Die Begine und der Siechenmeister - Silvia Stolzenburg - E-Book

Die Begine und der Siechenmeister E-Book

Stolzenburg, Silvia

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Beschreibung

Bereits vier Monate sind vergangen, seit der Siechenmeister Lazarus nach Rom beordert wurde. Um sich abzulenken, arbeitet die junge Begine Anna Ehinger mehr denn je im Spital. Nach seiner Rückkehr begegnet Lazarus seiner heimlichen Liebe Anna mit einer für sie unbegreiflichen Kälte. Während die Trauer an ihr nagt, sucht eine Reisende Schutz bei den Beginen, deren Zustand sich schnell so verschlechtert, dass sie ins Spital eingeliefert werden muss. Dort verstirbt sie und bereits in der folgenden Nacht verschwindet ihr Leichnam aus der Spitalkapelle …

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Silvia Stolzenburg

Die Begine und der Siechenmeister

Historischer Kriminalroman

Zum Buch

Der Tod geht um Bereits vier Monate sind vergangen, seit Bruder Lazarus nach Rom beordert wurde, um den Oberen des Heilig-Geist-Ordens Rede und Antwort zu stehen. Seine heimliche Liebe, die junge Begine Anna Ehinger, bangt jeden Tag um ihn. Um sich abzulenken, arbeitet sie mehr denn je im Spital. Doch nachdem Lazarus aus Rom zurückgekehrt ist, begegnet er Anna mit einer für sie unbegreiflichen Kälte. Während die Trauer an ihr nagt, sucht eine Reisende Schutz bei den Beginen, deren Zustand sich schnell so verschlechtert, dass sie ins Spital eingeliefert werden muss. Dort verstirbt sie und bereits in der folgenden Nacht verschwindet ihr Leichnam aus der Spitalkapelle. Unterdessen tauchen kopflose Leichen in der Stadt auf, und bald machen Gerüchte über Menschenfresser und Wiedergänger die Runde. Als Anna auf dem Weg zum Funden- und Waisenhaus eine weitere Leiche entdeckt, gerät sie in höchste Gefahr. Denn derjenige, der für die Morde verantwortlich zu sein scheint, sperrt sie ein und fordert ihre Hilfe bei einem dämonischen Ritual …

Dr. phil. Silvia Stolzenburg studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Tübingen. Im Jahr 2006 promovierte sie dort über zeitgenössische Bestseller. Kurz darauf machte sie sich an die Arbeit an ihrem ersten historischen Roman. Sie ist hauptberufliche Autorin und lebt mit ihrem Mann auf der Schwäbischen Alb, fährt leidenschaftlich Mountainbike, gräbt in Museen und Archiven oder kraxelt auf steilen Burgfelsen herum – immer in der Hoffnung, etwas Spannendes zu entdecken.

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sina Deter

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © Elnur / stock.adobe.com

und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rust_tijdens_de_vlucht_naar_Egypte,_Gerard_David,_16de_eeuw,_Koninklijk_Museum_voor_Schone_Kunsten_Antwerpen,_47.jpg

ISBN 978-3-8392-6726-4

Widmung

Für Effan, die beste Hälfte

 

 

Prolog

Rom, Anfang September 1412

Obwohl er aus dem winzigen Fenster seiner Zelle kaum etwas sehen konnte, reckte Bruder Lazarus sich an diesem sonnigen Septembermorgen auf die Zehenspitzen, um wenigstens einen Blick auf das glitzernde Wasser des Tibers zu erhaschen. Seit seiner Ankunft in Rom vor mehreren Wochen durfte er sein Gefängnis nur zu den Stundengebeten und Messen verlassen, die in der Hospitalkirche gehalten wurden. Der Komplex des Hospitals Santo Spirito in Sassia war auf einem weiträumigen Grundstück angesiedelt, das Lazarus aus seiner Zeit in Rom gut kannte. Es wurde von vier Straßen und einer Piazza umschlossen, bestand aus einem langgestreckten Bau, zahlreichen Innenhöfen mit Brunnen und kleinen Nebengebäuden. In dem Teil des Gebäudes, in dem Lazarus sich befand, herrschte vollkommene Stille. Nur das Lachen der jungen Männer unter den Zypressen am Ufer des Tibers wurde vom Wind in seine Zelle getragen.

Die Burschen wirkten unbeschwert und übermütig und schienen nur mit halbem Eifer bei der Arbeit zu sein. Während sie Netze in ihre Fischerboote warfen, sahen sie einer Gruppe junger Frauen hinterher, die tuschelnd die Köpfe zusammengesteckt hatten. Über ihnen wippten Vögel auf den Ästen der Bäume, die sich in der sanften Brise bewegten. Das Interesse der Frauen galt einer prächtigen Kutsche auf der Piazza, die von vier glänzenden Pferden gezogen wurde. Zwar war das Wappen auf den Türen aus der Entfernung nicht auszumachen, aber Lazarus vermutete, dass es sich um einen Sohn oder eine Tochter aus reichem Hause handelte. Immer wieder beklagten sich die Ordensmitglieder bei der Obrigkeit, dass einige Bürger den gebührenden Respekt in der Nähe der Hospitalkirche vermissen ließen. Doch diese Beschwerden stießen meist auf taube Ohren.

Mit einem Seufzen trat Lazarus vom Fenster zurück und kniete sich vor den kleinen Altar in der Ecke seiner Zelle. Während seine Finger eine Perle seines Rosenkranzes nach der anderen betasteten, flehte er um Vergebung für seine zahllosen Sünden. Die Strafe, die ihn erwartete, fürchtete er nicht so sehr wie den Zorn Gottes. Durch seine Schwäche, seine sündige Begierde für die Begine Anna, hatte er gegen das Gelübde des Gehorsams verstoßen. Als Mitglied des Heilig-Geist-Ordens war es ihm strikt untersagt, der fleischlichen Lust nachzugeben, auf einen Verstoß standen drakonische Strafen.

Die Gefühle, die er für Anna Ehinger hegte, quälten ihn trotz all seines Flehens um Läuterung immer noch. Allein die Erinnerung an ihre Berührung, ihre weichen Lippen, sorgte dafür, dass seine Körpersäfte ins Ungleichgewicht gerieten. Die Angst, die er ausgestanden hatte, als er fürchten musste, sie nie mehr lebend wiederzusehen, hatte ein Loch in sein Herz gefressen, das nicht mehr zu verschließen war. In den Momenten der Schwäche wünschte er sich nichts sehnlicher, als den Orden zu verlassen, um sie zu bitten, seine Frau zu werden.

Aber das war unmöglich.

Er vergrub das Gesicht in den Händen und betete immer verzweifelter. Ein Austritt aus dem Orden war ihm verwehrt, außer er wählte eine Bruderschaft mit strengeren Regeln. Lief er davon, drohten ihm Ächtung und die Exkommunikation durch den Papst. Seine Seele würde für eine solch ungeheuerliche Sünde ewig im Fegefeuer brennen. Wagte er dennoch den törichten Schritt und verließ ohne Erlaubnis den Orden, griff man ihn früher oder später gewiss auf und brachte ihn zurück. Dann erwarteten ihn entweder eine furchtbare Züchtigung, Degradierung oder Kerkerhaft.

»Barmherziger Vater, gib mir die Kraft, diese Prüfung zu bestehen«, flüsterte er. »Lasse Dein Angesicht leuchten über mir und behüte mich vor den Versuchungen Satans. Leite mich zurück auf den rechten Pfad und …« Ein Geräusch, das die Stille durchbrach, ließ ihn innehalten. Deutlich war das Hallen von Schritten im Kreuzgang vor seiner Zelle zu hören.

Lazarus umklammerte den Rosenkranz fester. War jetzt endlich die Zeit gekommen? Wurde heute das Urteil über ihn gefällt? Erwarteten ihn Jahre der Kerkerhaft? Er senkte den Kopf und hoffte, dass all sein Flehen, sein Bitten und seine Buße nicht umsonst gewesen waren. Denn obwohl er versuchte, sich davon zu überzeugen, dass er Anna aus seinem Herzen gerissen hatte, war der Gedanke an sie sein ständiger Begleiter. Was, wenn man ihm verwehrte, nach Ulm zurückzukehren? Oder ihn in ein anderes Land schickte? Als ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, bekreuzigte er sich, kam auf die Beine und setzte eine steinerne Miene auf.

Kurz darauf erschienen zwei Brüder auf der Schwelle. Schweigend, ganz in Schwarz gekleidet, wirkten sie im schwachen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, bleich und leblos. Sie vermieden es, Lazarus direkt anzusehen, und gaben ihm mit einem Zeichen zu verstehen, ihnen zu folgen.

Obwohl ihm beim Gedanken an das, was ihm bevorstand, die Knie weich wurden, straffte er die Schultern, befestigte den Rosenkranz an seinem Gürtel und folgte den Brüdern den Kreuzgang entlang zu einem Teil des Gebäudes, in dem sich die großen Säle befanden. In einem davon erwarteten ihn die Oberen des Heilig-Geist-Ordens, aufgereiht wie schwarze Vögel auf einer Bankreihe am Kopf des Raumes. Die Kälte des Steins spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder und Lazarus wagte nicht, auf Milde zu hoffen, als er vor dem großen Kruzifix an der Wand auf die Knie sank.

»Bruder Lazarus«, hob der Älteste der Versammelten an. »Bist du bereit für dein Urteil?«

 

Kapitel 1

Ulm, Oktober 1412

Die siebzehnjährige Anna Ehinger schlang fröstelnd die Arme um sich, als sie das Hauptgebäude der Beginensammlung in der Frauengasse verließ und in den Hof hinaustrat. Direkt nach dem Stundengebet der Laudes hatte sie ihre Arbeit in der Kräuterküche begonnen, um einen Trank für die Reisende herzustellen, die am gestrigen Abend um ein Lager für die Nacht gebeten hatte. Die Frau litt an einem trockenen Husten und war so schwach, dass sie kaum die Suppe hatte löffeln können, die die Beginen ihr zur Stärkung vorgesetzt hatten. Außerdem schien sie bei jeder Bewegung Schmerzen zu haben. Auf Fragen nach ihrer Herkunft hatte sie unzusammenhängend geantwortet und Anna hoffte, an diesem Morgen mehr zu erfahren.

Sie drückte den Korb, in dem sich die Arzneien befanden, an ihre Brust und machte sich auf den Weg über den Hof, von dem kaum etwas zu erkennen war. Seit der Herbst Einzug gehalten hatte, waberte der Nebel in dichten Schwaden durch die Straßen und Gassen der Stadt und die Feuchtigkeit lag greifbar in der Luft. Obwohl Anna eine Kerzenlampe trug, reichte der schwache Schein nicht weit. Von den Ställen und Wirtschaftsgebäuden war kaum etwas zu erkennen, selbst die hell erleuchtete Schreibstube der Meisterin war nicht mehr als ein verwaschener Lichtkegel. Die Herberge der Sammlung, in der die reisenden Frauen untergebracht waren, lag noch völlig im Dunkeln. Zwar konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging, doch Anna bezweifelte, dass sich der Nebel mit Anbruch des Tages lichten würde. Seit fast einer Woche lag er wie ein erstickendes Tuch über der Stadt und sorgte dafür, dass die Gassen in einigen Gegenden noch unsicherer wurden. Erst gestern hatte sie von einer anderen Schwester gehört, dass ein reicher Kaufmann überfallen und halb totgeschlagen worden war.

Vorbei an zwei Mägden, die aus dem Zugbrunnen Wasser schöpften, eilte Anna zur Herberge und betrat diesen Teil des Gebäudekomplexes. Trotz der geschlossenen Fensterläden war es kalt und zugig in dem langen Korridor, von dem mehrere Türen abgingen. Obgleich sich die Frauen die Kammern normalerweise zu dritt oder zu viert teilten, war zurzeit genügend Platz vorhanden, da das Reisen im Herbst und im Winter für die meisten zu gefährlich war. Schon aus diesem Grund hatte die Ankunft der Frau die Beginen verwundert, fehlten ihr die sonst üblichen Begleiterinnen.

Wer sie wohl war?

Nachdem Anna geklopft hatte, betrat sie den kleinen Raum, in dem es nach feuchter Kleidung und zu lange getragenen Schuhen roch. Die Reisende hatte bereits eine Kerze entzündet, und war dabei, sich anzuziehen. Mit einem erschrockenen Einatmen sah Anna, dass ihr Untergewand blutverschmiert war, obwohl die Frau sich hastig abwandte.

»Du bist verletzt!«

Die Fremde schüttelte schwach den Kopf. »Es ist nichts.«

Anna überwand ihren Schrecken, stellte Korb und Kerzenlampe ab und trat auf die Frau zu. »Lass mich einen Blick darauf werfen«, bat sie. »Die Wunde muss verbunden werden.«

Einen Augenblick sah es so aus, als ob die Frau protestieren wolle, doch dann hob sie mit einem Seufzen die Arme und ließ zu, dass Anna ihr Untergewand nach oben schob.

»Gütiger Himmel!«, entfuhr es Anna.

Unter den Rippen der Frau klaffte eine hässliche Wunde, außerdem entdeckte Anna Spuren von alten Verletzungen. »Wie ist das passiert?«, wollte sie wissen.

»Ich bin gestürzt«, war die Antwort. »Dieser Nebel …«

Obwohl die Erklärung einleuchtend war, läuteten in Annas Kopf Alarmglocken. Sie hatte den Eindruck, dass die Wahrheit eine ganz andere war. Woher stammten all die Narben und Striemen am Körper der Frau? War sie eine flüchtige Verbrecherin? Hatte man sie für irgendetwas körperlich gezüchtigt? »Woher kommst du?«, erkundigte sie sich.

»Aus einer anderen Stadt«, wich die Fremde aus. »Ich bin auf der Durchreise.«

Etwas in ihrem Tonfall ließ Anna vermuten, dass es sich bei dieser Behauptung nicht um die Wahrheit handelte. »Wie ist dein Name?«

»Gertrud«, erwiderte die Reisende. Sie strich ihr Untergewand glatt und schlüpfte in das zerschlissene Kleid, in dem sie angekommen war. Es war aus grober Wolle, mehrfach geflickt und wirkte, als habe es schon bessere Zeiten gesehen. Als sie sich nach ihren Schuhen bückte, fasste sie sich mit einem erstickten Laut an den Kopf.

Anna konnte ihr gerade noch unter die Arme greifen, sonst wäre sie zu Boden gesunken.

»Mir ist schwindlig«, murmelte Gertrud. »Ich …« Ein Husten unterbrach sie, sodass es ihren mageren Körper schüttelte.

»Du bist krank«, stellte Anna fest, nachdem sie ihr an die Stirn gefasst hatte. Sie glühte vor Fieber.

»Es geht mir gut«, widersprach die Reisende. Sie machte Anstalten, sich aufzusetzen, allerdings schien ihr die Kraft zu fehlen.

»Deine Wunde ist entzündet. Wir sollten den Wundarzt holen, damit er sich darum kümmern kann.«

»Ich will keinen Arzt!« Gertrud griff nach Annas Hand und drückte sie so fest, dass Anna die Luft einzog. »Versprich mir, dass du keinen Arzt holst!«

»Warum?«

»Versprich es mir!«

Da Anna fürchtete, dass Gertrud sonst etwas Unüberlegtes tun könnte, nickte sie widerstrebend. »Ich kann dir eine Salbe besorgen«, sagte sie. »Aber zuerst solltest du diese Arznei trinken und dich weiter ausruhen. Ich sage einer der Mägde Bescheid, damit sie dir Frühstück bringt.«

Gertrud ließ ihre Hand los. »Danke«, murmelte sie. »Du bist ein guter Christenmensch.«

Anna seufzte. Wenn sie das nur wäre! Dann würden ihre Gedanken nicht jedes Mal, wenn sie ins Heilig-Geist-Spital ging, zu Lazarus abschweifen. Seit Monaten hatte sie nichts von ihm gehört und auch im Spital schien niemand zu wissen, wie sein zukünftiges Schicksal aussehen würde. Am Ende des Sommers war ein neuer Siechenmeister bestellt worden, ein alter, weißhaariger Mönch, der zwar sanft und gütig war, Lazarus jedoch nicht ersetzen konnte. Zu oft irrte er sich bei der Verabreichung von Arzneien und überließ die Behandlung der Kranken fast ausschließlich dem Wundarzt.

Zu ihrem Verdruss spürte Anna, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Trotz all der Buße, die sie getan hatte, ließen sich die Gefühle für Lazarus nicht einfach ausreißen wie ein dürres Pflänzchen. Er hatte alles riskiert, um ihr das Leben zu retten, und bezahlte jetzt einen furchtbaren Preis dafür. Im Spital war lange Zeit gemutmaßt worden, welche Strafe ihn in Rom erwartete. Einige der älteren Brüder hatten den Spitalmeister dazu gedrängt, ein gutes Wort für ihn einzulegen, doch niemand wusste, ob der Magister Hospitalis dieser Bitte nachgekommen war. Das Gegenteil könnte der Fall sein.

Da Anna sich vor Gertrud den eigenen Kummer nicht anmerken lassen wollte, kehrte sie ihr hastig den Rücken und verließ die Kammer, um Salbe und Binden zu holen. In der Kräuterküche angekommen, suchte sie nach einem Tiegel mit Schafgarbensalbe und bereitete einen Aufguss aus den Blättern derselben Pflanze zu. Dann mischte sie noch eine Tinktur aus zerstoßenen Blüten der Akelei, gab etwas Honig hinzu und brachte alles zu Gertrud in die Herberge.

»Trink das«, sagte sie und wartete, bis der Becher geleert war. Schließlich bat sie Gertrud, ihr Untergewand hochzuziehen und trug die Salbe auf die Wunde auf. Dabei fielen ihr runde Male auf, die aussahen, als ob jemand die Frau gebrandmarkt hätte. Obwohl ihr zahllose Fragen auf der Zunge lagen, zügelte sie ihre Neugier. Es geht dich nichts an, appellierte sie an ihre Vernunft. Wenn sie nicht wieder in Schwierigkeiten geraten wollte, musste sie lernen, ihre Wissbegier zu zügeln.

»Neugier ist eine Versuchung, der ein frommer Geist widerstehen muss«, hatte die Beginenmeisterin Anna gescholten, nachdem sie wohlbehalten von der Vorladung vor den Rat zurückgekehrt war. Mit einem Schaudern erinnerte sie sich daran, wie knapp Lazarus und sie einer Anklage entronnen waren. Hätte Annas Bruder Jakob nicht ein gutes Wort für sie eingelegt, säße sie jetzt vermutlich nicht an Gertruds Bett.

Ein Schmerzenslaut und ein Zucken ließen sie die Gedanken an das, was passiert war, vergessen. »Entschuldigung«, murmelte sie zerknirscht und drückte vorsichtig eine Kompresse auf die Wunde. Dann verband sie Gertrud und half ihr, das Untergewand wieder über die Hüften zu ziehen. Da sie die Kerzenlampe auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett abgestellt hatte, fiel der Lichtschein auf Gertruds Gesicht, als sie den Kopf in den Kissen wandte. Dabei fiel Anna auf, dass sich hinter ihrem Ohr ebenfalls eine verschorfte Wunde befand. Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand aus, um Gertruds Haar zur Seite zu schieben. »Was ist das?«, fragte sie.

Doch Gertrud hielt sie mit einem Griff ans Handgelenk zurück. »Nichts«, log sie. »Ich danke dir für alles, aber ich bin furchtbar müde.«

Anna erschrak über die Kälte ihrer Hand.

Sie zitterte.

Obwohl sie am liebsten weiter in Gertrud gedrungen wäre, wusste sie, dass sie die Frau schlafen lassen musste. Wenn sie sich nicht innerhalb eines Tages erholte, würde Anna die Meisterin bitten, nach dem Wundarzt zu schicken. Ganz gleich, was sie versprochen hatte, sie würde diese Frau ganz gewiss nicht sterben lassen!

Kapitel 2

Nachdem Anna Gertruds Kammer verlassen hatte, machte sie sich auf zum Gemeinschaftsraum der Beginen, um mit den anderen Schwestern ein einfaches Mahl einzunehmen. Obwohl sie jeden Tag dankbar dafür war, eine der zwölf Frauen zu sein, die in dem großen Anwesen in der Frauengasse lebten, fragte sie sich, wie lange sie sich noch hinter den Mauern der Sammlung verstecken konnte. Nach allem, was mit dem Sohn des zweiten Bürgermeisters passiert war, würde ihr Bruder vermutlich eine Weile Ruhe geben. Doch Anna war sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihr erneut eine Ehe mit einem der reichen Patriziersöhne ans Herz legte. Als Pfleger des Heilig-Geist-Spitals war es hinderlich für ihn, dass seine Schwester einer Vereinigung angehörte, die vom Papst verboten worden war und von vielen Geistlichen als ketzerisch angesehen wurde. Nicht nur die Zisterziensermönche des gegenüberliegenden klösterlichen Pfleghofes bedachten die Beginen mit abfälligen Blicken. Zwar hatten sich die Frauen nach dem Konzil von Vienne den Barfüßermönchen angeschlossen und sich den Regeln dieses Ordens unterstellt, trotzdem wurden auch in Ulm immer öfter Rufe nach einer Schließung des Beginenhofes und einer Beschlagnahmung aller Besitztümer der Frauen laut.

»Das sind Bräute des Teufels«, hatte Anna schon öfter auf ihrem Weg zum Heilig-Geist-Spital gehört. Jetzt, wo der Mann, der sie fast getötet hatte, den Posten des zweiten Bürgermeisters erhalten hatte, würden die feindlichen Stimmen vermutlich immer mehr Gewicht gewinnen.

Sie zog schaudernd die Schultern hoch, da der Gedanke unweigerlich andere Erinnerungen mit sich brachte. In manchen Nächten wachte sie immer noch schweißgebadet auf, weil sie sich im Traum wieder in dem Kellerloch befand, in dem sie auf den sicheren Tod gewartet hatte. Hätte sie ihre Nase nicht in Angelegenheiten gesteckt, die sie nichts angingen, wäre all das Furchtbare nie geschehen. Mit einem Seufzen betrat sie das Hauptgebäude und erklomm die Treppe ins erste Obergeschoss, wo sich der Gemeinschaftsraum der Beginen befand. Nahezu alle Schwestern waren bereits um den langen Tisch versammelt, an dessen Kopfende die Meisterin aus einem Buch las. Die Kornmeisterin, die Kellerin, die Zinsmeisterin und die Schreiberin saßen ebenfalls am oberen Ende der Tafel und bedachten Anna mit tadelnden Blicken.

Nachdem sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte, nahm sie Platz und fiel in das Gebet mit ein, das die Meisterin in diesem Moment begann. Mit gesenktem Kopf löffelte sie den lauwarmen Brei, während ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft gingen.

Seit den Vorkommnissen im Frühjahr und Sommer schien die Meisterin sie mit einem noch strengeren Auge zu beobachten, weshalb Anna ihr so oft wie möglich aus dem Weg ging. Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte, ein Leben führen zu dürfen, das sich nur Frauen aus wohlhabendem Haus leisten konnten. Doch seit sie Lazarus’ Lippen auf ihren gespürt hatte, nagte eine sündige Unzufriedenheit an ihr. Warum hatte Gott sie die Wege kreuzen lassen? Weshalb quälte Er sie so? War das der Preis, den sie für ihr sündiges Verlangen bezahlen musste? Sie trank ihre Milch aus, schob die leere Schale von sich und starrte blicklos auf den kleinen Kreis aus Feuchtigkeit, den ihr Becher auf dem Tisch hinterlassen hatte.

»Schwester Anna, auf ein Wort«, schreckte die Stimme der Meisterin sie auf.

Sie hatte nicht bemerkt, dass auch die anderen Schwestern ihr Frühstück beendet hatten und Anstalten machten, den Gemeinschaftsraum zu verlassen.

Sie erhob sich hastig und strich ihre Röcke glatt.

»Wie geht es der Reisenden?«, erkundigte sich die Meisterin. »Hast du nach ihr gesehen?«

Anna nickte. »Sie ist sehr schwach und hat hohes Fieber. Außerdem ist sie verletzt.«

Die Meisterin sah sie fragend an.

Anna beschrieb ihr die Wunde und die verheilten Verletzungen, die sie entdeckt hatte. »Sie behauptet, sie sei gestürzt, aber es sieht eher aus, als ob sie jemand furchtbar verprügelt hätte. Die Wunde ist entzündet. Wenn es ihr morgen nicht besser geht, sollten wir den Wundarzt holen.«

Die Meisterin nickte. »Ich gehe zu ihr. Vielleicht vertraut sie sich mir an.« Sie wandte sich zum Gehen.

Anna sah ihr nach und fragte sich, ob sie Gertrud zum Reden bringen konnte. Sie war sicher, dass die Kranke irgendetwas verbarg, doch es stand ihr nicht zu, sie weiter zu bedrängen. Mit gemischten Gefühlen verließ sie den Raum und ging zurück in den Hof, der immer noch in dichtem Nebel lag. Zwar hatte die Sonne inzwischen den Horizont erklommen, doch die schwachen Strahlen drangen kaum durch. Begleitet vom Klappern der Milchkannen und dem Schimpfen der Knechte, betrat sie einen Arkadengang, der sie zur Kräuterküche führte. Da der Raum nur zwei winzige Fenster besaß, entzündete sie ein halbes Dutzend Talglichter und entfachte ein Feuer in der gemauerten Kochstelle, über der ein Funkenhut hing. Schlichte Regale, bis obenhin gefüllt mit Behältnissen aller Art, säumten zwei der Wände. Auf einem kleinen Tisch lagen etwa ein halbes Dutzend Bücher. Außerdem befanden sich mehrere Zuber, Kessel, Schüsseln, Mörser und ein großer Hacktisch im Raum. Weil Anna an diesem Tag nach den Pfründnern, den Alten im Spital, sehen wollte, bereitete sie Wacholderelixier gegen Atembeschwerden zu. Dafür kochte sie Wacholderbeeren, Königskerzenblüten und Bertramwurzelpulver in Wein auf und siebte es ab. Außerdem mischte sie Hirschzungenelixier aus getrocknetem Hirschzungenfarnkraut, Wein, Honig, langem Pfeffer und Zimtrinde. Auch diese Zutaten wurden in Wein aufgekocht und durch ein Sieb gestrichen. Den beiden Arzneien folgten Heckenrosenelixier, eine Mischung aus Pfennigkraut, Eisenkraut und Steinbrechsamen gegen Gallenbeschwerden, Quendelsalbe gegen Hautekzeme und Bernsteinwasser gegen Magen-Darm-Beschwerden.

Sobald alles fertig war, packte sie die Flaschen und Tiegel in einen Korb und steuerte auf das große Tor des Beginenhofes zu. Als sie die schützenden Mauern verließ, umhüllte sie der dichte Nebel. Die Geräusche der Stadt wirkten gedämpft, selbst das Schlagen der Zimmermannshämmer drang kaum von der Münsterbaustelle in die Frauengasse. Mit einem Gefühl der Beklemmung sah Anna sich um und eilte nach Süden, bis sie das Ende der Frauengasse erreichte. Beim Ochsenbergle wandte sie sich nach Osten und begab sich vorbei am Predigerkloster der Dominikaner zum Heilig-Geist-Spital, vor dem wie immer großer Andrang herrschte. Nicht nur Bedürftige und zerlumpte Kinder warteten vor dem Tor, auch Handwerker, Fuhrleute, Mägde und Knechte harrten geduldig aus, bis der Beschließer sie einließ.

»Hast du schon gehört, was der Metzgerstochter passiert ist?«, hörte Anna eine der Mägde tuscheln.

Die Frau neben ihr zuckte mit den Schultern. »Was denn? Hat sie schon wieder einen anderen?«

»Was redest du da? Sie hat im Frühjahr geheiratet.«

»Ach? Was interessiert’s mich? Der Kerl muss schön dumm sein, wenn er sich mit diesem losen Weib abgibt. Ich will nicht wissen, wie viele Pfaffen ihretwegen den Hurenzins zahlen.« Die Frau lachte verächtlich.

»Interessiert dich auch nicht, dass ihr Mann verschwunden ist?«

Anna spitzte die Ohren.

»Verschwunden?« Die andere Magd lachte. »Gott wird ihn der Hure genommen haben. Oder er ist abgehauen. Wäre nicht der erste.«

»Warum sollte er abhauen? Sie ist doch jung und willig.«

»Woher weißt du überhaupt davon?«

»Die Hebmagd hat es mir erzählt.«

»Die wird dir einen Bären aufgebunden haben«, schnaubte die Frau und schob ihre Begleiterin nach vorn, als zwei der Fuhrwerke vom Beschließer durchgewunken wurden. Kurz darauf war die Reihe an Anna, die wenig später den kleineren der beiden Spitalhöfe betrat. Trotz der dichten Schwaden war zu erkennen, wie weitläufig das Gelände war. Zu ihrer Rechten befanden sich die Ställe, Scheunen und Fruchtkästen, zu ihrer Linken ragte die Spitalkirche in den Himmel. Die Spitze des Turms wurde vom Nebel verschluckt. Eine Schmiede, eine Bäckerei und mehrere Wirtschaftsgebäude schlossen an die Kirche an. Gegenüber dem Tor zeichneten sich die Umrisse der Dürftigenstube ab, hinter welcher einer der Türme der Stadtbefestigung aufragte. Durch einen Bogengang neben der Kirche gelangte man in einen zweiten, größeren Hof, in dessen Mitte sich ein Ziehbrunnen befand. In der Nähe des Brunnens waren die größeren landwirtschaftlichen Geräte und Fuhrwerke des Ordens abgestellt. Östlich der Kirche verbarg sich das stattliche Haus des Spitalmeisters mit einer Kapelle im Nebel. Den Abschluss des größeren Hofes bildeten die Häuser für die Pfründner, eine Badestube und ein Speisesaal. Am Fuß der Stadtmauer gab es einen kleinen Friedhof und einen Kräutergarten.

Trotz des Wetters herrschte reger Betrieb in den Höfen, da zahlreiche Bedürftige und Kranke im Spital wohnten. Dutzende von Ordensbrüdern kümmerten sich um die männlichen Insassen, wohingegen die Wöchnerinnen und weiblichen Kranken von der Meisterin, einer Milchmutter und zwei im Spital wohnenden Schwestern versorgt wurden.

Mit schwerem Herzen, weil die Erinnerungen an Lazarus überall lauerten, machte Anna sich auf den Weg zur Dürftigenstube, um zuerst diejenigen zu versorgen, die ihre Hilfe am dringendsten benötigten.

Kapitel 3

Der achtjährige Ziegenhirte Paul drängte sich dicht an seine Tiere, weil ihm vor Kälte die Knie schlotterten. Er hatte bei Sonnenaufgang den kleinen Hof des Ackerbürgers verlassen, bei dem er eine Anstellung gefunden hatte, und hoffte, dass er im Nebel keines der klapprigen Tiere verlor. Wenn ihm eines der viel zu spät geborenen Zicklein weglief, würde der Herr ihm nicht nur das Fell gerben, er würde ihn mit Sicherheit auch aus dem Haus jagen. Zwar teilte Paul sich den stinkenden Heuboden mit allerlei Geziefer und Ratten, doch die Unterkunft war besser als alles, an das er sich erinnern konnte. Nachdem sein Vater bei einem Unfall auf der Münsterbaustelle ums Leben gekommen war, hatten sich eine Zeit lang die Zimmerleute um ihn gekümmert. Dann war der mutterlose Knabe bei einem prügelsüchtigen Trinker gelandet, der ihm mit einem Meißel fast den Kopf gespalten hätte. Verängstigt, mit einer gebrochenen Nase und nur den Kleidern, die er am Leib trug, war der Junge fortgelaufen und seitdem auf sich allein gestellt.

»Bleib hier, Mecki!«, rief er, als eine der Geißen neugierig zum Wegrand trabte, um dort Gras zu zupfen. Er wusste nicht einmal, ob die Wiese, auf die er die Tiere bringen sollte, in der Nähe war. Vermutlich hatte er sich längst verlaufen, weil im Nebel alles gleich aussah. Die Weide, die der Herr sich mit einigen anderen Ackerbürgern teilte, war nahe der Stadtmauer bei der Donau, allerdings tauchten vor ihm die Schemen von Zäunen und Obstbäumen auf. Mit zitternden Fingern zog er an dem langen Strick, mit dem er die Ziegen zusammengebunden hatte, und hoffte, dass er sein Ziel bald erreichte.

Während die Tiere mal in die eine, mal in die andere Richtung drängten, lauschte er auf die Geräusche der Stadt. Es war unheimlich, Hufe klappern und Menschen reden zu hören, ohne sie zu sehen. Zwar war es jeden Herbst nebelig in Ulm, doch so schlecht wie an diesem Morgen war die Sicht schon lange nicht mehr gewesen. Insgeheim fürchtete Paul, dass im Schutz der aufsteigenden Feuchtigkeit Dämonen und Geister ihr Unwesen trieben, da Gott und der Herr Jesus sie nicht sehen konnten. Mit einem Gebet auf den Lippen, umklammerte er das Holzkreuz an seinem Hals und tastete sich mit den Ziegen weiter den schlechten Pfad entlang.

Er hatte von Menschen gehört, die bei Nacht und Nebel von Wiedergängern oder Werwölfen angegriffen worden waren. Wurde man von einem solchen Wesen getötet, war die Seele verloren. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er Schritte hinter sich vernahm, die sich rasch näherten. Verfolgte ihn eine Kreatur der Hölle? Er umklammerte den groben Strick fester und drängte sich näher an die Ziegen. Als ob sie ihn schützen könnten! Seine Furcht verstärkte sich, als sich weitere Verfolger zu dem ersten gesellten.

»Lieber Herr Jesus, steh mir bei!«, murmelte er und hätte vor Erleichterung fast aufgeschluchzt, als die Pfosten, die der Herr als Begrenzung der Wiese in den Boden geschlagen hatte, vor ihm auftauchten. Er hatte sich nicht verlaufen. So schnell er konnte, zerrte er die Ziegen auf das kleine Stück Gras, das von zu vielen Hufen niedergetrampelt war. Nur an wenigen Stellen wuchs noch saftiges Grün, rings um den Wassertrog in der Mitte des Fleckens. Mehrfach sah er sich um, während er die Tiere zu dem Trog führte, wo er sie an einem Pflock festband. Ungeachtet der fürchterlichen Kreaturen, die im Nebel lauern konnten, machten sich die Ziegen über das magere Gras her und schon bald war das Geräusch ihres Zupfens das einzige, das Paul hörte. Der Rest der Welt um ihn herum schien verstummt zu sein.

Obwohl ihm die Angst im Nacken saß, wagte er, sich auf den Rand des Troges zu setzen und die Beine anzuziehen. Wenn er ganz still und leise verharrte, bemerkten ihn die Dämonen vielleicht nicht. Geradeaus starrend, betete er ein Vaterunser nach dem anderen und schloss die Augen, wann immer sich ein Schemen aus dem Nebel zu lösen schien. Seine Sinne spielten ihm mehr als einmal einen Streich und als einer der kahlen Bäume sich auf ihn zuzubewegen schien, rutschte er mit einem erstickten Schrei nach hinten.

»Mist!«, schimpfte er, als sich sein Hosenboden mit eiskaltem Wasser vollsog. Einen Moment lang war die Angst vergessen und er sprang schimpfend zurück auf den Boden. »Das hat gerade noch gefehlt«, brummte er und versuchte, das Wasser aus dem Stoff zu wringen. Dabei fiel sein Blick in den Trog.

Etwas Grauenhaftes glotzte zurück.

Mit einem schrillen Schrei kehrte Paul dem Trog und den Ziegen den Rücken und rannte, so schnell er konnte, davon. Vergessen war die Angst vor dem Zorn seines Herrn, weggewischt die Furcht vor den Klauen der Höllenwesen. Das, was ihm aus dem Wassertrog entgegengeblickt hatte, war so entsetzlich, dass es Schlimmeres kaum geben konnte. Wie von Furien gehetzt, stolperte der Junge durch die Gassen, prallte mit Reitern und Fußvolk zusammen und rannte blindlings immer weiter. Es war ihm egal, wohin er lief. Hauptsache, er brachte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Ding auf der Futterwiese.

Kapitel 4

»Ich fürchte, du verschwendest deine teuren Arzneien, Schwester Anna. Der Barmherzige wird die arme Seele bald zu sich holen.«

Anna richtete sich von dem Lager auf, über das sie sich gebeugt hatte, um einer Greisin einen Trank zur Linderung ihrer rasselnden Atmung zu verabreichen. Ihre Brust hob und senkte sich nur noch schwach und in den trüben Augen war kaum mehr Leben. Ihre knotigen Hände lagen reglos auf ihrem Bauch, der von einem Krebsgeschwür aufgebläht war.

»Sie wird bald von uns gehen«, setzte der Siechenmeister hinzu und bekreuzigte sich. Er blickte mit einer Miene, die stets traurig zu sein schien, auf die alte Frau hinab und murmelte ein Gebet.

Anna strich der Kranken eine Strähne ihres dünnen weißen Haares aus der Stirn und stellte den Becher mit dem Trank ab. »Es hilft ihr, leichter zu atmen«, sagte sie. »Sie soll nicht leiden.«

»Leid gehört zum Leben, genau wie die Freude«, entgegnete der Siechenmeister. »Ihr Licht hat lange genug gebrannt.« Er kehrte Anna und der Alten den Rücken und machte sich auf zu einem anderen Bett, in dem ein Mann lag, dessen Beine bei einem Sturz aus großer Höhe zerschmettert worden waren. Der Wundarzt war ebenfalls bei dem Verletzten, um die gebrochenen Knochen zu richten. Das Brüllen des Mannes ging Anna durch Mark und Bein, doch allmählich schien ihn die Kraft zu verlassen, da er nur noch leise weinte.

»Es hat keinen Zweck«, hörte sie den Wundarzt sagen. Er war ein vierschrötiger Mann mit einem Gesicht, wie von einem schlechten Steinmetz gehauen. Seine Augen waren durchdringend, der Mund schmallippig und hart. Anna fürchtete sich vor ihm, da seine Heilmittel Pflaster, Brenneisen und Buße waren. Wo immer er auftauchte, brachte er Schmerz mit. Das Brennen wandte er bei solch unterschiedlichen Erkrankungen wie Magen- oder Kopfschmerzen, Leber- oder Milzbeschwerden an. Auch Fisteln am Darm und Hämorrhoiden brannte er häufig aus. Zudem schwor er auf die heilsame Wirkung des Brenneisens, wenn es um die Nachbehandlung von Bruch- oder Zahnoperationen ging.

»Die Beine sind bereits abgestorben«, stellte der Wundarzt fest. »Wenn die Fäulnis ihn nicht töten soll, müssen sie amputiert werden.«

Anna kroch ein kalter Schauer über den Rücken. Eine Amputation war eine entsetzliche Tortur für denjenigen, der sie über sich ergehen lassen musste. Reiche Insassen konnten es sich leisten, mit einem Schlafschwamm, getränkt in Mohnsaft, Efeu, Alraune und Schierling, betäubt zu werden, dieser arme Teufel hingegen würde den Eingriff bei vollem Bewusstsein ertragen müssen.

»Ich brauche drei starke Männer, die ihn festhalten«, sagte der Wundarzt. »Mein Gehilfe und ich sägen.«

Anna wurden die Knie weich.

»Du, Begine!«

Sie zuckte zusammen.

»Jemand muss die Blutung stillen und die Beine verbinden, wenn wir fertig sind.«

Anna stand wie vom Donner gerührt neben dem Bett der Greisin. Zwar hatte sie schon oft schlimme Verletzungen verbunden, doch bei einer Amputation war sie bisher nie zugegen gewesen. Sie wusste nicht, ob sie dafür stark genug war.

»Du kannst auch gleich für seine Seele beten«, setzte der Wundarzt hinzu. »Wenn Gott ihm nicht beisteht, sehe ich schwarz für ihn.«

»Der Herr steht allen bei, die reinen Herzens sind«, tadelte der Siechenmeister. »Wenn er eines seiner Kinder zu sich holt, zeigt er ihm seine Güte.«

Der Wundarzt brummte etwas Unverständliches und stieß einen Pfiff aus. Dem Burschen, der daraufhin herbeigeeilt kam, trug er auf, Männer zu holen, die ihm helfen konnten. »Ihr solltet euch besser fernhalten«, riet er dem Siechenmeister. »Euer Habit könnte beschmutzt werden.«

»Ich nehme ihm die Beichte ab«, erwiderte der Siechenmeister. »Dann könnt ihr mit Eurer Operation beginnen.«

Anna floh aus der Dürftigenstube, um Verbände zu holen. Als sie zurückkehrte, war der Siechenmeister verschwunden und fünf kräftige Männer scharten sich um das Lager des Verletzten. Der Wundarzt hatte bereits eine Säge aus seiner Tasche geholt, deren Anblick dem Mann mit den zertrümmerten Beinen ein Wimmern entlockte.

»Willst du den Tag überleben?«, herrschte der Wundarzt ihn an.

Der Mann schloss die Augen.

»Haltet ihn fest! Er darf sich nicht bewegen!«

Anna presste die Hand vor den Mund, als der Wundarzt und sein Gehilfe je ein Ende der Säge packten und anfingen, das rechte Bein des Verletzten unterhalb des Knies abzutrennen. Das Brüllen des Verletzten war ohrenbetäubend. Wie ein Wahnsinniger versuchte er, sich gegen die Hände zu wehren, die ihn niederdrückten, doch schon nach wenigen Augenblicken verließ ihn die Kraft.

Blut spritzte, als der Wundarzt und sein Gehilfe immer weiter sägten, bis das Bein abgetrennt war. Die Brutalität der Operation war so bestialisch, dass Anna die Augen schloss und anfing zu beten. Nachdem der Wundarzt die Säge auf dem blutgetränkten Laken abgelegt hatte, nahm er das Brenneisen zu Hand und drückte es auf den Beinstumpf.

Der Mann verlor das Bewusstsein

»Was stehst du da rum wie ein Ölgötze?«, fuhr der Wundarzt Anna an, nachdem er das Brenneisen zurück in ein Kohlebecken gesteckt hatte. »Verbinde ihn!«

Anna spürte, wie sich ihr Magen umdrehen wollte. Es war so viel Blut, dass der Verletzte unmöglich überleben konnte. Warum musste er diese entsetzlichen Qualen durchleiden? Was hatte er getan, um Gottes Zorn auf sich zu ziehen?

»Mach schon! Beeil dich!«

Anna versuchte, durch den Mund zu atmen, um den Gestank von Blut und verbranntem Fleisch nicht riechen zu müssen. Während die Blicke der Männer Löcher in ihren Rücken bohrten, holte sie die Binden hervor und beugte sich über den Beinstumpf. Mit heftig zitternden Händen strich sie eine Salbe auf die Wunde und wickelte die Verbände so straff wie möglich darum. Dabei sah sie immer wieder auf das totenbleiche Gesicht des Ohnmächtigen, da sie fürchtete, er könne das Bewusstsein wiedererlangen. Nachdem sie fertig war, trat sie hastig vom Bett zurück und hielt sich mit Mühe davon ab, sich die Ohren zuzuhalten, als sich der Wundarzt und sein Gehilfe das zweite Bein vornahmen. Nachdem auch dort die Blutung mit dem Brenneisen gestillt worden war, verband sie den Mann erneut, obwohl sie sicher war, dass er den Abend nicht erleben würde.

»Räum hier auf!«, befahl der Wundarzt einer Magd, nachdem er seine Gerätschaften wieder in der Tasche verstaut hatte. »Wenn er aufwacht, gebt ihm zu trinken!« Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg aus der Dürftigenstube, in der es plötzlich gespenstisch still war.

Kapitel 5

Die nächsten Stunden brachte Anna damit zu, einem sterbenden Jungen Trost zu spenden und ihm die Hand zu halten, bis er eingeschlafen war. Ob er wieder aufwachen würde, bezweifelte sie, da er nur noch Haut und Knochen war. Ein Durchfall hatte ihn so sehr geschwächt, dass er nichts mehr bei sich behalten konnte, nicht einmal die leichten Suppen und Aufgüsse, die Anna ihm bereitet hatte.

Immer wieder schweiften ihre Blicke zu dem Amputierten ab, der so bleich war, dass seine Haut kaum von den weißen Laken zu unterscheiden war. Er hatte das Bewusstsein nicht wiedererlangt, dennoch schlugen seine Zähne deutlich vernehmbar aufeinander. Nachdem Anna sich versichert hatte, dass der Junge schlief, erhob sie sich, um nach dem Verwundeten zu sehen. Sie erschrak, als sie seine Haut berührte. Sie war eiskalt. Besorgt tastete sie nach seinem Aderschlag, konnte ihn jedoch kaum mehr spüren.

Der Mann lag im Sterben.

Einen Augenblick überlegte sie, ob sie den Wundarzt oder den Siechenmeister holen sollte, aber die konnten das Leben des armen Teufels auch nicht mehr retten. Er hatte seine Sünden gebeichtet und würde mit reiner Seele vor seinen Schöpfer treten. Das Barmherzigste war, ihm sein Leid so weit wie möglich zu erleichtern und ihn sterben zu lassen. Sie legte eine Decke über ihn, wischte ihm den Schweiß von der Stirn und sprach ein Gebet, in dem sie um ein schnelles Ende bat. Der Gedanke an die Qualen, die ihn sonst erwarteten, war unerträglich.

Sie hatte sich gerade wieder an das Lager des Jungen gesetzt, als sie Rufe durch die offene Tür der Dürftigenstube vernahm. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Brüder und Bedienstete im Hof zusammenliefen. Neugier regte sich in ihr. Die Neugier steht einer frommen Frau nicht gut zu Gesicht, ermahnte sie sich und blieb sitzen. Der Junge brauchte sie. Wenn er noch mal erwachte, wollte sie, dass er nicht alleine war. Sie legte ihm die Hand auf die Wange, um zu sehen, ob er Fieber hatte, doch er war genauso kalt wie der Mann, dem der Wundarzt die Beine abgenommen hatte.

»Der Herr sei deiner Seele gnädig«, murmelte Anna, als sie sah, dass er unregelmäßig atmete. Obwohl die Stimmen aus dem Hof immer lauter wurden, widerstand sie dem Drang nachzusehen, was vor sich ging, und blieb bei dem Knaben, bis sein Herz aufhörte zu schlagen. Danach wusch sie den Toten, sprach Gebete für ihn und schickte nach einem Priester, damit der Leichnam mit Asche bestreut und in ein Leichentuch eingenäht werden konnte. Der Tod war allgegenwärtig im Spital und obwohl Anna jedes Schicksal zu Herzen ging, wusste sie, dass die Verstorbenen bei ihrem Schöpfer Gerechtigkeit finden würden. Wer reinen Herzens und reiner Seele war, den erwartete der Einzug ins Paradies.

Sobald der Priester sie entlassen hatte, ging sie weiter zu der nächsten Kranken und verbrachte die folgenden Stunden damit, Tränke zu verabreichen und mit den Einsamen zu sprechen.

Schließlich, die Glocke der Spitalkirche rief bereits zur Terz, verließ sie die Dürftigenstube, um am Stundengebet teilzunehmen. Die Kirche war schon so voll, dass sie dicht beim Ausgang bleiben musste, und sobald das Gebet beendet war, ging sie zurück in den Hof. Trotz aller guten Vorsätze regte sich Neugier in ihr, als sie sah, dass sich sofort wieder kleine Gruppen aus Mägden und Knechten bildeten. Obwohl Tratsch und Klatsch im Spital mit Bußen belegt wurden, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Was gab es so Wichtiges, das alle in helle Aufregung versetzte? Wenngleich sie sich geschworen hatte, der Meisterin keinen Grund mehr zum Tadel zu geben, war ihre Wissbegier stärker als ihre Demut. Deshalb beschloss sie, sich auf den Weg in die Stube der Wöchnerinnen zu machen, da sie so an einer kleinen Traube von Mägden vorbeikam, die besonders gestenreich miteinander redeten.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie, als sie die Frauen erreichte.

Einige von ihnen kicherten.

»Hast du es noch nicht gehört?«, entgegnete eine Frau mittleren Alters, auf deren Oberlippe ein veritabler Damenbart wuchs.

»Was?«

»Hast du ihn in der Kirche denn nicht gesehen?«, wollte eine andere Magd wissen.

»Wen?« Anna folgte den Blicken der Frauen, die zum Eingang der Spitalkirche starrten. Dort standen mehrere Ordensbrüder um einen Mann in ihrer Mitte herum.

»Bruder Lazarus ist zurück!«

Die Worte trafen Anna wie ein Schlag. »Lazarus?«, hauchte sie.

Die Frau kniff die Augen zusammen und musterte sie forschend. »Ja. Er war in Rom. Aber das wusstest du sicher.«

Die anderen Mägde kicherten erneut.