Die Begine und der Feuerteufel - Silvia Stolzenburg - E-Book

Die Begine und der Feuerteufel E-Book

Stolzenburg, Silvia

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Beschreibung

Anna Ehinger wird wie alle Ulmer mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, als die Feuerglocken der Stadt plötzlich läuten. Eines der Häuser beim Marktplatz steht lichterloh in Flammen, die Angst, dass das Feuer um sich greift, ist groß. Erst nach stundenlangem Kampf gelingt es den Ulmern, den Brand zu löschen. Man nimmt an, dass eine Unachtsamkeit die Ursache war, doch nur eine Woche danach brennt das nächste Gebäude. Treibt ein Feuerteufel in Ulm sein Unwesen?

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Silvia Stolzenburg

Die Begine und der Feuerteufel

Historischer Kriminalroman

Zum Buch

Tod im Flammenmeer Anno Domini 1415: Anna Ehinger, die inzwischen ein Kind entbunden hat, wird wie alle Einwohner der Stadt mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, als die Feuerglocken plötzlich läuten. Eines der Häuser beim Marktplatz steht lichterloh in Flammen, die Angst, dass das Feuer um sich greift, ist groß. Erst nach stundenlangem Kampf gegen das Inferno gelingt es den Ulmern, die Feuersbrunst zu löschen. Man nimmt an, dass eine Unachtsamkeit der Grund für den Ausbruch des Brandes war, doch nur eine Woche danach geht das nächste Gebäude in Flammen auf. Mehrere Menschen finden den Tod in dem Flammenmeer. Es dauert nicht lange, bis die Ulmer anfangen, sich gegenseitig zu beschuldigen, für die Brände verantwortlich zu sein. Geht ein Feuerteufel in Ulm um und was ist sein Motiv?

Dr. phil. Silvia Stolzenburg studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Tübingen. Im Jahr 2006 promovierte sie dort über zeitgenössische Bestseller. Kurz darauf machte sie sich an die Arbeit an ihrem ersten historischen Roman. Sie ist hauptberufliche Autorin und lebt mit ihrem Mann auf der Schwäbischen Alb, fährt leidenschaftlich Mountainbike, gräbt in Museen und Archiven oder kraxelt auf steilen Burgfelsen herum – immer in der Hoffnung, etwas Spannendes zu entdecken.

Alle Bücher von Silvia Stolzenburg finden Sie bei uns unter www.gmeiner-verlag.de

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

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Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © Elnur / shutterstock.com; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Attributed_to_Dierick_Bouts_the_Elder,_Netherlandish_(active_Louvain),_first_securely_documented_1447,_died_1475_-_Moses_and_the_Burning_Bush,_with_Moses_Removing_His_Shoes_-_Google_Art_Project.jpg; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gerard_David_-_Adoration_of_the_Kings_-_Google_Art_Project.jpg

ISBN 978-3-8392-7658-7

Widmung

Für meinen Lieblingsmenschen

Kapitel 1

Ulm, Januar 1415

»Feuer! Es brennt!« Der Schrei gellte durch die Nacht und riss den Stadtpfeifer Gallus unsanft aus dem Schlaf. Er schreckte mit einem Laut, der halb Stöhnen, halb Husten war auf und rieb sich die brennenden Augen. Zuerst begriff er nicht, woher der beißende Gestank kam, der ihm den Atem raubte, dann sah er die wilden Schatten, die vor dem löchrigen Fensterladen seiner Kammer zuckten.

»Heiliger Florian!«, keuchte er, rappelte sich auf und suchte hastig seine überall verstreuten Kleider zusammen. Obwohl ihn der Weindunst des Gelages, zu dem er sich am Vorabend hatte hinreißen lassen, immer noch benebelte, war sein Kopf innerhalb weniger mühsamer Atemzüge klar. Während sich draußen weitere Schreie erhoben, stolperte er zur Tür seiner Kammer und trat auf den Gang hinaus, auf dem ihm zwei Bewohner der billigen Herberge mit Kerzenlampen begegneten.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich ein anderer Mann, der nur mit einem Hemd bekleidet war.

»Was wohl?«, herrschte ihn einer der Lampenträger an. »Es brennt.«

»Hier?«

»Irgendwo in der Nähe.« Ohne weiter auf Gallus oder den erschrockenen Mann zu achten, eilten die beiden mit ihren Lichtern zu der Treppe, die ins Erdgeschoss führte, wo sich die Schankstube befand.

Während die Glocke auf dem Rathausdach anfing zu läuten, folgte Gallus ihnen und trat wenig später in die eiskalte Nacht hinaus.

Der Himmel über den Dächern der Häuser, die sich in der Nähe des Marktplatzes befanden, war rot vom Feuerschein. Ascheflocken tanzten durch die Luft und vermischten sich mit dem leise rieselnden Schnee. Der Boden unter Gallus’ Füßen war tückisch und stellenweise glatt, dennoch rannte er den kurzen Anstieg hinauf und zog zischend die Luft ein, als er den Marktplatz erreichte.

Eines der prächtigen Patrizierhäuser stand lichterloh in Flammen. Das Feuer hatte bereits den Dachstuhl erreicht. Bald würde es auf das Nachbargebäude übergreifen, aus dem Menschen in leichten Untergewändern flohen.

»Hilfe!«, kreischte eine Frau, die sich aus einem Fenster im zweiten Stockwerk lehnte. »So helft uns doch!«

Die Fanfare eines Türmers gesellte sich zum Läuten der Glocke, und aus dem Augenwinkel sah Gallus, dass die Gassenhauptleute bereits dafür gesorgt hatten, dass die Ulmer eine Eimerkette zu dem Stadttor bildeten, das dem Ufer der Donau am nächsten lag.

Obwohl Gallus einen guten Steinwurf von dem brennenden Gebäude entfernt war, schlug ihm die Hitze ins Gesicht. Flammen züngelten an den dicken Fachwerkbalken entlang, und während er wie angewurzelt dastand, brach ein Teil des Dachstuhls in sich zusammen und sandte eine Funkenfontäne in den Himmel. Ein markerschütternder Schrei ließ ihn zusammenzucken, dann beobachtete er, wie sich die Frau mit brennendem Kleid aus dem Fenster stürzte, um dem sicheren Tod zu entkommen.

Der Aufprall ihres Körpers auf den Kopfsteinen war trotz des Durcheinanders zu hören, und augenblicklich wurde sie von Nachbarn umringt.

»Schafft sie weg!«, hörte Gallus einen Nachtwächter blaffen. »Steht nicht rum wie die Ölgötzen! Holt Wasser!«

»Das gilt auch für dich!« Ein Gassenhauptmann versetzte Gallus einen Stoß in den Rücken und bedeutete ihm, sich in die Schlange der Eimerträger einzureihen. »Mach schon!«

Als weitere Menschen an den Fenstern des brennenden Hauses auftauchten, drückte jemand Gallus zwei Eimer in die Hand. Innerhalb weniger Augenblicke wurde er von der Menge mitgezogen. Wenig später tauchte er die Eimer in die Donau und reichte sie an den Mann, der in der Schlange hinter ihm stand.

Die nächsten Stunden brachte er damit zu, Wasser zu schöpfen, bis ihm der Rücken schmerzte. Irgendwann verließ er den Platz am Flussufer unter dem Vorwand, austreten zu müssen, und lief zurück zum Marktplatz, auf dem immer noch heilloses Durcheinander herrschte. Das Wasser aus den Eimern schien kaum mehr zu bewirken als ein Tropfen auf einem heißen Stein, da das Gebäude inzwischen bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Die Anstrengungen der Gassenhauptleute konzentrierten sich inzwischen darauf, ein Übergreifen auf die umstehenden Häuser zu verhindern.

Während Gallus dabei zusah, wie ängstliche Nachbarn ihre Heime zu retten versuchten, nahm er aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahr, die sich viel zu nah am Feuer aufhielt. Die junge Frau trug bunte Gewänder, ihr dunkles Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der bis zur Hüfte reichte. Sie war bleich und zierlich und wunderschön. An ihrem Hals hingen mehrere silberne Ketten, die selbst aus der Entfernung als Amulette zu erkennen waren. Luna, schoss es ihm durch den Kopf, als er die Zauberin erkannte.

Ihre Armreifen blitzten im Feuerschein auf, da sie in diesem Moment einen Zinnteller in die Luft hob.

Anstatt sie zu vertreiben, beobachteten die Nachtwächter sie neugierig. Obwohl ein Teil von Gallus sich vor ihr fürchtete, wurde er wie magisch von ihr angezogen. Ohne nachzudenken, näherte er sich ihr und dem in Flammen stehenden Gebäude, während sie den Teller mehrmals hin und her drehte.

»Sator, arepo, tenet, opera, rotas!«, rief sie aus. »Erlösche, Feuer!« Kraftvoller, als Gallus ihr zugetraut hätte, schleuderte sie den Teller in das, was von dem Haus übrig war, und bekreuzigte sich mehrmals.

Wie durch ein Wunder zischte und knisterte es in den Flammen, die nun nicht halb so hoch züngelten wie vorher. Ein paar weitere Eimer Wasser, dann schien der Brand wie von Zauberhand unter Kontrolle zu sein.

»Wie hat sie das gemacht?«, hörte Gallus jemanden fragen.

»Sie ist eine Hexe«, war die ehrfürchtige Antwort. »Sie kann Wunder vollbringen.«

»Nur Gott vollbringt Wunder!«

»Sieh doch, was ihr Spruch bewirkt hat!«

»Ihr seid Narren! Das Feuer war doch schon fast gelöscht«, brummte ein beleibter Mann mit rußverschmiertem Gesicht.

»Ungläubiger Thomas!«

Alle redeten durcheinander und starrten Luna an, deren Blick auf Gallus fiel. Ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, und ein schwer zu deutender Ausdruck trat in ihre Augen.

»Seht nach, ob noch jemand zu retten ist!«, rief einer der Gassenhauptleute. »Und bringt die Verletzten ins Spital!« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Irgendjemand muss das Bußgeld für diesen Brand zahlen!«

»Es war nicht die Schuld der Bewohner«, ließ sich Luna vernehmen.

Der Nachtwächter bedachte sie mit fragender Miene. »Woher willst du das wissen?«

Luna zeigte auf etwas, was ein Stück abseits lag.

Gallus folgte mit den Augen ihrem Finger und entdeckte eine halb verkohlte Pechfackel.

»Ich glaube, es war Brandstiftung«, stellte Luna fest.

Kapitel 2

Das Läuten der Rathausglocke war längst verstummt, doch Lazarus war immer noch nicht zurück. Mit einer sorgenvollen Falte zwischen den Brauen wiegte Anna ihre drei Monate alte Tochter Agnes in den Armen, die die Aufregung aus dem Schlaf gerissen hatte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, murmelte sie und drückte ihre Nase in das weiche, duftende Haar. »Alles wird gut.«

Jedenfalls hoffte sie das. Ein Brand in der Stadt bedeutete stets Gefahr für sämtliche Bewohner, da man nie wusste, wie schnell und wie weit sich das Feuer ausbreitete. Obwohl es draußen kalt war, öffnete sie einen Fensterladen und steckte den Kopf ins Freie. Der Geruch von Rauch stach ihr in die Nase, aber zu ihrer Erleichterung war kein Feuerschein mehr zu sehen. So Gott wollte, war es gelungen, den Brand unter Kontrolle zu bringen.

»Soll ich sie dir abnehmen?«, erkundigte sich die Amme, die sich mit im Raum befand. Seit Agnes’ Geburt kümmerte sie sich um das Kind, für das Anna selbst nicht genug Milch hatte. Sie streckte die Arme aus.

Mit einem Seufzen trennte sich Anna von ihrer Tochter und schloss das Fenster wieder, um die kalte Januarluft auszusperren.

»Hast du Hunger, mein kleiner Engel?«, gurrte die Amme.

Neidisch beobachtete Anna dabei, wie sich die Lippen ihrer Tochter um die fremde Brust schlossen, während ihre Hand zu ihrem eigenen Busen wanderte. Es war seltsam, dachte sie. Sie hatte sich vor der Niederkunft gefürchtet, doch diese war reibungslos verlaufen – anders als bei ihrer Schwägerin Ella, die vor einigen Monaten eine Fehlgeburt gehabt hatte. Doch kurz nach Agnes’ Geburt war der Milchfluss versiegt, als wollte Gott ihr ein Zeichen senden, dass nicht alles vergeben und vergessen war. Insgeheim hatte sie sich Sorgen gemacht, dass er sie und Lazarus dafür strafen wollte, dass sie aus ihren Orden ausgetreten waren, allerdings schien sein Zorn durch diese geringere Strafe beschwichtigt zu sein.

Während die Amme ein Lied summte, schloss Agnes die Augen und war schon bald wieder eingeschlafen.

Vorsichtig bettete die Amme das Kind in die Wiege und griff nach der Kerzenlampe. »Es wird bald hell«, stellte sie fest.

Anna nickte und beschloss, sich anzuziehen und nachzusehen, wo Lazarus so lange blieb. Die Ungewissheit war schlimmer als die Furcht vor dem Feuer. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Wie leicht konnte man von einem herunterfallenden Balken erschlagen werden oder am Rauch ersticken. Mit einem letzten Blick auf Agnes verließ sie den Raum und ging in ihre Schlafkammer, um sich zu waschen und ihr Haar zu flechten.

Ohne etwas zu essen, verließ sie bald darauf das Haus. Der Mailand, die Straße, in der sich ihr Haus und das ihres Bruders Jakob befanden, lag verwaist da, hinter wenigen Fenstern brannte Licht. Noch war der Himmel dunkel, die Sterne deutlich zu sehen. Ein sichelförmiger Mond hing tief über den Dächern und beleuchtete den Weg, der Anna in Richtung Münsterbaustelle führte.

Der verharschte Schnee knirschte unter ihren Sohlen, und alle paar Schritte drehte sie sich um. Lazarus würde es nicht gutheißen, dass sie allein im Dunkeln unterwegs war, doch ihre Sorge war stärker als ihre Furcht vor zwielichtigen Gestalten. Es war so bitterkalt, dass sich die Bettler und Tagediebe gewiss irgendwo im Warmen verkrochen hatten. So schnell sie konnte, eilte sie zwischen Münster und Barfüßerkloster in Richtung Rathaus, wo sich der beißende Geruch verstärkte.

Hunderte von Ulmern waren auf dem Marktplatz zusammengelaufen, und es dauerte eine Weile, bis Anna sich einen Weg durch die aufgeregte Menge gebahnt hatte. Helfende Hände schleppten Wassereimer, um die Häuser neben der rauchenden Ruine vor Funkenflug zu schützen. Inzwischen schneite es stärker, allerdings konnte das reine Weiß nicht über das gewaltige Ausmaß des Schadens hinwegtäuschen.

»Dort liegt noch einer!«, hörte sie einen Mann rufen, der an seinem Harnisch als Stadtwächter zu erkennen war.

Zu ihrer Verwunderung entdeckte sie Luna ganz in der Nähe – umringt von einem halben Dutzend Männern und Frauen. Neugierig drängte sie sich nach vorn, bis sie die kleine Gruppe erreichte.

»Es gibt einen einfachen Zauber, um Feuergefahr von euren Häusern abzuwehren«, tönte Luna. »Jeder, der mir eine schwarze Henne und einen Schilling gibt …«

»Einen Schilling?«, empörte sich einer der Männer. »Bist du verrückt?«

Luna zuckte mit den Schultern. »Wenn dir das deine Sicherheit nicht wert ist …« Sie wandte sich von ihm ab, da zwei der Frauen ihr Geld entgegenstreckten.

»Du musst gleich mitkommen!«, drängte eine von ihnen. »Dann bekommst du die Henne.«

Kopfschüttelnd fragte sich Anna zum wiederholten Mal, ob die Meisterin der Beginensammlung irgendwann begreifen würde, dass es unklug gewesen war, Luna Unterschlupf zu bieten. Die seltsame junge Frau half den Beginen weiterhin bei der Herstellung von Arzneien und Heiltränken, obwohl sie vor einem halben Jahr unter Verdacht geraten war, mehrere Frauen vergiftet zu haben. Der Klang einer wohlbekannten Stimme ließ Anna Luna vergessen und sich erleichtert umdrehen. In einiger Entfernung sah sie, wie Lazarus einen Körper zudeckte, der auf dem kalten Boden lag. »Ich kann ihm nicht mehr helfen«, sagte er bedauernd. »Er ist tot.«

»Im Haus müssen auch noch Menschen sein«, entgegnete ein Mann, den Anna als Hauptmann der Nachtwache erkannte. »Allerdings ist es zu gefährlich, jetzt nach ihnen zu suchen. Das wird warten müssen, bis die Gefahr vollends gebannt ist.«

»Wie viele Überlebende gibt es?«, wollte Lazarus wissen.

»Nur die Frau, die aus dem Fenster gesprungen ist.«

Anna näherte sich und machte sich mit einem Räuspern bemerkbar.

Als Lazarus’ Blick auf sie fiel, runzelte er die Stirn. »Was tust du denn hier?«, fragte er. »Solltest du nicht bei Agnes sein?«

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

Der Hauptmann tippte sich zum Gruß mit zwei Fingern an den Helm. Dann ließ er Lazarus und sie stehen, um seinen Männern weitere Anweisungen zu geben.

»Bist du alleine?«, fragte Lazarus.

Anna nickte.

»Du weißt doch, dass du im Dunkeln nicht ohne Begleitung aus dem Haus gehen sollst!«, brauste er auf.

»Es ist nichts passiert«, beschwichtigte sie ihn.

»Aber es hätte was passieren können«, brummte er. »Du hast versprochen, nichts Leichtsinniges mehr zu tun.«

Anna verkniff sich ein Seufzen. Sie verstand seine Sorge, schließlich sorgte sie sich auch um ihn, allerdings war er seit Agnes’ Geburt wie eine Glucke.

»Wessen Haus ist das?«, wechselte sie das Thema.

»Es gehört einem Ratsmitglied«, entgegnete Lazarus. »Und anscheinend hat es jemand absichtlich angezündet.«

Anna zog die Luft ein. »Brandstiftung?«

Er deutete in Richtung der Ruine. »Vor dem Haus lag eine Pechfackel.«

»Wer tut denn so was?«, fragte Anna entsetzt. Die Vorstellung, dass jemand vorsätzlich das Leben zahlloser Menschen in Gefahr brachte, indem er ein Feuer verursachte, ließ sie schaudern. So leicht hätte es noch mehr Opfer geben können. Im schlimmsten Fall hätte der Brand auf sämtliche Gebäude beim Marktplatz übergreifen können.

»Das wird die Wache hoffentlich bald herausfinden.« Lazarus reckte die steifen Glieder.

»Kommst du mit nach Hause?«, fragte Anna.

»Ich muss ins Spital«, antwortete er. »Ich will die arme Seele, die aus dem Fenster gesprungen ist, um sich zu retten, nicht Bruder Michael und dem Wundarzt überlassen.«

Anna verstand seine Bedenken. Bruder Michael, der Siechenmeister, der auf Betreiben des Magister Hospitalis Lazarus’ ehemaligen Posten eingenommen hatte, war hochmütig und unfähig zugleich. Der Wundarzt verstand zwar sein Handwerk, allerdings befolgte er Bruder Michaels Anweisungen ohne Widerrede, was schon manchen Insassen des Heilig-Geist-Spitals beinahe das Leben gekostet hatte. »Ich begleite dich«, entschied sie.

»Hast du gefrühstückt?«

»Hast du?«, hielt sie entgegen.

Er verneinte.

»Ich bin sicher, die Spitalküche kann einen Happen erübrigen.« Anna warf einen Blick über die Schulter. »Hast du Luna gesehen?«

Lazarus nickte.

»Was hat sie hier zu suchen?«

»Sie hat vorgegeben, das Feuer durch Magie zu löschen«, brummte er.

Anna zog die Brauen hoch.

»Fauler Zauber.« Er steckte die Hände in die Manteltaschen, um sie zu wärmen. »Lass uns gehen.«

Der schneidende Ostwind frischte immer mehr auf. Die winzigen Schneeflocken, die er Anna und Lazarus auf dem Weg ins Spital ins Gesicht blies, fühlten sich an wie Nadelstiche, und Anna war froh, als die Mauern des Spitals vor ihnen auftauchten. Obwohl der vom Rat bestellte Pfleger das Spital zum Holzsparen angehalten hatte, prasselte in der Siechenstube ein munteres Feuer, das die große Gewölbehalle heizte.

Die Unglückliche, nach der sie suchten, befand sich in dem Teil der Stube, der für Frauen bestimmt war.

Ihr Jammern war schon von Weitem zu hören.

Als Annas Blick auf ihre Verletzungen fiel, bekreuzigte sie sich. »Heilige Jungfrau Maria!« Die arme Frau musste sich beim Sprung aus dem Fenster sämtliche Knochen im Leib gebrochen haben.

Kapitel 3

»Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme …«, hörte Anna die Frau murmeln. Immer wieder wurden die Worte von einem Stöhnen unterbrochen, das sich in einen Schrei verwandelte, als sich der Wundarzt über sie beugte und sich an ihren Beinen zu schaffen machte.

Von Bruder Michael war zu Annas Erleichterung nichts zu sehen, sie nahm an, dass er sich beim Gebet oder im Gemeinschaftsraum der Brüder befand.

»Halt still!«, herrschte der Wundarzt die Frau an. »Ich kann dir nicht helfen, wenn du zappelst wie ein Fisch.«

»Sie hat Schmerzen«, mischte sich Lazarus ein.

Der Wundarzt hob den Kopf und bedachte Lazarus und Anna mit einem Blick, der nicht schwer zu deuten war. »Was willst du denn hier?«, knurrte er. »Gebrochene Knochen sind meine Angelegenheit.«

»Vielleicht lassen sie sich einfacher richten, wenn sie ein Schmerzmittel bekommt«, entgegnete Lazarus kühl.

»Viel zu teuer«, war die wegwerfende Antwort.

»Ich hole Mohnsaft«, bot Anna an.

»Mohnsaft?« Der Wundarzt schüttelte den Kopf.

»Ich bin sicher, sie kann es sich leisten«, stellte Anna mit einem Nicken in Richtung der Hand der verletzten Frau fest, an der sich teure Ringe befanden. Sie nahm an, dass es sich um die Herrin des Hauses handelte, das in Flammen aufgegangen war.

Mit einem Schulterzucken betastete der Wundarzt die Hüfte der Frau, auf deren Stirn dicke Schweißperlen standen. Ihre Unterlippe zitterte, und ihre Finger krallten sich in das dünne Laken, auf dem sie lag. Außer den Brüchen hatte sie zahlreiche böse Verbrennungen davongetragen.

»Gott erbarme dich ihrer Seele«, murmelte eine der Schwestern, die sich in der Siechenstube um die Frauen kümmerte. Die große Halle wurde von Säulen, die das Kreuzrippengewölbe stützten, in drei Bereiche geteilt: einen für Frauen, einen für Männer und einen für Schwerkranke beider Geschlechter. An der westlichen Stirnseite befanden sich ein Brunnen und ein Altar, von welchem der Kaplan zweimal in der Woche die Predigt für die Sterbenden las.

Während sie sich fragte, ob die Verwundete den kommenden Tag überleben würde, eilte Anna in die Spitalapotheke, wo sich die von ihr hergestellten Arzneien und Tränke befanden. Rasch entdeckte sie, wonach sie suchte, und kehrte kurz darauf mit einer kleinen Flasche Mohnsaft und einem Becher Wein ans Lager der Frau zurück. Mit ruhiger Hand träufelte sie ein paar Tropfen des teuren Schmerzmittels in den Wein, setzte der Frau den Becher an die Lippen und half ihr beim Trinken.

Es dauerte nicht lange, bis ihre Augenlider flatterten und sich schließlich schlossen. Sobald die Atemzüge tiefer wurden, erhob Anna sich von der Bettkante.

Missmutig, weil ihn die Verzögerung Zeit gekostet hatte, zerschnitt der Wundarzt das, was von dem Kleid der Frau übrig geblieben war, und legte mehrere offene Brüche frei. »Das Beste wäre, ihr die Beine abzunehmen«, stellte er fest.

»Beide?«, fragte Lazarus skeptisch.

»Wenn ich nur die Brüche richte, besteht die Gefahr der Fäulnis. Dann müssen die Beine sowieso weg.«

»Aber dadurch wird sie zum Krüppel, falls sie überlebt«, gab Lazarus zu bedenken.

»Was soll ich denn sonst tun?«, brauste der Wundarzt auf. »Kannst du sie mit deinen Diäten und Kuren gesund zaubern?«, fragte er bissig. Als Lazarus nicht antwortete, schnaubte er: »Dachte ich mir. Warum lässt du mich nicht meine Arbeit tun und kümmerst dich um diejenigen, die deine Hilfe benötigen?«

»Lass uns gehen!«, zischte Anna, fasste Lazarus beim Ärmel und zog ihn von dem Lager fort. »Wir haben getan, was wir konnten.«

Lazarus folgte ihr widerstrebend. »Mir ist nicht wohl dabei«, gestand er. »Wenn sie stirbt, weil er ihr die Beine abnimmt, und nicht mehr zur Besinnung kommt …«

»… erfährt die Wache nicht, wer den Brand gelegt hat?«, ergänzte Anna den Satz. »Glaubst du, sie weiß, wer es war?«

Lazarus zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Sie ist die einzige Überlebende.«

»Jemand, der so skrupellos ist, einen Brand zu stiften, muss abgrundtief böse sein«, entgegnete Anna. »Er hätte die ganze Stadt abfackeln können!«

»Auf jeden Fall die meisten Häuser am Marktplatz«, pflichtete Lazarus ihr bei. »Die Wache wird sicher alles unternehmen, um den Schuldigen zu finden.«

»Ich hoffe, jemand hat gesehen, wer es war.« Die Vorstellung, dass ein Feuerteufel durch Ulm geisterte, machte Anna Angst.

Es dauerte nicht lange, bis die Sonne aufging, und mit dem Tagesanbruch kam auch Bruder Michael, der Siechenmeister, ins Spital. Er streifte Anna und Lazarus mit einem verächtlichen Blick, ehe er sich an die Seite des Wundarztes gesellte, der gestenreich auf ihn einredete.

»Worauf wartest du? Nimm ihr die Beine ab!«, hörte Anna ihn sagen.

Lazarus ballte die Fäuste. »Er ist ein Narr«, murmelte er. »Das wird die arme Frau nicht überleben.«

Das Auftauchen der Wache hielt ihn davon ab, etwas Unüberlegtes zu tun.

»Ist sie wach?«, wollte der Hauptmann wissen, sobald er die Frau entdeckte.

Lazarus verneinte. »Wir haben ihr Mohnsaft gegeben. Der Wundarzt will ihr die Beine abnehmen.«

Der Hauptmann pfiff durch die Zähne. »Ich muss sie befragen.«

»Falls sie wieder zu Bewusstsein kommt, wird sie vor Schmerzen kaum ansprechbar sein«, gab Lazarus zu bedenken.

»Es hilft nichts. Sie hat als Einzige überlebt. Alle anderen Bewohner des Hauses sind tot.« Er hakte die Daumen im Gürtel ein. »Der Rat wird eine Leichenschau anordnen. Auf den ersten Blick scheint es, als wären dem Hausherrn und zwei anderen Männern die Schädel eingeschlagen worden.«

Anna keuchte auf. »Mord?«

»Das herauszufinden, wird meine Aufgabe sein.« Der Hauptmann überlegte einige Augenblicke, dann ging er zum Lager der Verwundeten. »Weckt sie auf!«, befahl er.

»Jetzt?« Der Wundarzt versteifte sich. »War das sein Einfall?« Er zeigte auf Lazarus.

»Nein. Ich will mit ihr reden.«

»Wie Ihr meint.« Mit dünnen Lippen holte der Wundarzt ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche und hielt es der Frau unter die Nase.

Sie schreckte keuchend auf.

»Habt Ihr gesehen, wer das Feuer gelegt hat?«, erkundigte sich der Hauptmann umgehend.

Es dauerte, bis die Frau begriff, wer er war. Ihr Blick war trüb, ihr Atem flach. Sie schüttelte schwach den Kopf. »Mein Gemahl …?«, flüsterte sie.

»Ist in den Flammen umgekommen«, war die Antwort. »Hatte er Feinde? Wer könnte Euch den Tod wünschen? War ein Fremder im Haus?« Die Fragen des Hauptmanns prasselten in schneller Abfolge auf sie ein.

»Ich weiß nicht …« Die Stimme der Frau erstarb.

»Habt Ihr jemanden in der Nähe Eures Hauses gesehen, dessen Verhalten Euch seltsam vorkam?«, hakte der Hauptmann nach.

Sie schien ihn nicht mehr zu hören. Ihre Atmung beschleunigte sich, während ihre Hände versuchten, den Kragen des nicht vorhandenen Kleides zu lockern. Das Keuchen verwandelte sich in ein Pfeifen, ihre Lippen verfärbten sich blau.

»Was ist mit ihr?«, fragte der Hauptmann erschrocken.

Anna sah, wie sich der Körper der Frau krümmte, dann erschlaffte er, und die Hand der Frau fiel kraftlos auf das Laken.

Der Wundarzt beugte sich über sie, hielt zwei Finger an ihren Hals und runzelte die Stirn. »Sie ist tot«, verkündete er schließlich.

»Tot? Wieso?« Der Hauptmann war sichtlich ungehalten. »Gerade ging es ihr doch noch gut.«

»Es ging ihr nicht gut«, widersprach der Wundarzt. »Vermutlich hatte sie innere Blutungen. Sie muss sich beim Sturz aus dem Fenster die Lunge verletzt haben.«

»Verdammt!«, schimpfte der Hauptmann, ignorierte den tadelnden Blick von Bruder Michael und wandte sich an Lazarus. »Am besten begleitet Ihr mich. Ich bin sicher, der Rat wird nicht lange brauchen, um die Untersuchung der anderen Toten anzuordnen. Der Henker ist bereits informiert.«

Lazarus nickte. »Du solltest mitkommen«, sagte er an Anna gewandt.

Sie stimmte zu. Sie hatten immer noch nichts gefrühstückt, und sie hatte kein Verlangen danach, mit dem Wundarzt und Bruder Michael in der Siechenstube zurückzubleiben. »Der Herr sei ihrer Seele gnädig«, murmelte sie, bekreuzigte sich und schloss sich Lazarus und dem Hauptmann an. Im Freien atmete sie ein paarmal tief ein und aus. Die kalte Luft tat gut und half, den Rauchgeruch, der ihr nach wie vor in der Nase steckte, zu vertreiben.

»Ich fürchte, das Jahr beginnt doch nicht ganz so ruhig, wie ich gehofft hatte«, brummte der Hauptmann und machte sich auf in Richtung Spitaltor.

Kapitel 4

Der zwölfjährige Micha ließ die Schaufel sinken, als er Anna und Lazarus mit dem Hauptmann den Hof überqueren sah. Er war dabei, Mist aus einem der Ställe auf einen Karren zu laden, der in der Nähe des Brunnens stand. Sein Tagwerk hatte bereits vor einigen Stunden begonnen, da es zu seinen Aufgaben gehörte, die Pferde und Kühe zu füttern und die Ställe auszumisten. Die drei anderen Jungen, mit denen er auf einem der Heuböden schlief, waren zum Holzhacken eingeteilt worden.

Stirnrunzelnd verfolgte er, wie die kleine Gruppe den Hof verließ und durch das Spitaltor verschwand. War schon wieder ein Verbrechen im Spital passiert? Mit einem Schaudern erinnerte er sich an den Tod der jungen Magd Gerdi, der im vergangenen Sommer nicht nur sein Leben durcheinandergewirbelt hatte.

Als just in diesem Moment Bruder Michael aus der Siechenstube trat, zuckte er erschrocken zusammen und machte hastig mit dem Mitschaufeln weiter. Er fürchtete sich vor dem Siechenmeister, den er bei einem Streit mit Gerdi beobachtet hatte, die wenig später ermordet aufgefunden worden war. Wusste der Siechenmeister, dass Micha ihn an Anna und Lazarus verraten hatte? An manchen Tagen hatte er das Gefühl, an anderen erlaubte er sich zu hoffen, dass sein Geheimnis nicht ans Licht gekommen war. Micha hoffte, dass irgendwann genügend Gras über die Sache gewachsen wäre, damit er sich nicht mehr sorgen müsste.

Während er emsig die Schaufel schwang, eilte Bruder Michael zum Hauptgebäude, in dem er kurz darauf verschwand. Obwohl es Micha vor Neugier fast zerriss, wagte er nicht, seine Arbeit zu unterbrechen, um herauszufinden, was vorgefallen war. Früher oder später würde er es ohnehin erfahren, weil sich Neuigkeiten im Spital wie ein Lauffeuer verbreiteten.

Die nächste halbe Stunde schwitzte er trotz der schneidenden Kälte, und als der Karren endlich voll war, wischte er sich mit einem Schnaufen den Schweiß von der Stirn.

»Du bist wohl schon fertig?«, ertönte die Stimme von Otto, einem der Jungen, mit denen er sich den Heuboden teilte. Er stand in der Nähe mit einer langen Axt in der Hand und musterte Micha mit unverhohlenem Missmut. Seit einiger Zeit schien er den Eindruck zu haben, dass Micha von Bruder Martin bei der Vergabe von Aufgaben bevorzugt wurde.

Micha lehnte sich auf die Schaufel. »Und was, wenn ja?«

»Hier!« Otto hielt ihm die Axt entgegen. »Du kannst uns gern helfen. Es sind noch ein paar Klafter übrig.«

Micha warf einen Blick zurück zum Stall, dessen Tor trotz der Kälte offen stand.

»Willst dich wohl da drin vor der Arbeit drücken?«, höhnte Otto.

Micha schüttelte den Kopf.

»Worauf wartest du dann?« Otto machte einen Schritt auf ihn zu. Mit der langen Axt in der Hand wirkte er bedrohlich.

Da Micha sich nicht mit ihm anlegen wollte, zuckte er mit den Schultern. »Meinetwegen. Ich hole mir eine Axt.« Ohne auf Ottos Antwort zu warten, brachte er die Schaufel in den Stall und kehrte mit einer Axt in den Hof zurück, wo Otto ihn erwartete.

»Wollte sichergehen, dass du es dir nicht anders überlegst«, brummte er.

»Hättest du lieber Mist geschaufelt?«, fragte Micha. Er verstand nicht, warum Otto dachte, er wäre Bruder Martins Liebling. Seine erste Aufgabe im Spital war gewesen, die Grube des heimlichen Gemaches, der Latrine, zu leeren. Ohnehin war Ottos Feindseligkeit neu, und Micha hatte keine Ahnung, was er getan hatte, um den Jungen gegen sich aufzubringen.

Mit wenig Begeisterung folgte er Otto zu dem Schuppen, vor dem das Feuerholz lagerte, und verzog das Gesicht, als er den riesigen Stapel sah, der noch nicht gehackt war. Die anderen beiden Jungen schufteten mit hochroten Köpfen.

»Ich bringe Verstärkung«, verkündete Otto.

Peter, der Älteste, senkte die Axt und blies die Backen auf. »Es wird trotzdem Tage dauern, bis wir das geschafft haben«, prustete er.

Jörg, der gleich alt war wie Micha, ließ die Axt auf einen Klotz niedersausen und bückte sich, um die Stücke aufzuheben und in einen Korb zu werfen. »Wenigstens friert man nicht«, stellte er mit einem schiefen Grinsen fest. »Fleiß ist eine Tugend.« Er warf einen Blick zum Turm der Spitalkirche, deren Glocke anfing zu läuten. »Gott sei Dank, Zeit fürs Stundengebet.« Er ließ die Axt fallen.

Micha tat es ihm gleich. Zwar war er nicht erpicht darauf, in der kalten Kirche zu bibbern, allerdings kam ihm die Unterbrechung gelegen. Vielleicht erfuhr er von einer der Mägde, was vorgefallen war.

Mit gesenktem Kopf trottete er über den Hof zur Kirche, wo schon zahlreiche Insassen versammelt waren. Alle außer den Bettlägerigen hatten die Pflicht, an den Gebeten teilzunehmen, eine Versäumnis zog Buße nach sich. Während er sich lustlos bekreuzigte und auf die Knie sank, spitzte er die Ohren, allerdings drehten sich die meisten Gespräche um so alltägliche Dinge wie Eishacken, Wasserholen und Einheizen. Was auch immer den Hauptmann ins Spital gebracht hatte, schien noch nicht bei den Bewohnern angekommen zu sein.

Kapitel 5

Während Lazarus in der warmen Wachstube auf die Entscheidung der Neuner – einem Teil des Stadtrates – warteten, wurde er mit Haferbrei und Dünnbier verköstigt. Anna hatte er nach Hause geschickt, da sie bei der Leichenschau nur im Weg sein würde. In einem gusseisernen Ofen prasselte ein Feuer, das den Raum angenehm erwärmte. Außer dem Hauptmann und ihm waren zwei weitere Stadtwächter anwesend, die in einer Ecke auf die Ablösung zu warten schienen.

Das abgebrannte Haus war durch das kleine vergitterte Fenster in der Wand zu sehen, und Lazarus fragte sich, ob der Brand gelegt worden war, um drei Morde zu vertuschen. War ein Einbrecher ins Haus eingedrungen und ertappt worden? Oder hatte es jemand von vornherein auf den Hausherrn, einen hoch geachteten Ratsherrn, abgesehen? Er rührte mit dem Löffel in den Resten des Haferbreis. Waren die beiden anderen Opfer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Und warum hatte die Gemahlin des Ratsherrn nichts beobachtet?

»Wenn die eingeschlagenen Schädel nicht wären, würde ich von einem Unfall ausgehen«, sagte der Hauptmann, der seine Gedanken zu lesen schien. »Wie oft kommt es vor, dass eine Kerzenlampe oder ein Feuer im Kamin vergessen wird!«

Lazarus schob die Schale von sich. »Das Feuer hätte ohne Weiteres aufs Rathaus übergreifen können«, stellte er fest.

»Denkt Ihr, das war das eigentliche Ziel?« Der Hauptmann kratzte sich am Kinn. »Warum dann nicht gleich das Rathaus anzünden?«

»Weil die Wachstube zu nah ist«, mutmaßte Lazarus.

»Das ergibt keinen Sinn.« Der Hauptmann zeigte zum Fenster. »Man sieht das Haus von hier aus, der Brandstifter hätte erwischt werden können.«

Lazarus schwieg. Obwohl er in seinem Leben viele Dinge gesehen hatte, die schwer zu begreifen waren, konnte er sich nicht vorstellen, was für ein Mensch leichtsinnig das Leben von Dutzenden, wenn nicht gar Hunderten aufs Spiel setzte. In Gedanken versunken trank er sein Bier aus.

Es dauerte nicht lange, bis ein Ratsknecht auftauchte und verkündete, dass die Neuner eine Leichenschau an den drei Verstorbenen angeordnet hatten. »Sie sind bereits zum Turm gebracht worden«, ließ er den Hauptmann wissen. »Der Henker und die Schöffen sind schon auf dem Weg.«

»Wir sollten keine Zeit verschwenden.« Der Hauptmann klatschte die Handflächen auf die Schenkel und erhob sich. »Je eher wir herausfinden, was passiert ist, desto eher gelingt es uns vielleicht, den Täter ausfindig zu machen.«

Lazarus folgte ihm zur Tür und zog fröstelnd die Schultern hoch, als sie ins Freie traten. Zwar hatte es inzwischen aufgehört zu schneien, doch der kalte Ostwind pfiff mit unverminderter Stärke durch die Gassen. Der Bereich vor dem niedergebrannten Haus war vollkommen vereist, da das Löschwasser inzwischen gefroren war. Darauf bedacht, nicht auszurutschen, ging er den steilen Abhang zum Metzgerturm hinab, neben dem das kleine Haus lag, in dem die Leichenschauen stattfanden. Wie immer schlug ihm beim Betreten der Gestank von feuchtem Stein und Verwesung entgegen, der sich an diesem Tag mit dem Geruch von verkohltem Fleisch vermischte. Mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch setzte er den Fuß auf die oberste Stufe der schmalen Stiege, die in den aus Stein gehauenen Keller hinabführte. Dort befand sich ein lang gestreckter Raum, in dem die drei Toten aufgebahrt waren.

Der Henker, zwei Schöffen und ein Mann, den Lazarus für einen Totengräber hielt, waren um die Leichen versammelt, die nicht mehr viel Ähnlichkeit mit Menschen aufwiesen. Sie waren vollkommen verkohlt und lagen gekrümmt wie kleine Kinder auf der Seite. Auf der Brust eines der Toten blitzte eine schwere Goldkette.

»Was kannst du uns zu den Umständen ihres Todes sagen?«, erkundigte sich der Hauptmann beim Henker.

»Ich muss sie mir erst genauer ansehen«, entgegnete dieser. Wie bei jeder Leichenschau hatte er sein Wundenbuch dabei, um die Schwere der Verletzungen und die Art der Waffe festzustellen. Dieses Buch wurde bei der Verurteilung des Täters vom Gericht zurate gezogen. Bei der Untersuchung der Wunden wurde stets zwischen trockenen Verletzungen, blutenden Wunden, »beinschrötigen« Wunden mit Knochenverletzung, lähmenden Verletzungen, Hohlwunden – klaffenden Löchern – oder Verstümmelungen unterschieden. Die Frage, ob »Blut oder Blau«, also ob Wunde oder Schlag, würde im Fall der verbrannten Leichname allerdings schwer zu beurteilen sein, nahm Lazarus an, da blaue Flecken oder Schwellungen nicht mehr zu erkennen waren.

Während die Schöffen sich Tücher vor Mund und Nase hielten und sich auf die Bänke bei der Wand zurückzogen, gesellte Lazarus sich zum Henker und betrachtete die Toten aus der Nähe.

Es war kein schöner Anblick. Obwohl die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren, glaubte Lazarus, Furcht und Entsetzen, die die Männer empfunden haben mussten, darin zu lesen. Alle drei Schädel wiesen mehrfache Frakturen auf.

»Das sieht aus, als ob ihn jemand mit einem Knüppel geschlagen hat«, stellte der Henker fest und zeigte auf den Hinterkopf des Hausherrn, an dessen Kette das Familienwappen noch zu erkennen war. Allem Anschein nach war er beim Ausbruch des Feuers vollständig bekleidet gewesen.

Lazarus beugte sich tiefer über den Toten und runzelte die Stirn.

»Was ist?«, fragte der Hauptmann, der ihm gegenüberstand.

»Ich bin mir nicht sicher.« Lazarus kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Diese Frakturen müssen nicht unbedingt von Gewalt herrühren«, sagte er schließlich.

»Woher sollen sie sonst kommen?« Der Henker drehte den Kopf weiter ins Licht einer der Kerzenlampen.

»Hätte ihm jemand auf den Kopf geschlagen, wäre die Schädeldecke eingesunken«, erklärte Lazarus. »Dieser Teil des Kopfes ist nach außen gewölbt.«

»Aber all diese Risse …« Der Hauptmann nahm den Toten ebenfalls genauer in Augenschein.

Lazarus ging zu den anderen beiden Toten, die ähnliche Verletzungen aufwiesen. »Das Feuer muss unheimlich heiß gewesen sein«, murmelte er.

»Was wollt Ihr damit sagen?«, meldete sich einer der Schöffen zu Wort.

»Wenn ein Körper lange der Hitze ausgesetzt ist, fängt das Gehirnwasser an zu kochen«, erklärte Lazarus. Von diesem Phänomen hatte er während seines Studiums gehört. »Dadurch erhöht sich der Druck im Schädel und er platzt.« Er zeigte auf die Frakturen. »Ich denke, daher rühren diese Verletzungen. Ganz sicher kann ich es allerdings nicht sagen.«

Der Henker rieb sich das Kinn. »Er könnte recht haben«, sagte er, nachdem er in seinem Wundenbuch geblättert hatte. »Ein Schlag auf den Kopf hätte tatsächlich andere Auswirkungen gehabt.«

»Ausschließen könnt Ihr es nicht?«, hakte der Schöffe nach.

»Nicht mit vollkommener Sicherheit.« Lazarus zuckte mit den Schultern.

»Sind das Stichwunden?«, fragte der Hauptmann, der den Arm eines der Toten betrachtete.

»Unmöglich zu sagen«, brummte der Henker. »Seht Ihr das?« Er zeigte auf die Beine des Leichnams. »Fast alle Muskeln sind im Feuer gerissen.«

»Also sind wir genauso schlau wie vorher?« Die Schöffen wirkten unzufrieden.

Der Henker richtete sich auf. »Es wäre möglich, dass ihnen vor dem Verbrennen Gewalt angetan worden ist«, sagte er. »Beschwören würde ich es nicht.«

»Ganz gleich, was ihnen vorher zugestoßen ist, wir suchen einen Mörder«, stellte der Hauptmann fest. »Durch die Brandstiftung sind Menschen zu Tode gekommen.« Er seufzte. »Allerdings hatte ich mir mehr von der Schau erhofft.« Er gab dem Totengräber ein Zeichen. »Du kannst sie fortbringen.«

»Wir erstatten dem Rat Bericht«, sagten die Schöffen, ehe sie aus dem stickigen Raum verschwanden.

»Wenn wir doch nur einen Augenzeugen auftreiben könnten!«, schimpfte der Hauptmann. »Niemand will irgendwas gesehen haben.«

»Es war mitten in der Nacht«, gab Lazarus zu bedenken.

»Normalerweise treibt sich immer jemand in den Gassen rum. Bloß in dieser Nacht nicht.« Der Hauptmann verzog das Gesicht.

Kapitel 6