Deutschlands Querfront - Tomasz Konicz - E-Book

Deutschlands Querfront E-Book

Tomasz Konicz

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Beschreibung

Als ob sie die alte Totalitarismus-These wahrmachen wollten, verbreiten Teile der deutschen Linken schon seit mehr als einem Jahrzehnt Ressentiments und Narrative der Neuen Rechten und der AfD. Historisch hat sich der Begriff der Querfront für diese Kooperationsbestrebungen von Kräften am linken und rechten Rand des politischen Spektrums etabliert. Mit Sahra Wagenknecht, ihrer unbestrittenen Galionsfigur an der Spitze, hat sich diese aus der Linken hervorgegangene Querfront inzwischen in einer eigenen Partei organisiert. Das vorliegende Buch zeichnet einerseits die Geschichte dieser Querfront nach, die sich - ähnlich der Neuen Rechten - in Wechselwirkung mit den Krisenschüben der vergangenen Dekade entwickelte. Zudem sollen die gesellschaftlichen Hintergründe der Ausformung dieser national-sozialen Formation beleuchtet werden. Wieso zeigen sich deutsche Linke massenhaft anfällig für die Hetze und die Ressentiments der Rechten? Der sozioökonomische, ideologische und politische Fallout der Weltkrise des Kapitals soll hierbei mit der Krisenblindheit und dem Konservatismus einer alten Linken in Zusammenhang gebracht werden, die sich nach dem Epochenbruch von 1989 unfähig zu einem Neuanfang zeigte. Querfront - das ist der Weg der krisenblinden Altlinken in die Neue Rechte, so die zentrale These dieser Textsammlung. Die Querfront muss somit als eine Art "Einstiegsdroge" in die Wahnwelt der Neuen Rechten begriffen werden. Ihr Erfolg beruht darauf, rechte Ideologie in linke Rhetorik zu verpacken. Objektiv fungiert die Querfront als ein reaktionärer Transmissionsriemen, der einerseits rechtes Gedankengut in linke und progressive Milieus hineinträgt, und andrerseits der Neuen Rechten immer neues, verblendetes Menschenmaterial zuführt. Abschließend - um einen Kontrastpunkt zu dieser großen Regression zu setzten - werden Ideen zu einer emanzipatorischen Praxis in der sich entfaltenden sozioökologischen Weltkrise des Kapitals zur Diskussion gestellt.

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Seitenzahl: 427

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Deutschlands Querfront

Altlinke auf dem Weg zur Neuen Rechten

Tomasz Konicz

Impressum

Impressum © 2024 Tomasz Konicz

Deutschlands Querfront

Altlinke auf dem Weg zur Neuen Rechten

Tomasz Konicz

Glimmerweg 21

30455 Hannover

tkonicz@yahoo.com

Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

Inhaltsangabe

Inhaltsangabe

Impressum

1. Einleitung: Die große Regression

2. Die Neue Mitte ist rechts

3. Projektionsfläche Amerika

4. Gemeinsam gegen Rothschild?

5. Putin unser, der du bist im Kreml

6. Mit nationalem Sozialismus gegen die AfD?

7. Rassistischer Sozialprotest?

8. Die Sarrazin der Linkspartei

9. Nationalsozial in den Wahlkampf?

10. Alles Alte ist besser als alles Neue?

11. Wagenknecht unter Druck

12. Linkspartei: Querfrontschrecken ohne Ende

13. Querfront als Symptom

14. Besetzt!

15. Alte Linke und Neue Rechte

16. Wahn, wenn nicht jetzt?

17. Die Verbrechen des Bill Gates

18. "Die Corona-Proteste sind eine rechtsradikale Sammlungsbewegung"

19. Von Crashpropheten, Putschisten, Preppern und Krisenprofiteuren

20. Schreiben wie ein Internettroll

21. Kampf um "Normalität" (unzensiertes Original)

22. Ende Zusammenarbeit mit Telepolis unter Neuber

23. Telepolis: eine rotbraune Inside-Story

24. Lügen mit Halbwahrheiten?

25. Im wunschgedachten Wirtschaftswunderland

26. Vorwärts in die Vergangenheit?

27. Krisenimperialismus und Krisenideologie

28. Die Alternativimperialisten

29. Liebe Kolleginnen und Kollegen...

30. Das Gerücht über die Wertkritik

31. Nazis welcome

32. Sahras finale Form

33. Querfront und Klasse

34. Wagenknechts rechte Hegemonie

35. Emanzipation in der Krise

1. Einleitung: Die große Regression

"Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner?"

Ruth Fischer, ZK der KPD, vor völkischen Studenten am 25.07.1923

Es scheint kontraproduktiv, bei der Reflexion der Katastrophe der deutschen Linken mit dem Finger auf einzelne Akteure zu zeigen, die durch ihr Agieren den inzwischen sich offen vollziehenden Zerfall beförderten. Sollte noch ein auf radikaler Kritik aufbauender Neubeginn möglich sein, wäre es grundfalsch, die Ursachen des Aufstiegs der Querfront und des korrespondierenden Bedeutungsverlusts der Linken an einzelnen Tätern – und sollten sie noch so einflussreich gewesen sein – festmachen zu wollen, was letztendlich auf eine simple Personifizierung hinausliefe. Es wäre der erste Schritt in eine falsche Richtung. Die Ursachen des Aufstiegs der Querfront, die in der gegenwärtigen Systemkrise ein weitaus größeres Gewicht ausbilden konnte als in den 20er oder 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, liegen tiefer als im Machtstreben und im Größenwahn einer Sahra Wagenknecht.

Sinnvoller scheint es, bei den Begriffen und ideologischen Konzepten der alten Linken anzusetzen, die sich so anfällig für die Neue Rechte zeigte. Es sind anachronistische, aus der Zeit gefallene Ideen, die Anschluss suchen, gleich deren stockkonservativen Trägern, die buchstäblich die spätkapitalistische Welt aufgrund ihrer Krisenblindheit nicht verstehen können oder wollen. Es sind verwildernde Überbleibsel der alten sozialdemokratischen oder orthodox-kommunistischen Linken, die großenteils in Kategorien des 20. Jahrhunderts denken, die sich besonders anfällig für die Querfront zeigten: Sozialdemokraten, Leninisten, Teile der in einer Weltkriegszeitschleife verfangenen Antideutschen – diese in Regression befindlichen Splitter eines 1989 gescheiterten weltgeschichtlichen Anlaufs mutieren vermittels der Querfront zu Trägern rechter Ideologie, da ihr gesamtes politisches Bezugssystem sich immer weiter von der spätkapitalistischen Krisenrealität entkoppelte.

Sahra Wagenknecht, die Galionsfigur der deutschen Querfront, hat für diese Zerfallsform der Linken, die schon keine mehr ist, das Oxymoron des Linkskonservatismus erfunden. Der Wahn hat sich treffend benannt: eine Linke, die nicht mehr progressiv agiert, die rückwärtsgewandt ist, hört schlicht auf, links zu sein (siehe Querfront als Symptom). Es dominiert tatsächlich die konservative Sehnsucht nach der Vergangenheit in dieser alten (Post-)Linken: nach der BRD des Wirtschaftswunders, nach der Sowjetunion und/oder DDR, nach der klaren Frontkonstellation des Zweiten Weltkrieges, etc. - während der unreflektierte, unerbittlich voranschreitende sozioökologische Krisenprozess samt der korrespondierenden Faschisierung eine umfassende Regression in der Szene befördert.

Regression, der angstbedingte Rückfall in frühere Entwicklungsformen, meint hier vor allem unterschiedliche Arten ideologischer Krisenabwehr, da der Krisenprozess das anachronistische Ideologiegebäude, in dem Altlinke sich häuslich einrichteten, aufzusprengen droht – dies unterscheidet die linke Regression von gewöhnlichen reaktionären Tendenzen der Rechten (siehe Alles Alte ist besser als alles Neue?). Konkret vollzieht sich Regression in der Linken als reaktionärer Kampf gegen radikale Krisentheorie, gegen kategoriale Kapitalismuskritik. Regression zielt somit letztendlich darauf ab, die Etablierung eines radikalen Krisenbewusstseins abzuwehren, das die Überlebensnotwendigkeit der Überwindung des Kapitals als sozialer Totalität reflektiert hat (siehe Emanzipation in der Krise). Dies käme ja zwangsläufig einem Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis gleich, der letztendlich auch die Formen, Institutionen und die Vermittlungsebenen subjektloser kapitalistischer Herrschaft hinter sich ließe; was einem tiefen Bruch gleichkommt, der auch die eigene Identität – Ausdruck der Sozialisation im Spätkapitalismus – tangiert. Und dies tangiert auch das Subjekt, auch den Arbeiter, der nur dann "revolutionär" sein könnte, wenn er nicht mehr Arbeiter sein wollte. Mensch muss nicht mehr das sein wollen, zu was er im Kapitalismus sozialisiert wurde.

Vor diesem tiefen, kategorialen Bruch mit dem geliebten Feind Kapital1 scheut die alte Linke, die sich hierbei auf die Ambivalenz gegenüber dem Proletariat im Marxschen Werk berufen kann,2 zurück. Das breite Zurückdrängen und Marginalisieren des radikalen, transformatorischen Krisenbewusstseins, (siehe Das Gerücht über die Wertkritik), das von der Altlinken und der Querfront in den vergangenen Jahren betrieben wurde, resultierte nicht nur aus ideologischer Verblendung und einer buchstäblich identitären Angst, es wurde auch von einem linken Krisenopportunismus befördert, der immer noch auf Posten und Pöstchen in der spätkapitalistischen Krisenverwaltung schielt.3 Der bereits erreichte, bescheidene Reflexionsgrad der Systemkrise ist weitgehend verschütt gegangen, die bewusst geführte kategoriale Kritik des Kapitals in seinem fetischistischen Amoklauf wurde durch affekthafte, irrationale Reaktionen auf das Krisengeschehen abgelöst.4 Der Aufstieg der Querfront in der Linken ging mit der Marginalisierung radikaler Krisentheorie und kategorialer Kritik am Spätkapitalismus einher (siehe die Texte Nr. 21.-24.).

Was ist also unter dieser zumeist absurd staatsgläubigen Altlinken zu verstehen? Die Altlinken müssen gar nicht alt sein, es finden sich – gerade als ideologischer Ausdruck der krisenbedingt zunehmenden Tendenzen zum Staatskapitalismus – auch verstärkt junge Menschen in orthodox-kommunistischen Grüppchen, keynesianischen Seilschaften und Zusammenhängen. Den gemeinsamen Nenner der alten Linken bilden verschiedene Rudimente anachronistischer Ideologie, die in Verwesung übergeht, braun anläuft, sich für den Faschismus des 21. Jahrhunderts öffnet. Was von der Altlinken gepredigt wird, ist die Rückkehr zu den alten – sozialdemokratischen oder leninistischen – Wahrheiten, wahlweise zum sozialdemokratischen Umverteilungskampf, zur Sozialen Frage, zu Keynes, zu Lenin oder gleich Stalin, zum verkürzten Klassenkampfdenken und zum Arbeits- wie Proletenfetisch.

Durch diese Rückbesinnung auf Ideen und Konzepte der Vergangenheit sollten ursprünglich die verschütt gegangenen einfachen Wahrheiten zutage gefördert werden, die man den einfachen Lügen und der Hetze der Rechten entgegengestellten wollte. Den rechten Populismus sollte ein linker Populismus kontern (siehe Die Sarrazin der Linkspartei). Was diese große Regression in ihrer Krisenblindheit beim Durchwühlen alter linker Ideologie-Konserven tatsächlich zutage förderte, sind abgestandene, anachronistische, aus ihrer Zeit gefallene Begriffe und Konzepte, die entkernt – ihres historischen Kontextes beraubt – quasi selbst in Regression übergingen, Anschluss suchten, an die Querfront und an den rechten Wahn andockten. Es sind Ideologiesplitter in Regression, anachronistische Verfallsformen altlinker Ideologie auf dem Weg zur Neuen Rechten.

Zuvorderst ist das Konzept des Proletariats als revolutionäres Subjekt zu nennen, das eine Regression zum populistischen Glauben an das Volk und den Volkswillen erfährt. Da die Arbeiterklasse, die zugleich Variables Kapital ist, ihre revolutionäre Bestimmung nicht erfüllt hat, setzte in Teilen der Linken eine regressive Substitution ein, bei der allgemein das Volk zur neuen, unscharfen Bezugsgröße imaginiert wurde. Dem Volkswillen sollte populistisch Ausdruck verliehen werden, wobei die Interessen des Volkes im Gegensatz zur herrschenden Klasse, oder – abgeschwächt – zu Profiteuren/Reichen imaginiert wurde. Doch was passiert, wenn das Volk partout nicht Front gegen die "reichen Absahner" machen will, sondern in Rassismus und Xenophobie flüchtet? (siehe Rassistischer Sozialprotest?) Muss dieser Volkswille nicht auch berechtigte Volksinteressen zum Ausdruck bringen, muss er nicht auch irgendwie sozial gewendet werden können, indem soziale Forderungen mit stärkerer Abschottung der Grenzen verknüpft werden? (siehe Nationalsozial in den Wahlkampf?)

Der zum "Volksglauben" degenerierte Proletenkult ist eng mit dem altlinken Klassenkampfparadigma verknüpft. Der Kapitalismus ist demnach nichts weiter als die Frontstellung von zwei Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie, die jeweils ihr eigenes Klasseninteresse haben und in einem permanenten – mal offen, mal verdeckt geführten – Klassenkampf befindlich sind, der als der kapitalistische Hauptwiderspruch imaginiert wird. Alles erscheint dem Klassenkampfdenken als Interesse, alle kapitalistischen Phänomene sollen sich demnach auf Interessen zurückführen lassen, nach denen die Klassenkampflinken mit dem berühmten leninschen "Cui bono?" ("Wem nützt es?") fragen. Ein Verteilungskonflikt wird hier zum Hauptwiderspruch aufgeblasen, während der innere Widerspruch des Kapitals ausgeblendet wird, das zum Abschmelzen seiner Substanz - der Lohnarbeit in der Warenproduktion - tendiert und diesen "prozessierenden Widerspruch" nur in immer neuen Expansionsschüben prolongieren kann.

Die gegenwärtige soziale und ökologische Weltkrise wird gerade durch diesen widerspruchsgetriebenen Wachstumszwang des Kapitals befördert, und dies liegt eigentlich auch offen auf der Hand.5 Die verkürzte Kapitalismuskritik der Klassenkampflinken kann aber nur nach dem Cui bono? fragen. Diese Krisenblindheit, die den Fetischismus des Kapitals ausblendet,6 führt somit direkt zur Sündenbocksuche und zum reaktionären Verschwörungsglauben, wie sie die rechte Krisenideologie charakterisieren (siehe Von Crashpropheten, Putschisten, Preppern und Krisenprofiteuren). Selbst wenn ganze Erdteile im Zuge der Klimakrise unbewohnbar zu werden drohen, selbst wenn eine Pandemie wütet, dann können Altlinke, schon mitunter gemeinsam mit Neuen Rechten, nur manisch nach den einflussreichen, schattenhaften Hintermännern suchen, die dafür verantwortlich seien, weil sie daraus Profit schlagen würden (siehe Wahn, wenn nicht jetzt? und Die Verbrechen des Bill Gates).

In den Komplex der verkürzten Kapitalismuskritik gehört auch die ideologische Aufspaltung des Kapitals in ein "gutes", national-schaffendes Industriekapitals, und ein "böses", international raffendes Finanzkapital. Bekanntlich haben die Nazis diesen Wahn einer allmächtigen jüdischen Bankerverschwörung, die für alle möglichen Krisen und Verwerfungen verantwortlich gemacht wurde, auf die eliminatorische Spitze getrieben, indem sie ihn mit fanatischem Antikommunismus in Gestalt des Wahngebildes der "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung" anreicherten.

Historisch bildete dieser antisemitische Wahn vom "zersetzenden jüdischen Finanzkapital" den wichtigsten Anknüpfungspunkt für Querfrontbemühungen, etwa 1923 seitens der KPD im Rahmen des sogenannten "Schlageter-Kurses", der aber Episode blieb (siehe Zitat am Beginn der Einleitung).7 In der gegenwärtigen Linken wurde die einseitige Finanzmarktkritik hauptsächlich von Keynesianern und von der notorischen "Finanzmarktkritikerin" Wagenknecht nach Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 betrieben – womit der tatsächliche Krisencharakter auf den Kopf gestellt wurde, da die Krisenursachen in der hyperproduktiven Warenproduktion zu verorten sind, welcher durch Blasenbildung und Schuldenberge kreditfinanzierte Nachfrage verschafft werden muss.8 Selbst noch in ihren jüngsten Machwerken produzierte Wagenknecht Variationen dieser reaktionären "Finanzmarktkritik", die eine offene Flanke zum Antisemitismus hat (siehe Schreiben wie ein Internettroll).

Ein weiteres altlinkes Übergangsmilieu zur Querfront bilden die Zerfallsprodukte des Antiimperialismus, der sich schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Problem konfrontiert sah, dass viele der Modernisierungsregime, die aus der großen Welle der Dekolonialisierung hervorgingen, schlicht sozioökonomisch scheiterten oder erzreaktionär und/oder massenmörderisch waren – wie etwa der Irak Saddam Husseins. Man behalf sich damals mit dem Konstrukt der "objektiv antiimperialistischen Mächte", die einfach durch ihre Opposition zu den USA als fortschrittlich angesehen wurden, selbst wenn sie die Linke blutig verfolgten (Iran nach der Revolution), oder Minderheiten massakrierten (Iraks Giftgaskrieg gegen die Kurden).

Die Sympathien der Antiimps für reaktionäre Regime oder blutige Modernisierungsdiktaturen in der Peripherie des Weltsystems, die zumeist mit primitivem Antiamerikanismus einhergehen (siehe Projektionsfläche Amerika), fanden in dem Russlands Wladimir Putins das geeignete Objekt, um mit der aufkommenden Neuen Rechten zu verfilzen, die an das "eurasische" Russland, das sich auch als kulturalistisch-reaktionäres Gegengewicht zum Westen versteht, ideologisch andockte (siehe Putin unser, der du bist im Kreml).

Der vom Kreml entfachte Ukraine-Krieg führte zudem zu einem weiteren Desintegrationsschub der deutschen Linken, die einerseits – in Gestalt des linksliberalen Spektrums – die westlichen Narrative kritiklos übernahm und ins Nato-Lager überlief, während viele Antiimps endgültig zu Alternativimperialisten, zu Mietmäulern des russischen Imperialismus verkamen (siehe Krisenimperialismus und Krisenideologie). Die putintreue junge Welt als das Sprachrohr des Antiimp-Spektrums pflegt übrigens immer noch, selbst im Mai 2024, eine wohlwollende Blattlinie gegenüber Wagenknecht und dem BSW, obwohl dessen Akteure inzwischen offen AfD-Rhetorik absondern (siehe Wagenknechts rechte Hegemonie). Es gibt auch personelle Verfilzungen zwischen der junge Welt und etwa dem Querfrontorgan Telepolis.

Dem Antiamerikanismus als großem ideologischem Scharnier zwischen der alten Linken und der Neuen Rechten korrespondiert oftmals eine unterschiedlich geartete Opposition gegen den westlichen Liberalismus. Während die Linke die Privatisierungsexzesse und die soziale Demontage des Neoliberalismus verurteilt, können Vordenker der Neuen Rechten wie Alain de Benoist den Liberalismus wegen seines Kosmopolitismus, seiner Wurzellosigkeit, der identitären Leere und seiner Wertelosigkeit kritisieren – auch hier sind Übergänge möglich, etwa mittels einer national grundierten, verkürzten Globalisierungskritik (siehe Von Crashpropheten, Putschisten, Preppern und Krisenprofiteuren). Die Globalisierungskritik kann durchaus zu bloßer Ideologie, zum Drang zur rechtsoffenen Renationalisierung verkommen. Die Kritik der bürgerlichen Freiheit und der neoliberalen Individualisierung/Atomisierung kann folglich in eine nationalistische/fundamentalistische Gemeinschaftsideologie umschlagen - womit aber nur die gegenwärtige postneoliberale Krisenphase, in der Staatskapitalismus, Nationalismus und Protektionismus im Aufwind sich befinden, ideologisch legitimiert würde. Auch hier leistete Wagenknecht bereits Vorarbeit (siehe Schreiben wie ein Internettroll).

Einen ähnlichen Anknüpfungspunkt für die Abwanderung von Linken in die Rechte bildet schließlich der Nahostkonflikt –und seit dem molekularen Hamas-Massaker an Juden vom 07. Oktober 2023, vor allem Israels Krieg gegen die Hamas. Einerseits gibt es die üblichen Reflexe des aufschäumenden Antizionismus, der im Laufe der Proteste immer öfter in offenen Antisemitismus umschlägt.9 Der Kritik an dem Vorgehen der israelischen Armee mischen sich immer mehr Projektionen ("Genozid") bei, bis hin zum genuin antisemitischen Wahn, der etwa die US-Regierung oder die Medien von einer jüdischen Verschwörung beherrscht sieht. Zugleich können Ressentiments aber auch in der proisraelischen Bewegung verfangen, da Rechte den Massenmord an Juden durch die Hamas zur Anfachung antimuslimischer Ressentiments, zum Schüren von Xenophobie und Abschottungswahn instrumentalisieren. Ausdruck der mehrfachen Rechtsoffenheit dieser Krisenkonstellation – Folge der krisenbedingt weit vorgeschrittenen Verrohung – sind gerade die Auseinandersetzungen in der Rechten, wo über die zwei möglichen Strategien zur Instrumentalisierung des Krieges gestritten wird. Rassismus oder Antisemitismus, wie soll der Konflikt ausgeschlachtet werden, darüber debattiert die Rechte.10

Die verkürzte, in der bürgerlichen Aufklärungsideologie feststeckende Kritik des Islamismus bildete auch den wichtigsten rechten Kipppunkt innerhalb der antideutschen Szene. Die Auseinandersetzung mit der Ideologie des Islamismus, der ja – etwa in Gestalt des Islamischen Staates11 oder der Hamas – tatsächlich genozidale Züge annehmen kann, führt bei Identifikation mit spätbürgerlicher Ideologie in blanken Rassismus. In der Hardcore-Fraktion der Antideutschen, bei der Postille Bahamas, werden antimuslimische Ressentiments inzwischen offen artikuliert, etwa indem eine "Beweislastumkehr" für Muslime gefordert wird.12 Auch bei den Antideutschen handelt es sich sozusagen um eine altlinke Strömung, die das spätkapitalistische Weltsystem in einer Zeitschleife gefangen sieht, in der die Konstellation des Zweiten Weltkrieges ewig fortbesteht: mit dem Islamismus in der Rolle der Nazis. Dennoch muss hier festgehalten werden, dass diese kleine Szene, deren Bedeutung von ihren Gegnern aus dem Antiimp-Spektrum gerne aufgebauscht wird, nur einen Nebenaspekt der Querfronttendenzen darstellt.13

Die Querfront speist sich – wie oben dargelegt – vor allem aus regressiven traditionskommunistischen und alt-sozialdemokratischen Strömungen. Und sie hat in der gegenwärtigen Krise eine weitaus größere Bedeutung angenommen, als es in den 20er oder 30er Jahren der Fall war, wo solche Bestrebungen immer nur Episode blieben. Mit dem BSW hat die Querfront Parteiform angenommen, und sie könnte die panische Linkspartei, die sie erst groß machte (siehe Linkspartei: Querfrontschrecken ohne Ende), durchaus aus vielen der ihr verbliebenen Parlamente verdrängen. Die Reaktion der Linkspartei auf die Abspaltung der Querfront bestand im Europawahlkampf 2024 übrigens darin, die Querfront-Ideologie von der zentralen Rolle der (deutschen) "sozialen Frage" zu übernehmen. Mitten in der aktuellen Systemkrise fokussiert sich die Linkspartei auf eine anachronistische "Sozialpolitik", die im sich entfaltende Krisenchaos nicht mehr realisiert werden kann, anstatt über Transformationswege aus der kapitalistischen Dauerkrise zu streiten – während Linksparteigrößen Koalitionssignale an Wagenknecht senden (siehe Wagenknechts rechte Hegemonie).

Das deprimierende Endstadium der Linkspartei kulminiert somit darin, die ideologischen Ausreden Wagenknechts, mit denen sie ihre Rechtsdrift legitimierte, für bare Münze zu nehmen. Es handelt sich hierbei faktisch um einen grenzenlosen Opportunismus bis zum letzten Atemzug, der auf die Koalitionsfähigkeit mit der Querfront schielt – und somit die Normalisierung der Faschisierung hinnimmt. Die Querfront sucht keine Konfrontation mit dem Faschismus, sondern die opportunistische Anpassung an den krisenbedingt aufkommenden rechten Zeitgeist. Das ist der gemeinsame Nenner zwischen den Rest- und Altlinken in Linkspartei und BSW. Und dies erinnert nicht zufällig an die bürgerlich-demokratische Methode, den Rechtsextremismus zu "bekämpfen", indem man sich ihm angleicht – wie zuletzt im Herbst 2023 bei der Flüchtlingspolitik.

Was aber ist eigentlich die Querfront? Zur Verdunklung dieses Begriffs tragen gerade Querfrontler gerne bei, da sie alles Mögliche als Querfront bezeichnen. Der ehemalige Linksparteiabgeordnete Dieter Dehm fragte etwa in einem Interview, das in der rechtsextremen Zeitschrift Compact abgedruckt wurde,14 ob die Anti-Hitler-Allianz nicht auch als eine Art Querfront bezeichnet werden könnte. Für die Querfront ist alles Querfront, um hierdurch – auch angesichts der historischen Erfahrungen – die Ungeheuerlichkeit ihres Paktierens mit der Rechten zu verschleiern. Querfront bezeichnet gerade nicht einfach eine Zusammenarbeit linker und rechter Parteien oder Kräfte – etwa, wenn Grüne, SPD oder CDU eine Koalition eingehen – sondern die Kooperation zwischen den Kräften am linken und rechten Rand des politischen Spektrums. Historisch waren das die punktuellen Annäherungsversuche zwischen KPD und der völkischer Rechten und/oder NSDAP, die Episode blieben, gegenwärtig ist es die sehr reelle, dauerhafte Annäherung zwischen der wagenknechtschen Postlinken, die ehemals Links von Rot-Grün stand, und der AfD. Es ist, als ob Querfrontler die alte Totalitarismustheorie des Kalten Krieges wahrmachen wollten, die von der CIA ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Umlauf gebracht wurde (Sahra Wagenknecht eine CIA-Agentin? Wäre dies nicht eine schöne Verschwörungstheorie, die in diesem Spektrum doch sicher verfangen müsste?).

Die objektive Funktion der Querfront ist aber die eines ideologischen Transmissionsriemens, der einerseits rechtes Gedankengut in linke und progressive Milieus hineinträgt, und andrerseits der Neuen Rechten immer neues, verblendetes Menschenmaterial zuführt. Die Querfront fungiert somit für viele Linke als eine Art "Einstiegsdroge" in die Wahnwelt der Neuen Rechten. Ihr Erfolg beruht darauf, rechte Ideologie in linke Rhetorik zu verpacken. Die Ausformung der Querfront binnen der letzten zehn Jahre belegt gerade eindrucksvoll, dass all die Hoffnungen, mit einer Öffnung nach rechts die verblendeten Wutbürger "abholen" zu können, grandios gescheitert sind – sie waren entweder illusionär, oder es handelte sich um bloße Ausreden, um den intendierten Gang nach rechts irgendwie zu legitimieren. Die Querfront ist letztendlich Ausfluss der Krisenblindheit einer opportunistischen Linken, die vor radikaler Kritik und der Thematisierung der überlebensnotwendigen Systemtransformation zurückschreckt. Die Querfront - das ist der Weg der Linken in den Extremismus der Mitte, der in der gegenwärtigen Systemkrise um sich greift, sobald die Systemfrage nicht offensiv gestellt wird und mit einer transformatorischen Praxis einhergeht (siehe Emanzipation in der Krise).

Die hier versammelten Texte liefern einen zeithistorischen Überblick über die Genese, die Ausformung und den Durchmarsch der Querfront in den vergangenen zehn Jahren. Es ist eine im Präsens gehaltene Geschichte dieser buchstäblich "nationalsozialen" Bewegung. Die Darstellung setzt mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in der Ukraine und den "Mahnwachen für den Frieden" ein (siehe Gemeinsam gegen Rothschild?), sie stellt die Auseinandersetzungen innerhalb der Linken während der Flüchtlingskrise dar, um mit dem Querdenker-Wahn und den ersten Positionierungen des BSW nach dessen Gründung diesen Überblick abzuschließen. Viele der versammelten Texte zeichnen nicht nur die zeithistorische Entwicklung der Querfront nach, sondern skizzieren zudem deren ideologische Ausformung, die in enger Wechselwirkung mit dem kapitalistischen Krisenprozess und dem entsprechenden Aufstieg der Neuen Rechten steht.

Aufgrund thematischer Überschneidungen sind drei Texte und ein Interview aus dem E-Book Faschismus im 21. Jahrhundert übernommen worden, die sich mit dem Querdenker-Wahn beschäftigen, der für die weitgehende Verfilzung der Neuen Rechten und Querfront essenziell war (Besetzt!,Wahn, wenn nicht jetzt?, Die Verbrechen des Bill Gates, "Die Corona-Proteste sind eine rechtsradikale Sammlungsbewegung").

Ich danke Thomas Meyer vom Exit-Zusammenhang, Wolfgang Dölz und Thomas Knopp für ihre Unterstützung bei der Anfertigung dieses E-Books.

Hannover, im Mai 2024

2. Die Neue Mitte ist rechts

Telepolis, 30.09.2013

Ein Überblick über die langfristigen Wandlungen des politischen Spektrums in Deutschland, die uns die kommenden schwarzen Jahre bescheren.

41,5 Prozent für die CDU, die damit knapp an der absoluten Mehrheit vorbeischrammte - und die gab es zuletzt 1957 unter Adenauer.15 Offensichtlich existiert in der Bundesrepublik derzeit eine Mehrheit rechts der viel beschworenen "Mitte". Die deutsche Rechte hat bei den Bundestagswahlen 2013 einen fulminanten Wahlsieg errungen, der die CDU beinahe mit einer absoluten Mehrheit beglückte. Die Etablierung bayerischer Verhältnisse im Bund, also die Alleinherrschaft einer konservativen Partei, scheiterte an nur fünf Parlamentssitzen, die der Union hierzu fehlten.

Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit können übrigens kaum für dieses Ergebnis verantwortlich gemacht werden, da bei diesem Urnengang die Wahlbeteiligung erstmals seit 1998 wieder angestiegen ist. Dabei hat gerade die Fünf-Prozent-Hürde einen totalen Durchmarsch der Rechtsparteien verhindert. Die rechtspopulistische AfD und die FDP lagen mit 4,7 und 4,8 Prozent knapp unter dieser Schwelle. Wenn man noch die 1,3 Prozent Wählerstimmen hinzurechnet, die die NPD auf sich vereinigen konnte, haben 52 Prozent aller an dem Urnengang teilnehmenden Wähler für Partieren gestimmt, die der - mehr oder minder extremen - Rechten zuzuordnen sind.

Aber was sagen diese Einordnungen in das traditionelle Rechts-Links-Schema überhaupt noch aus? Gibt es noch diese klassische Frontstellung zwischen rechten, konservativen und reaktionären Parteien, die auf die Bewahrung des Bestehenden - oder die Rückbesinnung auf Vergangenes - abzielen, und progressiven Gruppierungen, die eine - revolutionäre oder reformistische - Überwindung der bestehenden Gesellschaft anstreben? Sind die Grünen, sind die Sozialdemokraten nur deswegen noch als Linke, als progressive Parteien zu bezeichnen, weil es rechtspopulistische Kräfte wie die CSU und die AfD gibt, die sich Bismarck als Vorbild nehmen und eine Autobahnmaut für Ausländer einführen wollen?

Die Grünen zumindest haben ihren linken Ballast nach ihrer Wahlniederlage in Rekordgeschwindigkeit entsorgt, um möglichst rasch ihre Koalitionsfähigkeit zu demonstrieren. Fraktionschef Jürgen Trittin, der dem "linken" Parteiflügel zugerechnete Architekt des Bundestagswahlkampfes, kündigte umgehend nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse seinen Rücktritt an. Seine potenziellen Nachfolgerinnen - Göring-Eckardt und Kersitn Andrea - überbieten sich derweil in Beteuerungen, die Partei "zurück in die bürgerliche Mitte" zu führen, wie es Spiegel-Online formulierte.16

Göring-Eckardt erklärte, die reumütigen Grünen würden nun "wieder stärker die gesellschaftliche Mitte" ansprechen wollen, um "verloren gegangene Sympathien" zurückzugewinnen. Ihre Konkurrenten um den Fraktionsvorsitz, Kerstin Andreae, präzisierte diese Neuausrichtung im Gespräch mit den Stuttgarter Nachrichten: Es gehe ihr vor allem darum, "neue Brücken zu den Unternehmen" zu schlagen. Die Grünen hätten mit ihren Wahlkampfparolen von "Steuer- und Abgabenerhöhungen den Bogen überspannt", kommentierte Spiegel-Online. Doch nun wollten alle zurück in die "Mitte".

Neoliberale Einheitsfront

Wie sah dieser "Linkskurs" der Grünen aber tatsächlich aus? Die im grünen Wahlkampfprogramm geforderten Steuersätze für Wohlhabende lagen beispielsweise unter denen, die während der Ära des konservativen Bundeskanzlers Helmut Kohl Gesetz waren. Wenn die Forderung nach Einführung von Steuersätzen, die unter denen liegen würden, die eine stockkonservative Regierung in den 90ern erhob, als Linkskurs gilt, dann müssen sich wohl die Vorstellungen von dem, was "Links" ist und wo sich die "Mitte" befindet, in den vergangenen Jahren ziemlich stark verschoben haben.

Die Schnelligkeit, mit der die Grünen diesen Kursschwenk vollführen, macht nur zu deutlich, dass es sich beim nun verteufelten "Linkskurs" um reine Wahlkampftaktik gehandelt hat, um eine Fehleinschätzung der Strategen der Partei, die nun korrigiert wird. Die Grünen sind spätestens seit ihrer ersten Regierungsbeteiligung im Kabinett Schröder/Fischer in der neoliberalen "Neuen Mitte" angekommen. Der Preis für all die schönen Kabinettsposten, den die ehemaligen Ökorebellen entrichten mussten, bestand in der Teilnahme am ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, der gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geführt wurde, und vor allem in der Durchsetzung der Agenda 2010 - eben des neoliberalen "Reformprogramms", dessen übelste Auswüchse im Wahlprogramm der Grünen angeprangert wurden.

Bei den Grünen handelte es sich somit längst um eine neoliberale Partei, deren Spitzenpersonal beim Kampf um Ministerposten keine Skrupel kennt und selbst vor Kriegsbeteiligungen nicht zurückschreckt. Derselbe gilt selbstverständlich für die ehemaligen Koalitionspartner der Grünen, für die SPD - für die Partei eines Salonrassisten wie Thilo Sarrazin. Es ließe sich sogar argumentieren, dass es gerade nur der "Neuen Mitte" dieser ehemals linken Parteien möglich war, solch einen fundamentalen Rechtsruck in Deutschland durchzusetzen, wie ihn die neoliberale Agenda 2010 darstellte - diesen Kräften gelang es weitaus besser, Widerstandspotenzial etwa bei den Gewerkschaften auszuschalten, als es die CDU vermocht hätte. Die Christdemokraten konnten in der jüngsten Wahl schlicht die Ernte einfahren, die von Rot-Grün ausgebracht wurde.

Objektiv betrachtet sind mit der CDU/CSU, der SPD und den Grünen vier neoliberale Partien im neuen Bundestag vertreten, weswegen die Häme über das Scheitern der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde, die allerorts geübt wird,17 eigentlich gänzlich unbegründet ist. Es gibt genügend neoliberale Alternativen.

Neben dieser neoliberalen Einheitsfront findet sich mit der Linkspartei eine klassisch sozialdemokratische Kraft im Bundestag, deren braven Reformvorschlägen im gegenwärtigen politischen Klima der Bundesrepublik der Ruch des Extremismus anhaftet. Nichts ist entlarvender für die Zustände in der "Mitte" der BRD, wenn die Linkspartei sich mit einem Vorschlag zur Einführung eines einheitlichen Mindestlohns zu profilieren versucht - einer zivilisatorischen Selbstverständlichkeit in nahezu allen Industrieländern, einschließlich der USA. Eigentlich ist es überflüssig, zu erwähnen, dass diese Initiative der Linken zur Verwirklichung einer Forderung, die sich auch im Wahlkampfprogramm der SPD wiederfindet, von den Sozialdemokraten abgelehnt wurde.18

Alles Alte ist besser als alles Neue

Um sich ein Bild davon zu machen, welche Standpunkte heutzutage am linken Rand des öffentlich tolerierten politischen Spektrums noch vertreten werden dürfen, reicht ein Blick auf Sahra Wagenknecht, die dem linken Flügel der Linkspartei zugerechnet wird. In ihrem Buch "Freiheit statt Kapitalismus" plädiert die ehemalige Frontfrau der Kommunistischen Plattform in der PDS für eine Rückbesinnung auf die Wirtschaftskonzepte des konservativen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, die Wagenknecht nur "zu Ende denken" wolle.

Ansonsten greifen Wagenknecht und Oskar Lafontaine auf staatszentrierte Politikrezepte der Sozialdemokratie - die zumeist als Keynesianismus bezeichnet werden - aus den 70er Jahren zurück, um sie als Alternative zum gegenwärtigen Neoliberalismus zu präsentieren. Wagenknecht wäre in den 50er Jahren im Arbeitnehmerflügel der CDU gut aufgehoben gewesen, in den 70ern wäre sie in der SPD programmatisch kaum aufgefallen.

Offensichtlich stellt das politische Koordinatensystem, in dem das übliche Rechts-Links-Schema abgebildet wird, keine statische Größe dar. Es befindet sich in Bewegung, es findet ein Wandel der Vorstellung dessen statt, was als "Links", oder als "Rechts" anzusehen ist. Und offenbar kann für die vergangenen Dekaden in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eine starke Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums konstatiert werden. Standpunkte und Politikkonzepte, die vor wenigen Dekaden sozialdemokratische Regierungspolitik darstellten, werden nur noch von der Linken vertreten.

Die "Neue Mitte", die von Rot-Grün mittels Agenda 2010 und Jugoslawienkrieg durchgesetzt wurde und von deren allgemeingesellschaftlicher Etablierung nun die CDU profitiert, ist neoliberal, zunehmend chauvinistisch und erzreaktionär. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man Auffassungen dieser Mitte, wie die Forderung nach Autobahngebühren für Ausländer oder nach einer stärkeren Durchsetzung deutscher Interessen in Europa, als rechtes Gedankengut öffentlich zurückgewiesen.

Wie weit die Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums in der Bundesrepublik im Laufe der Jahrzehnte gediegen ist, kann am wirtschafts- und sozialpolitischen Programm der CDU von 1947 abgelesen werden,19 das mit folgender Passage eingeleitet wurde:

"Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert."

Parteien, die heutzutage ihren wirtschaftspolitischen Konzepten solche Präambeln voranstellen würden, müssten mit einer Überwachung durch den Verfassungsschutz rechnen.

Der gegenwärtige neoliberale Konsens in Deutschland, der zunehmend mit Chauvinismus und Ressentiments angereichert wird, hat auch zu einer Umpolung der strategischen Haltungen im politischen Spektrum beigetragen: Die Restlinke erscheint konservativ und bewahrend, die Rechte erweckt den Anschein, aktiv und gestaltend zu agieren. Die Durchsetzung des neoliberalen Kahlschlagprogramms in der BRD vollzog sich in der Form eines gesellschaftlichen Aufbruchs. Während die Parteien der neoliberalen Einheitsfront bei der grundlegenden Umwälzung der Bundesrepublik entlang der Interessen der "Wirtschaft" in die Offensive gingen, diese mit einer entsprechenden aktivistischen Rhetorik von der "Gestaltung der Zukunft" etc. begleiteten, konnte die Linke nur in erfolglosen Abwehrkämpfen verharren, in denen die sozialstaatlichen und zivilisatorischen Überbleibsel verteidigt wurden, die dem Kapitalismus in der Nachkriegsepoche abgetrotzt werden konnten.

Seit dem Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus osteuropäischer Prägung verfiel die rasch marginalisierte Linke in eine rückwärtsgewandte Haltung. Man wollte strömungsübergreifend zurück in die Vergangenheit: in den Rheinischen Kapitalismus der Bonner Republik, oder man trauerte der untergegangenen DDR nach. Alles Alte ist besser als alles Neue - diese Umkehrung der berühmten Formulierung Berthold Brechts - dürfte die Grundhaltung einer bundesrepublikanischen Linken auf den Punkt bringen, die es noch immer nicht vermag, grundlegende Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise zu denken, ohne auf die längst gescheiterten Konzepte der Vergangenheit zurückzugreifen.

Postpolitik und Postdemokratie

Diese Unfähigkeit der marginalisierten Linken - wenn hierunter noch der progressive Impuls der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse verstanden werden soll -, Alternativen zum Bestehenden auch nur zu denken, ist Ausdruck einer krisenbedingten Erosion der Sphäre des Politischen. Seit dem Ende der Systemkonfrontation - beschleunigt durch die 2008 einsetzenden Krisenschübe - ist der Gesellschaft die Illusion des Primats des Politischen, der Gestaltungsfähigkeit der Gesellschaft durch politische Entscheidungsfindung, abhandengekommen.

Angesichts einer kriselnden und alles verschlingenden Ökonomie, die alle Gesellschaftsbereiche und alle Gesellschaftsmitglieder gemäß ihren Verwertungsbedürfnissen abrichtet, ist die Vorstellung politischer Autonomie und demokratischer Gestaltungsspielräume endgültig verschwunden. Ein Blick nach Südeuropa zeigt überdeutlich, wie es Gesellschaften ergeht, die den Anforderungen der spätkapitalistischen Ökonomie nicht hinreichend nachkommen - und folglich bei der zunehmenden Krisenkonkurrenz nicht mehr mithalten können.

Somit befinden sich die meisten spätkapitalistischen Gesellschaften inzwischen in einer Ära der Postpolitik und Postdemokratie. In der Sphäre des Politischen wurde im Hochkapitalismus Interessensvertretung unterschiedlicher Gruppen und Schichten der Gesellschaft praktiziert, hier prallten vor allem die Gegensätze von Lohnabhängigen und Unternehmern - von der orthodoxen Linken als Hauptwiderspruch des Kapitalismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie verstanden - aufeinander. Die Erosion des klassischen Industrieproletariats im Verlauf der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik brachte auch ein Ende der klassischen Arbeiterpartei mit sich, zumal das deutsche "Restproletariat" - das nicht einen Gegensatz, sondern einen integralen Bestandteil des kapitalistischen Systems bildet - längst im bundesrepublikanischen Kapitalismus voll integriert wurde.

Es gibt keine Alternativen mehr

Die Parteien fungieren somit nicht mehr als Vertreter von Interessen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, sie sind nicht mehr Träger unterschiedlicher Politikkonzepte, denen unterschiedliche Gesellschaftsvorstellungen zugrunde liegen würden. Es gibt keine Alternativen mehr.

Die Illusion politischer Gestaltungsfreiräume im Kapitalismus ist mit dem Nachkriegsboom untergegangen, der auch ihre materielle Grundlage bildete. Die Parteien bringen heutzutage nur noch unterschiedliche Vorstellungen hervor, wie die Imperative der "Wirtschaft" zu erfüllen seien, um in der gegenwärtigen Krisenkonkurrenz bestehen zu können. Eine totale Ökonomisierung der Gesellschaft hat längst die Sphäre des Politischen verschlungen. Die Gesellschaft verharrt in einer krisenbedingten Diktatur des Sachzwangs, bei der dem Kapitalverhältnis - also der Gesellschaftssphäre der "Ökonomie" - immer größere Opfer gebracht werden müssen, um nicht in der Krisenkonkurrenz zu unterliegen und abzustürzen: längere Arbeitszeiten, niedrigere Löhne, höhere Arbeitsdichte, Deregulierung, Prekarisierung, ewiges Lernen, äußerste Flexibilität, Selbstvorsorge, Selbstdressur, etc.

Alle Insassen der Deutschland AG rudern halt im selben Boot - und niemand wagt es, nach neuen Ufern auch nur Ausschau zu halten. Deswegen wird sich die seit Jahrzehnten anhaltende Rechtsverschiebung der "Mitte" bis auf Weiteres fortsetzen. Dieser postpolitisch-totalitären Unterordnung der gesamten Gesellschaft unter die immer schärferen Anforderungen der "Wirtschaft" korrespondiert eine neue deutsche Postdemokratie, deren Fassade einem potemkinschen Dorf gleicht. In der Postdemokratie belieben die Institutionen und Rechte der bürgerlichen Demokratie formal bestehen und erwecken den Anschein eines funktionierenden Rechtsstaates - solange sie nicht in Anspruch genommen werden. Dann kann beispielsweise die Ausübung des Demonstrationsrechts in Deutschland sehr schnell ins Auge gehen20 und im harten Vorgehen der Polizei erstickt werden.21

3. Projektionsfläche Amerika

Telepolis, 21.08.2013

Was der deutschlandweit grassierende Antiamerikanismus über die Zustände in der machtpolitisch aufstrebenden Bundesrepublik verrät

Wohl niemals zuvor in der jüngsten Vergangenheit schien es bessere Gründe gegeben zu haben, den weitverbreiteten antiamerikanischen Vorurteilen und Klischees aus voller Überzeugung zuzustimmen. Die Enthüllungen der Whistleblower Bradley Manning und Edward Snowden haben das ohnehin bereits arg ramponierte Image der USA nachhaltig beschädigt.

Die mörderische Praxis der US-Besatzungstruppen im Irak und Afghanistan, die massiven Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo Bay und insbesondere der gigantische Skandal um die globalen Überwachungsprogramme Prism und Tempora entfachten eine Welle der Empörung, die insbesondere in der Bundesrepublik hohe Wellen schlägt.

Diese Enthüllungen der vergangenen Monate und Jahre scheinen all jene antiamerikanischen Klischees zu bestätigen, die Amerika-Hasser seit jeher zu einem Wesensmerkmal der Vereinigten Staaten erklären. Hinzu kommen die sich häufenden Berichte über den allgegenwärtigen Rassismus, überhandnehmende Polizeiwillkür, die schreiende soziale Ungleichheit und den schleichenden gesellschaftlichen Zerfall in der Vereinigten Staaten. Dazu gesellen sich die üblichen europäischen Ängste vor dem amerikanischen "Kulturimperialismus", vor der Dominanz der US-Kulturindustrie, die im Zusammenhang mit dem anvisierten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA wieder aufkommen.

Aus dieser Gemengelage aus Fakten, Stimmungen und Ängsten kristallisiert sich ein Amerika-Bild, dass die USA als eine imperialistische, polizeistaatliche, rassistische und von einer abgekapselten Oligarchie beherrschte globale Hegemonialmacht zeichnet, die zugleich von inneren Zerfallstendenzen und eskalierenden sozialen Widersprüchen geprägt ist. Der Antiamerikanismus scheint somit von der Realität eindrucksvoll bestätigt zu werden - diese Enthüllungen und Berichte sind ja nicht erfunden.

Dennoch handelt es sich beim Antiamerikanismus in seinen vielfältigen Spielarten um reine Ideologie, um eine verzerrte Realitätswahrnehmung, die wenig über das Wesen Amerikas, aber verdammt viel über denjenigen verrät, der das antiamerikanische Ressentiment äußert.

Antimerikanismus als Projektionsfläche

Der Antiamerikanismus in seinen mannigfachen Variationen, die ein breites politisches Spektrum von Links bis Rechtsaußen bedienen, sieht in der bloßen Existenz der USA die letzte Ursache für die oben dargelegten Entwicklungen und Verwerfungen. Totale Überwachung, mörderischer Imperialismus, Raubtierkapitalismus, Aushöhlung der Demokratie und sozialer Zerfall wandeln sich innerhalb dieser Ideologie zu "Exporten" Washingtons oder wahlweise der Wall Street, mit denen die gesamte Welt nach dem Ebenbild der USA umgeformt würde. Phänomene wie Entdemokratisierung oder Militarismus werden letztendlich auf eine - je nach politischer Orientierung unterschiedlich imaginierte - innere Verfasstheit, gar ein inneres Wesen der Vereinigten Staaten zurückgeführt.

Die Ausdifferenzierung des Antiamerikanismus ist in Deutschland besonders ausgeprägt. Die Spannbreite reicht von der verkürzten Kapitalismuskritik linker Strömungen bis zum rechtsextremen Wahngebilde, das kaum noch Berührungspunkte mit der Realität aufweist. Während innerhalb der Linken auf die - ja tatsächlich gegebenen - enormen Klassenwidersprüche und die Herrschaft einer oligarchischen Oberschicht verwiesen wird, die die globalen imperialistischen US-Abenteuer befördern sollen, finden sich im rechten Antiamerikanismus genuin völkische, kulturalistische und antisemitische Argumentationsmuster. Rechtsextreme sehen in den USA einen "synthetischen" und deshalb zum Untergang verurteilten Staat, der nicht auf einer einheitlichen kulturalistischen oder völkischen Grundlage fuße - hinzu gesellen sich oft antisemitische Ressentiments gegen den angeblich übermächtigen Einfluss einer "zionistischen Lobby", die oft auch mit dem "raffenden" Finanzkapital, mit der Wall Street, assoziiert wird.

Doch auch der linke, scheinbar "fortschrittliche" Antiamerikanismus, der sich über die schreienden Widersprüche in den USA und über deren brutale Außenpolitik empört, stellt eine verzerrte Realitätswahrnehmung dar. Die Grundprämise auch des "linken" Antiamerikanismus besteht nun mal darin, dass die Vereinigten Staaten die letzte Ursache der zunehmenden Krisenerscheinungen - von der Erosion demokratischer Standards bis zur Zunahme militärischer Auseinandersetzungen - darstellen. Im Umkehrschluss hieße das, dass ein machtpolitischer Niedergang der USA oder gar deren Auslöschung, zu einem Ende dieser gegenwärtig global eskalierenden Widersprüche und Verwerfungen führen würden. Die Existenz der USA wird zur Ursache der von den USA ausgehenden, negativen Gesellschaftstendenzen imaginiert. Der Tod der Vereinigten Staaten, die so zur Projektionsfläche für die zunehmenden Krisentendenzen im Spätkapitalismus werden, käme innerhalb der antiamerikanischen Ideologie der Befreiung der Menschheit gleich.

Dabei befinden sich die USA schon seit längerer Zeit - beschleunigt durch das Desaster im Irak - im machtpolitischen Abstieg; ihre globale Machtfülle schwindet somit rapide, ohne dass die Welt ihrer "Erlösung" auch nur nähergekommen wäre. Im Gegenteil: Mit dem Ende der unumschränkten US-Hegemonie, mit dem Zerfall der imperialistischen "Pax Americana", nimmt die globale Instabilität, nehmen Auseinandersetzungen und Chaos sogar noch zu (der Amerika-Hasser kann dahinter selbstverständlich nur das finstere verdeckte Wirken Washingtons sehen).

Die tatsächlich oftmals von den USA ausgehenden Krisentendenzen und sonstigen Verwerfungen resultieren nicht aus einer - wie auch immer konkret halluzinierten - inneren Verfasstheit der Vereinigten Staaten, sondern aus deren Stellung im kapitalistischen Weltsystem. Die USA sind einerseits die - im Abstieg begriffene - Hegemonialmacht des kapitalistischen Weltsystems: Sie profitieren von dieser Stellung am meisten, etwa durch den Dollar als Weltgeld, aber sie müssen auch die Hegemonialkosten in Form des "Weltpolizisten" tragen, der die kapitalistische Ordnung notfalls mit militärischer Gewalt durchzusetzen hat. Die "unsichtbare Hand" des Marktes bedarf vor allem in Krisenzeiten immer wieder der eisernen Faust militärischer Intervention oder autoritärer polizeistaatlicher Disziplinierung.

Die Rolle der jeweiligen Hegemonialmächte im kapitalistischen Weltsystem

Das ist aber nun wahrlich keine neuartige Konstellation, sondern integraler Bestandteil des kapitalistischen Weltsystems. Seit seiner Entstehung im 15. Jahrhundert ist das kapitalistische Weltsystem durch einen Mehrwertabfluss von der Peripherie ins Zentrum und hier insbesondere zu den Hegemonialmächten charakterisiert: Von den Goldraubzügen Lateinamerikas über die Plantagen- und Sklavenwirtschaft der frühen Neuzeit, die britische Auspressung Indiens und die Opiumkriege gegen China bis zu dem gegenwärtigen Rohstoffimperialismus verlaufen die Metamorphosen dieser globalen Unterwerfungs- und Ausbeutungsstruktur. Bei deren konkreter Ausprägung spielten die jeweiligen Hegemonialmächte eine zentrale Rolle.

Im Verlauf der Expansion des kapitalistischen Weltsystems treten sogenannte Hegemonialzyklen auf, bei denen eine bestimmte Macht eine dominierende Stellung innerhalb des Systems erringt. Nach einer gewissen Periode geht diese Hegemonialmacht in den imperialen Abstieg über und wird von einem neuen Hegemon abgelöst. Im Folgenden soll die von dem Sozialwissenschaftler Giovanni Arrighi ausgearbeitete Periodisierung und Lokalisierung dieser Zyklen wiedergegeben werden, der vier solcher - von ihm als "systemische Zyklen der Akkumulation" bezeichneten - Hegemonialzyklen identifizierte: "Einen genuesisch-iberischen Zyklus, der die Spanne vom 15. bis ins frühe 17. Jahrhundert abdeckte; einen holländischen Zyklus vom späten 16. bis ins späte 18. Jahrhundert; einen britischen Zyklus von der Mitte des 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert und einen US-amerikanischen Zyklus vom späten 19. Jahrhundert bis zur letzten finanziellen Expansion," die ja spätestens in den 80ern des 20. Jahrhunderts einsetzte.22

Alle Hegemonialmächte haben auf dem Zenit ihrer Machtentfaltung unvorstellbare Massenverbrechen begangen: Erinnert sei nur an die Auslöschung eines Großteils der Ureinwohner Lateinamerikas im 16. Jahrhundert durch die Spanier oder an den spätviktorianischen Holocaust (Mike Davis), den Großbritannien im okkupierten und gnadenlos ausgeplünderten Indien an Millionen von Menschen durch gezielte Hungerpolitik beging.23 Und gerade hierzulande sollte die Erinnerung an den deutschen Griff nach der Welthegemonie, dem rund 60 Millionen Menschen zum Opfer fielen, noch nicht ganz verblasst sein.

Der permanente Massenmord, den das kapitalistische Weltsystem seit seiner Entstehung betreibt, bildet somit eine Konstante dieser Gesellschaftsformation, die aber von wechselnden Hegemonialmächten konkret exekutiert wird. Dieser bluttriefende, seit einem halben Jahrtausend fortdauernde Status quo gründet in der bipolaren inneren Struktur des kapitalistischen Weltsystems: Den einen Pol bildet das Kapital, mit einem uferlosen drang das immer neuer Selbstverwertung, den zweiten Pol der Staat, der diesen Expansionstrieb immer wieder militärisch nachzuhelfen trachtet.

Die USA nehmen auf globaler Ebene eine machtpolitische Position ein, die es immer im Kapitalismus gegeben hat: die der Hegemonialmacht. Der heutige "linke" Antiamerikanismus hält hingegen die USA für den letzten Urgrund der - krisenbedingt eskalierenden! - Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftsweise, wodurch die systemischen Ursachen der zunehmenden globalen Instabilität und der polizeistaatlichen Tendenzen ausgeblendet werden. Zugleich befördert der Antiamerikanismus verhängnisvolle Solidaritätsreflexe, bei denen die Gegenspieler der USA (von Saddam Hussein bis Gaddafi) zu fortschrittlichen oder gar emanzipatorischen Kräften ideologisiert werden, was ja innerhalb der antiamerikanischen Binnenlogik stimmig ist: Wenn die USA der Urgrund allen Übels sind, dann müssen deren Gegenspieler ja notwendig die Seite des Guten und Wahren repräsentieren.

Die zwiespältige Position der USA

Dabei gibt es selbstverständlich objektive Gründe, wieso der Antiamerikanismus gerade in der Bundesrepublik sich solch großer Popularität erfreut.

Zum einen stellen die Vereinigten Staaten die größte und am weitesten fortgeschrittene Volkswirtschaft der Welt dar. Dies stellt tatsächlich die Quelle des hegemonialen Aufstiegs wie des derzeitigen hegemonialen Niedergangs der USA dar. Das Kapital fand zwischen der Atlantik- und Pazifikküste eine riesige, nach der weitgehenden Auslöschung der Indianer kaum berührte Landmasse vor, die einen gigantischen Binnenmarkt konstituierte. Frei von feudalen Hemmnissen konnte sich hier die Kapitaldynamik besonders stürmisch entwickeln, sodass die Vereinigten Staaten spätestens ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur wirtschaftlich, sondern auch technologisch führend waren. In den USA fand schon ein Massenmotorisierung statt, als im Dritten Reich der Bau Wolfsburgs, der "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben", noch nicht begonnen wurde. Das Radio war zwischen New York und Los Angeles längst ein Massenartikel, bevor die Nazis mit ungeheurem administrativem Einsatz die Verbreitung des "Volksempfängers" in Angriff nehmen konnten. Die Vereinigten Staaten konnten Großbritannien nach 1945 gerade deswegen als Hegemonialmacht beerben, weil sie dieses überlegene industrielle und technologische Potenzial im Zweiten Weltkrieg voll ausspielen konnten.

Die Position der USA als am weitesten fortgeschrittene Volkswirtschaft des kapitalistischen Weltsystems ist aber im höchsten Maße zwiespältig, da auch die zunehmenden, dieser Wirtschaftsweise inhärenten Widersprüche zuerst westlich des Atlantiks hervortraten. Die Vereinigten Staaten waren nicht nur führend beim stürmischen Aufstieg der auf Massenkonsum beruhenden Arbeitsgesellschaft, sie sind es auch beim historischen Abstieg dieser Gesellschaftsformation. Alle krisenbedingten Verwerfungen, alle repressiven Schübe des Spätkapitalismus seit den 80er Jahren - von Neoliberalismus bis zum Polizeistaat - nahmen in den USA ihren Ausgang. Das Kapital hatte in den Vereinigten Staaten freie Bahn auch bei der Entfaltung seiner Widersprüche, die das System schon in den 70er Jahren in einer Krise der Arbeitsgesellschaft führten, bei der sich das industrielle Herz der USA im Nordosten des Landes in den berüchtigten Rust Belt, einen "Rostgürtel" voller Industrieruinen, verwandelte.

Alles Schlechte kommt von drüben

Durch dieses "Voranschreiten" der USA auch innerhalb der Krise des Kapitalismus entstand das bekannte und vom Antiamerikanismus aufgegriffene Gefühl, dem zufolge "Alles Schlechte" von "drüben", also jenseits des Atlantiks komme. Das ist zwar, wie dargelegt, tatsächlich so. Jede gesellschaftliche Veränderung - und ab den 1980er Jahren sind es zumeist sehr negative Veränderungen - nahm in den USA ihren Anfang.

Der Neoliberalismus, der zu der zunehmenden sozialen Spaltung in den meisten kapitalistischen Kernländern führte, wurde zuerst von Ronald Reagan und Margret Thatcher durchgesetzt. Der brutale Polizeistaat, der in Reaktion auf die krisenbedingt zunehmenden sozialen Spannungen fast überall aufgebaut wird, hat seine Heimstatt ebenfalls in den USA, die bereits die größte Gefängnisindustrie aller Industrieländer aufgebaut haben. Der Aufstieg des Finanzsektors begann in den Vereinigten Staaten schon in den 1980er Jahren - lange bevor in Europa die Schuldenblasen entstanden, unter deren Platzen es ab 2008 leidet. Ebenso begann die Weltwirtschaftskrise 2007 auf dem amerikanischen Immobiliensektor, bevor sie ab 2009 nach Europa in Form der Eurokrise herüberschwappte.

Dieses dumpfe Gefühl, laut dem alles "von drüben" komme, das die Grundlage des Antiamerikanismus bildet, wird noch durch den globalen Erfolg der amerikanischen Kulturindustrie verstärkt. Hier, in der kulturalistischen Kritik an Hollywood, befindet sich der Übergang vom pseudolinken zum offen reaktionären, regressiven Antiamerikanismus, der eine ideologische Brutstätte der deutschen Querfront bildete. Die Ängste vor dem Verlust der eigenen nationalen und kulturellen Identität, vor dem "Kulturimperialismus" der rein kommerziell ausgerichteten und "unechten" US-Medienmaschinerie, bilden meistens die Triebkräfte dieser Ablehnung der amerikanischen Massenkultur - der zumeist die anscheinend "natürliche" und "gewachsene" nationale Kulturproduktion gegenübergestellt wird. 2013 wurde diese schnell ins Deutschtümelnde abdriftende Kritik auch von der deutschen Kulturindustrie befördert, die aufgrund der - später gescheiterten - Verhandlungen um eine Freihandelszone zwischen den USA und der EU Angst um ihre Marktanteile und die großzügigen staatlichen Subventionen hatte.

Die Dominanz Hollywoods resultiert nicht nur aus dem ökonomischen Gewicht der USA, sondern auch aus der - besonders unter rechtsextremen Antiamerikanern verhassten - Tatsache, dass es sich hierbei um eine Einwanderergesellschaft handelt, die gerade keinen homogenen ethnischen oder kulturellen Kern aufweist, der sich, wie in Europa ansonsten üblich, für völkische oder kulturalistische Identitäts- und Ideologiebildung eignen würde. Die Massenmedien in den USA mussten von Anfang an lernen, ihre Kulturwaren für ein sehr heterogenes Publikum anzufertigen, das die unterschiedlichsten kulturellen Hintergründe aufweist. Folglich lernten es die US-Massenmedien, die einzelnen nationalen Kulturelemente ihrer Spezifika zu entkleiden und in ein allgemein zugängliches Format zu transformieren. Amerikas Kulturindustrie ist global deswegen so erfolgreich, weil sie für ein aus aller Welt stammendes US-Publikum produzieren muss.

Es gibt einen zentralen Faktor, der diese kulturelle und ethnische - auch widersprüchliche, von Rassismus durchsetzte - Heterogenität der Vereinigten Staaten insbesondere innerhalb rechtsextremer Kreise so verhasst macht. In der Konstitution der USA als Einwanderungsgesellschaft, die ihre Legitimität nur aus ihrem Verfassungsakt bezieht, kommt die allen Nationalisten verhasste Tatsache zum Vorschein, dass die Nation gerade keine natürliche und ewige Grundvoraussetzung menschlichen Zusammenlabens ist. Die Nationen, in den Nationalmythen Europas zu "Schicksalsgemeinschaften" (Wolfgang Schäuble) ideologisiert, sind historisch betrachtet relative junge Produkte des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Blick auf die USA reicht eigentlich aus, um auch den deutschen Chauvinisten daran zu erinnern, dass die "Reichsgründung" erst 1871 erfolge.

Ähnlichkeit zwischen der BRD und USA

Zugleich dienen die Vereinigten Staaten insbesondere dem deutschen Antiamerikanismus als Projektionsfläche, bei der gerade innerdeutsche Wandlungen und Widersprüche zutage treten. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die die Bundesrepublik erfassen, werden hierbei auf das Land projiziert, in dem sie zuerst auftraten: die USA. Die Tendenz ist offensichtlich: Je größer die Ähnlichkeit zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten, desto stärker schäumt hierzulande der Antiamerikanismus hoch.

Nirgends in Europa schlägt die Empörung über den NSA-Abhörskandal höhere Wellen wie im Land der Vorratsdatenspeicherung,24 dessen Geheimdienste überdies seit Jahren mit Zustimmung der Politik mit ihren US-Kollegen kooperierten. Künftig will der deutsche Nachrichtendienst aber auf eigenen Beinen stehen und im großen Stil die Internetüberwachung ausweiten: Rund 100 Millionen Euro wird der BND in den Aufbau des entsprechenden Überwachungsprogramms investieren, bis zu 100 neue Mitarbeiter sollen im Rahmen dieser deutschen Überwachungsoffensive eingestellt werden.25 Auch die Polizeigewalt in Deutschland hat schon längst ein "amerikanisches" Niveau erreicht,26 wie die regelmäßigen Berichte von Amnesty International und die polizeilichen Gewaltexzesse bei Demonstrationen - bei denen Wasserwerfer schon mal Demonstranten die Augen aus dem Kopf schießen - immer wieder unter Beweis stellen.27

der zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft ist die Bundesrepublik sogar europaweit führend: Kein anderes Euroland weist einen derartig großen Niedriglohnsektor wie Deutschland auf. Zugleich erreicht die soziale Spaltung in der BRD bereits Ausmaße, wie sie auch in den USA üblich sind:

"Das oberste Hundertstel der Haushalte besitzt 25 Prozent des gesamten Volksvermögens, die obersten zehn Prozent können sich mit der Hälfte des deutschen Gesamtvermögens gemütlich einrichten - aber auf 50 Prozent der Menschen in diesem Land entfällt gerade einmal ein einziges Prozent des Gesamtbesitzes."28

Auch die Militarisierung der deutschen Außenpolitik schreitet munter voran - ganz nach US-Vorbild. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich längst daran gewöhnt, dass deutsche Soldaten permanent im Rahmen von Militäreinsätzen im Ausland aktiv sind. Dabei legt die Bundeswehr schon mal eine Massakerlogik an den Tag, die immer noch ihresgleichen sucht - und die an die Bestrafungsaktionen der Wehrmacht im besetzten Osteuropa erinnert, als für einen getöteten Wehrmachtssoldaten schon mal 100 Zivilisten ermordet wurden. In Afghanistan reicht dem Deutschen Landser heutzutage schon ein Benzindiebstahl aus, um einen Massenord anzuordnen. Das von einem deutschen Oberst befohlene Massaker von Kunduz, bei dem bis 142 Menschen - größtenteils Zivilisten, darunter auch Kinder - getötet wurden, hatte nicht nur keine Konsequenzen für den Täter, Oberst Georg Klein, dieser wurde auch noch 2013 in den Rang eines Brigadegenerals befördert.29

Die einseitige Empörung über ähnliche US-Militärverbrechen, über die Abhöraktionen der NSA, über den Rassismus in den USA und die obszöne Spaltung in Arm und Reich - während dieselben, in der Bundesrepublik ablaufenden Prozesse ausgeblendet werden - ermöglicht die Aufrechterhaltung der Identifikation mit der bestehenden Gesellschaftsformation. Diese Krisentendenzen erscheinen in der verzerrten Optik der antiamerikanischen Ideologe als genuin amerikanische "Importe", die zersetzend auf die deutsche Gesellschaft wirkten. Die deutsche Gesellschaft wird damit als potenziell widerspruchsfrei und harmonisch imaginiert, während die Widersprüche und Krisentendenzen dem Wirken Amerikas zugeschrieben werden. Obwohl sich BRD und USA immer weiter in ihrer inneren Gesellschaftsstruktur annähern, kann vor allem der deutsche Antiamerikanismus das "echte" Deutschland als Gegenentwurf imaginieren, als eine Gegenmacht zur amerikanischen Hegemonie. Die auch in Deutschland ablaufenden gesellschaftlichen Krisenprozesse erscheinen dem Amerikahasser als ein "Fremdkörper", der von den USA herkommend die heile Welt der deutschen Schicksals- oder Volksgemeinschaft unterminiert.

Dieser Parallelen zwischen der BRD und den USA erstrecken sich inzwischen aber auch auf den Bereich der Geo- und Machtpolitik. Die Bundesrepublik ist gerade dabei, innerhalb der Europäischen Union eine dominante machtpolitische Stellung zu erlangen, wie sie die USA in Lateinamerika jahrzehntelang innehatten. Berlin dominiert die EU und diktiert den europäischen Krisenstaaten eine Krisenpolitik, die zur längsten Rezession der europäischen Geschichte führte. In Südeuropa flackern folglich immer wieder Proteste gegen dieses deutsche Spardiktat auf, die Erinnerungen an die antiamerikanischen Demonstrationen wecken, wie sie im arabischen Raum üblich sind. Der SPON-Rechtsausleger Jan Fleischhauer hat diese Parallelen korrekt erkannt und mit den deutschlandweit wieder blühenden Ressentiments garniert.

"Es fehlt nicht mehr viel, und sie verbrennen deutsche Flaggen. Aber halt, auch das tun sie ja bereits. Man kannte das bislang nur aus arabischen Ländern, wo die Jugend bei jeder sich bietender Gelegenheit auf die Straße rennt, um gegen den Satan USA zu Felde zu ziehen. Aber so ist es, wenn man aus Sicht anderer als zu erfolgreich, zu selbstbewusst, zu stark gilt. Wir sind jetzt die Amerikaner Europas. Der Rollenwechsel wird nicht leicht, das kann man schon heute sagen. Wir sind es gewohnt, dass man uns für unsere Effizienz und unseren Fleiß bewundert, nicht, dass man uns dafür hasst."30

Der deutsche "Führungsanspruch" in Europa muss nicht unbedingt in solch schwarzbraunen Töten postuliert werden. Es geht auch lockerer, mit einem Hauch von Weltoffenheit, wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 13. Juli unter Beweis stellte.31 Das Feuilleton der SZ bejubelte unter dem Titel "Die neue Süße des deutschen Daseins" eine "fulminante Streitschrift für eine deutsche Hegemonie", die dem Bayernblatt der Italiener Angelo Bolaffi lieferte. Der dritte Anlauf zur deutschen Hegemonie in Europa stütze sich nicht auf Wehmachtstiefel, sondern resultiere aus der "unwiderstehlichen Kraft eines überlegenen Gesellschaftsmodells", wie die SZ feststellte. In der Konsequenz kann dies nur eins heißen:

"Dieses beispielhaft moderne, zivile, selbstreflexive, kreative, ökonomisch besonnene, durch und durch demokratische, in Berlin sogar wilde und junge Land ist die derzeit einzig denkbare Führungsmacht Europas."

Auch die Frankfurter Zeitung reflektierte anlässlich der Berlinvisite von US-Präsident Obama die neuen machtpolitischen Realitäten in Europa, die es Deutschland ermöglichten "selbstbewusster" gegenüber den USA aufzutreten:32

"Die dramatischen Veränderungen… sind besonders ausgeprägt in Deutschland - das nicht "nur" wiedervereinigt ist, sondern dessen gegenwärtige politische Stellung in Europa und dessen Wirtschaftskraft nur wenige sich hätten träumen lassen … In der Staatsschulden- und Euro-Krise hat Berlin zusätzlich Einfluss erlangt; seine politischen Ziele sind wesentlich, teilweise maßgeblich."

Die FAZ verglich die Berlinvisite Obamas mit dem "Besuch bei groß gewordenen Kindern", die sich nun "von ihren Eltern emanzipiert" hätten. Und wie das bei "Kindern" mit imperialen Ambitionen nun mal so ist, irgendwann wollen sie sich nicht mehr reinreden lassen in ihrem eigenen europäischen Hinterhof, etwa bei der Wirtschaftspolitik, wo Washington "die Deutschen seit Jahr und Tag" ermahne, "statt zu sparen und die den Haushalt zu sanieren die Konjunktur mit staatlichen Investitionen auf Pump anzukurbeln".33 Der Antiamerikanismus dient somit auch als profanes Propagandainstrument in einem handfesten Machtkampf um die Dominanz in der Eurozone, bei dem der punktuell immer noch gegebene Einfluss Washingtons in Europa weiter zurückgedrängt werden soll.

4. Gemeinsam gegen Rothschild?

Telepolis, 11.06.2014

Wieso fühlen sich Politiker der Linkspartei bemüßigt, an einer Querfront teilzunehmen, die das politische Koordinatensystem zu überwinden trachtet?



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