Krisenideologie - Tomasz Konicz - E-Book

Krisenideologie E-Book

Tomasz Konicz

0,0

Beschreibung

Das kapitalistische Weltsystem befindet sich in einer schweren, systemischen Krise, die eine ökonomische und ökologische Dimension aufweist. Doch anstelle eines globalen Aufbruchs, einer Suche nach Alternativen, verhärteten sich nur die bestehenden Weltanschauungen und Ressentiments. Aufkommender Nationalismus, Krisenignoranz, blanker Hass auf Minderheiten, autoritäre Tendenzen und stoisches Festhalten am Bestehenden prägen das gesellschaftliche Klima. Die offen zutage tretende Weltkrise des Kapitals führt somit nicht zur Suche nach Systemalternativen, sondern zur ideologischen Verhärtung in den Zentrumsgesellschaften des Weltsystems. Dieser Krisenprozess soll in diesem Sammelband unter dem Begriff der Krisenideologie in all seinen Facetten erhellt werden. Tomasz Konicz beleuchtet in diesem Buch die vielschichtigen Momente der um sich greifenden Krisenideologie, die das Festhalten am erodierenden Bestehenden ermöglicht und die eine fiebrige Sündenbocksuche mit der Naturalisierung der spätkapitalistischen Gesellschaftsordnung verknüpft. Die Bandbreite der einzelnen Beiträge reicht dabei von der Analyse des krisenbedingt zunehmenden "Extremismus der Mitte", über die Darstellung kulturindustrieller Phänomene wie des Dschungelcamps und des Zombie-Booms, bis zur Auseinandersetzung mit dem Verschwörungsdenken oder dem KI-Boom der letzten Jahre. Der Überblick über die unterschiedlichen ideologischen Reaktionen auf das Krisengeschehen macht dabei deutlich, wie diese es den Menschen ermöglichen, sich trotz Krise mit der bestehenden Gesellschaftsunordnung abzufinden. Ideologie sei vor allem Rechtfertigung, so der Autor in Anlehnung an die Kritische Theorie. Es ist das Bemühen, etwas zu rechtfertigen, was nicht gerechtfertigt werden kann. Denn Krisenideologie tendiert letztendlich dazu, die Menschen mit dem drohenden, sich in der Weltkrise des Kapitals immer deutlicher abzeichnenden Kollaps des Zivilisationsprozesses abzufinden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 475

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. Einleitung2

2. Die neoliberale Neue Rechte4

3. Deutsche Krisenideologie in der Eurokrise10

4. Die große Klimaverschwörung15

5. Die Welt als ewige Weltverschwörung18

6. In der Krise wächst der Hass26

7. Weniger Demokratie wagen29

8. Die extremistische Gesellschaft34

9. Kultur der Panik38

10. Wir müssen draußen bleiben43

11. Die Antiquiertheit der Demokratie50

12. Bloch vs. Dschungelcamp54

13. All you can eat58

14. Separatismus und Krise63

15. Das Schisma von 201367

16. Ora et labora71

17. Die Prophezeiung76

18. Europa im Identitätswahn81

19. Im Bann der Eigentümer-Gesellschaft85

20. Spielend in die Apokalypse91

21. Die Avengers im Kampf gegen das Automatische Subjekt98

22. Das Terrorspiel der Clowns103

23. Sprache der Verdinglichung106

24. Vom Aberglauben zum Wissenschaftsglauben112

25. Wir sind Zombie116

26. Freudsche Zustände123

27. Marx macht mobil, bei Arbeit, Sport und Spiel129

28. "Verschwörungstheoretiker spielen in derselben Liga wie Hellseher, Astrologen und Gurus"134

29. Zu effizient für diese Welt140

30. Die Religionsunternehmer143

31. Konjunktur für Gesundbeter147

32. Amerikas Justizkrieg156

33. Die Welt als Wille der Verschwörer161

34. Pfeifen im absterbenden Walde164

35. Die Politisierung des Wetters167

36. Die extreme Mitte171

37. Die erste Macht im Staate175

38. KI und Kulturindustrie182

39. KI und Kapital: Maschinenkult und Menschenhass188

40. Impressum & Copyright197

1. Einleitung

"tried to save myself but myself keeps slipping away"

nine inch nails, into the void1

Ideologie ist Rechtfertigung. Sie ist das verzerrte, von den Gesellschaftsmitgliedern alltäglich neu reproduzierte Abbild einer irrationalen gesellschaftlichen Realität, die letztendlich nicht gerechtfertigt werden kann. Ideologie vermag es, die Gesellschaftsmitglieder mit den größten Widersprüchen und Absurditäten zu versöhnen, die der Kapitalismus alltäglich produziert. Schreiende soziale Gegensätze, massenhafte Verarmungsschübe, die munter voranschreitende kapitalistische Klimakrise und die sich beschleunigende gesellschaftliche Zerrüttung können so mit einem systemimmanenten Sinn, mit einer Binnenlogik aufgeladen werden.

Im Rahmen der ideologieverzerrten, auf Markt, Konkurrenz und Leistung geeichten Optik mutieren diese Krisenverwerfungen zu Folgen persönlichen oder kollektiven Fehlverhaltens, das gegen die heiligen marktwirtschaftlichen Gebote verstieß. Ideologie stellt somit nicht einfach nur ein Fantasiegebilde oder eine Lügenansammlung dar; in den ideologischen Gebilden finden sich Elemente der gesellschaftlichen Realität wieder, doch sind diese deformiert und in einen apologetischen Gesamtkontext eingebaut, der die himmelschreienden Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsformation zuverlässig externalisiert. Ideologie wohnt somit den gesellschaftlichen Verhältnissen inne, sie ist keine "ablösbare Schicht", hinter der sich etwas ganz anderes verbergen würde, die Widersprüche spätkapitalistischer Vergesellschaftung bringen Ideologie gewissermaßen zwangsläufig hervor. Ideologiekritik ist somit zugleich Gesellschaftskritik, da hierdurch auf die "falsche Gesellschaft" verwiesen wird, die das "falsche", ideologisch verzerrte Bewusstsein hervorbringt.

Ideologie wird – wie es sich für den Kapitalismus nun mal gehört – in einem eigens hierfür zuständigen Wirtschaftszweig, der Kulturindustrie, massenhaft produziert, deren wichtigste Exponenten auch eine unerhörte politische Machtfülle akkumuliert haben. Dennoch greift die übliche Frage nach dem Cui bono, nach dem "wem nützt es" der Ideologieproduktion zu kurz. Ideologie ist ein "notwendig falsches Bewusstsein" (Marx), sie ist ein Gedankengefängnis, das einer Gesellschaftsformation eigen ist, in der die Menschen zu ohnmächtigen Objekten einer krisenhaften, marktvermittelten Kapitaldynamik degradiert wurden.

Obwohl alle Gesellschaftsmitglieder das Kapital mit ihrer eigenen Hände Arbeit alltäglich reproduzieren, sind sie zugleich – aufgrund der marktvermittelten Reproduktionsform des Kapitalverhältnisses – der Dynamik des Kapitals als einer Art gesellschaftlicher Naturgewalt schutzlos ausgesetzt. Die "Märkte" herrschen vermittels ihrer unerbittlichen "Sachzwänge" über die Menschen, obwohl die Märkte nichts anderes als Menschenwerk sind - die Summe der Aktionen der Marktsubjekte. Ideologie bemüht sich im Kapitalismus letztendlich darum, die Menschen mit diesem bizarren Zustand ihrer Gesellschaft zu versöhnen, in der eine fetischistische, sich "hinter dem Rücken" (Marx) der Marktsubjekte konstituierende Kapitaldynamik ihnen als eine fremde, als eine naturwüchsige und destruktive Kraft entgegentritt - obwohl, wie erwähnt, die Marktteilnehmer sie alltäglich selber unbewusst in der Warenproduktion erarbeiten.

Ideologie im Kapitalismus ist somit kein Ausdruck personeller und direkter Herrschaftsverhältnisse, sondern einer vermittelten, systemischen Herrschaft, der Herrschaft eines Gesellschaftsverhältnisses, des Kapitalverhältnisses, das den einzelnen - selbst den mächtigsten - Gesellschaftsmitgliedern als eine feindliche, zerstörerische Macht entgegentreten kann. Diese Erfahrung der zunehmenden Heteronomie, der alltäglichen Fremdbestimmtheit, wird durch die spätkapitalistische Ideologie verarbeitet und inzwischen in einen mehr oder minder geschlossenen Kanon von pseudoreligiös anmutenden Geboten und Sollenssätzen gegossen: Leistung, Flexibilität, Härte gegen sich und andere, lebenslanges Lernen, Kreativität bei gleichzeitiger Konformität, Aufopferungswille, etc. pp.

Dabei muss man sich Ideologie erstmal leisten können, sie wird vornehmlich für diejenigen Gesellschaftsschichten produziert, die noch nicht abgestürzt sind. Adorno bemerkte schon in der Nachkriegszeit angesichts der Ideologieproduktion in den Wirtschaftswunderdemokratien: "Zur Ideologie im eigentlichen Sinne bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse." Dort, wo unmittelbare Machtverhältnisse herrschten, gebe es keine Ideologie, so Adorno. Krisenideologie ist somit eine Verfallsform von Ideologie, die oftmals in den faschistischen Extremismus der Mitte führt.2

In Krisenzeiten gerät somit die Ideologieproduktion vermehrt unter Druck. Während die materiellen Gratifikationen wegfallen, gehen die vermittelten "gemilderten Machtverhältnisse" in direkten und offensichtlichen Zwang über, wie ihn etwa die Gesellschaften Südeuropas während der Eurokrise erfahren haben. Auf diese Verhärtungen der Machtverhältnisse reagiert die Ideologie mit einer ideellen Verhärtung, mit einer extremistischen Zuspitzung ihrer zentralen Postulate. Es greift eine offene Bejahung des gegebenen Systems und seiner eskalierenden Widersprüche uns sich, die keinerlei ideologischen "Weichzeichners" bedarf und sich auf folgende Formel bringen ließe: "Es ist, wie es ist."

Die Variationen dieses Kultes des Gegebenen, der die gegenwärtigen Krisenverwerfungen zu einer anthropologischen Konstante des Menschen schlechthin erklärt, sind weit verbreitet: Das Leben ist hart, die Welt ungerecht, Kriege wird es immer geben. Es findet eine Bejahung der Barbarei, der Härte und der täglichen Massenmorde statt, die dieses in Agonie befindliche System in anschwellendem Ausmaß produziert. Die ideologische Schminke blättert ab: Ja, das System sei hart und ungerecht - und wir müssen damit umgehen lernen, uns anpassen, härter, brutaler werden.

Die Grundvoraussetzung dieser ideologischen Verfallsform - bei der etwa Massaker westlicher Interventionstruppen in den Zusammenbruchgebieten der Dritten Welt damit legitimiert werden, dass Kriege nun mal mit Massakern einhergingen - bildet die Unmöglichkeit, öffentlich über gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus zu debattieren. Mit dieser Barbarisierung betreibt Ideologie somit ihre Selbstauflösung. Es ist keine Rechtfertigung einer barbarischen Krisenrealität mehr notwendig, wenn die Akzeptanz und Bejahung dieser Barbarei insbesondere in den Mittelschichten immer weiter um sich greift.

Die reale gesellschaftliche Bewegung, die diesen ideologischen Verfallsprozessen zugrunde liegt, besteht aus einer ungeheuren krisenbedingten Konkurrenzverschärfung. Auch wenn oftmals immer noch die Existenz einer Systemkrise rundweg negiert wird, haben vor allem große Teile der Mittelklasse längst auf die Erosionsprozesse in ihrer Schicht reagiert: Die Mittelklasse reagiert mit einer Art Zeitlupen-Panik, mit einem "Rette sich, wer kann", bei dem die Verschärfung des Konkurrenzverhaltens den eigenen sozialen Status sichern soll – auf Kosten der anderen, die aus der kriselnden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen werden. Die Verfallsformen der kapitalistischen Krisenideologie sind gerade darum bemüht, diese Krisenkonkurrenz zu legitimieren.

Diese brutale Krisenkonkurrenz, der Versuch, sich angesichts der eskalierenden Verwerfungen selbst zu retten, ist angesichts der systemischen Ursachen der gegenwärtigen Krise letztendlich zum Scheitern verurteilt. Die Grundlage des Kapitals, die Verwertung von Lohnarbeit, stößt in der gegenwärtigen Krise aufgrund ungeheurer Produktivitätssprünge an ihre innere Schranke. Und es sind dieselben Produktivitätsschübe der globalen Verwertungsmaschine, die auch die Klimakrise ursächlich befeuern. Somit verliert nicht nur die kapitalistische Ideologie, sondern auch die spezifische kapitalistische Identität, die des bürgerlichen Konkurrenzsubjekts, ihre gesellschaftliche Grundlage. Alle versuchen, sich selbst zu retten, während das Selbst in Auflösung begriffen ist. Eigentlich stellt diese Krisenkonkurrenz nur die Zuspitzung der dem Kapitalismus innewohnenden Konkurrenzverhältnisse dar. Während jeder Bürger in seiner Eigenschaft als Marktsubjekt sich selbst zu retten versucht, befindet sich die Identität des Bürgers aufgrund zerfallender Märkte in einem Stadium des Zerfalls.

Was bleibt, ist die Leere der vom kollabierenden Kapitalverhältnis ausgebrannten Subjekthülsen, die mit dem Krieg aller gegen alle weitermachen werden, auch wenn der kapitalistische Bezugsrahmen, in dem dieser ausgefochten und intensiviert wurde, zerfallen sollte. Dies ist keine Prognose, sondern in Ländern wie Libyen, Syrien, Mexiko, Kongo oder Irak längst barbarische Realität. Gerade dieser "panische" Reflex der meisten Menschen, angesichts der Krise nur sich selbst retten zu wollen, forciert somit die weitere Barbarisierung, in der letztendlich niemand Rettung finden wird.

Die hier vorliegende, stark erweiterte Neuausgabe der ursprünglich beim Heise Verlag erschienenen Textsammlung ist in zwei Abschnitte gegliedert. Es sind vor allem viele Texte hinzugekommen, die nach der Veröffentlichung der Erstausgabe 2013 geschrieben worden sind. Diese Neuausgabe enthält somit eine Fülle neuer Texte, die sich unter anderem mit der ideologischen Verarbeitung der Klimakrise, mit dem Spannungsverhältnis von Religion und Spätkapitalismus, dem Computerspiel als kulturindustriellem Ideologieträger, der Ausbildung einer Eigentümergesellschaft, der Krisenästhetik oder der unbewussten Krisenverarbeitung befassen. Durch diese Themenvielfalt zieht sich ein roter Faden: die Kritik an der falschen, ideologisch verzerrten Legitimierung einer falschen, in den Abgrund der Barbarei taumelnden spätkapitalistischen Gesellschaft. Die Texte sind grob chronologisch sortiert, doch möchte ich den Leser ausdrücklich ermuntern, auch zum selektiven, dem eigenen Interesse folgenden Leseverhalten überzugehen.

Aufgrund thematischer Überschneidungen mit dem E-Book "Faschismus im 21. Jahrhundert" ist daraus ein Text in diese Textsammlung übernommen worden: "KI und Kapital".

Hannover, im Februar 2024

2. Die neoliberale Neue Rechte

Herbst 2013

Wie die neoliberale Hegemonie der vergangenen Dekaden die krisenbedingte Formierung der europäischen Neuen Rechten beförderte.

Die Eurokrise hat vor allem eine politische Entwicklung beschleunigt: den Aufstieg einer populistischen oder extremistischen Rechten, der sich in Wahlerfolgen wie erschreckend hohen Zustimmungswerten äußert. Wahlsiege von Rechtsparteien oder eine im Aufstieg befindliche Rechtsbewegung charakterisieren die politische Landschaft 2013 in so unterschiedlichen Ländern wie Österreich, Frankreich, Griechenland, Norwegen, Großbritannien, Finnland, den Niederlanden oder Belgien.

Dabei konnte die Rechte in etlichen Ländern bereits die politische Hegemonie erringen. In der wohlhabenden Schweiz hat sich mit der "Schweizerischen Volkspartei" des Rechtspopulisten Christoph Blocher eine extrem ausländerfeindliche Partei als stärkste politische Kraft etabliert, deren populistische Kampagnen maßgeblich zur Verschärfung der Asyl- und "Ausländerpolitik" beigetragen, und ein Klima der Intoleranz gegenüber kulturellen, nationalen oder ethnischen Minderheiten erzeugt haben. Das politische System Ungarns, das von der rechtspopulistischen Fidesz aufgrund ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament geformt wurde, befindet sich längst in einem Zustand der Postdemokratie. Die demokratischen Institutionen dienen nur noch als Kulisse für die autokratischen Machenschaften von Ministerpräsident Viktor Orban, der 2013 etwa Obdachlose mit Zwangsarbeit und Gefängnisstrafen bedrohen lässt, falls sie in den ungarischen Innenstädten im Freien übernachten.

Selbstverständlich reiht sich auch das Wahlergebnis in der Bundesrepublik in diesen europäischen Rechtstrend ein. Werden die Stimmen der knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterten FDP und der "Alternative für Deutschland" (AfD) mit denen der CDU addiert, dann haben rund 51 Prozent aller an der vergangenen Bundestagswahl teilnehmenden Bundesbürger ihre Stimme einer Partei der politischen Rechten gegeben. Zudem wächst gerade mit der AfD auch in der BRD eine klassisch rechtspopulistische Kraft heran, die ihre programmatische Euroskepsis mit deutschtümelndem Chauvinismus und offenem Hass auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen paart. Während Parteichef Bernd Lucke im Wahlkampf unter tosendem Applaus vor dem "sozialen Bodensatz" warnte, den "Ausländer" in der Bundesrepublik bilden würden, forderte der außenpolitische Sprecher der AfD gar eine Rückkehr zur bismarckschen Außenpolitik und eine "selbstbewusste Vertretung nationaler Interessen" durch Berlin – ganz so, als ob es nicht die Bundesregierung gewesen wäre, die Europa das eiserne Spardiktat Oktroyierte, unter dem viele Krisenländer zerbrechen. Dass auch Arbeitslose für die Rechtspopulisten nur Menschen zweiter Klasse darstellen, machte etwa der AfD-Mann Konrad Adam deutlich, der allen Ernstes die Abschaffung des Wahlrechts für alle Bundesbürger forderte, die nicht ihren Lebensunterhalt selber verdienen können.

Dabei stammt das Personal der AfD - deren Spitzenkräfte den Vorwurf des Populismus empört zurückweisen - keinesfalls von den "Rändern" der Gesellschaft. Es sind honorige, gutbürgerliche Gestalten wie eben der Wirtschaftsprofessor Lucke, oder Figuren aus der Oberschicht wie die Lobbyistin Beatrix von Storch, die das mediale Erscheinungsbild der "Professorenpartei" AfD prägen. Ähnlich verhält es sich bei den meisten rechtspopulistischen Parteien Europas, deren Führungsfiguren und Parteianhang überwiegend in der Mittel- und Oberschicht der betroffenen Länder zu finden sind. Evident wird das etwa bei dem "Team Stronach," das der austrokanadische Milliardär Stronach bei den letzten Wahlen erfolgreich antreten ließ (aus dem Stand 5,8 Prozent), oder bei der Schweizerischen Volkspartei, die ja von dem millionenschweren Unternehmer Christoph Blocher geführt wird.

Diese Tendenz zur Ausbildung eines buchstäblichen "Extremismus der Mitte" spiegelt sich auch in der Ideologie, die von diesen rechtsextremen oder rechtspopulistischen Bewegungen transportiert wird. Die Neue Rechte greift dabei auf Anschauungen, Wertvorstellungen und ideologische Versatzstücke zurück, die im Mainstream der betroffenen Gesellschaften herrschen. Diese Mittelschichtideologie, deren Ausformung maßgeblich von der neoliberalen Hegemonie der vergangenen drei Jahrzehnte geprägt wurde, wird in Reaktion auf die Krisendynamik zugespitzt und ins weltanschauliche Extrem getrieben. Es ist somit keine "äußeren", der bürgerlichen Mitte entgegengesetzten Kräfte, die nun viele zivilisatorische Standards in Europa infrage stellen. Die krisenbedingt angstschwitzende Mitte brütet die Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen ganz in Eigenregie aus.

Der Begriff des Extremismus kann die Grundlagen dieser Krisenideologe - die im Bestehenden und scheinbar "Alltäglichem" wurzeln - aber nur dann erhellen, wenn er ernst genommen, und nicht nur als eine rein formale Begriffshülse verwendet wird, mit der in totalitarismustheoretischer Diktion Kräfte an den Rändern des politischen Spektrums belegt werden. Stattdessen gilt es, die Grundzüge der weltanschaulichen Wahnsysteme des europäischen Rechtspopulismus nachzuzeichnen, um so die Kontinuität zwischen neoliberaler und rechtspopulistischer Ideologie aufzuzeigen. Erst bei dieser Auseinandersetzung mit dem konkreten Inhalt der neurechten Ideologie - sowie deren Verwurzlung im Mainstream der spätbürgerlichen Gesellschaften - wird der besagte Begriff des Extremismus der Mitte voll verständlich.

Kult der Konkurrenz

Welche ideologischen Vorstellungen, die der Neoliberalismus in den vergangenen Jahrzehnten in der "Mitte" einpflanzte, werden also von der Neuen Rechten zugespitzt und ins Extrem getrieben? An erster Stelle steht das entfesselte Konkurrenzdenken, das inzwischen nahezu alle Gesellschaftsbereiche erfasst hat. Der Neoliberalismus hat die Konkurrenzprinzipien bewusst auch innerhalb der Arbeiterschaft und unter den Lohnabhängigen gefördert, um hierdurch das Solidaritätsprinzip auszuhöhlen und Gegenwehr zu minimieren. Inzwischen konkurrieren nicht nur die Belegschaften unterschiedlicher Konzerne gegeneinander, auch innerhalb der Unternehmen werden die einzelnen Standorte - etwa bei drohenden Betriebsschließungen - in ein Konkurrenzverhältnis gedrängt. Hierzu kommen breit propagierte Praktiken individueller "Selbstoptimierung," mit denen Lohnabhängige auf den individuellen Konkurrenzkampf im Betrieb geeicht werden. Neben der zunehmenden Konkurrenz auf betrieblicher und individueller Ebene etablierte sich noch das Standortdenken, bei dem die Länder zu bloßen "Wirtschaftsstandorten" verkamen, die in allseitiger Konkurrenz zueinanderstehen.

Und selbstverständlich haben Rechtspopulismus wie Rechtsextremismus in all ihren Spielarten das Konkurrenzprinzip schon immer begeistert aufgenommen und auf vielfältige Art und Weise modifiziert und zugespitzt. Diesem Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise verleihen rechte Ideologien einen "höheren", zeitlosen Sinn, indem die Konkurrenz zu einem ewigen Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens imaginiert wird: Die ideologische Spannbreite reicht hier von sozialdarwinistischen Vorstellungen, bis zu dem manichäischen Wahnsystem des deutschen Nationalsozialismus, der einen ewigen Konkurrenz- und Überlebenskampf zwischen unterschiedlichen "Rassen" und insbesondere den Ariern und Juden halluzinierte.

In der deutschen Öffentlichkeit erfuhr eine biologistisch aufgeladene Zuspitzung des Konkurrenzgedankens spätestens im Gefolge der Sarrazin-Debatte im Sommer 2010 ihren Durchbruch. Sarrazin sah in seinem Machwerk "Deutschland schafft sich ab" die Ursachen der von ihm postulierten "Verdummung" der deutschen Bevölkerung in einem Mangel an Selektion im wohlfahrtsstaatlich geprägten Nachkriegsdeutschland, sowie im Zuzug von Ausländern aus Regionen mit einer minderwertigen genetischen Disposition. Hierdurch hätten sich vor allem die "Dummen" besonders stark vermehrt. Nicht der Abbau des Sozialstaats habe laut Sarrazin zum Aufkommen einer "Unterschicht" und zu den sozialen Erosionsprozessen in der BRD beigetragen, sondern gerade die Errichtung eines Sozialstaats und die damit einhergehende Zurückdrängung des Konkurrenzprinzips und des Selektionsdrucks. Sarrazin sprich in diesem Zusammenhang offen von fehlender "Darwinscher, natürlicher Zuchtwahl im Sinne von 'survival of the fittest'."

Von dieser Reanimierung des Sozialdarwinismus im Hinblick auf die bundesrepublikanischen Prekarisierungsschübe - die maßgeblich durch die Agenda 2010 initiiert wurden - war es nur noch ein kleiner Schritt, um auch der Eurokrise eine korrespondierende sozialdarwinistische Interpretation zu verpassen. Der zuerst nach innen fokussierte ideologische Blick, der überall nur "natürliche Zuchtwahl" walten sehen will, wurde folglich nach außen gerichtet. Nun wurden rassisch oder kulturell bedingte Mängel und Unzulänglichkeiten in der Bevölkerung Südeuropas herbeifantasiert, um den Krisenverlauf zu rationalisieren und die harsche deutsche Sparpolitik in Europa zu legitimieren. Die Südeuropäer galten plötzlich aufgrund ihrer genetischen Veranlagung oder ihrer kulturellen Prägung als faul, verschwendungssüchtig und korrupt.

Gerade in der Eurokrise trat der Kult des Konkurrenzprinzips als Gemeinsamkeit sowohl neoliberaler wie rechtspopulistischer Krisenideologie klar zum Vorschein. Den Opfern der kapitalistischen Krisen kann vermittels dieser Konkurrenzideologie die Schuld für die krisenbedingten Verwerfungen in die Schuhe geschoben werden. Es findet eine Personifizierung der Krisenursachen statt. Das Scheitern in der Konkurrenz ist laut dem Neoliberalismus nicht Ausdruck zunehmender Widersprüche und Krisen im Kapitalismus, sondern der Minderwertigkeit der betroffenen Personen: Du bist schuld, wenn du scheiterst – dies ist das Mantra des Neoliberalismus. Die neue Rechte hat diese Ideologie konsequent zugespitzt und buchstäblich erweitert: Die (rassische oder kulturelle) Minderwertigkeit wird nicht nur beim individuellen Scheitern konstatiert, sondern auch beim scheinbaren "kollektiven Scheitern" einer Nation im Standortwettbewerb.

Totalitärer Ökonomismus

Eine weitere Kontinuitätslinie, die zwischen Neoliberalismus und dem heutigen Rechtspopulismus besteht, stellt die zentrale Rolle ökonomischer Begriffe und Kategorien in der Programmatik und Rhetorik der Neuen Rechten dar. Darin spiegelt sich die nahezu totale Unterwerfung aller Gesellschaftsbereiche unter die betriebswirtschaftliche Logik, die vom Neoliberalismus nicht nur durch die landläufigen Privatisierungskampagnen, sondern auch durch die Zurichtung vieler dezidiert nichtökonomischer Sphären - wie Bildung, Forschung, Kultur, etc. - entlang der Wirtschaftsinteressen forciert wurde. Hier ist eindeutig ein Wandel rechter Ideologie zu konstatieren, die diesen Prozess der Landnahme der Ökonomie bejaht und ideologisch überhöht. Die rechtsextreme Vorstellung einer rassisch reinen "Volksgemeinschaft," wie sie der Nationalsozialismus präge, weicht nun der Wahrnehmung der Nation als Leistungsgemeinschaft, in der prinzipiell alle Leistungswilligen willkommen seien – bei gleichzeitigem Ausschluss der ökonomisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Seine zugespitzte Artikulierung fand dieser totalitäre Ökonomismus in der besagten, aus den Reihen der AfD erhobenen Forderung nach einer Abschaffung des Wahlrechts für Arbeitslose.

Diese Wandlung der Exklusionsmuster geht aber offensichtlich nicht mit einem Rückgang der rassistischen und xenophoben Ressentiments einher. Es findet hingegen eine Neuformierung von Kulturalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit statt, die gerade ökonomisch vermittelt wird. Die kulturelle oder rassische Hierarchisierung von Nationen und Minderheiten wird bei diesen ökonomisch grundierten Ressentiments gerade aus ihrer wirtschaftlichen Stellung in der Weltwirtschaft oder in der betreffenden Volkswirtschaft abgeleitet. Wirtschaftlicher Erfolg deute auf überlegene Gene oder eine überlegene Kultur hin, während Verarmung und Marginalisierung im Umkehrschluss auf genetische oder kulturelle Mängel zurückgeführt werden. Die Gesellschaftssphäre der Ökonomie wandelt sich in dieser Ideologie zur "zweiten Natur" menschlicher Existenz, zu einem Wirtschaftsdschungel, der durch seine Selektionsmechanismen die "natürliche Zuchtwahl" zwischen den einzelnen Konkurrenzsubjekten wie auch den "Wirtschaftsstandorten" vornimmt – und so eine Hierarchie von rassisch oder kulturell überlegenen oder minderwertigen Menschengruppen definiert. Bis zur Realsatire hat diese Vorstellungen etwa Thilo Sarrazin im Gespräch mit der Märkischen Allgemeinen getrieben, als er allen Ernstes das Wetter für den angeblichen südeuropäischen Schlendrian - und folglich die Eurokrise - verantwortlich machte:

"In meinem Buch nenne ich das den Nebel-Faktor. Je nebliger und kälter die Winter in einem Land sind, desto solider sind die Finanzen. Wenn man schon durch die Natur gezwungen ist, für harte Zeiten Vorsorge zu treffen, prägt das offenbar den Charakter eines Volkes."

Dieses Andocken des Rechtspopulismus an den neoliberalen Standortdiskurs - bei dem das Standortdenken mit kulturalistischen oder rassistischen Ressentiments angereichert wird - äußert sich aber auch in einer verstärkten Hetze gegen alle Menschen im Inn- und Ausland, die als "unnütze" Kostenfaktoren wahrgenommen werden. Hier werden wiederum die in der Mitte herrschenden ideologischen Anschauungen ins Extrem getrieben. Der moderne Rechtspopulist agiert wie ein Neoliberaler auf Aufputschmitteln, der die hinlänglich bekannte neoliberale Polemik gegen die "Loser" und die "Unterschicht" abermals um eine rassistische Komponente erweitert.

Der Übergang von neoliberaler zu rechtspopulistischer Hetzte gegen die wirtschaftlich "Überflüssigen" kann in Deutschland anhand der öffentlichen Auseinandersetzungen bei der Durchsetzung der Agenda 2010 und während der Sarrazin-Debatte nachvollzogen werden. Während die Legitimierung etwa der Hatz-IV-Arbeitsgesetze mit einer allgemeinen Polemik gegen "Sozialschmarotzer" und "Leistungsverweigerer" einherging, griff Sarrazin bereits auf rassistische und sozialdarwinistische Argumentationsmuster zurück, bei denen die Feindbilder des Sozialschmarotzers und des Ausländers verschmolzen, um das durch die Agendapolitik verursachte Elend zu rationalisieren.

TINA – There is no Alternative

Die dritte große Parallele zwischen Neoliberalismus und neuen Rechtspopulismus formulierte schon Margaret Thatcher bei der neoliberalen Transformation Großbritanniens in den 80ern: "There is no Alternative." Es gebe keine Alternative zu dem Sozialkahlschlag und den Privatisierungen, die Gesellschaft habe sich in das Notwendige zu fügen und das Beste daraus zu machen. Dieses Mantra von der Alternativlosigkeit der bestehenden gesellschaftlichen Verfassung und der neoliberalen Politik – oftmals auch als "TINA-Prinzip" bezeichnet – gehört seitdem zu dem Standardrepertoire neoliberaler Argumentationsmuster. Im deutschsprachigen Raum brachte dieser Diskurs das Wortungetüm des (ökonomischen) "Sachzwangs" hervor, an den sich die (neoliberale) Politik nur noch bestmöglich anpassen könne. Die Sprache ist hier besonders entlarvend: Es seien Zwänge, die von Sachen ausgeübt werden, denen wir uns alle zu beugen hätten. Damit wurde eigentlich schon vom Neoliberalismus die - menschengemachte - Sphäre der Ökonomie in den Rang eines Naturgesetzes erhoben.

Die Alternativlosigkeit, die von Neoliberalismus propagiert wird, hat die Neue Rechte abermals zugespitzt, indem sie die Möglichkeit einer Formulierung von Alternativen apriori negiert. An die Stelle des neoliberalen Sachzwangs tritt die Natur in Form des erläuterten "Survival of the fittest" in der Marktkonkurrenz. Die neoliberal zugerichtete Ökonomie ist hier - in Gestalt eines rassistisch aufgeladenen Sozialdarwinismus - längst zu einer "zweiten Natur" der menschlichen Gesellschaft geronnen, wodurch die Formulierung von Alternativen unmöglich wird. Wer will sich schon gegen Naturgesetze auflehnen? Der Rechtspopulismus kann somit nur noch Strategien zur Adaption an die Krisen ausbrüten, die auf Kosten der Schwächeren realisiert werden sollen – die ja in dieser Ideologie längst zu den Krisenverursachern gestempelt wurden. Das krisenbedingte Verschwinden der politischen Gestaltungsspielräume, das der Neoliberalismus rationalisierte, wird so vom Rechtspopulismus vollendet.

Mit dieser blinden Unterordnung und Unterwerfung unter die Grundprinzipien einer krisengeschüttelten Ökonomie werden aber autoritäre Tendenzen entscheidend gestärkt und die bürgerliche Demokratie vollends ausgehöhlt. Wenn es keine Alternative mehr gibt, wenn wir nichts mehr zu Wählen haben, wozu sollen dann überhaupt noch Wahlen abgehalten werden? Schließlich bildet die schiere Existenz von Alternativen die logische Voraussetzung einer Wahl – ohne Wahlmöglichkeiten in essenziellen Wirtschaftsfragen verkommt aber jeder Urnengang zu einem hohlen Polittheater, ähnlich der Entscheidung zwischen Pepsi und Coke im nächstbesten Supermarkt. Die Marktwirtschaften treten in den Zustand der Postdemokratie, wo zwar die demokratischen Institutionen noch vorhanden, aber machtlos sind, während die Entscheidungsfindung längst anhand ökonomischer Imperative automatisiert wurde und von allen Parteien unterschiedslos exekutiert wird. Bei der Wahl stimmt man inzwischen nur noch darüber ab, wie die "Sachzwänge" optimal zu realisieren sind, die eine kriselnde Ökonomie der ohnmächtigen Politik setzt. Diese postdemokratische Ohnmacht der Politik bietet autoritären Tendenzen und Rechtsbewegungen, die sich vollauf mit dem Systemimperativen identifizieren, ein breites Einfallstor.

Dennoch stellt sich weiterhin die Frage, wieso vor allem die Rechte von der Krise profitiert. Wieso erlebt Europa angesichts dieser tiefgreifenden kapitalistischen Krise keine Renaissance antikapitalistischer Bewegungen? Anstatt einer Suche Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise, dominiert eine Haltung der übersteigerten Identifikation mit dem Bestehenden, wie auch zunehmende Ideologien der Ausgrenzung in unterschiedlichsten Ausprägungen. Neben dem offensichtlichen Unvermögen der europäischen Linken, auf der Höhe des 21. Jahrhunderts angesiedelte Antworten auf die gegenwärtige Krise des Kapitals zu finden, sind es mächtige objektive sozioökonomische und auch psychologische Faktoren, die der Rechten in der Krise einen enormen Auftrieb verschaffen.

Materieller Kern rechter Krisenideologie

Zum einen weisen alle rechtspopulistischen und rechtsextremen Ideologien der menschlichen Ungleichwertigkeit einen tatsächlich gegebenen materialen Kern auf, sie folgen - auch in ihren "nationalsozialistischen" Varianten - einem Kosten-Nutzen-Kalkül, das auf der Verinnerlichung kapitalistischer Rentabilitätskriterien und Vergesellschaftungsformen beruht und insbesondere in Krisenzeiten an Anziehungskraft gewinnt. Die Marginalisierung, die Vertreibung oder gar die Ermordung von Bevölkerungsgruppen ("Ausländer", Roma, Juden, Muslime, Schwule, etc.), die von der Rechten unterschiedlichster Couleur propagiert wird, soll mit handfesten materiellen Vorteilen für die Mehrheitsbevölkerung einhergehen. Mit der Versagung von sozialen Leistungen für die zu Feindbildern aufgebauten Minderheiten, mittels ihrer offenen Diskriminierung auf dem "Arbeitsmarkt", oder durch deren Vertreibung und Enteignung soll die soziale und materielle Stellung der Mehrheitsbevölkerung verbessert werden. Die Krisenfolgen sollen nun vermittels konkreter Politik auf stigmatisierte Minderheiten abgewälzt werden, was eigentlich abermals nur einer Zuspitzung der üblichen neoliberalen Wirtschaftspolitik entspricht, die dies innenpolitisch durch eine Verschärfung des Klassenkampfs von oben, und außenpolitisch vermittels der Realisierung möglichst hoher Handelsüberschüsse zu realisieren versucht. Das Kalkül, das insbesondere "nationalsozialistische" Gruppierungen wie die "Goldene Morgenröte" oder die NPD bei dieser Hetze betreiben, ist offensichtlich: Ohne die zu Feindbildern aufgebauten Minderheiten würden die schwindenden finanziellen Mittel für die als "Volksgemeinschaft" halluzinierte Mehrheitsbevölkerung schon reichen.

Im Endeffekt kann die Rechte Teile der Bevölkerung mit dem Ziel mobilisieren, Minderheiten in Krisenzeiten die gesamte Last der Krisenfolgen aufzubürden. Bis zum Extrem wurde die Strategie einer Ethnisierung des Elends etwa bei den Roma Europas getrieben, die inzwischen nahezu total marginalisiert wurden. Ein großer Teil der Arbeitslosen etwa in Ungarn besteht aus Roma, denen der ungarische Antiziganismus postwendend diese ihre Marginalisierung vorwirft. In Frankreich oder Deutschland sind es hingegen die Einwohner aus der Türkei oder dem arabischen Raum, die ohnehin aufgrund bestehender rassistischer und kulturalistischer Ressentiments massiv sozial und wirtschaftlich benachteiligt sind - und die von der Neuen Rechten verstärkt als Sündenböcke aufgebaut werden, die angeblich auf Kosten der Mehrheitsbevölkerung lebten. Der Reflex, den die Rechte in der Krise ausschlachtet, ist somit klar: Angesichts schwindender finanzieller Ressourcen werden ethisch, rassisch, religiös, sozial oder kulturell definierte Gesellschaftsgruppen stigmatisiert, denen die Finanzmittel oder gar die Lebensgrundlagen entzogen werden sollen, um so die Mehrheitsbevölkerung zu entlasten.

Das kriselnde kapitalistische System mitsamt seiner Kategorien bleibt so außerhalb der Betrachtung. Die Rechte avanciert hingegen zum politischen Exekutor der wirtschaftlichen Krisendynamik, die ja global tatsächlich immer größere Massen an wirtschaftlich "überflüssigen" Menschen produziert. Es muss auch hier darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dieser rassistisch oder kulturalistisch grundiertElen Marginalisierungspolitik um eine Zuspitzung des alltäglichen Rassismus handelt, wie er dem Konkurrenz- und Kapitalsystem quasi naturwüchsig entspringt. Schon seit den Eroberungszügen der Europäer in Lateinamerika und dem darauf aufbauenden Atlantischen Dreieckshandel mit afrikanischen Sklaven wurde bei Konkurrenzsituation auf rassistische Ideologien zurückgegriffen, um die Errichtung von Systemen der Unterwerfung oder Ausbeutung zu legitimieren. Der Rassismus ist so alt wie das Kapitalverhältniss – und er wird erst mit diesem vom Antlitz der Erde verschwinden.

Die Aufspaltung Europas in scheinbare Krisengewinner und Krisenverlierer spiegelt sich übrigens auch in der ideologischen Ausrichtung der populistischen oder extremen Rechten in den betreffenden Ländern. In den im Abstieg befindlichen Ländern befinden sich eher an "nationalsozialistischen" Ideologien orientierte Gruppierungen im Aufwind, wie die griechische Goldene Morgenröte, die ungarische Jobbik oder auch die französische Font National. In den Kernländern der EU sind es explizit neoliberale Rechtspopulisten, die sich der Hetzte gegen Minderheiten verschrieben haben. Hier seien die Schweizerische Volkspartei (SVP), die FPÖ und BZÖ Österreichs, oder auch die deutsche AfD genannt.

Das Ressentiment passt sich der sozialen Stellung der faschistischen Zielgruppe, die indoktriniert und mobilisiert werden soll, an: Es beiden Fällen sind es bürgerliche Mittelsichten, die den fruchtbarsten Boden für rechte Ideologien bieten. Doch während die bereits im Abstieg befindliche Mittelklasse in den Krisenländern die Ausgrenzung "der Anderen" mit sozialer Absicherung für sich selber gekoppelt sehen will, glauben die Mittelschichten in den Kernländern der Eurozone noch fest daran, durch eine forcierte Unterordnung unter die Systemimperative der Krisendynamik entkommen zu können. Deswegen pflegt die populistische Rechte – etwa die AfD in der BRD – auch eine pseudodemokratische Rhetorik. Für die populistische Rechte, die die bestehenden Zustände in Reaktion auf die Krise ins Extrem treiben will, funktioniert die "Demokratie" ja tatsächlich. Sie kann das erreichen, was sie will, ihre Postulate, die der krisenbedingten Barbarisierung Vorschub leisten, können voll verwirklicht werden, da sie das Bestehende bejaht.

Eine irre Ideologie

Einen weiteren gewichtigen Faktor, der neoliberale Krisenpraxis zu einer Brutstätte von Rechtsbewegungen werden lässt, stellt deren Irrationalismus dar. Der dem Kapitalverhältnis innewohnende Irrationalismus - bei dem vermittels rationaler Methoden der irrationale und gesellschaftlich blinde Selbstzweck uferloser Kapitalverwertung betrieben wird - tritt in der Krise immer stärker in Vorschein, indem das System immer größere soziale und ökologische Verwüstungen hinterlässt. Zugleich steigt mit den eskalierenden Widersprüchen der ökonomistische Druck auf alle Gesellschaftsbereiche und Gesellschaftsschichten; sei es in Form gesteigerter Arbeitsintensität, gekürzter Sozialleistungen, oder wegbrechender Lebenschancen. Mit den sich immer stärker um den Hals der meisten Lohnabhängigen zusammenziehenden "Sachzwängen" der kriselnden Kapitalverwertung bleiben diesen eigentlich nur zwei Optionen: die Rebellion gegen den Krisenwahnsinn, oder die gesteigerte irrationale Identifikation und Unterwerfung.

Dabei ist es ein grundlegender psychischer Mechanismus, der gerade die Identifikation mit den gegebenen Autoritäten in Krisenzeiten befördert. Die Ausbildung des Gewissens, des freudschen Über-Ich, erfolgt in der frühen Kindheit gerade durch die Identifikation mit der äußeren (zumeist elterlichen) Autorität, die vom Kind verinnerlicht wird: Die elterlichen Verbote, die dem Lustprinzip des Kindes Grenzen setzten, wecken in diesem Aggressionen, die aber sublimiert werden und zur Aufrichtung des Über-Ich beitragen. "Die Aggression des Gewissens konserviert die Aggression der Autorität," wie Freud es formulierte. Bei der frühkindlichen Ausbildung des Gewissens wird die aggressive Beziehung zu einer äußeren Autorität durch einen Prozess der Identifizierung mit eben dieser Autorität verinnerlicht.

Ein ähnlicher Vorgang liegt aber auch der irrationalen Krisenreaktionen zugrunde, die den rechten Extremismus der Mitte ermöglichen. Ähnlich dem Kleinkind, verinnerlich der durch eine autoritäre Charakterstruktur gekennzeichnete Träger rechtsextremer Ideologie die sich verschärfenden Anforderungen und Vorgaben der Kapitalverwertung. In den sich verschärfenden systemischen Zwängen wirken die - niemals überwundenen - autoritären Fixierungen aus dem familiären Umfeld weiter. Mit zunehmender Krisenintensität verschärft sich somit auch die Identifizierung des autoritären Charakters mit dem bestehenden System, wie Erich Fromm im berühmten Sammelband "Autorität und Familie" schon 1936 feststellte: "Je mehr ... die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten, desto stärker und allgemeiner wird die sadomasochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird die Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und Lust."

Dieser Sadomasochismus resultiert aus den ungeheueren Verzichtsforderungen, die den sich fügenden, autoritären Charakteren seitens der Krisendynamik aufgelegt werden. Auch hier stauen sich immer größere Aggressionen an, die nach einem Ventil suchen. Je größer die Triebversagung, desto größer das Bedürfnis nach Triebabfuhr; der Masochismus verlang nach sadistischer Satisfaktion. In ekelerregender Vollkommenheit war diese sadomasochistische Fixierung in der Schäublerischen Krisenpolitik während der Eurokrise zu besichtigen, die ja explizit die Grausamkeiten, die nun der südeuropäischen Peripherie von Berlin angetan werden, damit begründete, dass man Hierzulande im Verlauf der Agenda 2010 eben Ähnliches erduldet und überstanden habe. Das unterwürfige Ertragen von Versagungen und Schmerzen berechtigt dazu, nun selber Schmerzen zuzufügen – dies ist eigentlich der sadomasochistische, pathologische Kern aller sozialdarwinistischen rechten Parolen von "Stärke", "Durchsetzungsvermögen" und "Härte".

Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diesen buchstäblich irrsinnigen "autoritären Kreislauf" in Bezug gesetzt zu der totalitären Ökonomisierung der krisengeschüttelten spätkapitalistischen Gesellschaften: "Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht." Die neoliberale Verzichtspolitik, die nun Europaweit umgesetzt wird, fördert somit die autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen. Je strikter das Spardiktat, je heftiger die hierdurch hervorgerufenen sozioökonomischen Verwerfungen, desto größer der Hass auf die Opfer dieser Krisenpolitik, der unter all den Gesellschaftsmitgliedern wütet, die die entsprechenden autoritären Dispositionen aufweisen.

Der offensichtliche spätkapitalistische Irrationalismus, der um der selbstzweckhaften Anhäufung immer größerer Quanta toter Arbeit wegen die ökologischen wie sozialen Grundlagen des menschlichen Zivilisationsprozesses untergräbt, findet in diesem irrationalen, autoritären und letztlich pathologischen Identifikationsprozess seinen innersten psychosozialen Beweggrund, auf dem alle rechten Krisenideologien blühen. Die rechte Krisenideologie fußt somit in allen ihren Ausprägungen letztendlich auf einer psychopathologischen Grundlage, auf einer schweren infantilen Regression, in der frühkindliche Verinnerlichungsprozesse der elterlichen Autorität in modifizierter Form reanimiert werden, um den zunehmenden Verzichtsforderungen der kriselnden Kapitaldynamik noch in Unterwerfung entsprechen zu können. Das damit aufgestaute aggressive Potenzial wird nach außen gelenkt: auf die zu Sündenböcken gestempelten Krisenverlierer, die zu Krisenverursachern halluziniert werden.

Die europäische Rechte brütet somit buchstäblich irre Ideologien aus, die dem alltäglichen Irrsinn der kapitalistischen Dauerkrise entsprechen – und diesem mit einem halluzinierten "Sinn" aufladen. Der sadomasochistische Kern der vollständig abgerichteten spätkapitalistischen Untertanen, die inzwischen ihre Ausbeutung am liebsten in Eigenreiche "selbstoptimieren", tendiert aber perspektivisch zur Selbstzerstörung. Tief im Inneren spüren auch die autoritären Subjekte, die nur noch Stümpfe von Menschen bilden, die ungeheuren Verehrungen ihrer selbst und die immense Gewalt, die sie sich alltäglich beim bloßen "funktionieren" selbst antun müssen. Diese unterdrücken inneren Widersprüche, die einen Spiegel der eskalierenden sozialen Widersprüche bilden, sollen instinktiv im Nichts des Todes aufgelöst werden.

Der Faschismus will das uneingestandene Leiden am kollabierenden Kapitalverhältnis in den Tod, in die Selbstzerstörung überführen, weil ihm eine Revolte gegen das kapitalistische Sachzwangregime undenkbar ist. Die dem Faschismus schon immer innewohnende Todessehnsucht, die sich beispielsweise in der berüchtigten Parole "Deutschland wird leben, auch wenn wir sterben müssen" manifestiert, stellt auch gegenwärtig eine mächtige ideologische Antriebskraft dar. Diese Todessehnsucht des Rechtsextremismus bildet somit die ideologische Entsprechung für die autodestruktive Krisendynamik des Kapitals, das um den irren Selbstzweck seiner uferlosen Verwertung die Welt buchstäblich verbrennt. Kapital und Faschismus fallen somit in dieser Todesbejahung und in ihrem Todesdrang in eins.

3. Deutsche Krisenideologie in der Eurokrise

Herbst 2013

Wie man hierzulande all das zu erklären glaubt, was es eigentlich nicht geben dürfte.

Es ist zum Verrücktwerden: Da strampelt man sich ab, ackert bis zum Burnout, krempelt die Ärmel hoch zum Wohl des Wirtschaftsstandorts, erringt mit der Deutschland AG etliche Exportweltmeisterschaften – und dann kommt so eine Eurokrise daher, die alles wieder kaputtzumachen droht. Alle wollen sie nun an unser hart erarbeitetes Geld. Auf diesen Nenner ließe sich die Stimmung bringen, die in weiten Teilen der bundesrepublikanischen Bevölkerung angesichts der nicht endenwollenden Eurokrise herrscht.

In nahezu allen kapitalistischen Kernländern entwickelte sich in Reaktion auf die seit 2007 manifest gewordene Systemkrise eine spezifische Krisenideologie, doch bietet die Lage in Deutschland eine Besonderheit: In kaum einem Industrieland wurde die herrschende spätkapitalistische Ideologie des totalitären Ökonomismus - der totalen Unterordnung der Gesellschaft unter die Erfordernisse der Ökonomie - so stark verinnerlicht und befolgt wie in Deutschland (siehe "Happy Birthday, Schweinesystem"). Die jahrelange Lohnzurückhaltung, der beständig gesteigerte Leistungsdruck und die massiven Einschnitte im Sozialsystem konnten in der Bundesrepublik deswegen relativ mühelos durchgesetzt werden, weil große Bevölkerungsteile dazu gebracht werden konnten, diese Verzichtsideologie zu verinnerlichen. Zugleich baute dieser Verzicht aber auch ein sehr großes Aggressionspotenzial auf, das nach Möglichkeiten der Frustabfuhr sucht.

Folglich ist der ideologische Legitimitätsdruck in der gegenwärtigen kapitalistischen Systemkrise in der Bundesrepublik besonders hoch. Die Krise dürfte es eigentlich nicht geben, angesichts der Opfer, die viele Lohnabhängige und Arbeitslose der Deutschland AG gebracht haben. Alles wurde anscheinend "richtig" gemacht, viele Bevölkerungsgruppen haben Verzicht geübt und sich aufgeopfert, und dennoch – auch das spüren eigentlich alle – müssen nun in der Krise weitere Opfer gebracht werden. Der aus dieser Politik des Gürtel-enger-Schnallens resultierende ideologische Legitimitätsdruck materialisiert sich somit in einer besonders aggressiven Krisenideologie, die das zu erklären vorgibt, was es eigentlich nicht geben dürfte.

Wer ist schuld?

Wenn der Kapitalismus - in Gestalt seiner Vergesellschaftungsformen Geld, Markt, Lohnarbeit, Kapital, etc. - in der herrschenden Wahrnehmung längst zu einem Naturzustand sedimentiert ist, der genauso wenig einer weiteren Rechtfertigung bedürfe wie etwa die Schwerkraft, dann müssen einzelne Personen oder Personengruppen die Schuld am Krisenausbruch tragen. Da der eigentlich naheliegende Erklärungsansatz, die Ursachen der derzeitigen kapitalistischen Krise in den Widersprüchen des Kapitals zu verorten (siehe: "Die Krise kurz erklärt" oder "Die Mythen der Krise"), öffentlich tabuisiert ist, bleibt nur die Suche nach Sündenböcken. Irgendjemand müsse doch das europäische Krisendesaster verschuldet haben, so ähnlich wie es sich im Betrieb oder Büro verhalte, wenn mal wieder irgendetwas nicht stimmt. Die Unfähigkeit, gesellschaftliche Strukturen als menschengemacht, als veränderbar zu erkennen, führt somit zu einer Personifizierung der Krisenursachen.

Zum einen greift ein verkürzter Pseudo-Antikapitalismus um sich, der vor allen den Funktionsträgern der Finanzbranche die Schuld am Krisenausbruch zuschiebt. Die Banker, die Finanzmanager und die Spekulanten werden hierbei zu Oberbösewichtern aufgebauscht, die mit ihrer maßlosen Gier die Krise verursacht hätten – als ob nicht die "Gier" nach höchstmöglichen Profiten das Wesen des Kapitalverhältnisses ausmachen würde.

Diese Bankerschelte ist auch in anderen Industriestaaten – etwa in Occupy-Bewegung der in den USA – üblich, doch der massive Export der Krisenursachen ins Ausland ist eine genuin deutsche Erfindung. Hierbei wird die Schuld an der Krise den Krisenopfern in Südeuropa die Schuhe geschoben. Dabei kommen kulturalistisch oder rassistisch grundierte Ressentiments gegen Südeuropäer zu Ausprägung. Die Spanier, Griechen oder Portugiesen hätten nun mal "über ihre Verhältnisse gelebt" und sich auf Pump ein "schönes Leben" gemacht, was entweder an ihrer kulturbedingten Sozialisation oder ihrer ethnisch/rassischen Disposition liegen solle. Fakten, wie etwa das besonders niedrige Lohnniveau in diesen Ländern schon vor Krisenausbruch, die das Gerede vom "Leben über den Verhältnissen" Lügen strafen, tangieren dieses chauvinistische Wahngebilde kaum.

Somit ermöglicht diese Personifizierung der Krisenursachen eine Wiederbelebung von Ressentiments. Da Deutschland als Krisenherd innerhalb der deutschen Krisenideologie nicht infrage kommt, muss das personifizierte Böse von dort kommen, wo es den landläufigen Ressentiments immer herkommt: aus dem Ausland. Es sind nicht nur die Südeuropäer, die mit ihrer angeblichen Faulheit und Verantwortungslosigkeit die Eurokrise verursacht (siehe: "Krisenmythos Griechenland") haben sollen, auch das Finanzkapital wird mit dem Ausland, vor allem mit den Vereinigten Staaten und der "Wall Street" assoziiert.

Wir sind wieder wer

Der bisherige Krisenverlauf in der Eurozone hat zur Ausbildung eines neuen deutschen Chauvinismus beigetragen, der die Überlegenheit und den Führungsanspruch Deutschlands in Europa aufgrund ihres "überlegenen Geschäftsmodells" (Süddeutsche Zeitung) propagiert. Das verhängnisvolle Spardiktat, das die Bundesregierung der restlichen Eurozone oktroyierte, stößt in breiten Teilen der Öffentlichkeit trotz der damit einhergehenden sozialen Verwerfungen auf Zuspruch. In der veröffentlichten Meinung wird die Dominanz Berlins bei der Ausgestaltung der drakonischen europäischen Sparpolitik als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, während der südeuropäische Widerstand gegen das Krisendiktat als illegitim dargestellt wird.

Als sich etwa das kleine Zypern gegen die vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble oktroyierten Krisenmaßnahmen wehrte, die den Inselstaat nun in den sozioökonomischen Kollaps treiben, kommentierte das Handelsblatt dies mit dem sprichwörtlichen Bild eines Hundeschwanzes, der mit dem Hund wedelt.3 Die Message ist klar: Wer das meiste ökonomische Gewicht in die Waagschale werfen kann, der bestimmt auch den Kurs Europas. Unübertroffen hat der Spiegel-Rechtsausleger Jan Fleischhauer dieses neue deutsche Überlegenheitsdenken zum Ausdruck gebracht, das wesentlich auf einem Glauben an eine exzeptionelle ökonomische Leistungsfähigkeit Deutschlands beruht. In Reaktion auf die Proteste gegen das deutsche Spardiktat in Europa schrieb Fleischhauer:4

"Es fehlt nicht mehr viel, und sie verbrennen deutsche Flaggen. Aber halt, auch das tun sie ja bereits. Man kannte das bislang nur aus arabischen Ländern, wo die Jugend bei jeder sich bietender Gelegenheit auf die Straße rennt, um gegen den Satan USA zu Felde zu ziehen. Aber so ist es, wenn man aus Sicht anderer als zu erfolgreich, zu selbstbewusst, zu stark gilt. Wir sind jetzt die Amerikaner Europas. Der Rollenwechsel wird nicht leicht, das kann man schon heute sagen. Wir sind es gewohnt, dass man uns für unsere Effizienz und unseren Fleiß bewundert, nicht, dass man uns dafür hasst."

Nicht weit entfernt von der Argumentation Fleischhauers war auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, der die verzweifelten Proteste gegen die deutsche Verelendungspolitik in Südeuropa gegenüber dem ZDF einfach mit Neidgefühlen zu erklären versuchte:5

"Es ist immer so, es ist auch in Klassen so: Wenn man manchmal bessere Ergebnisse hat, sind die anderen, die mehr Schwierigkeiten haben, auch ein bisschen neidisch."

In dieser Aussage findet sich der Kern der deutschen Krisenideologie beinahe in Reinform wieder: Die Krise, das ist die Krise der Anderen, der Südeuropäer, während Deutschland nun als neoliberaler Musterschüler deren Neid auf sich ziehe.

Deutschland, du Opfer.

Die deutsche Krisenideologie sieht Deutschland folglich auch in der Rolle des Opfers, der verfolgten Unschuld und des Sündenbocks für die Verfehlungen anderer. Die veröffentlichte Meinung in Bundesrepublik, in der die Suche nach Sündenböcken für die Krise bis zum Exzess getrieben wurde (siehe: "Krisenmythos Griechenland"), imaginiert Deutschland immer wieder als einen Sündenbock, sobald die internationale Kritik an der deutschen Krisenpolitik in Europa unüberhörbar wird.

Alle Welt zeige nach bei der Suche nach dem Schuldigen "mit dem Finger auf Deutschland," monierte die Tageszeitung Die Welt auf dem bisherigen Höhepunkt der Eurokrise Mitte 2012, um anschließend eine rhetorische Frage zu stellen: "Müssen wir uns das bieten lassen?"6

Als die Bundesregierung in brutalster Weise daran ging, Zypern mittels drakonischer Krisenmaßnahmen in eine schwere Wirtschaftskrise zu treiben, nominierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), dem "Sündenbock Deutschland" werde nun europaweit "Hegemonialstreben" vorgeworfen. Diese anschwellende Kritik an der rücksichtslosen deutschen Machtpolitik wurde von der FAZ gar als ein "Ressentiment" gebrandmarkt. Deutschland befinde sich "zu unrecht am Pranger," die Kommentare in den Krisenländern seien "oft negativ bis unverschämt."7 Auch die linksliberale Süddeutsche Zeitung solidarisierte sich während der Zypernkrise mit dem rabiat auftretenden Finanzminister Schäuble, dem von den Südeuropäern die Rolle des "Schwarzen Peters" zugeschoben worden sei.8 Der Merkur sah Deutschland wiederum als "Europas Buhmann" verunglimpft.9

Ignoranz – es darf nicht sein, was die eigene Weltanschauung stört

Den Opferstatus des von neidischen Nachbarn umgebenen "Musterschülers Deutschland" kann die deutsche Krisenideologie selbstverständlich nur unter Ausblendung derjenigen Fakten aufrechterhalten, die dieses Selbstbild zerstören würden. Es hat sich eine selektive Realitätswahrnehmung in Deutschland etabliert, die Ähnlichkeiten mit den Neudenk in Orwells 1984 aufweist. Tatsachen werden immer öfter als bloße Meinungen abgetan.

Als Erstes ist hier das totale Scheitern der deutschen Krisenpolitik, des rabiaten Spardiktats in der Eurozone, zu nennen. Die harsche Kritik an Deutschland in den Krisenländern ist nicht maßgeblich Ausdruck eines Ressentiments, wie es etwa die FAZ meint, sondern der verheerenden sozioökonomischen Folgen der "Sparpolitik", die ja Berlin europaweit - unter Beifall der hiesigen Presse - durchsetzte.10 Dieser totale Bankrott des Berliner Spardiktats, das nicht einmal zu einer Absenkung der Verschuldung in den in die Depression getriebenen Volkswirtschaften führte, wird innerhalb der deutschen Krisenideologie auf die Unwilligkeit oder das Unvermögen der "Südländer" zurückgeführt. Es wurde in Südeuropa halt nicht konsequent genug gesparrt, so in etwa lautet das landläufige Erklärungsmuster dafür, dass die deutsche Sparpolitik in Südeuropa scheiterte.

Ausgeblendet wird auch die Rolle der Bundesrepublik beim Krisenprozess in der Eurozone. Die gigantischen Leistungsbilanzüberschüsse (mehr als 700 Milliarden Euro), die die deutsche Exportwirtschaft gegenüber der Eurozone akkumulierte, trugen maßgeblich zur Ausbildung der südeuropäischen Schuldenberge bei. Die Überschüsse der Bundesrepublik entsprechen nun mal den Defiziten der Schuldenländer. Deutschlands Exportindustrie fußt somit ebenfalls auf Verschuldungsprozessen, die aber ins Ausland exportiert werden. Inzwischen ist die Abhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft von diesen Leistungsbilanzüberschüssen so groß, dass sie auch nur bei einer ausgeglichenen Handelsbilanz in der Rezession versinken würde.11 Dies ist vielleicht die größte Absurdität der deutschen Krisenideologie dar: Die deutsche Öffentlichkeit empört sich über die ausartende Auslandsverschuldung, während die deutsche Konjunktur ohne diese Auslandsverschuldung zusammenbrechen würde.

Ignoriert wird auch gerne das Engagement der deutschen Banken in den Krisenländern vor Ausbruch der Eurokrise. Die Deutschen Institute haben die Schuldenblasen in vielen heutigen Krisenländern maßgeblich befeuert. In Irland etwa agierten Deutsche Bank und co. bis Krisenausbruch als größte ausländische Kreditgeber, die die dortige Immobilienblase mit der Kleinigkeit von 113 Milliarden Euro aufzupumpen halfen.12

Der neue deutsche Ständestaat

Die Krise brachte eine ungeheure Verschärfung der sozialen Spaltung Deutschlands mit sich, die in der Trägerschicht der neuen deutschen Krisenideologie - in der erodierenden Mittelklasse - zum Aufkommen blanker Existenzangst führte. Diese Angst vor dem Abstieg, die die sprichwörtliche "Mitte" der Gesellschaft erfasste, wandelte sich in blanken Hass gegen Absteiger, gegen die marginalisierten Bevölkerungsschichten, die inzwischen landläufig als "Unterschicht" tituliert werden.

Dieser Hass mündete in ein gesteigertes Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dieser Unterschicht, mit dem die eigene, als gefährdet betrachtete Stellung in der Mittelschicht verteidigt werden sollte. Die ohnehin kaum durchlässigen Klassengrenzen in der Bundesrepublik, wo der Familienhintergrund den einflussreichsten Faktor beim beruflichen Werdegang darstellt, sollen gänzlich abgedichtet werden.13 Die spätkapitalistische Klassengesellschaft würde sich in eine frühkapitalistische Ständegesellschaft zurückverwandeln.

Begleitet wird dieses Abgrenzungsbestreben mitsamt der Stigmatisierung der "Unterschicht" von einem Revival sozialdarwinistischer Argumentationsmuster. Auch hier hat die Sarrazin-Debatte den entscheidenden Durchbruch gebracht. Sarrazin sieht auch die Intelligenz der Menschen genetisch vorbestimmt und somit als vererbbar an, sodass die niedrige soziale Stellung der Deutschen "Unterschichten" ihrer minderwertigen genetischen Ausstattung entsprechen würde. Versuche, die "Unterschichten" zu fördern, seien diesem Sozialdarwinismus zufolge zum Scheitern verurteilt.

Dennoch geht man in der Mitte in Bildungsfragen lieber auf Nummer sicher. Wie wenig die Mittelschicht dieser sozialdarwinistischen Ideologie von der angeborenen intellektuellen Überlegenheit ihres Nachwuchses glauben schenken will, wurde etwa bei den Auseinandersetzungen um die Hamburger Schulreform deutlich, als eine Bürgerinitiative vermittels eines Volksentscheides die Einführung einer sechsjährigen Primarschule verhinderte, mit der die ansonsten übliche Selektion der Schüler nach der vierten Schulklasse zumindest um zwei Jahre verzögert hätte. Das Bedürfnis, den eigenen Nachwuchs von den marginalisierten Bevölkerungsschichten abzukapseln, war innerhalb des Hamburger Bürgertums einfach zu stark.14

Sadomasochismus als Volkswirtschaftslehre

Ein zentraler, dezidiert faschistoider Grundzug der deutschen Krisenideologie besteht im allgegenwärtigen Lob der Härte und in der felsenfesten Überzeugung, dass Schmerzen gut und notwendig seien. Es seien "schmerzhafte Reformen" notwendig, die langfristig zu einer Gesundung der südeuropäischen Volkswirtschaften führten,15 so in etwa lautet das Mantra, mit dem die europäische Sparpolitik in der Bundesrepublik begründet wird. Oftmals folgt die Bemerkung, dass Deutschland ähnlich schmerzhaften Reformschritten seine gute Wirtschaftslage verdanke. Die oben dargelegte, simple Tatsache, dass Deutschlands Agenda 2010 (siehe "Happy Birthday, Schweinesystem!") nur deswegen gelingen konnte, weil gerade die sich immer weiter verschuldende Eurozone die gigantischen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse aufnehmen konnte, bleibt hingegen im Dunkeln.

Durch das klaglose hinnehmen von Schmerzen, von schmerzhaften Reformen ist in der Bundesrepublik die Überzeugung herangewachsen, man habe nun ein Anrecht erworben, auch anderen Volkswirtschaften diese Schmerzen zufügen zu dürfen. Die masochistische Lust an der Hinnahme von Schmerzen wandelte sich so in den deutschen Wirtschaftssadismus, der die Eurozone verheerte. Der irrationale sadistische Trieb, die erduldeten "schmerzhaften Reformen" - gegen die zu rebellieren man hierzulande nicht den Mut fand - nun anderen zuzufügen, bedient sich der volkswirtschaftlichen Argumentationsmuster nur, um zur Realisierung zu gelangen und Lust aus dem Leiden Anderer ziehen zu können.

Neuer Untertanengeist

Dieser Sadomasochismus verweist somit auf einen neuen Untertanengeist, der nicht auf eine Führerfigur, sondern auf den Wirtschaftsstandort Deutschland ausgerichtet ist. Das Grundprinzip dieses deutschen Untertanengeistes ist gleich geblieben: Nach oben Buckeln, nach unten Treten. Man ackert für die Deutschland AG bis zum Burnout, dafür kann man auf sadistische Triebabfuhr hoffen – etwa bei den ungeheuer populären Demütigungsshows (siehe: "Bloch vs. Jugendcamp").

Diese forciere sadomasochistische und autoritäre Identifikation mit der Ökonomie, die den Lohnabhängigen immer größere Opfer zugunsten "ihres" Wirtschaftsstandortes abverlangt, ist auch Ausdruck einer fundamentalen Verschiebung in den Legitimationsmustern der kapitalistischen Gesellschaftsunordnung. Jahrzehntelang konnte der Kapitalismus seine Legitimität aus dem Konstrukt der "Wohlstandsgesellschaft" beziehen. Die im Nachkriegsboom rasch anwachsenden Mittelschichten in den kapitalistischen Kernländern schienen die Realisierung der Parole von "Wohlstand für Alle" möglich zu machen. Jeder könne es in der Marktwirtschaft zumindest zum bescheidenen Wohlstand bringen, wenn er sich nur tüchtig anstrenge – diese Argumentation schien sich für viele Menschen zumindest in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems zu bewahrheiten.

Diese "positive Motivation" ist angesichts der krisenbedingten Erosion der Mittelklassen einer rein negativen Motivationslage gewichen. Es geht nur noch um das Halten des bereits Erreichten, um den beständigen Kampf gegen den sozialen Absturz, der mittels einer forcierten Anpassung an die übermächtigen und widersprüchlichen Sachzwänge geführt wird, die das kriselnde Kapitalverhältnis der gesamten Gesellschaft wie den einzelnen Lohnabhängigen aufbürdet. Damit, mit den zunehmend krasser hervortretenden "Sachzwängen," zerbricht auch die Illusion des mündigen und frei agierenden Bürgers.

Mit dem freien Bürger, der sich in einen auf permanente Selbstoptimierung geeichten Untertan der Deutschland AG wandelt, verschwindet auch der Glaube an die Gestaltungskraft der bürgerlichen Demokratie (siehe: "Weniger Demokratie wagen"). Wenn nur noch die Sachzwänge exekutiert werden müssen, die aus den krisenbedingt eskalierenden Widersprüchen der kollabierenden kapitalistischen Ökonomie resultieren, greifen autoritäre Tendenzen um sich: Die Postdemokratie, in der wir derzeit leben, droht selbst ihrer morschen Fassade verlustig zu gehen. (siehe: "Die Antiquiertheit der Demokratie")

4. Die große Klimaverschwörung

11.12.2009

Eine kleine, aber einflussreiche Lobby belügt uns seit Jahren über die Ursachen und Ausmaße des Klimawandels. Ein Plädoyer für eine Anklage

Sie bleiben im Schatten und lassen ihre gut bezahlten Puppen auf allen Kanälen und in allen Parlamenten tanzen. Eine Gruppe höchst mächtiger Institutionen und Individuen hat über ein ganzes Jahrzehnt hindurch die öffentliche Diskussion über den Klimawandel äußerst erfolgreich verzerrt und torpediert, wodurch wertvolle Zeit zum Handeln verloren ging. Insbesondere im angelsächsischen Raum gelang es den Klimaverschwörern, mittels angeheuerter Pseudoexperten und Denkfabriken, durch knallharte Lobbyarbeit in Washington und beste Kontakte zu manchen Medienkonzernen die Öffentlichkeit lange Jahre hinters Licht zu führen. Die Bandbreite der Aktionen dieser sehr exklusiven, sehr reichen Gruppe reicht von politischer Einflussnahme, über ausgeklügelte Desinformationskampagnen, bis hin zu ordinärer Bestechung.

Wenn von den Klimaverschwörern die Rede sein soll, so muss an erster Stelle natürlich der Ölkonzern Exxon-Mobil genannt werden. Der in Texas beheimatete Ölmulti ist mit einer Marktkapitalisierung von nahezu 400 Milliarden US-Dollar der weltweit größte Energiekonzern. In den Jahren 2006 und 2007 erzielte Exxon mit 39,5 und 40,6 Milliarden US-Dollar jeweils den größten Unternehmensgewinn der Wirtschaftsgeschichte der USA.16

Somit scheinen die Ausgaben zur Förderung von Klimaskeptikern gut angelegt gewesen zu sein, die der Konzern in den Neunzigerjahren und zu Anfang des 21. Jahrhunderts tätigte. Verglichen mit den astronomischen Profiten der vergangenen Jahre handelt es sich bei den geschätzten 19 Millionen US-Dollar, die Exxon-Mobil auf die Konten etlicher konservativer Denkfabriken zwischen 1998 und 2005 überweisen ließ, um regelrechte "Peanuts".17 Es waren scheinbar seriöse, konservativ ausgerichtete Institute wie das Competitive Enterprise Institute, die Frontiers of Freedom Foundation oder das Center for Defense of Free Enterprise, die von der Generosität des Ölkonzerns profitierten.

Diese Think Tanks griffen dann in die öffentliche Klimadebatte ein, um Zweifel an der Existenz und dem Charakter des anthropogenen Klimawandels zu sähen. So bestritt beispielsweise George Landrith von Frontiers of Freedom die anthropogenen Einflüsse auf den Klimawandel: "Solche Dinge (wie der Klimawandel, T.K.) passieren. Das ist einfach die Art, wie Natur schon immer war, Variabilität existierte schon immer. Da ist nichts Neues." Das Competitive Enterprise Institute zog hingegen noch 2005 den Klimawandel in Zweifel:18

"Die Schätzungen über die Ausmaße der künftigen Erwärmung basieren auf nicht plausiblen wissenschaftlichen und ökonomischen Annahmen, und die negativen Auswirkungen der vorhergesagten Erwärmung wurden enorm übertrieben."

Die von diesen konservativen Denkfabriken aufgebauten Pseudoexperten konnten immer wieder in den US-Massenmedien ihre Desinformationskampagnen durchführen. Doch war es vor allem das weitverzweigte Imperium des erzreaktionären Medienmoguls Rupert Murdoch, das den Klimaskeptikern eine offene Bühne bot. Noch 2007 wurden trotz anderslautender Beteuerungen 19insbesondere auf dem Fernsehsender "Fox News" die Ursachen und Ausmaße des Klimawandels infrage gestellt.20

Die von Exxon und anderen Ölkonzernen bezahlten Think Tanks, die in Murdochs "News Corporation" - dem zweitgrößten Medienunternehmen der Welt – ihr Sprachrohr fanden, wandten die öffentlichkeitspolitische Strategie der "Front Group" an,21 um einen möglichst großen Einfluss ausüben zu können. Hierbei gibt ein Institut oder ein Experte vor, unabhängig eine politische Agenda zu vertreten, wobei er in Wirklichkeit auf der Gehaltsliste seines Klienten steht und dessen Interessen durchzusetzen versucht. In der Öffentlichkeit soll so der Eindruck entstehen, dass um den "Wohlstand" und unsere "Freiheit" besorgte Individuen und Institute gegen eine von Ökofundamentalisten erzeugte Klimahysterie mutig als "Underdogs" ankämpften. Auch der einflussreiche Think Tank American Enterprise Institution übte sich in dieser Strategie.

Dieses auch als third party technique22 bezeichnete Vorgehen wurde zuerst von der Zigarettenlobby in den USA praktiziert, um hiernach von den Energiekonzernen kopiert zu werden, wie der Nasa-Wissenschaftler, Klimaforscher und Klimaaktivist James Hansen bereits im vergangenen Jahr bemerkte. Oftmals geben die öffentlich wirksamen Agenten der von den Ölkonzernen bezahlten Denkfabriken unter Rückgriff auf demokratische Rhetorik vor, einfach nur eine "Balance" in der Klimadebatte erreichen zu wollen, mit der die Meinungsvielfalt gestärkt werden würde. Dabei wird impliziert, dass der wissenschaftlich gut belegte Klimawandel nur eine von persönlichen, subjektiven Ansichten abhängiges Phänomen sei.

Doch was geschieht, wenn sich keine auch nur im wntferntesten seriös wirkenden "Experten" oder gar Wissenschaftler vor den Karren der Klimaverschwörer mehr einspannen lassen wollen? Dann kauft man sich halt welche.23 Noch 2007 bemühte sich beispielsweise das American Enterprise Institute darum, Wissenschaftler und Ökonomen dazu zu bringen, Studien über den rasch voranschreitenden Klimawandel in Zweifel zu ziehen. An die 10.000 US-Dollar winkten den "Wissenschaftlern", die sich bereit erklärt hätten, Unzulänglichkeiten und Fehler im Klimareport des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) der Vereinten Nationen zu thematisieren. Tatsächlich gibt es am letzten IPCC-Report einiges auszusetzen. Doch ist es vor allem die Tatsache, dass er die Dynamik des Klimawandels unterschätzte und dass dieser bei Weitem rascher voranschreitet, als selbst in den schlimmsten IPCC-Szenarien angenommen wurde.24

Diese Tendenz der offiziellen Klimaberichte, die Dynamik des Klimawandels regelmäßig zu unterschätzen, wird vielleicht erst voll verständlich, wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um politische Dokumente handelt, die auch Ausdruck einer bestimmten globalen Kräftekonstellation zwischen Interessengruppen sind. Die Lobby der Klimaleugner übt ihren Einfluss selbstverständlich auch in den höchsten Regierungsstellen aus. Die konservative US-Regierung um Präsident George W. Busch zensierte beispielsweise wissenschaftliche Berichte über den Klimawandel, die als Grundlage für Regierungspolitik dienten. Schon zu Beginn der Regierungszeit griff man in die Arbeit des IPCC ein. Neben der Öffentlichkeitsarbeit bildet somit die klassische politische Lobbytätigkeit einen weiteren Schwerpunkt der Klimaerwärmungsleugner aus der Energiebranche.

Zwischen 1998 und 2005 wendete Exxon nahezu 67 Millionen US-Dollar zur Finanzierung von Lobbygruppen in den USA auf. Damit liegt der texanische Ölriese auch in dieser Kategorie vor seinen Konkurrenten aus der Branche, die im selben Zeitraum zwischen 41 Millionen (Chevron) und 28 Millionen US-Dollar (Shell) zur Schmierung der politischen Maschine in Washington ausgaben.

Hieran hat sich bislang auch nichts geändert – im Gegenteil, die von der US-Energiebranche zur Verhinderung eines wirksamen Klimaschutzes mobilisierten Summen sind astronomisch angestiegen. Die mit dem Energiesektor in Verbindung stehenden Lobbygruppen sollen nach dem Center for Responsive Politics in den ersten drei Quartalen 2009 sagenhafte 300 Millionen US-Dollar zur Beeinflussung des politischen Prozesses in Washington mobilisiert. Den Löwenanteil geben Öl- (120 Millionen) und Energiekonzerne (108 Millionen) aus, nur 23 Millionen US-Dollar konnten Unternehmen aus dem Bereich der regenerativen Energien mobilisieren. Auch Umweltgruppen verfügen schlicht nicht über die notwendigen Finanzen, um den politischen Prozess ausreichend beeinflussen zu können: Sie konnten nur 16 Millionen US-Dollar für Lobbyarbeit im besagten Zeitraum ausgeben.

Erst der langfristige Vergleich bei den Aufwendungen zur Beeinflussung der Klimagesetzgebung in den USA macht klar, wie sehr gerade Industriekonzerne ihre Lobbytätigkeit intensiviert haben. So stiegen allein die von der verarbeitenden Industrie in Klima-Lobbygruppen investierten Gelder von 150 Millionen in 2003 auf nahezu 600 Millionen US-Dollar in 2008. Ähnlich verhält er sich bei der Energiebranche oder dem Transportsektor, die ihre diesbezüglichen Aufwendungen ebenfalls massiv aufstockten.

Angesichts dieser Beträge dürfte es eigentlich nicht verwundern, wenn der "demokratische Prozess nicht funktioniert", wie James Hansen unlängst konstatierte:25

"Der demokratische Prozess sollte auf dem Prinzip "eine Person, eine Stimme" beruhen, aber es stellt sich heraus, dass Geld lauter als Stimmen spricht. Deswegen bin ich nicht überrascht, dass Menschen frustriert sind. Ich finde, dass friedliche Demonstrationen nicht unangemessen sind, weil uns die Zeit davon eilt."

Werden diese Klimaverschwörer, die vor allem in den Vorstandsetagen transnationaler Energiekonzerne, in einflussreichen Medienunternehmen und konservativen Denkfabriken zu finden sind, sich für ihr Treiben verantworten müssen? Genau dieses forderte James Hansen Mitte vergangenen Jahres.26 Die Vorstandsvorsitzenden der an der Desinformationskampagne beteiligten Konzerne seien sich durchaus im Klaren darüber, was sie anrichteten, und müssten "für die Verbrechen gegen die Menschheit und die Natur" zur Verantwortung gezogen werden, erklärte er im Gespräch mit dem britischen Guardian:

"Wenn man in solch einer Position ist wie der Vorstandsvorsitzende eines der wichtigsten Spieler, die Desinformationen sogar über Organisationen verbreiteten, die das beeinflussen, was in Schulbüchern steht, dann denke ich schon, dass dies ein Verbrechen ist."

Bei dieser wirklichen, noch größtenteils unaufgeklärten Klimaverschwörung gigantischen Ausmaßes hätten auch die Verschwörungstheoretiker ein ideales Betätigungsfeld, die derzeit eine weltumspannende Verschwörung von Klimawissenschaftlern halluzinieren, die angeblich eine Klimahysterie – zu welchen Zweck eigentlich? - hervorrufen wollten. Ansonsten bleiben die vielen Blogbetreiber und Forenschreiber, die den Klimawandel in Frage stellen, nur ein Treppenwitz der Geschichte: Eine engagierte Gruppe von Menschen, die "ehrenamtlich" die Arbeit vollführt, für die zuvor Energiekonzerne Millionensummen aufwenden mussten.

5. Die Welt als ewige Weltverschwörung

22.02.2010

Ein kurzer Exkurs über die Genese und zunehmende Popularität von Verschwörungstheorien in Krisenzeiten.

Seit Herausbildung der Herrschaft des Menschen über den Menschen gibt es Verschwörungen. Sie bilden eine der ältesten Techniken zur Eroberung und Aufrechterhaltung von Macht. Schon die ersten Herrscher von Stadtstaaten im Zweistromland etwa usurpierten oftmals den Thron vermittels einer Verschwörung – und sie lebten in permanenter Angst vor einer gegen sie gerichteten Verschwörung. Folglich spekulierten seit Anbeginn der Herrschaft die Beherrschten über die Ränkespiele am Hofe, über die Absichten der jeweils herrschenden Kaste. Mensch kann somit sagen, dass diese Spekulation der Untertanen über die Machenschaften am hermetisch abgeschlossenen Hofe, über die Ziele, Strategien und Verschwörungen der Herrschenden so alt ist wie die Herausbildung der städtischen Zivilisation selbst.

Selbstverständlich werden auch in der jüngsten Geschichte – sicher auch in der Gegenwart – Verschwörungen ausgeheckt. Als Beispiel käme etwa der Putsch gegen Salvador Allende 1973 in Frage oder die Verschwörung des 20. Juli 1944, als Wehrmachtoffiziere versuchten, Hitler durch einen Bombenanschlag zu eliminieren. Selbst die Vorarbeiten zur Durchsetzung der Hartz-IV-Reformen in Deutschland oder auch die mit Lügengeschichten forcierte Mobilisierung für den Irak-Krieg nahmen bei bestimmten Machtgruppen und Zirkeln der US-Administration einen verschwörungsartigen Charakter an. Auch heutzutage bemühen sich Menschen, den Machenschaften der Herrschenden auf die Schliche zu kommen. So könnte man etwa die Journalisten, die den Watertgate-Skandal aufdeckten, als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, da sie ja im Rahmen ihrer Recherchen tatsächlich eine Theorie dieser Verschwörung aufstellen mussten, um sich anhand der von ihnen ermittelten Indizien der Wahrheit anzunähern.