hauptstadt anzogen, wäre es für Francescas Familie gänzlich unmöglich gewesen, im Zentrum zu leben. Sie hätte, wie ihre Tante in der Peripherie, sich der dortigen öden Kulturlosigkeit und den sozialen Spannungen aussetzen müssen. So aber wuchs Francesca inmitten des Geschehens auf: einer städtischen Kultur mit allen historischen Bezügen, politischen Aktivitäten und Kulturangeboten. Sie durchlief für dreizehn Jahre die Schule, erst die Grund-, dann die Mittelschule, schließlich das Gymnasium, so, wie es in Italien üblich ist. Anstelle des Liceo classico, das sich die Familie nicht leisten konnte, wurde eine auf Wirtschaft und Tourismus spezialisierte Schule gewählt, der Francesca nicht nur drei lebende Fremdsprachen, sondern auch gründliche Kenntnisse in der Landeskunde, mithin auch in Kunstgeschichte verdankt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!