Die Bernsteinstraße - Gisela Graichen - E-Book

Die Bernsteinstraße E-Book

Gisela Graichen

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Beschreibung

Bernstein ist ein von Sagen und Mythen umwobener magischer Stein – begehrt und verklärt bis heute. Als «Tränen der Götter» wird das fossile Harz gern bezeichnet. Dass Bernstein aber einst ein äußerst wichtiges Handelsgut war, zeitweilig wertvoller als Gold, und dass es schon vor Tausenden von Jahren auf Handelswegen quer durch Europa transportiert wurde, zeigen neueste archäologische Funde und Untersuchungsmethoden. Denn im nördlichen Afrika und in Südeuropa wurde Bernstein gefunden, der von der Ostseeküste stammt. Es muss also uralte Handelswege zwischen Ostsee und Nil gegeben haben, die die Enden der damals bekannten Welt verbanden. Das «Gold der Ostsee» wurde durch Händler zu Fuß, auf Ochsenkarren und auch schon per Pferd transportiert. Welche Rolle Bernstein damals spielte im Austausch von Waren und Wissen, Rohstoffen und Ideen, wie Europas Eliten zu Macht und Reichtum kamen, das beschreibt anschaulich und mit vielen Abbildungen dieses Buch: eine faszinierende Entdeckungsreise zu Schatzkammern und Schlachtfeldern, Handelszentren und aktuellen Grabungen. «Die Bernsteinstraße» ermöglicht einen neuen, überraschenden Blick darauf, wie das frühe Europa Partner der Hochkulturen in Ägypten, der Ägäis und dem Vorderen Orient wurde. Das Buch beschreibt die Spuren eines florierenden Welthandels in der Bronzezeit und die Geschichte eines magischen Steins, der weitaus mehr war als ein schöner Schmuck: ein Stein für Könige.

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Seitenzahl: 402

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Gisela Graichen • Alexander Hesse

Die Bernsteinstraße

Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

MottosEINFÜHRUNG Goldene Zeiten – die ersten Eliten im Herzen EuropasKAPITEL 1 Die Bronzezeit – eine weite WeltVerlorenes Wissen – wiederentdecktMenschenopfer in der LeichenhöhleDie längste Grabung DeutschlandsCodewort «Besonderer Fund»Die Grabkammer des FürstenDas Netzwerk der Mächtigen – durch Heirat gesichertBernsteinketten: geschmolzen im ScheiterhaufenKAPITEL 2 Bernstein in der Geschichte – Faszination und MythosBernsteinzauberZeit für LuxusWissen macht mächtigEin schimmernder SchatzDie Tränen der GötterBernstein – ein Heilstein?Die BernsteinherrenDas Geschäft mit dem BernsteinDas BernsteinzimmerMythos BernsteinKAPITEL 3 Die Bernsteinstraßen im MittelmeerraumDie SchatzinselZeitsprung – der Hafen damalsDas Wrack von UluburunQatna – die Entdeckung im WüstensandSpurensuche in ÄgyptenDie Löwen von MykeneÜber den Brenner?KAPITEL 4 Das Mykene Bayerns – Bernstorf, die versunkene StadtDie LegendeDer FundZweifel an der EchtheitMykenische Schriftzeichen an den Ufern der Amper?Das rätselhafte LächelnWeitreichende VerbindungenWo ist die Stadt?Verdächtige BrandspurenNur die Legende überlebteKAPITEL 5 Im Auftrag des Pharao – Ägyptische HandelsexpeditionenDer Blick nach SüdenDer Blick nach OstenDer Blick nach NordenDer Blick nach WestenBernstein in ÄgyptenKAPITEL 6 Detektivarbeit im Labor: der Fingerabdruck des BernsteinsPROLOG Hannah und die SchokoladeWarum Chemiker sich mit Bernstein beschäftigenMoleküle, die schwingen, singenWas wichtig ist, bleibt dem Auge verborgenDetektivarbeit bringt es ans LichtKAPITEL 7 Die Himmelsscheibe von Nebra – gefunden am Knotenpunkt alter HandelswegeTatort Nebra oder Die Entdeckung der HimmelsscheibeBlick über die LandschaftSiedlungsinseln im NebellandSonne, Mond und Sterne?Eine altbabylonische KalenderregelWoher kommt das Wissen?Händler bahnen den WegWissenstransfer über Tausende von KilometernTechnik aus dem Süden?Versteckt oder begraben?Burgen, Salz und Zinn – ein frühes Handelsmonopol?Gaben an die GötterKAPITEL 8 Mitteleuropäische Handelsrouten in der BronzezeitMit Feuer und Wasser brechen sie das Erz in der FinsternisEin «Road Trip» 2500 v. Chr.Passend gekleidet ins TotenreichOhne Trucks und Eisenbahn: Schwertransport über Hunderte KilometerDer «Bullenheimer Berg» – ein bronzezeitliches Machtzentrum?Brotlaibidole: die Strichcodes der Bronzezeit?KAPITEL 9 Massaker im Tollensetal – das älteste Schlachtfeld MitteleuropasMit Holzkeulen gegen BronzepfeileDie Invasion der Hirseesser?Goldgräberstimmung im TollensetalDie Anfänge des Krieges in MitteleuropaBaltischer Bernstein und ägyptisches Glas für die FürstinKAPITEL 10 Im Land der Nebelgötter – Norddeutschland in der BronzezeitMit der «Schröder-Pipeline» in die VergangenheitHandel bringt WandelDer Nordische KreisIm Zeichen der SonneHügel der HäuptlingeFeuer für die TotenNeue Waffen – neue Technik – neue ZeitenKAPITEL 11 Bernstein an der SamlandküsteHeliadentränen oder Eridanostreibgut?Wellen, Wikinger, WiskiautenMonopol und Todesstrafe – der Deutsche Orden und der BernsteinRätsel um das «achte Weltwunder»Europäischer «Blutdiamant»Verfallener StolzIndustrielle Revolution in Sachen Bernstein«Deutscher Schmuck» wird sowjetischEdelsteine und BernsteindiebeKAPITEL 12 Bernstein – ein magischer Stoff Eigenschaften, Ursprung und VorkommenKein echter SteinTausendsassa BernsteinUralte HerkunftBernsteinbäumeZeitkapsel BernsteinJurassic ParkErzwungene WanderschaftGigantische LagerstättenBernstein ist nicht gleich BernsteinAnhangLiteraturPersonenregisterOrtsregisterDie AutorenKarte
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«Für Eurymachos bracht er ein köstliches Halsgeschmeide,

Golden, mit Bernsteinperlen besetzt und hell wie die Sonne.»

Homer, Odyssee 18, 295–296

 

«Wer nicht von dreitausend Jahren

sich weiß Rechenschaft zu geben,

bleib im Dunkel unerfahren,

mag von Tag zu Tage leben.»

Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan

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EINFÜHRUNGGoldene Zeiten – die ersten Eliten im Herzen Europas

Seltsames begab sich im frühen Europa. Keine Schriften zeugen davon, doch die Archäologen präsentieren Beweise. Die Bronzezeit im Herzen Europas – grob vor vier- bis dreitausend Jahren – kannte keine Hieroglyphen wie in Ägypten, keine Keilschrift wie im Vorderen Orient. Aber wie in einem Tagebuch der Antike enthüllen Funde und Befunde Unglaubliches. Eine neue Zeit war angebrochen, eine aufregende Zeit. Ein unbekanntes Metall eroberte die Welt, leichter zu schmieden und doch widerstandsfähiger und härter als alles, was die Menschen bisher gesehen hatten: Bronze.

Der bronzezeitliche Schatz vom brandenburgischen Eberswalde aus 2,6 Kilo purem Gold

© Stephan Zengerle

Die Legierung aus Kupfer und Zinn, meistens 90% zu 10%, gab einer ganzen Epoche zwischen Stein- und Eisenzeit ihren Namen. Das Wundermetall war geschmeidig, hart, recycelbar. Der Trojanische Krieg wurde mit Bronzeschwertern geführt, Fürsten und Pharaonen ließen sich mit Gold und Bronzen begraben als Ausstattung für das Jenseits. Die Welt gierte nach dem neuen Werkstoff wie wir heute nach Erdöl. Auch der im Vergleich zum Mittelmeerraum arme und menschenleere Norden wollte nicht länger mit Klingen aus Flintstein hantieren. Doch hier setzte sich die Bronzezeit erst mit fast tausendjähriger Verspätung durch. Zum einen mussten Wissen und Technologie erst einmal nördlich der Alpen ankommen, zum anderen: womit sollte das rohstoffarme Mittel- und Nordeuropa das Zinn bezahlen, das von weit her importiert werden musste? Was man zum Tausch anzubieten hatte, waren Felle und Salz, vielleicht ein paar blonde Sklavinnen, wie tausend Jahre später die Germanen.

Und doch entdeckten und entdecken die Archäologen in noch heute nicht vor Reichtum strotzenden Gegenden Brandenburgs, Niedersachsens oder Sachsen-Anhalts und Mecklenburg-Vorpommerns unermesslich reiche bronzezeitliche Schätze.

Was war geschehen in unserem Land vor unserer Zeit? Woher kam dieser plötzliche Reichtum?

Die Schatzkammer des Archäologischen Museums in Schleswig glänzt voller Gold aus dieser Epoche, goldene Schüsseln, Teller, Tassen – was boten die Bauern von Marsch und Geest dagegen? Mykenische Bronzegefäße wurden in Niedersachsen und Schleswig-Holstein gefunden – wie kamen sie von der Ägäis dorthin über Tausende von Kilometern? In Neustrelitz entdeckte man in einem reichen Hortfund Perlen aus ägyptischem Glas – die ägyptische Hochkultur vor dreieinhalbtausend Jahren in Kontakt mit Mecklenburg-Vorpommern? In Nebra wurde vor 3600 Jahren die berühmte Bronzescheibe deponiert mit der ersten konkreten Himmelsdarstellung in der Geschichte der Menschheit – wie kam dieser Wissensquantensprung ausgerechnet nach Sachsen-Anhalt?

Die Himmelsscheibe von Nebra – gefunden am Knotenpunkt bronzezeitlicher Handelswege

© Stephan Zengerle

Und dann der Schatz von Eberswalde. Die entsprechende Sage aus dem Brandenburgischen war schon 1868 von Johann Georg Theodor Grässle im Sagenbuch des Preußischen Staates aufgezeichnet worden. Der arme Sattler, der im noch ärmeren Eberswalde nordöstlich von Berlin auf einen versunkenen Goldschatz stieß, war leider so unvorsichtig, dabei zu sprechen. Der Schatz versank wieder. Die Überlieferung endet: «So blieb jener Schatz für alle Zeit ungehoben.» Aber nur bis zum 13. März 1913. Da bewahrheitete sich die alte Sage. Bei Ausschachtungsarbeiten auf dem Gelände eines Messingwerks stießen die Arbeiter auf den größten vorgeschichtlichen Goldfund Deutschlands. Er beträgt satte 2,6 Kilo pures Gold. Nach Kriegsende 1945 verschwand der Schatz von Eberswalde aus dem 10. Jahrhundert v.Chr. zusammen mit Schliemanns trojanischem «Schatz des Priamos» noch einmal spurlos, bis er vor wenigen Jahren im Moskauer Puschkin-Museum in einem Geheimdepot ausfindig gemacht wurde.

Doch der «bedeutendste mitteleuropäische Bronzezeitfund» hat hundert Jahre nach seiner sensationellen Entdeckung Konkurrenz in Niedersachsen bekommen: Am 4. April 2011 stieß Grabungstechniker Jan Stammler mit seinem Metalldetektor südlich von Bremen in einem Acker bei Syke-Gessel auf einen bronzezeitlichen Goldschatz. Sein Gewicht beträgt zwar «nur» 1,8 Kilogramm, doch die 117 Schmuckstücke sind von einmaliger Qualität. Im 14. Jahrhundert v.Chr. waren sie in 60 Zentimeter Tiefe sorgfältig in einem mit Bronzenadeln verschlossenen Leinenbeutel im Erdreich deponiert worden.

Goldene Zeiten in der geheimnisvollsten aller Vergangenheiten, der sagenumwobenen Bronzezeit, einer der glanzvollsten Epochen der Vorgeschichte. Auch die in jener Zeit errichteten mächtigen Fürstengräber mit üppigen Grabbeigaben, deren gewaltige Hügel noch heute unsere mitteldeutsche Landschaft prägen, zeugen von einer neuen gesellschaftlichen Hierarchie, von Autoritäten, die diese gigantischen Arbeitsleistungen organisiert haben müssen. Häuptlinge, Fürsten, Priester? Eine erste Elite entstand nördlich der Alpen, die zu Macht und Reichtum gekommen war und die weitreichende Handelskontakte pflegte. Mitteleuropa und die Welt wuchsen zusammen.

Was war der Antrieb dieser Entwicklung in Alteuropa? Claus von Carnap-Bornheim, Landesarchäologe von Schleswig-Holstein, weist in der Museumsschatzkammer auf einen unscheinbaren gelblichen Stein: «Das sind diese kleinen Stücke, die der Motor der Entwicklung sind.»

Bernstein! Im Hochsicherheitstrakt des Schleswiger Landesmuseums Schloss Gottorf liegen die «kleinen Stücke» gleichberechtigt geschützt neben den Goldschätzen, gleich wertvoll. Wurde der mühelos an unseren Küsten gesammelte Bernstein etwa in der Bronzezeit mit Gold aufgewogen? Kann das sein? Und dann noch Tausende von Kilometern entfernt, an den Gestaden des Mittelmeers und am Nil?

Die Indizienkette gleicht einem Krimi. Manfred Moosauer, Hausarzt in München und Hobbyarchäologe, lieferte ein gewichtiges Puzzleteil. Wie einst Heinrich Schliemann in Sachen Troja glaubte er an den historischen Wahrheitsgehalt eines alten Textes. Die im 19. Jahrhundert in Bayern aufgezeichnete Überlieferung besagt: «Es geht eine Sage, dass zwischen Tünzhausen, Bernstorf und Kranzberg eine versunkene Stadt liegt.» Jahrelang hatte Moosauer systematisch danach gesucht, im Jahr 2000 war es so weit. Unweit von Freising, hoch über dem Ampertal, stieß er in Bernstorf auf beispiellose Schätze. Die unermesslich reiche Stadt gab es vor dreieinhalbtausend Jahren tatsächlich. Die eiligst verständigten Archäologen haben seitdem die Überreste einer gewaltigen Befestigung ausgegraben mit einer fast zwei Kilometer langen, etwa 4,50 Meter hohen Stadtmauer. Was sollte sie schützen? Der Wert der Schätze ist enorm, die Besiedlung war eher gering. Und wieso konnte sich die Erinnerung an die versunkene Stadt so lange im Gedächtnis der Bevölkerung erhalten?

Das Rätsel von Bernstorf ist noch lange nicht gelöst, die Wissenschaftler arbeiten auf Deutschlands wohl spannendster aktueller Grabung unter Hochdruck daran. Doch so viel steht fest: Moosauers sensationelle Funde weisen eindeutig bronzezeitliche Handelsbeziehungen mit den Hochkulturen im Mittelmeerraum nach. Und gleichzeitig belegen sie Kontakte mit dem Ostseeraum. Hier in Bayern lag eine Drehscheibe des Fernhandels mit den Luxusgütern Gold und Bernstein. Unter anderem entdeckte Moosauer das älteste Krondiadem Mitteleuropas aus purem Gold. Es erinnert deutlich an die von Schliemann ausgegrabenen Diademe der «Königsgräber» im griechischen Mykene. Und die Goldanalysen zeigen exakt die gleiche Zusammensetzung wie der in München restaurierte, etwa zeitgleiche Echnaton-Sarg, ein Hinweis, dass das Gold aus Ägypten stammt. Ein weiteres Indiz: Organische Reste auf dem Krondiadem wurden als Weihrauch bestimmt – eine Pflanze, die in Bayern eher selten vorkommt …

Damit nicht genug der Sensationen: Neben dreißig unbearbeiteten Bernsteinstücken legte der Hobbyarchäologe zwei gravierte Bernsteine frei – sorgfältig in Tonhüllen eingebettet und vergraben. Das eingeritzte, geheimnisvoll lächelnde Bernsteingesicht ähnelt verblüffend der sogenannten «Goldmaske des Agamemnon, des Siegers von Troja», aus den mykenischen Schachtgräbern. Und das Siegel wiederum trägt die im Bayerischen kaum zu erwartende mykenische Linear-B-Schrift.

Das geheimnisvolle Bernsteingesicht aus dem bayerischen Bernstorf. Ist die Ähnlichkeit mit der mykenischen «Agamemnon»-Maske Zufall?

© Stephan Zengerle

Für unsere Dreharbeiten zur Fernsehdokumentation «Die Bernsteinstraße» ließen wir die beiden originalen gravierten Bernsteinstücke aus Bernstorf in einem Essener Labor untersuchen. Das Hightech-Verfahren zur Herkunftsbestimmung des Rohbernsteins ergab sowohl beim Gesicht als auch beim Siegel eindeutig: Es handelt sich um baltischen Bernstein. Mit derselben Methode wurden in Mykene gefundene Bernsteinketten geprüft: Auch deren Rohstoff stammt von der Ostseeküste.

Dreharbeiten im Essener Büchi-Labor. Zum ersten Mal kann die Herkunft von Bernstein zerstörungsfrei festgestellt werden: Es ist baltischer Bernstein!

© Stephan Zengerle

Das Harz aus dem vor rund 50 Millionen Jahren versunkenen Bernsteinwald an der baltischen Samlandküste erreichte in der Bronzezeit die Hochkulturen des Mittelmeerraums, die bereit waren, es mit Gold aufzuwiegen. Auch wenn der «baltische Bernstein» durch Verlagerung bis an den Küsten der Nordseeinseln und Englands gefunden wird, der größte Teil kam und kommt von der Bernsteinküste des ehemaligen Ostpreußens. Doch wie gelangte er in die Königsgräber von Mykene, in das Grab des Pharaos Tutanchamun und in das Fürstengrab von Qatna im heutigen Syrien, wie neue Untersuchungen beweisen? Was reizte die Mächtigen an dem Baumharz von der Ostsee – Männer wie Frauen? Die Kette auf Nofretetes berühmter Büste sieht genau so aus wie eine in Ingolstadt gefundene große Bernsteinkette aus dieser Zeit. Sogar der gleiche Verschluss hinten am Hals der schönen Pharaonin ist noch deutlich zu erkennen. Der Ingolstädter Bernstein stammt, wir ahnen es inzwischen: von der Ostsee.

Es muss uralte Handelswege zwischen Ostsee und Nil gegeben haben, die die Enden der damals bekannten Welt verbanden. Quer durch Deutschland, durch Wälder und Moore, dann weiter über das Bollwerk der Alpen gab es ein weitgespanntes Austauschsystem. Das setzte vor dreieinhalbtausend Jahren eine straff organisierte Logistik und ein ausgebautes Kommunikationsnetz voraus. Heute würden wir von einer ersten Globalisierung im Herzen Europas sprechen. Das Gold der Ostsee wurde durch Händler zu Fuß, auf Ochsenkarren und auch schon per Pferd transportiert.

Wer organisierte den Warenaustausch – und wer verdiente daran? Die Handelsrouten mussten vor Überfällen geschützt, Nahrung und Transportmittel bereitgestellt werden. An den Fernstraßen lassen sich Reste von Burgen archäologisch ausmachen. Mussten die Bronze- und Bernsteinhändler (gab es auch Händlerinnen?) Wegegeld bezahlen? Gab es Raubritter schon in der Bronzezeit? An einer Furt im Flusstal der Tollense südlich von Greifswald, einem Wasserweg über die Peene direkt zur Ostsee, wurden kürzlich spektakuläre Funde gemacht: Hinweise auf eine große Schlacht vor 3200 Jahren mit bisher freigelegten Hunderten von Leichen in einer damals äußerst dünn besiedelten Gegend. Während der Krieg um Troja tobte, «fassen wir hier die Anfänge des Krieges in dieser Dimension in Mitteleuropa», sagt Grabungsleiter Thomas Terberger und hofft auf weitere Aufschlüsse durch die hochspannenden Ausgrabungen der nächsten Jahre.

Handel macht reich. Die ersten Elitengräber im Herzen Europas zeugen davon – und auch die kiloweisen Goldfunde von Gessel bis Eberswalde. Ganz selten finden wir noch Spuren der alten Wege, wie in Thüringen, auf denen Krieger, Künstler, Händler wanderten. Deutlichere Hinweise für den Verlauf der Straßen, auf denen Gold, Kupfer und Zinn, Bronzen und Bernstein transportiert wurden, gibt die Karte der entdeckten Depots aus dieser Zeit. Waren die sorgfältig der Erde überlassenen Horte Verstecke der Händler oder Weihegaben an die allmächtigen Götter, die es günstig zu stimmen galt?

Auch wenn noch in historischer Zeit Bernstein ein heißbegehrter Stoff war, wie das Bernsteinzimmer der russischen Zaren beweist, für die Bronzezeit gehen die Wissenschaftler von einer kultischen Bedeutung aus. Es muss für die Alten ein magischer Stein gewesen sein. Ein Stein, der brennt wie Holz, der schwimmt und nicht versinkt, der elektrische Kräfte hat – das altgriechische Wort für Bernstein ist elektron – und der sogar Leben bannt: im Harz eingeschlossene kleine Tierchen, bei denen so mancher heute an Jurassic Park und eine Wiederbelebung nach Millionen von Jahren denkt.

Die physikalischen Eigenschaften dieses Baumharzes waren für die Mächtigen der Bronzezeit natürlich unerklärlich, es konnte nur ein Stein der Götter sein. Und den ließ man sich etwas kosten in den Palästen am Mittelmeer. Sogar eine ägyptische Hieroglyphe ist für den Begriff Bernstein identifiziert worden: Skr. In der griechischen Mythologie hieß er «Tränen der Götter», wie Ovid berichtet.

Wie die von den sturmumtosten Gestaden des 4000 Kilometer Wegstrecke entfernten Nebellandes in die Pharaonengräber am Nil gekommen sein können und welche Umwälzungen der erste globale Handel in der Mitte Europas auslöste, davon handelt dieses Buch: wie die weite Welt im Herzen Europas zusammenwuchs auf längst versunkenen Wegen, auf denen nicht nur Waren, sondern auch Wissen, Technologien, Kulte und Religionen transportiert wurden. Und wie das frühe Europa Partner der Hochkulturen in Ägypten, der Ägäis und dem Vorderen Orient wurde. Auf der Spur eines florierenden Welthandels in der Bronzezeit und eines magischen Steins, der weitaus mehr war als schöner Schmuck: die Tränen der Götter. Ein Stein für Könige.

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KAPITEL 1Die Bronzezeit – eine weite Welt

Waren die Deutschen Kannibalen? Die Antwort war so heikel und unter den Gelehrten Europas heftig umstritten, dass unter Mitwirkung des bekannten Berliner Arztes und Altertumsforschers Rudolf Virchow 1880 eine Tagung zur Klärung des skandalösen Problems einberufen wurde. Die Frage eines vorgeschichtlichen Kannibalismus bewegte die Gemüter vor allem deutscher Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Auf dem Internationalen Kongress für Prähistorische Anthropologie und Archäologie in Lissabon sollte sie nun in einem Symposium geklärt werden. Doch die vorgelegten Beweise überzeugten nicht, die Gelehrten ereiferten sich weiter, eine einhellige Meinung über Menschenfresserei war nicht zu erzielen. Also schritt man zur Abstimmung. Bei drei Enthaltungen stimmten zwei Koryphäen dafür, zwei dagegen.

Bronzezeitliche Unterweltsgötter im Felsheiligtum bei Hattuscha – dem heutigen türkischen Boğazkale –, der alten Hauptstadt der Hethiter

© Maximilian Schecker

Was war geschehen, dass vorgeschichtlicher Kannibalismus in Deutschland wieder auf die Tagesordnung kam? Hatte doch Gottfried Schützen schon gut hundert Jahre zuvor 1773 seinen «Beweiß, daß die alten Deutschen keine Cannibalen gewesen sind» vorgelegt.

Welche Funde brachten Virchow zu der erstaunten Diagnose einer «Neuigkeit ersten Ranges», dass Anthropophagie (griech. anthropos = der Mensch und phagein = essen) nicht nur in der Steinzeit, sondern auch in der Bronzezeit, einer «Periode schon vorgerückter Cultur», üblich gewesen sei? In dieser dramatisch neuen, goldglänzenden Zeit, die die Menschheitsgeschichte doch strahlend aus dem steinzeitlichen Dunkel befreit hatte. In der wie durch Zauberei jene wundersame Stoffumwandlung gelang, das Mischen von unansehnlichen Gesteinsbrocken in leuchtendes, hartes, leicht zu bearbeitendes Metall. Die erste europäische Zivilisation mit einem Beziehungsnetz von der Ostsee bis an den Nil. Diese Phase zwischen Jungsteinzeit und Germanen, in der ein Quantensprung der Entwicklung vollbracht wurde: die Beherrschung des Steins durch Feuer. Bis nach spannenden, folgenreichen, bewegten anderthalb Jahrtausenden mit der Entdeckung des Eisens eine neue Epoche begann.

Virchow hatte nicht nur schon zehn Jahre zuvor die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte gegründet, der Universalgelehrte hatte sich auch zu diversen Grabungen in sogenannten Opferhöhlen aufgemacht und selber zur Schaufel gegriffen. Das strikte Gebot der heutigen Archäologie, Funde an ihrem Platz zu belassen, um die Umgebung, die Befunde analysieren zu können, galt damals noch nicht. In Raubgräbermanier sammelte er ein, was ihm unter die Hacke kam. Das Ergebnis ist noch heute in Berlin zu «bewundern»: Von den über 5000 menschlichen Skeletten und Schädeln, die er wortwörtlich einsackte, haben sich in der medizinhistorischen Sammlung der Charité und in einem ehemaligen Bunker in Berlin mehr als 3000 erhalten. Doch soll hier keineswegs «Virchow-Bashing» betrieben werden. Er hat enorm viel für den Stellenwert der neuen Wissenschaft Archäologie getan, auch für ihre interdisziplinäre Verknüpfung, und nicht zuletzt war er es, der seinen Freund Heinrich Schliemann dazu brachte, seine Troja-Sammlung dem Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte zu vermachen. Die «Grabungen» Mitte des 19. Jahrhunderts waren eben überwiegend Schatzsucherei, bei der Funde mitgenommen und vorzugsweise in der heimischen Vitrine ausgestellt wurden. Oft dauerten sie auch nur zwei Tage wie Virchows Untersuchungen der westfälischen Balver Höhle oder gerne auch nur einen Sonntagvormittag. Denn noch aus dem vorigen Jahrhundert ist uns ein «Grabungsbericht» von einem Professor Eiermann aus Säckingen erhalten, der auf dem Röthekopf am 28. November 1920 «an einem Sonntage, vormittags zwischen halb 11 und 11 Uhr, bei leichtem Regenfalle» Teile eines menschlichen Schädels freilegte, den er bei nun stärker einsetzendem Regen «sorgfältig» mit einem «Kratzstein» loslöste. Leider zerbrach dabei das Schädeldach in drei Teile und «ging weiterhin die noch ziemlich gut erhaltene Augenhöhle verloren». Doch der Professor ließ sich nicht verdrießen, die Reste wurden im Rucksack heimbefördert.

Wir mögen das heute belustigend finden. Ist es aber nicht. Anders als in den Hochkulturen des Mittelmeerraums ist die Bronzezeit in Mittel- und Nordeuropa schriftlos. Die Nachrichten aus der Vergangenheit, unserer Vergangenheit, liefern uns nur die archäologischen Entdeckungen und deren interdisziplinäre Erforschung.

Vereinbarungsgemäß beginnt die Geschichte der Menschheit mit Schriftzeugnissen. Deswegen heißt es davor: «Vor»geschichte. «Früh»geschichte bedeutet, dass einige schriftliche Überlieferungen erhalten sind, etwa zur germanischen Zeit die der römischen Autoren wie die Germania des Tacitus oder Caesars De Bello Gallico. Ehe Germanien dann wieder bis zu Karl dem Großen für 700 Jahre im schriftlosen Nebel versinkt.

Denn wie lebten, feierten, starben unsere Vorfahren, die namenlosen Stämme vor den Germanen und Kelten, während zeitgleich etwa 1760 v.Chr. in Babylon König Hammurapi eine Gesetzessammlung von 281 Paragraphen auf einer zwei Meter hohen Steinstele festhält, in dieser seltsamen Keilschrift, die aussieht, als sei ein Vogel über nassen Lehm spaziert? Was passierte in unserem Land lange vor unserer Zeit, während Pharao Thutmosis III. sein Kriegstagebuch über den siegreichen Palästinafeldzug im Amuntempel von Karnak detailliert in Stein meißeln lässt? Sogar in wörtlicher Rede ist uns erhalten, wie er die an seinem Schlachtplan zweifelnden Generäle vor Megiddo am 13. Mai 1457 v.Chr. zur Ordnung ruft. Was war los im Herzen Europas, während weiter im Süden Ramses II. seine Niederlage in der Schlacht von Kadesch im Mai 1274 v.Chr. auf gewaltigen Reliefs im Toten-Tempel von Luxor nett verbrämt darstellt? Angeblich besiegte er im Alleingang die Hethiter und rettete doch mit knapper Not sein Leben. Geschönte Eigenpropaganda, skrupellose Geschichtsfälschung und politische Desinformation gab es eben schon in der Bronzezeit.

Wie beteten unsere Ahnen ihre Götter an, wie residierten unsere Priester und Fürsten – gab es sie überhaupt? –, wie kommunizierten sie, während der große Ramses Briefe mit seiner Schwiegermutter wechselt, der Frau des hethitischen Großkönigs Hattuschili III., und – ein Meilenstein der Geschichte – ein Friedensvertrag der beiden mächtigen Herrscher geschlossen wird? 1259 v.Chr. wurde er in einem genau paragraphierten Text besiegelt, gleich mehrsprachig in ägyptischen Hieroglyphen und in der akkadischen Keilschrift der Diplomatie: der älteste erhaltene Friedensvertrag der Welt. Er wurde nie gebrochen. Eine meterhohe Abschrift befindet sich im UNO-Hauptquartier in New York gleich in der Eingangshalle.

Das Bergvolk aus Anatolien gleichrangig mit der Großmacht am Nil? Ein Angstgegner der Pharaonen? Doch vor 3300 Jahren besaßen die Hethiter etwas, wovon die anderen Staaten nur träumten, wie die erhaltenen Bettelbriefe der benachbarten Könige beweisen: Eisen. Das elastischere, härtere und wegen seiner weiten Verfügbarkeit preiswertere Metall, das auf Bronze folgen sollte. Nur Tutanchamun hatte mit seinen Bitten offenbar Erfolg: Im Grab des Pharaos fand sich ein eiserner Dolch. Zusammen mit einem Käfer aus Bernstein. Erst etwa ein halbes Jahrtausend später um 800 v.Chr. kam das Metall auch in Nordeuropa an und läutete die Epoche der Eisenzeit ein. Die Hethiter beherrschten als Einzige die neue Technologie; ihre Waffen machten sie unbesiegbar. Der hethitische Großkönig saß auf einem eisernen Thron. Was war dagegen schon eine Maske aus Gold wie die des Tutanchamun?

Verlorenes Wissen – wiederentdeckt

Dies alles wissen wir durch schriftliche Aufzeichnungen. Und es ging nicht nur um praktische Dinge, um Liefermengen, Zahlen, Handelsverträge, sondern bereits um die «schönen» Künste. In dem von deutschen Archäologen freigelegten Tontafelarchiv im Palast von Hattuscha, der Hauptstadt der Hethiter, fand sich auch ein Text, der uns heute noch anrührt, die sogenannten Pestgebete nach einer langanhaltenden Seuche. Ein wunderbares, sensibles Stück bronzezeitlicher Literatur. Es zeugt von der Reflexion des Menschen über seine Umwelt, die Götter, sich selbst. Da ist die Rede von Schuld und Sühne, Gnade und Vergebung:

Ihr Götter, es ist so: Man sündigt.

Und auch mein Vater sündigte.

Ich aber habe in nichts gesündigt.

Es ist so: Die Sünde des Vaters kommt über den Sohn.

Aus dem Herzen die Pein verjaget mir,

aus der Seele aber die Angst nehmet mir.

Schuld zieht Schuld nach sich. Als Beginn aller Literatur werden die Pestgebete des Großkönigs Murschili angesehen. Auch das gehört zur Bronzezeit. Und während zeitgleich die minoischen und mykenischen Fürsten zwischen Kreta und dem griechischen Festland Post in der Linear-B-Schrift austauschen, der Trojanische Krieg tobt und Odysseus umherirrt, haben unsere bronzezeitlichen Ahnen nichts an schriftlichen Botschaften verfasst, die uns Auskunft geben könnten. Keine Gesetze und Verwaltungsakte, keine Bettelbriefe und Handelsverträge, keine Kriegstagebücher und Eheversprechen, keine Kultanweisungen oder Gebete sind uns in Worten überliefert. Auch keine ärztlichen Rezepte mit den Wirkungen von Heilpflanzen wie im altägyptischen Papyrus Ebers aus dem 16. Jahrhundert v.Chr., einer 20 Meter langen Schriftrolle, in dem schon Mittel zur Empfängnisverhütung beschrieben werden, gegen die klinische Depression und die Staublunge von Steinmetzen. Das alte Medizinbuch liegt heute in der Universitätsbibliothek Leipzig, gekauft 1872 mit Geldern des Königs von Sachsen. Verlorenes Wissen wird uns von den Hochkulturen vielfach überliefert, das wir erst wieder neu entdecken müssen. Wie zum Beispiel die Einsatzmöglichkeiten des Rizinusstrauchs: Wir kennen nur die abführende Wirkung seines Saftes. Die alten Ägypter wussten noch um die Heilkraft seiner Blätter bei frischen Hautwunden und dass ein bis zwei Samenkörner genügen, um einen Menschen zu töten. Übrigens: Rizinussträucher wachsen noch heute wild in alten Gärten am Ufer des Nils oder auch am Rande von Kanälen mitten in Kairo.

Keilschrifttafel aus dem Palastarchiv in Hattuscha

© Maximilian Schecker

Solche Dokumente und Sammlungen sind in Mittel- und Nordeuropa nicht erhalten, weil es sie schlichtweg nicht gab. Träumen wir einmal, in einer Höhle im Harz, einem Großsteingrab bei Kiel oder einem Felsspalt im Alpenvorland stießen wir auf ein Archiv mit herrschaftlichen Befehlen, Wirtschaftskontrakten, privaten Briefen, Ritualanweisungen und den Namen der Götter. Welchen unermesslichen Reichtum besäßen wir, um unser Weltbild zu ergänzen!

Trotzdem wissen wir sehr viel vom Leben, Opfern, Sterben in der geheimnisvollsten aller Zeiten zwischen Alpen und Ostsee. Wie in einer Zeitkapsel sind die Spuren in Böden, Mooren und Meeren erhalten, die es zu entschlüsseln gilt. Das ist ein mühsames Unterfangen, schwieriger als altbabylonisches Akkadisch oder ägyptisches Hieratisch zu lesen, das können die Experten inzwischen wie unsereins die Morgenzeitung. Vor allem: Es ist immer eine Frage der Interpretation der Funde und Befunde. Auch wenn es nicht gleich um «Cannibalismus der alten Deutschen» geht. Stellen Sie sich vor, eine dieser neu entwickelten Vernichtungswaffen würde morgen alle unsere Bücher, Schriften, Bilder, Fotografien, Filme, E-Mails zerstören und unsere Zivilisation auslöschen. In dreitausend Jahren hat die Menschheit sich so weit erholt, dass man sich für die versunkenen Kulturen interessiert. Für unsere Kultur. In meterhohem Schutt fängt man an zu graben. Und entdeckt Seltsames: überall Grundrisse von Gebäuden in Kreuzform, ost-westlich orientiert. In den mysteriösen Bauten werden keine Siedlungsspuren freigelegt, auch keine Feuerstellen. Häufig liegen in diesen Anlagen und um sie herum Gräber. Eine profane Nutzung ist also auszuschließen. Gefäße weisen auf Speise- und Trankopfer, die hier über- oder unterirdischen Mächten dargebracht wurden. Es müssen sehr grausame Götter gewesen sein, denen man opferte: Reste von Holzkreuzen haben sich erhalten, an die ein Mensch genagelt ist. Bei anderen ist die Brust aufgeschlitzt und stecken Pfeile im Körper. Der Befund ist klar: Zweifellos wurden in diesen Gebäuden barbarische Menschenopferkulte gefeiert.

Die mächtige Stadtmauer von Hattuscha. Warum die Hethiter ihre Hauptstadt um 1200 v. Chr. besenrein verließen, ist bis heute ein Rätsel.

© Rainer Breuer

Die Gelehrten im fünften Jahrtausend müssten so über ein schriftloses Christentum und seine dinglichen Zeugnisse, die Kirchen, urteilen. Vor ebendiesen Interpretationsfragen standen die Wissenschaftler 1880. Und stehen sie noch heute trotz oder gerade wegen aller naturwissenschaftlichen Hilfsmittel. Die aktuelle Fehde der Experten geht um die Einschätzung der Tausenden von Hortfunden in der Bronzezeit. Metalle und Bernstein von unermesslichem Wert wurden deponiert: Gaben an die Götter, wie die Mehrzahl der Forscher glaubt, oder doch profane Verstecke der Händler und Mächtigen in kriegerischen Perioden? Aber warum dann die auffällige Häufung in prosperierenden friedlichen Zeiten? Ergibt das einen Sinn? Deswegen kommt es bei einer archäologischen Entdeckung auf jedes kleine Indiz an. Deswegen müssen die Funde am Ort bleiben und unverzüglich den Fachämtern oder der nächsten Polizeidienststelle gemeldet werden. Deswegen ist es bei Strafe verboten, unbefugt in der Erde zu buddeln. Deswegen werden Schatzsucher und «Hobbyarchäologen» verfolgt und verurteilt – bei Wiederholung auch mit Gefängnis –, weil sie uns unserer Geschichte berauben, die sie für immer zerstören. Denn Funde aus dem Zusammenhang gerissen sind wertlos, sagen nichts mehr aus über die Umstände – verloren, vergraben, deponiert? Wie und wann? Mit welchen Beigaben? Auf einem Schlachtfeld, einem Heiligtum, in einer Siedlung? All diese Auskünfte sind unwiederbringlich verloren oder werden mühevoll rekonstruiert wie bei der Himmelsscheibe von Nebra, die von Raubgräbern auf der Suche nach Militaria mit einem Metalldetektor entdeckt und beim Ausbuddeln beschädigt wurde.

Menschenopfer in der Leichenhöhle

Die Sachlage im Fall bronzezeitlicher Kannibalismus war in der Tat schwierig. Bis heute wird vehement über die Bewertung von menschlichen Überresten in diversen Höhlen, Klüften und Schächten gestritten und damit über Religion und Kult in der Bronzezeit. Sakrales und Profanes war eine Einheit und bestimmte das Leben und den Tod der Menschen. Als Rudolf Virchow 1870 in der Balver Höhle im südlichen Westfalen grub, war hier im Hönnetal wie in anderen deutschen Mittelgebirgen die Entdeckung von aufgespaltenen Menschenknochen bekannt. Die Kriterien hören sich einfach an: Wenn am Schädel und an den Röhrenknochen künstliche Schnittspuren zu erkennen sind, also Spuren, die nicht von Bärentatzen oder anderen Tieren stammen konnten, wird von einem rituellen Kannibalismus ausgegangen, in dem das wohlschmeckende und kräftigende Mark entnommen wurde – denken wir an die Markklößchen in unseren Suppen. Die Öffnung des Schädeldachs diente zur Gehirnentnahme. Wenn dann noch Schmorspuren an den Knochen festgestellt werden, glaubt man an eine kultische Mahlzeit mit geröstetem Fleisch. Weitere Merkmale zur Bestimmung urgeschichtlicher Opferhöhlen sind ein versteckter enger Eingang, keine Siedlungsspuren, keine Bestattungen, also keine im Ganzen erhaltenen Skelette, und Altarplatten mit Deponierungen wie in der Rothesteinhöhle im niedersächsischen Ith. Der Archäologe Hartmut Polenz vom Westfälischen Amt für Bodendenkmalpflege hat nicht weniger als 25 Höhlen in Südwestfalen als Kulthöhlen identifiziert, in denen es zu religiös motivierten Deponierungen kam. Die Gaben an die allmächtigen Götter reichten von einfachen Getreidekörnern bis zu wertvollen Metall- und Bernsteinhorten, wie wir später sehen werden. War die Not besonders groß, opferte man die höchste der Gaben: einen Menschen.

Wobei es jetzt wieder schwierig wird: Menschenopferungen an ein höheres Wesen sind nicht umstritten. Aber kannibalistische Mahlzeiten, wie wir sie aus der Völkerkunde kennen? 14 Kilometer nördlich der Balver Höhle, in der inzwischen Rockkonzerte stattfinden, fand man in der Karhofhöhle an den Feuerstellen zerstückelte Menschenknochen, niemals zu einem Skelett vereinigt, zusammen mit Topfscherben. In der Leichenhöhle bei Eisborn im Sauerland – sie heißt tatsächlich bis heute so, welche uralten Erinnerungen haben sich hier erhalten? – wurden Reste von Opfermahlzeiten noch aus der frühen Eisenzeit ausgegraben: an der Herdstelle mit Holzkohle fanden sich neben Bronzeohrringen mit Bernsteinperlen Kochtöpfe, menschliche Oberschenkel, Teile von genau zwölf Schädeln, bearbeitete Menschenknochen und 400 menschliche Zähne. Diese Ansammlung von Zähnen kennen wir auch von anderen Kultstätten, eine Erklärung ist bisher nicht geliefert.

Von der Steinzeit über die Bronzezeit bis in die Eisenzeit gibt es in unseren Landen Hinweise auf kultische Anthropophagie, die engste Kommunikation mit den jeweiligen Göttern. Seit der neolithischen Revolution, der Sesshaftwerdung der Menschen, die jetzt Ackerbauern und Tierzüchter sind, hat sich auch ihre Geschäftsgrundlage zu den höheren Wesen geändert und drückt sich in ihrer Religion aus: mit dem Begreifen von Zusammenhängen in der Natur, wie Aussaat und Ernte, sah sich der Mensch den Naturgewalten ausgeliefert und stieg der Wunsch, selber einzuwirken – und sei es über die Götter direkt. Man ist selbstbewusster und gleichzeitig abhängiger als noch die Jäger und Sammler, die eben bei Klimaveränderungen mit den Tierherden wanderten. Das Opfer, das Geschenk, wirkt im magischen Sinn. Indem es eine Kraft in Bewegung setzt, die den Beschenkten, die jeweils zuständige Gottheit, beeinflusst. Die galt es gnädig zu stimmen, wie zeitgleich Tausende von Kilometern entfernt der hethitische König Murschili es mit seinen Pestgebeten versuchte oder der griechischen Mythologie nach König Agamemnon von Mykene, der vor dem Kriegszug gegen Troja seine Tochter Iphigenie opferte. Die Götter galt es um den Sieg zu bitten, bei Dürre zu besänftigen, bei Krankheiten zu beschenken, von ihnen wollte man vor langen Reisen eine heile Rückkehr erwünschen und gute Ernten erflehen. Und ihnen, nicht zu vergessen, bei erfüllten Wünschen danken. Nach dem Prinzip do ut des – ich gebe, damit du gibst – machte man einen Handel mit den jenseitigen Mächten. Und je größer das Problem, um so üppiger die Gabe.

Religion ist beharrlich und konservativ, über Jahrtausende waren unseren Vorfahren herausgehobene Plätze in der Natur heilig, an denen sie ihren überlieferten Kult, ihre Religion ausübten, oft über Jahrtausende an immer denselben «von Natur aus» heiligen Orten, ohne dass die Generationen voneinander wissen konnten.

Der bronzezeitliche Mensch hatte sich vom steinzeitlichen Bann des Jagdzaubers gelöst, den man in kleinen Figürchen beschwor oder an die Wände steinzeitlicher Höhlen malte. Die Kommunikation mit den diversen Göttern geschah an außergewöhnlichen Orten, an denen rätselhafte, uns fremde Opferhandlungen stattfanden, die bis heute ihre Spuren hinterlassen haben: auf Felsgipfeln, wo man dem höchsten Wesen ganz nah war, in Flüssen, Mooren, Quellen und Höhlen, die in Mutter Erde führten, im Alpenvorland an Brandopferplätzen, deren Rauch zu den Himmlischen stieg. Im Norden gab es ab 1800 v.Chr. einen rätselhaften Steinkult, wie die Hunderte von entdeckten Schälchensteine mit künstlich eingepickelten Vertiefungen beweisen, in die man Gaben deponierte, oder geheimnisvolle Rituale an den uns von Asterix und Obelix als Hinkelsteine bekannten Menhiren, die sich ab 2000 v.Chr. über weite Teile Mitteleuropas verbreiteten. Übrigens geographisch großenteils tatsächlich in dem Gebiet, das später von den Kelten/Galliern bewohnt wurde. Noch im vorigen Jahrhundert wurden an französischen Menhiren Fruchtbarkeitsriten beobachtet.

Die längste Grabung Deutschlands

Welche Rituale bei den bronzezeitlichen Opferpraktiken im Einzelnen vollzogen wurden, wie die Kulthandlungen genau aussahen, welcher Sinn, welcher Glaube, welcher geistige Hintergrund dahintersteckt, das wird zu großen Teilen wohl für immer Spekulation bleiben. Auch wenn in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts gleich zwei Höhlen mit deutlichen Hinweisen auf Kannibalismus ausgegraben wurden: die Jungfernhöhle im bayerischen Tiefenellern und die Kyffhäuser-Höhlen in Thüringen. Letztere mit vielen bronzezeitlichen Opfergaben, darunter Bernsteinperlen. Auch in niedersächsischen Höhlen, die Virchow kannte, gab es Indizien, wie in der Rothesteinhöhle im Ith, einer Kultstätte der frühen Bronzezeit. In einer Felswand führt ein schmaler Spalt in einen engen, 70 Meter langen Gang, der plötzlich 20 Meter in die Tiefe fällt. Die Archäologen fanden auf einem Altar Bronzeklingen und zahlreiche zerschlagene und angebrannte Menschenknochen. Wobei nur die das leckere Mark enthaltenen Röhrenknochen aufgespalten und angekohlt waren, die kein Mark enthaltenen Knochen waren unverletzt. Für die ersten Ausgräber ein Beweis, dass hier am Rande von Feuerstellen Opfermahlzeiten stattfanden. Anhand der Beigaben – Getreide, Tieropfer – konnte in fast allen Höhlen festgestellt werden, dass keine Hungersnöte der Grund für die aus unserer Sicht eher ungewöhnlichen Mahlzeiten waren.

Wie hartnäckig religiöses Brauchtum ist, belegen noch im Mittelalter deutliche Hinweise auf Kannibalismus. Die Capitulatio de partibus Saxoniae, ein 782 von Karl dem Großen erlassener Gesetzestext, besagt: Todesstrafe erleidet der, der vom Teufel getäuscht, nach heidnischer Sitte wähnt, irgendein Mann oder eine Frau sei Hexe und Menschenfresser und sie deshalb verbrennt oder deren Fleisch verzehrt bzw. zum Verzehr weitergibt. (Übersetzung E. Schubert)

Doch die üblichen Interpretationen werden neuerdings zurückgewiesen: Speziell in den letzten Jahren korrigieren Wissenschaftler bei einigen Knochenfunden mit modernen Untersuchungsmethoden und naturwissenschaftlichen Analysen gängige Lehrmeinungen über rituelle Menschenopferungen. So jüngst in der von Sagen umwobenen Lichtensteinhöhle bei Osterode im Harz: Aktuelle Genuntersuchungen an den Menschenknochen beweisen einen familiären Zusammenhang. Offenbar lag hier die Bestattungshöhle eines größeren Familienclans über mehrere Generationen. Der Bronzeschmuck, die Glas- und Bernsteinperlen waren wohl Grabbeigaben. Makaber wurde es, als die Wissenschaftler im örtlichen Gasthof Speichelabstriche alteingesessener Bewohner nahmen. Drei Männer konnten identifiziert werden, die direkt mit den Toten verwandt sind. Die schauten dann in die Gesichter – sie waren auf Grundlage der Schädel rekonstruiert worden – ihrer direkten, vor 3000 Jahren verstorbenen Vorfahren.

Da wir keine Schriftzeugnisse haben, sind unsere Wissenschaftler nicht wirklich klüger als die Koryphäen des Prähistorischen Kongresses von 1880. Hunderte von Höhlen und Felsspalten in Deutschland werden inzwischen als Kultstätten angesehen. Doch eindeutige Beweise für oder gegen die Kannibalismustheorie sind nach gegenwärtigem Stand der Forschung noch immer nicht vorhanden. Es bleibt spekulativ. Aber welch wichtige Rolle im Leben des bronzezeitlichen Menschen Kulthandlungen spielten, wie abhängig er sich von den jenseitigen Mächten wähnte, zeigt die Menge an Deponierungen, die bis jetzt ans Tageslicht kamen. Also Funde, bei denen es sich nicht um Grabbeigaben oder Siedlungsreste handelt. Wobei keiner weiß, was noch alles verborgen in der Erde liegt. Archäologen glauben, dass 90 Prozent der Hinterlassenschaften unserer Ahnen noch nicht entdeckt sind.

Die überwiegende Zahl der Hortfunde wird als Zeugnis einer Kulthandlung angesehen. Doch – und jetzt wird es wieder schwierig – woher wissen wir, dass es nicht schlichtweg das Versteck eines Händlers war, der die Pretiosen aus welchen Gründen auch immer nicht wieder ausgraben konnte? Das Gegenargument lautet: Warum sollten in ruhigen Zeiten Unmengen von Händlern Hunderte und Tausende von Verstecken anlegen? Wie sieht es denn bei dem jüngst im Acker entdeckten kiloschweren Goldschatz von Gessel aus? Wer hat ihn verborgen und warum? Und woher kam dieser Reichtum? Wie hängt er mit den gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen der Bronzezeit zusammen, mit den ersten Eliten im Herzen Europas, in einem Europa ohne Grenzen von den Britischen Inseln und der Ostsee bis zu den Hochkulturen am Mittelmeer?

Der Glücksfund war kein Zufall. Um West- und Mitteleuropa mit sibirischem Erdgas zu versorgen, wird derzeit eine Pipeline gigantischen Ausmaßes gebaut. Das 440 Kilometer lange Teilstück NEL – Nordeuropäische Erdgasleitung – führt 200 Kilometer in einer Breite von 36 Metern durch Niedersachsen und kostet eine Milliarde Euro. Bei Diepholz endet die Trasse, der dortige unterirdische Speicher ist mit einer Kapazität von über vier Milliarden Kubikmeter der größte in Europa. Es geht also um sehr viel Geld. Der Zeitdruck ist enorm, denn die Leitung soll bereits 2013 Erdgas führen. Doch davor kommen die Archäologen und untersuchen die Strecke Meter für Meter. Ganz genau und sorgfältig, wie es ihre Aufgabe ist. Und da es etliche Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dauern würde, ehe die wie überall chronisch unterbesetzte Mannschaft vom Landesamt für Denkmalpflege in Hannover den Survey beendet hätte und die Arbeit losgehen könnte, zahlen die Investoren nach dem Verursacherprinzip das schwierige mehrjährige Archäologieprojekt. Selbständige, erfahrene Grabungsfirmen führen seit November 2010 die Ausgrabungen durch. Die gute Zusammenarbeit zwischen NEL, den zuständigen Fachbehörden, den Munitionsbergern, Naturschützern, örtlichen Behörden, Anwohnern, den Grabungsfirmen und Spezialisten diverser Forschungseinrichtungen unter der Koordination des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege ist eine logistische Meisterleistung. Diese längste Grabung Deutschlands, eine der größten Europas, hat nichts mehr zu tun mit den Pirschgängen eines Professors aus Säckingen keine hundert Jahre zuvor. Das gesamte Instrumentarium interdisziplinärer Zusammenarbeit kommt zum Einsatz. Eine große Herausforderung, aber auch eine riesige Chance für die moderne Archäologie. Auf 200 Kilometern werden durch Dokumentation und Bergung über 10000 Jahre Kulturgeschichte in Niedersachsen erfasst.

Es stellt sich aktuell heraus, dass nur etwa 10 bis 20 Prozent der Zeugnisse der Vergangenheit vor Baubeginn bekannt waren.

Nach Abtrag des Oberbodens wird der Blick freigegeben auf das archäologische Archiv in der Erde, das durch den Bau der Trasse für immer zerstört werden wird. Neu ist, dass die gesamte Strecke lückenlos «hart» prospektiert wird, damit keine Fundstellen übersehen werden. Das bedeutet, im Vorfeld der Baumaßnahmen wird durch sechs Meter breite Schnitte in den Boden geschaut. Sobald die Fläche von den Archäologen freigegeben wird, kommen die Baufahrzeuge. Besondere Funde werden im Ganzen als Block aus dem Erdreich ausgestanzt und ins Labor gebracht. Das geht schneller und gewährleistet eine exakte Freilegung ohne Zeitdruck und Gefährdung durch Raubgräber. Wie an einer Perlenschnur reihen sich entlang der Trassenführung Siedlungen, Gräberfelder und Einzelfunde von der Altsteinzeit bis in die Neuzeit.

Codewort «Besonderer Fund»

Bei sieben Millionen Quadratmetern (!) Ausgrabungsfläche passiert schon mal etwas gänzlich Unerwartetes, Beispielloses. So ein Tag war der 4. April 2011, ein warmer Mittwochmorgen in Gessel, Landkreis Diepholz, eine halbe Autostunde südlich von Bremen. Als Grabungstechniker Jan Stammler den hohen Piepton seines Metalldetektors hört, denkt er zuerst an alte Munition, die findet er öfter. Doch Stammler tätigt den goldenen Schnitt und entdeckt den Fund seines Lebens. Als er vorsichtig mit der kleinen Kelle gräbt und dann zwei grün schimmernde Bronzenadeln und eine goldene Spirale aus dem Erdreich ragen sieht, stellt er die weitere Freilegung ein und informiert den niedersächsischen Landesarchäologen Henning Haßmann. Auch der «ahnt die Sensation» und gibt ein Codewort aus: «Besonderer Fund». Vielleicht nicht gerade besonders einfallsreich, aber inhaltlich richtig: der 1,8 Kilo schwere Hortfund ist der größte archäologisch sauber geborgene bronzezeitliche Goldschatz Deutschlands.

Noch am selben Abend wird der gesamte Erdblock unangetastet nach Hannover gebracht. Im Baumarkt hatte man noch schnell das Holz für eine den Transport sichernde Kastenkonstruktion besorgt. In den diversen Laboren beginnt die systematische Untersuchung mit allem Hightech, das die Zunft zu bieten hat. Schon die ersten Röntgenaufnahmen zeigen die Größe des Fundes. Die Computertomographie der Leibniz-Universität Hannover enthüllt nach vier Messtagen und unter Hinzuziehen eines Experten von «Volkswagen Nutzfahrzeuge» Genaueres über Form und Lage der Objekte in 3D. Aber erst die Durchleuchtung des Erdblocks mit sechs Megaelektronenvolt der Y.LineScan-Detektoren liefert ein in Schichten von einem halben Millimeter detailliertes 3-D-Bild von dem noch im Erdblock verborgenen Fundkomplex. Eine auf Modellvorlagen für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie spezialisierte Neusser Firma entwickelt eigens ein Softwareverfahren für noch höher auflösende 3-D-Daten, die ein präzises dreidimensionales Modell virtuell auf dem Computer und dinglich im Verhältnis 1:1 in Epoxidharz ermöglichen. Das können die Restauratoren in die Hand nehmen und drehen und wenden bei der vorsichtigen endgültigen Freilegung der Objekte, deren Anordnung nun genauestens bekannt ist. Die Feinteiligkeit der filigranen Stücke ist für den Betrachter unglaublich – noch bevor er sie mit eigenen Augen gesehen hat. Diese Untersuchung hat nichts mehr zu tun mit dem Bild von Archäologie als Spatenwissenschaft.

Der Goldschatz von Gessel bei der Entdeckung, bevor er im Block als Ganzes geborgen wurde. Die Bronzenadeln schimmern grün.

© Volker Minkus/Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege

Doch jetzt endlich kommen auch Pinsel und Pinzette zu Ehren. 117 Einzelteile aus massivem Gold werden herauspräpariert. Zum ersten Mal nach dreieinhalbtausend Jahren kommen sie wieder ans Tageslicht. Wer mag sie zuletzt in der Hand gehalten haben? Und warum? Was passierte bei der – feierlichen? – Niederlegung? Oder war es ein Diebstahl, ein hastiges Verstecken in einem relativ kleinen, unauffälligen Beutel? Wenn man die Teile hebt, ist man erstaunt, wie schwer sie sind. Große, mittlere und kleine Spiralen lagen ineinandergesteckt in einer kompakten, platzsparenden Anordnung zum bequemen Transport in einem Säckchen, das wohl mit den Bronzenadeln verschlossen war. Auch Ringe, Fibeln – die Sicherheitsnadeln der Antike –, Goldketten waren gestapelt und verzahnt verpackt. Der Korrosion der Nadeln und der daraus folgenden antibakteriellen Wirkung ist es zu verdanken, dass sich Reste von Fasern erhalten haben. Die konnten vom Landeskriminalamt Hannover datiert werden. Die organischen Reste sind aus Leinen und stammen aus dem 14. Jahrhundert v.Chr. Die Untersuchung der Fundstelle zeigt den Umriss der Eingrabung und dass der Hort in einem Beutel in einer sehr kleinen Grube deponiert wurde, die sofort mit dem entnommenen Bodenmaterial wieder verfüllt wurde.

Von besonderem Interesse ist natürlich die Herkunft des Goldes. Der chemische Fingerabdruck des Goldes wird aufgrund minimaler Unterschiede in der Zusammensetzung der Spurenelemente, den prozentualen Anteilen am Gold von über 20 Elementen wie zum Beispiel Silber, Mangan, Eisen, Zinn, Kupfer, Kobalt, und einer internationalen Vergleichstabelle bestimmt. Was die moderne naturwissenschaftliche Analytik zu bieten hat, kommt zum Einsatz. Mit Hilfe einer zimmergroßen teils selbstgebauten Apparatur, weltweit eine der genauesten und die einzige für archäologische Fragestellungen, wird die Provenienz geklärt. Das Gold stammt keineswegs aus heimischen Flüssen oder Minen der Nachbarländer, sondern wohl aus Zentralasien, etwa Afghanistan. Das wirft ein neues ungeahntes Licht auf den bronzezeitlichen Goldhandel. Die Wissenschaftler sind immer noch verblüfft. Fernhandelswege müssen Niedersachsen mit dem Hindukusch verbunden haben – vor dreieinhalbtausend Jahren! Auch die Metallherkunft einer der Bronzenadeln konnte bestimmt werden. Staubkorngroße Krümel wurden untersucht, die beim Bergen der Nadeln abgefallen waren. Der Ursprung zeigt in die gleiche Richtung wie die des Goldes: südöstlich von Europa. Dass ein staubkorngroßer Korrosionskrümel eine präzise Herkunftsbestimmung mittels Bleiisotopenmessung zulässt, stellt einen Durchbruch in der archäologischen Provenienzanalytik dar.

Die kleinen Spiralen waren vor der Deponierung in längerem Gebrauch. In der 10000fachen Vergrößerung erkennt man Gebrauchsspuren, die auf eine generationenlange Nutzung hinweisen. Für eine rituelle Niederlegung spricht, dass sie vor dem Verbergen gebrauchsunfähig gemacht wurden. Was den Göttern geweiht ist, soll der Mensch nicht mehr benutzen. Das kennen wir von anderen Opferplätzen. Der bis auf die Bronzenadeln ausschließlich aus purem Gold bestehende Hort muss einen enormen Wert gehabt haben. Wer mag im vorgeschichtlichen Niedersachsen so reich, so mächtig gewesen sein?

Die Antwort könnte uns die Zusammensetzung des Schatzes liefern. Denn irgendetwas ist höchst seltsam. Diese traumhaften Goldketten sind offenbar nicht als Schmuck getragen worden. Acht Ketten mit genau je zehn feinen Drahtspiralen, die ineinander verschränkt sind wie unsere heutigen Schlüsselringe, also leicht voneinander zu lösen – das kann kein Zufall sein. Da ging es nicht um Schmuck, sondern um den Rohstoff. So denkt Henning Haßmann an eine Währung, die vielleicht hier niedergelegt wurde. Dafür spricht auch, dass einige Objekte Halbfabrikate sind, es also um den reinen wirtschaftlichen Wert geht. Doch der Materialwert ist zu hoch, als dass es ein bloßes Händlerdepot war. Haßmann glaubt, dass es sich um den «Staatsschatz» einer Sippe oder eines Stammes handeln könnte, der über Generationen gesammelt worden war und der rituell der Erde anvertraut wurde. Da auch kein Zusammenhang mit einem Grab oder einer Siedlung zu erkennen ist, sieht er einen sakralen Hintergrund, wobei er betont, dass die heutige Trennung zwischen kultisch und profan in früheren Zeiten nicht bestand. Doch warum die Niederlegung erfolgte – eine langanhaltende Seuche, eine nicht enden wollende Dürre, ein gewonnener großer Kriegszug? –, das werden wir wohl nie erfahren.

Doch selbst wenn ein Großclan alles Wertvolle zusammengetragen hat oder es sich um einen mächtigen Fürstenschatz handelt, woher kam der Reichtum? Wogegen kann das Gold eingetauscht worden sein? Henning Haßmann zählt auf: Frauenhaar, Bernstein, handwerkliche Arbeiten, Prostitution. Auffällig ist das Versteck an einer Weggabelung alter Fernstraßen. Die Weser als Wasserweg ist nicht weit, und noch heute führen A 1 und die Eisenbahnlinie hier entlang. Der Verdacht liegt nahe, dass schon in der Bronzezeit Handel reich machte – wie heute.

Die Grabkammer des Fürsten

Das Goldene Zeitalter wird die Epoche zwischen Stein- und Eisenzeit gelegentlich genannt wegen seines fassbaren Metallreichtums und der poliert wie Gold glänzenden Bronze, bevor sie grünlich oxidiert. Nach dem vorangegangenen reinen Gold und Silber und dem reinen Kupfer verarbeiteten Menschen zum ersten Mal eine Legierung. Die Mischung aus rund 90 Prozent Kupfer und 10 Prozent Zinn war härter, haltbarer, leichter zu schmieden und recycelbar. Alle Welt gierte nach dem neuen Werkstoff. Die Menge an Metallfunden in Gegenden, in denen die entsprechenden Rohstoffe nicht vorkommen, beweist einen intensiven Transport, der Fernbeziehungen voraussetzt. In einem Netzwerk wechselnder Routen, möglichst auf Wasserwegen, gab es einen regen Warenaustausch quer durch Europa, von England bis zum Balkan, von der Ostsee nach Griechenland, zwischen Skandinavien und Oberitalien. «Kronzeuge für diese Fernbeziehungen ist die Verbreitung der Bernsteinfunde», heißt es in dem Begleitband zur Ausstellung des spektakulären Jahrhundertfunds von Nebra mit dem wunderbaren Titel: Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren.

Wie genau dieser Austausch von Gütern über Tausende von Kilometern stattfand, wie zum Beispiel der Ostsee-Bernstein in die Schachtgräber von Mykene kam, wissen wir nicht. Wahrscheinlich wurde er über verschiedene Zwischenstationen verkauft. Ein Handel in Etappen macht jedes Mal die Ware teurer und kostbarer und den Zwischenhändler reicher. Ehe Bernstein in Mykene oder gar am Nil ankam, wird es wohl einen tausendfachen Aufschlag gegeben haben im Vergleich zum Lohn der Fischer an der Bernsteinküste.

Die umfangreichen Bernsteindepots geben einen Hinweis auf den Streckenverlauf der Nord-Süd-Verbindung. Auf den «Straßen» der Bronzezeit wuchs die damals bekannte Welt zusammen. Die Menschen nahmen über weite Entfernungen Kontakt zueinander auf. Doch anders als in Ägypten oder dem Orient kennen wir nicht die Namen der Völker, Götter und Könige. Es gab nicht die Bronzezeit. Nicht nur der Vergleich zu den Hochkulturen am Mittelmeer zeigt die Unterschiede. Mit einer Verzögerung von fast tausend Jahren erreichten das Metall und die Technologie Mittel- und Nordeuropa. Zuerst das Alpenvorland und irgendwann auch unsere Küsten.

Eisenschwert aus Hattuscha um 1400 v.Chr. Die Hethiter beherrschten mindestens bereits im 15. Jahrhundert v.Chr. die Eisentechnologie.

© Maximilian Schecker

Anhand der Bronzefunde können die Archäologen Wege und Zeitstellungen nachvollziehen. Von etwa 2200 v.Chr. bis ins 8. Jahrhundert v.Chr., als sich langsam das neue Metall Eisen durchsetzte, siedelten im Herzen Europas Dutzende Stämme, die nach dem Fundort ihrer Hinterlassenschaften oder dem Entdecker ihrer Kultur benannt wurden. So gibt es einen Flickenteppich an Namen und Kulturen, die sich geographisch und zeitlich überlappen. Aufgrund der unterschiedlichen Bestattungsformen wird die Bronzezeit in frühe – ca. 2200 bis 1500 v.Chr. mit Flachgräbern –, mittlere – 1500 bis 1250 v.Chr. mit Hügelgräbern – und späte – 1250 bis 750 v.Chr. mit Verbrennung und Leichenbrand in Urnen – Bronzezeit eingeteilt.

Der Goldschatz von Gessel aus dem 14. Jahrhundert v.Chr. wird datiert in die Zeit der Hügelgräberleute, also der mittleren Bronzezeit. Bis ins 13. Jahrhundert v.Chr. wurden die Toten unverbrannt in flachen, später hohen Erdhügeln bestattet. Deren Größe zeigt uns heute den Rang des Verstorbenen.