24,99 €
Wie ein Orkan fegte die neue, die moderne Zeit durch die Welt des Mittelalters. In den Zentren entwickelte sich ein nie dagewesener Erfindergeist. Mit dem massiven Städteboom begann eine Epoche von beispielloser Kühnheit und Kreativität. Eine Zeit, der wir geniale Alltagserfindungen wie Brille, Kompass und Uhrwerk verdanken und atemberaubende Bauwerke wie die gotischen Kathedralen. Die Geburtsstunde des Bürgertums schlug mit der urbanen Revolution um 1200. Auf der Basis jüngster archäologischer Erkenntnisse zeichnen Gisela Graichen und Matthias Wemhoff ein unbekanntes Bild von der Gründerzeit der Städte, in denen wir heute leben – von den ersten Rathäusern bis zur heimlichen Supermacht der Hanse, von der Erfindung des Umweltschutzes und des Stadtmanagements bis zu den Umwälzungen in Bildung und Medizin. Vor allem aber erzählen sie ganz nah von den Menschen, die einst das neue »Zeitalter der Städte« begründeten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Gründerzeit 1200
Gisela Graichen entwickelte als Fernsehautorin für das ZDF preisgekrönte Serien wie Schliemanns Erben, Humboldts Erben und Ungelöste Fälle der Archäologie. Sie ist Autorin und Co-Autorin zahlreicher Wissenschaftsbestseller zur Archäologie, zuletzt erschien bei Propyläen der Spiegel-Bestseller: Liegt die Antwort in den Sternen? (mit Harald Lesch).
Matthias Wemhoff ist Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin und Landesarchäologe von Berlin. Er kuratierte große kulturhistorische Ausstellungen wie Die Wikinger,Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland, Die Germanen und Schliemanns Welten. Als Moderator ist er in vielen Fernsehdokumentationen zu archäologischen und historischen Themen zu sehen (TerraX, Rom am Rhein u.a.).
Gisela Graichen und Matthias Wemhoff
Wie das Mittelalter unsere Städte erfand
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbHwww.propylaeen-verlag.de© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Alle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Lektorat: Heike Gronemeier, MünchenKarten: Peter Palm, BerlinAutorenfoto: © Gisela Graichen, © FAGUA | Achim KleukerE-Book-Konvertierung powered by PepyrusISBN 978-3-8437-3269-7
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog: Aufbruch in die Zukunft vor 800 Jahren
Brückenschlag: Von der Römerzeit zum Mittelalter
Trier – von der Kaiserresidenz zur Bischofsstadt
Köln – von der römischen Provinzhauptstadt zur mittelalterlichen Metropole
Regensburg – vom Legionslager zur mittelalterlichen Großstadt
Stadt und Umwelt um 1200
Luxus auf Kosten der Natur
Mittelalterliche Warmzeit und Städteboom
Das hölzerne Zeitalter und seine Folgen
Alles schon mal da gewesen?
Die Städte der Bischöfe
Von der Königspfalz zur Stadt – die Verwandlung Paderborns in vier Schritten
Die Gründungszeit des deutschen Rechts
Der Sachsenspiegel – ein Rechtsbuch mit Ewigkeitswert
Urbane Revolution und neues Stadtrecht
Von Richtern und Henkern
Stadtplanung konkret und mit himmlischer Unterstützung
Von Planspielen und »wilden Wurzeln«
Der Göttliche Plan
Der Edelherr als Stadtgründer – das Lippiflorium
Technische Innovationen – der Fortschritt wird erdacht
Die neuen Dinge
Die Einführung der Null
Revolution in der Landwirtschaft
Himmelwärts – der Siegeszug der Gotik
Neugründungen um 1200 – die mittelalterliche Stadt nimmt Gestalt an
Freiburg im Breisgau – die innovative Gründung
Berlin – doppelt hält besser
Lübeck – ideale Rahmenbedingungen für Kaufleute
Die Städtehanse – eine kommerzielle Revolution
Der Dänenkönig und die »Krämer«
Die dudesche hense, eine heimliche Supermacht
Die öffentlichen Bauten der Stadt
Mauern und Tore
Rathäuser – Zentren der bürgerlichen Selbstverwaltung
Die Gründerzeit des städtischen Umweltmanagements
Ohne Wasser keine Stadt
Die geistliche Stadt
Pfarrkirchen und Friedhöfe
Die Bettelorden – eine Bewegung prägt Europa
Jüdische Gemeinden – zur Ehre der Stadt
Frauen der Gründerzeit – »Hübschlerinnen«, Meister(innen) und Bürgersfrauen
Sex in the City
Kirche und Eheleben
»Stadtluft macht frei«, nicht nur die Männer …
Städtische Vielfalt um 1200
Kleinstadt Potsdam
Altstadt, Neustadt, Teilstadt
Krise und Scheitern – Wüstungen
Die medizinische Revolution – vom medicus zum städtischen Gesundheitswesen
Die Klostermedizin der Hildegard von Bingen
Physicus, apothecarius und chirurgus
Die Städtelandschaft formiert sich
Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Westfalen, Brandenburg und die Region Oberrhein
Der »mittelalterliche Riese«
Epilog: Die Städte, in denen wir heute leben
Die Autoren
Dank
Quellen- und Literaturverzeichnis
Allgemein
Brückenschlag: Von der Römerzeit zum Mittelalter
Stadt und Umwelt um 1200
Die Städte der Bischöfe
Die Gründungszeit des deutschen Rechts
Stadtplanung konkret und mit himmlischer Unterstützung
Technische Innovationen – der Fortschritt wird erdacht
Neugründungen um 1200 – die mittelalterliche Stadt nimmt Gestalt an
Die Städtehanse – eine kommerzielle Revolution
Die öffentlichen Bauten der Stadt
Die Gründerzeit des städtischen Umweltmanagements
Die geistliche Stadt
Frauen der Gründerzeit – »Hübschlerinnen«, Meister(innen) und Bürgersfrauen
Städtische Vielfalt um 1200
Die medizinische Revolution – vom medicus zum städtischen Gesundheitswesen
Die Städtelandschaft formiert sich
Bildteil
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog: Aufbruch in die Zukunft vor 800 Jahren
O, myne leven borghere: Weset eyndrechtich,Wente der borghere eyndrechticheytIs der stede beste vasticheit.
Oh, meine lieben Bürger: Seid einträchtig,denn die Eintracht der Bürgerist die größte Stärke der Städte.
Aus dem Herforder Rechtsbuch
Gisela Graichen & Matthias Wemhoff
Das 21. Jahrhundert gilt als das erste städtische Jahrhundert der Weltgeschichte. 2015 lebten global zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in einer Stadt als auf dem Land, 1950 waren es noch 30 Prozent. Innerhalb weniger kommender Jahrzehnte werden mehr als zwei bis drei Milliarden Menschen weltweit vom Land in die Städte drängen. Bis 2050 wird die Erdbevölkerung auf rund 9,7 Milliarden anwachsen, voraussichtlich 80 Prozent werden dann in Städten leben. Die Erde, ein Planet der Städte. Deutschland ist diesem Trend einer urbanisierten Gesellschaft voraus: Hier leben jetzt schon fast 80 Prozent in Städten oder deren Ballungsräumen.
Die Wucht der derzeitigen Urbanisierungsdynamik und ihre Auswirkungen sind so groß, dass sich Stadtgesellschaften, Regierungen und internationale Organisationen den Fragen stellen müssen, in welchen Städten wir leben wollen. Denn der »Umzug der Menschheit« birgt Chancen und Risiken zugleich.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) schreibt in seinem Hauptgutachten zur UN-Konferenz »Habitat III«, das gewaltige Wachstum der Städte müsse »dringend in neue Bahnen geleitet werden«. Der wichtigste Schlüssel sei die Transformation zur Nachhaltigkeit – beim Bauen, der Mobilität, der Versorgung mit Energie. Es geht um Ressourcen wie Wasser und Nahrung, um Kreislaufwirtschaft, Bekämpfung von Armut, Wohnungsnot und Kriminalität, vor allem aber um Resilienz in Zeiten des Klimawandels.
Die Debatten über die Fragen des Miteinanders in einem urbanen Umfeld sind nicht neu, auch wenn sie heute, in einer globalisierten Welt, international vernetzt geführt werden und einige aktuelle Aspekte hinzugekommen sind. Im Kern reichen viele dieser Fragen weit zurück, denn der Beginn der städtischen Moderne liegt in Europa in der Zeit um 1200. Die immense Städtegründungswelle zwischen 1150 und 1250, die mittelalterliche Gründerzeit, schuf die neue Lebensform Stadt, in der wir heute leben.
Um 1150 gab es weniger als 200 als städtisch zu bezeichnende Siedlungen im Heiligen Römischen Reich, dem man ab dem 15. Jahrhundert den Zusatz »Deutscher Nation« verpassen würde. Hundert Jahre später waren es bereits 1200. Und zwischen 1240 und 1300 wurden jährlich (!) etwa 300 neue Städte gegründet. Ein Grund war das starke Bevölkerungswachstum. Auf dem Gebiet des späteren Deutschlands ging es rasant von 4 Millionen Menschen um das Jahr 1000 auf 14 Millionen um 1340, in Europa im gleichen Zeitraum von rund 40 auf 73,5 Millionen.
Begünstigt wurde der Anstieg der Bevölkerungszahl durch eine lange Warmzeit, die wir heute das mittelalterliche Klimaoptimum nennen. Wein gedieh bis zum Oslofjord, die Ackergrenzen verschoben sich durch den Rückzug der Alpengletscher hoch ins Gebirge. Die Ernten fielen prächtig aus, es gab kaum noch Bodenfröste, keine Hungersnöte, eine geringere Kindersterblichkeit. Von den kommenden Krisen, von der »kleinen Eiszeit«, die bis weit ins 19. Jahrhundert dauern sollte, von Kriegen, Hungersnöten, Pestwellen, Inquisition und Hexenverfolgungen ahnte man noch nichts. Um 1200 war alles im Aufbruch, eine Zeit voller Optimismus und Wagemut.
Der Schritt hin zur Moderne war verbunden mit einem Wandel der sozialen Ordnung. Denn nördlich der Alpen entstand um 1200 ein »gesellschaftliches Alternativmodell«, so der Mittelalterhistoriker Bernd Schneidmüller: die Stadt mit ihren von Fürsten und Kaiser unabhängigen freien Bürgern. Zu Hunderten gründeten sie fast zeitgleich die Städte, in denen wir heute wohnen. Die Stadt bot den Raum für eine Gesellschaft im Um- und Aufbruch. Die Gründerzeit um 1200 ist eine Zeit der wissenschaftlichen Entdeckungen, der künstlerischen und architektonischen Höchstleistungen. Und vieles, was damals geschaffen wurde, umgibt uns noch heute.
Seit dieser Gründerzeit um 1200 ist die Stadt der Motor für die wesentlichen Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Religion, Technik und Kultur. Beflügelt durch einen neuen Aufbruchsgeist schufen Bürger, Bauern und Mönche mit überbordender Entdeckerlust, mit Ideenreichtum, Tatendrang und Energie wegweisende Neuerungen: die Erfindung von Uhrwerk, Kompass und der Brille auf der Nase, die Nutzung von Wind- und Wasserkraft durch Mühlen, die Schubkarre, der Wendepflug und die Dreifelderwirtschaft, die himmelstürmenden Bauwerke der Gotik, das Handelsnetzwerk der Hanse und nicht zuletzt die Null.
Alles war neu: das erste Rechtsbuch in mittelhochdeutscher Sprache, das Rechnen mit arabischen statt römischen Ziffern, die ersten Universitäten oder die Medizin- und Apothekenordnung des Stauferkaisers Friedrich II. Neu waren aber auch die Probleme, die das Lebensmodell Stadt mit sich brachte. Extensive Landwirtschaft und Bauboom führten dazu, dass die einst riesigen Wälder innerhalb von ein, zwei Jahrhunderten von 80 bis 90 Prozent auf weniger als 30 Prozent der Reichsfläche gerodet wurden. Dazu kam der immens gestiegene Energiebedarf, der ebenfalls mit Holz gedeckt wurde. Die Preise für das kostbare und inzwischen knappe Gut explodierten, sodass sich ärmere Schichten bei einem Todesfall nur noch geliehene Särge leisten konnten. Kurz bevor die Grube zugeschüttet wurde, nahm man den Leichnam heraus und legte ihn ohne Sarg hinein, der anschließend zur Aufnahme des nächsten Leichnams bereitstand.
Die Rodungen führten zu Bodenerosion, über den Städten selbst hing ein beißender Geruch von Rauch aus Häusern, Werkstätten, Gerbereien und Schmieden, aus Unrat und Fäkalien. Erst mit der Zeit wurden erste vorsichtige Maßnahmen wie die Trennung von Brunnen und Kloaken oder das Graben von Abwasserkanälen ergriffen. In den Straßen herrschte dichtes Gedränge aus Menschen, Vieh und Karrenwagen, es gab Kriminalität, Obdachlosigkeit und bittere Armut.
Was also zog die Menschen in die Städte?
Auf Jacob Grimm geht der Slogan »Stadtluft macht frei – Landluft macht eigen« zurück. Diese Formulierung bringt prägnant den Unterschied zwischen dem Leben in dörflichen Strukturen auf dem Land und dem neuen Gemeinwesen Stadt auf den Punkt. Menschen auf dem Land waren in der Regel Hörige, die ihrem Herrn gehörten und die dieser nach Belieben mitsamt dem Grund und Boden verkaufen konnte. In der Stadt lebten freie Bürger.
Um ihre neue Freiheit zu schützen, errichteten die Bürger Mauern um ihre Städte, die diese vom Umland klar abtrennten. Innerhalb dieses Raums sorgten Markt und Handel für den wirtschaftlichen Aufschwung, die Pfarrkirche und die Klöster kümmerten sich um das im Mittelalter so wichtige Seelenheil, und das Rathaus wurde zum Raum der bürgerlichen Mitbestimmung und schuf mit neuen Regeln Rechtssicherheit und das juristische Gerüst für ein friedliches Zusammenleben.
Viele Menschen haben damals diese Freiheit hinter den Mauern gesucht und gefunden. Aber der wirtschaftliche Erfolg war nicht allen vergönnt, in der Stadt waren prunkvoll und schamlos zur Schau getragener Wohlstand und bittere Armut häufig nur ein paar Häuserecken voneinander entfernt. Es gab drastische Unterschiede zwischen Arm und Reich. Denn mit der »ersten industriellen Revolution im 13. Jahrhundert«, von der Wirtschaftshistoriker heute sprechen und die die Grundlage für unsere arbeitsteilige Gesellschaft legte, gingen auch die Schattenseiten des Kapitalismus einher. Doch niemand, weder Bettler noch Hure, war mehr einem anderen hörig oder leibeigen. Und es gab immerhin die Chance, aufzusteigen und die starren Standesgrenzen zu überwinden. Auch die Gleichberechtigung war weiter fortgeschritten, als man heute denken könnte. Eine Frau konnte Meister(in) werden und war den männlichen Meistern gleichgestellt, ebenso die Gesellinnen und Lehrmädchen.
Wie aber begann dieser neue Lebensraum »Stadt«? Wer waren die Gründer all dieser neuen Städte? Wie entwickelte sich aus einer einfachen Siedlung oder einer Schiffsanlegestelle eine mächtige Hansestadt? Wie formten sich aus römischen Anfängen in Trier, Köln und Regenburg oder aus den Domburgen der Karolingerzeit etwa in Paderborn, Münster und Hildesheim die Zentren des Mittelalters? Und wo liegen die Gründe dafür, dass manche Städte zu Wüstungen wurden und wieder von den Landkarten verschwanden?
Lange war das Thema Stadtgründung eine Angelegenheit für Historiker. Erst seit etwa fünfzig Jahren gehören auch Archäologen in diesem Bereich zu den Experten. Ihre Grabungen »enthüllen« die Stadt um 1200, das Bodenarchiv trägt dazu bei, wichtige Fragen zu klären und manchmal auch zeitgenössische Schrift- und Bildquellen zu relativieren.
Die Mittelalterarchäologie hat sich seitdem zu einer eigenen Disziplin im Grenzbereich zwischen Geschichte und Archäologie entwickelt. Die Ausgräber entziffern das Gewirr der Lagen, die sich in den vielen Bauphasen im Zentrum unserer Städte über die unterste, die Gründungsschicht der Stadt oder manchmal noch älterer Siedlungsschichten, aufgetürmt haben. Das Bodenarchiv bewahrt wichtige Informationen über die Genese einer Stadt und erzählt manchmal völlig andere Geschichten als die Schriftzeugnisse auf Pergament. So haben moderne wissenschaftliche Methoden in den letzten Jahren sowohl zu überraschenden Datierungen als auch zu spektakulären Erkenntnissen geführt, die häufig dort gewonnen wurden, wo man sie lange nicht vermutete. Etwa in Kloaken, deren Inhalt nicht nur Aufschluss über den Speiseplan, sondern auch über das »Bewegungsprofil« eines Hausbewohners geben kann.
Die Ergebnisse der Mittelalterarchäologie sind so umfassend, die Städte der Gründungsphase um 1200 so zahlreich, dass für dieses Buch eine von persönlichen Bezügen geprägte Auswahl und Themensetzung vorgenommen werden musste, um den Rahmen nicht zu sprengen. Die hier detailliert vorgestellten Städte enthalten aber Elemente, die sich auf andere Gründungen übertragen lassen und dazu einladen, in der eigenen Stadt auf Entdeckungsreise zu gehen.
Der Schwerpunkt liegt auf der Topografie der Stadt, auf den großen gemeinschaftlich genutzten Plätzen und Gebäuden, durch die uns Matthias Wemhoff führt. Gisela Graichen beschäftigt sich mit dem Alltag der Stadtbewohner und der geistigen Welt, die hinter dem Aufbruch in die Moderne steht – bahnbrechende Erfindungen und Errungenschaften etwa in den Bereichen Medizin und Landwirtschaft. Die Beschränkung auf den deutschen Sprachraum und insbesondere auf das heutige Deutschland führt dazu, dass die vielen Impulse, die aus Westeuropa und aus Italien kamen und die erst die Blüte des Städtewesens ermöglichten, hier nur angedeutet werden können. Das Hochmittelalter ist eine Zeit des intensiven Austauschs und der schnellen Information. Nicht nur die Pfefferkörner sind ohne große Umwege schnell bis nach Lübeck und Bremen gelangt.
Die Epoche um 1200, die Gründerzeit der Städte, der nordwesteuropäische Aufbruch in die Moderne, der fundamentale Wandel von Wirtschaft, Politik und Religion, war revolutionär. Stadt und Bürgertum schufen soziale und ökonomische Strukturen, die unsere Gesellschaft bis heute prägen. Auch wenn die Stadt keine mittelalterliche Erfindung war, eher eine »Aufholjagd« (Schneidmüller) mit einem erheblichen urbanen Nachholbedarf in Deutschland – Italien war dem deutschsprachigen Raum im Hochmittelalter weit voraus –, schreibt Robert I. Moore, einer der renommiertesten englischsprachigen Historiker, zu Recht in seinem Buch Die erste europäische Revolution: »Zwischen dem späten 10. und dem beginnenden 13. Jahrhundert vollzog sich in Europa eine tiefgreifende Revolution von Gesellschaft und Kultur. Erst durch diese Revolution – nicht schon in der Antike – entstand die spezifisch europäische Zivilisation, die sich von allen anderen Zivilisationen der Welt grundlegend unterscheidet. Und weil Europa das Resultat dieses Umwälzungsprozesses war, dürfen wir ihn als die erste europäische Revolution bezeichnen.«
Rom trifft Mittelalter: Die Porta Nigra als Teil der Kirche St. Simeon – Ansicht von der Stadtseite. Bildtafel einer Bilderuhr, um 1840
Wikimedia Commons/ Stadtmuseum Simeonstift
Matthias Wemhoff
1984 beging Trier sein 2000-jähriges Stadtjubiläum und erinnerte damit an die überlieferte Gründung durch Kaiser Augustus um 16 v. Chr. Trier feierte sich als älteste Stadt Deutschlands, dabei hatte Mainz ihr bereits 1962 diesen Rang streitig gemacht. Heute wird die Gründung von Mainz auf drei bis vier Jahre nach Trier datiert. Auch Köln, immer zum Feiern aufgelegt, nutzte nach dem Zweiten Weltkrieg 1950 die Möglichkeit, das 1900-jährige Jubiläum zu begehen, obwohl die älteste Gründungsphase sogar noch weiter zurückreicht, aber nicht mit einer so vielschichtigen Gründungspersönlichkeit aufwarten kann: Agrippina die Jüngere hatte Kaiser Claudius, ihren Mann und Onkel, um das Jahr 50 n. Chr. gebeten, ihrem Geburtsort den Rang einer Bürgerkolonie und zudem einen neuen Namen zu verleihen: Colonia Claudia Ara Agrippinensis. Wenige Jahre später setzte die »Kaiserin aus Köln« dem Leben ihres Mannes mit einem vergifteten Pilzgericht ein Ende.
Zum Römischen Reich gehörte nur ein kleiner Teil des heutigen Deutschlands, und viele der Städte entstanden »auf der grünen Wiese«. Wer über diese Wurzeln verfügt, feiert 2000 Jahre Geschichte, 2000 Jahre Stadtkultur von der Römerzeit über das Mittelalter in die Gegenwart. Solche Jubiläen spiegeln eine Kontinuität vor, die so nicht gegeben ist. Die Entwicklung einer Stadt ist voller Brüche und Wendungen, manche Orte, die zu Römerzeiten erblüht waren, versanken nach dem Zusammenbruch des Imperiums in der Vergessenheit. Andere, in denen in der nächsten großen Gründungsphase um 1200 römische Siedlungen überbaut wurden, erlebten einen enormen Aufschwung. Wie schwer der dazwischenliegende Transformationsprozess war, verdeutlichen die drei Beispiele Trier, Köln und Regensburg.
In Trier, im 4. Jahrhundert als Kaiserresidenz noch die bedeutendste Stadt im Westen des Römischen Reiches, hing die Kontinuität am seidenen Faden – nur noch wenige Hundert Menschen bewohnten den Ort ein Jahrhundert später. Nur etwa die Hälfte des vom römischen Mauerring umschlossenen Gebiets wurde im Mittelalter genutzt, so sehr war die Bevölkerung geschrumpft.
Das mittelalterliche Köln dagegen erstreckte sich bald über die einstigen Gräberfelder hinaus, die vor der römischen Stadt gelegen hatten. Für Köln wurde ebenso wie für Trier und Regensburg die Bedeutung als Bischofssitz zum Rettungsanker in schwierigen Zeiten. Denn die werdende Stadt des Mittelalters entwickelte sich um solche kirchlichen Zentren.
Das Legionslager Regensburg wiederum, nicht mit der Hauptstadt einer römischen Provinz zu vergleichen, entwickelte sich nach dem Zerfall des Römischen Reiches zum Zentralort einer aufstrebenden Regionalmacht und konnte so im Mittelalter unter Weiternutzung einiger römischer Strukturen eine ganz neue Stadtkarriere starten.
Wer an Trier denkt, denkt an das berühmte Stadttor, die Porta Nigra. In Deutschland ist kein anderes Bauwerk aus der Römerzeit so eindrucksvoll erhalten, es scheint allein aufgrund seiner schieren Masse gut durch alle Zeiten gekommen zu sein. Doch dass wir die mächtige Toranlage heute bewundern können, verdanken wir tatsächlich ihrer mittelalterlichen Umnutzung.
Ein Pilger, der sich um 1200 moselaufwärts auf der alten Römerstraße Trier näherte, sah schon aus der Ferne ein felsenartiges Gebilde hinter der Stadtmauer aufragen, auf dem eine mächtige Gottesburg thronte. Sein Weg in die Stadt führte durch das kleine Simeonstor entlang einer romanischen Apsis. Der Chor der Kirche war erst wenige Jahrzehnte zuvor hoch oben mit einer umlaufenden Galerie geschmückt worden. Über eine breite Treppe gelangte er schließlich an sein Ziel: Der Pilger wollte zum Gebet das Grab des berühmten Einsiedlers Simeon aufsuchen, über dem sich nun die gewaltige Kirche erhob.
Der Heilige Simeon trug einen berühmten Namen. Symeon der Stylit hatte in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts im Byzantinischen Reich die Massen, aber ebenso dessen Regenten in Konstantinopel beeindruckt. Sein asketisches Leben, das Symeon schließlich auf einer Säule stehend beschloss, galt als beispiellos. Der Ort, an dem die Säule stand, trug schon bald seinen Namen. Die darüber in der Nähe von Aleppo errichtete Kirche in Qalʿat Simʿan lässt noch heute die Bedeutung dieses Pilgerzentrums erkennen.
Simeon wurde als Sohn griechischer Eltern um 990 in Syrakus geboren. Das Leben seines Namenspatrons scheint ihm Inspiration gewesen zu sein. Sein eigener Weg zeigt, dass bereits das frühe Mittelalter von weitreichenden Verbindungen geprägt war. Aufgewachsen in Konstantinopel, war er als Pilgerführer in Jerusalem tätig, dann als Mönch in Bethlehem und am Sinai, später gelangte er mit einer Pilgergruppe, zu der auch ein Trierer Abt gehörte, nach Trier und begleitete dann den Erzbischof der Stadt auf eine Pilgerreise in das Heilige Land.
Zurück in Trier, erinnerte er sich an seinen Namenspatron Symeon, wurde Einsiedler und suchte das einzige »Gebirge« auf, das wild und ungenutzt in Trier aufragte: die mächtige Ruine der Porta Nigra. Hier ließ er sich einmauern und entfaltete doch als vielgefragter Ratgeber eine große Wirkung. Als er nach fünf Jahren, die er in einer kleinen Kammer im Ostturm verbrachte, dort starb, stand er unmittelbar im Ruf der Heiligkeit und galt bald auch offiziell als Heiliger. Der Trierer Bischof Poppo sorgte mit der Gründung eines Stiftes für eine angemessene Betreuung des Grabes und der dort hinströmenden Pilger. Der Beginn der Umgestaltung eines römischen Stadttores zu einer Kirche war gemacht.
Napoleon, der in seinem Streben nach imperialer Größe nur die »kaiserliche« römische Architektur schätzte, ordnete 1804 an, die kirchlichen Anbauten abzureißen. Nur die Apsis überstand diese »Reinigung« von jüngeren Zutaten. Auf diese Weise wurde zwar die »pure« Porta wieder ans Tageslicht gebracht, anderes ging jedoch verloren. Denn die Kirche war geradezu ein Sinnbild für den Umgang des Mittelalters mit Zeugnissen aus der Römerzeit. Sie wurden häufig nicht ihrem ursprünglichen Zweck entsprechend genutzt und führten fortan ein vom Geist des Mittelalters geprägtes Eigenleben. Die alten Mauern waren den mittelalterlichen Stadtbewohnern wichtig gewesen, weil hier der Heilige Simeon gewirkt hatte. Dass diese Mauern aus römischer Zeit stammten, dürfte sie weniger beeindruckt haben als uns heute.
Das römische Trier war schon vor der Entwicklung zur kaiserlichen Residenz um 300 n. Chr. eine echte Großstadt. Die 6418 Meter lange, auch Geländeanstiege nicht aussparende Stadtmauer umschloss damals bereits seit hundert Jahren etwa neunzig quadratische Areale, auf denen überwiegend Wohngebäude und öffentliche Großbauten standen. Die quadratische Form dieser sogenannten Insulae ergab sich durch die rechtwinklig dazwischen angelegten Straßen.
Stadtplan von Trier mit dem gegenüber der römischen Ummauerung deutlich verkleinerten Stadtgebiet
Peter Palm, Berlin
Von den drei mächtigen Stadttoren, durch die man hinter die Mauer gelangte, ist nur die Porta Nigra dank ihrer mittelalterlichen Umnutzung zur Kirche bis heute erhalten. Auch die älteste Brücke Deutschlands, die sich über die Mosel spannt, stammt mit ihren mächtigen Pfeilern im Fluss noch aus der Römerzeit. Von der einstigen Bedeutung der Stadt erzählen heute außerdem noch das einst in die römische Stadtbefestigung einbezogene Amphitheater und die Reste der größten nördlich der Alpen errichteten Thermenanlage – die Barbaratherme – sowie die Konstantinbasilika und die Kaiserthermen.
Mit dem Zusammenbruch des römischen Imperiums verloren viele der Gebäude ihre Nutzung. Thermen funktionieren nicht ohne eine sorgfältig gepflegte Infrastruktur, Basiliken werden ohne Herrscher nicht mehr gebraucht, Straßen und öffentliche Räume leiden schnell unter mangelnder Pflege. Nur wo eine zentrale Funktion erhalten bleibt und damit verbundene Mittel zur Verfügung stehen, kann Kontinuität auch in unruhigen Zeiten gewährleistet werden. In Trier geschah dies in jenem Bereich, in dem die kaiserlichen Paläste standen. Es waren aber nicht Nachfolger der Herrschenden oder lokale Größen, die sich diese Gebäude als Wohnsitz aussuchten und damit über die Zeit brachten, es war eine neue Bestimmung, die in die Zukunft führte.
Bischöfe als Rettungsanker
Der Überlieferung nach hatte Kaiserin Helena, die Mutter von Konstantin dem Großen, von 306 bis 337 römischer Kaiser, in den Palastanlagen einen ersten Kirchenraum errichten lassen. Aus diesen Anfängen entwickelte sich eine gewaltige sakrale Baugruppe, die nördlich der Alpen ihresgleichen suchte und deutlich machte, dass hier kaiserliche Auftraggeber am Werk waren. Mehrere mehrschiffige Kirchenräume gruppierten sich entlang zweier Achsen. Eines dieser Bauwerke, das als Quadratbau bezeichnet wird, bildet bis heute den Kern des Trierer Doms.
Mit den Bauarbeiten wurde bereits um 340 begonnen, nach einer längeren Unterbrechung kamen die Arbeiten Ende des 4. Jahrhunderts zum Abschluss. Doch der Bau, der nur mit kaiserlicher Unterstützung möglich gewesen war, markierte das Ende der Residenzzeit von Trier. Mit der Verlegung der Kaiserresidenz nach Mailand im Jahr 395 verlor die Stadt wichtige Funktionen. Einer der zahlreichen Angriffe und Plünderungen auf die immer menschenleerer werdende einstige Metropole, die nun nur noch ein Abglanz einstiger Größe war, hatte schließlich den Einsturz des mächtigen Quadratbaus zur Folge. In den unruhigen Jahrzehnten der Völkerwanderungszeit fehlten die Kapazitäten für einen Wiederaufbau.
Dass die Bischöfe trotz der wiederholten Zerstörung in der Stadt blieben, lässt sich durch Bautätigkeiten an den Gräbern ihrer Vorgänger in St. Maximin und im Bereich der späteren Kirche St. Paulin belegen. Die Gräber waren zu wichtigen Wallfahrtszielen geworden. Die Bischöfe waren, so die Historikerin Andrea Binsfeld, in mehrfacher Hinsicht Garanten der Kontinuität beim Übergang von der Spätantike zum Mittelalter. Sie wurden zu den Personen in Trier, die gemeinschaftsbildend wirken und Prozesse der Neuorganisation anstoßen konnten.
Ein Bischof namens Nicetius war es auch, der im 6. Jahrhundert den Anstoß für den Wiederaufbau gab. Die komplexe römische Bautechnik, mit der die Kathedrale im 4. Jahrhundert errichtet worden war, beherrschte man in Trier zu dieser Zeit schon lange nicht mehr. Das kirchliche Netzwerk funktionierte jedoch so gut, dass der Bischof von Martigny, einer Stadt im Rhonetal, Fachleute aus dem Gebiet des heutigen Italiens nach Trier vermittelte.
Kirchen und Friedhöfe – Kristallisationspunkte der Transformation
Ohne die Bedeutung kirchlicher Orte ist der Wandel von der römischen zur mittelalterlichen Stadt nicht zu verstehen. In Trier wurde die Nordhälfte der römischen Stadtfläche weitergenutzt, die Südseite dagegen aufgegeben. In der Nordhälfte lagen jene Gebäude, die eine neue Bestimmung erfahren hatten. Der Standort einer Kathedrale wurde zur neuen Mitte der Stadt um 1200.
In Trier zeigt sich die Bedeutung religiöser Stätten als Motor zukünftiger Entwicklungen auch an den außerhalb der römischen und damit auch der mittelalterlichen Stadtzentren liegenden bedeutenden Kirchen und Klöster. Einige wurden über Grabstätten errichtet, die seit römischer Zeit genutzt worden waren. St. Maximin ist nördlich der Alpen ein einzigartiges Beispiel für eine sogenannte Coemiterialbasilika. So bezeichnet man ein großes Gebäude im basilikalen Baustil, das nicht als Kirche, sondern als Schutzbau über Gräbern errichtet wurde. Erst später wurde dieser Bau vom Wallfahrtsort zur Kirche weiterentwickelt und 1139 schließlich Mittelpunkt einer großen Reichsabtei.
Von St. Maximin im Norden führt der Weg entlang der alten Römerstraße mitten durch die Stadt und weit über die ehemalige Porta Media hinaus nach Süden zum Klosterkomplex von St. Matthias, der ebenfalls über einem alten römischen Friedhof entstand. Hier wurde der Überlieferung nach auch der erste Trierer Bischof Eucharius bestattet, auf dessen Verehrung die bald einsetzende Bedeutung dieses Ortes zurückgeht. Hier wurde 1127 auch das Grab des Apostels Matthias entdeckt, dessen Gebeine der Überlieferung nach wie der im Dom verehrte Heilige Rock durch Kaiserin Helena aus dem Heiligen Land nach Trier gebracht worden sein sollen.
Der mittelalterliche Brauch des »Heidenwerfens« hat die marmorne Venus aus der Römerzeit ihrer ursprünglichen Gestalt beraubt.
GDKE/Rheinisches Landesmuseum Trier, Foto: Th. Zühmer
Die Stadt mit ihrer überaus hohen Zahl von 25 Heiligengräbern bot somit alle Voraussetzungen, um selbst an Rom anknüpfen zu können. Der Trierer Dom war dem Heiligen Petrus geweiht und besaß entsprechende Heiligtümer, zahlreiche Kirchen und Klöster formten einige einzigartige Sakrallandschaft. Schon Mitte des 11. Jahrhunderts gab es hier acht Klöster und Stifte, bis Mitte des 13. Jahrhunderts kamen sechs weitere Konvente der damals neu entstehenden Gemeinschaften hinzu. Außerdem war Trier im hohen Mittelalter ein attraktives Ziel für Pilger. Bei St. Matthias übten sie einen besonderen Brauch aus: das »Heidenwerfen«. Der fromme Pilger warf Steine auf den Torso einer Venusstatue, die bereits der erste Bischof Eucharius von ihrem Sockel gestoßen haben soll. Ein besonderes Beispiel von ideologisch bedingtem Bildersturm, der hier ein Schlaglicht auf die Trier so besonders prägende Verbindung zur römischen Vorgeschichte wirft.
Wenn ein Reisender um 1200 an der Kirche des Heiligen Simeon, also der ehemaligen Porta Nigra, die Stadt betreten hatte, musste er nicht weit laufen, bis er den Marktplatz erreicht hatte. Dort stand ein altes Kreuz, das der Erzbischof bereits 958 als Zeichen des Marktrechtes hatte errichten lassen.
Den kirchlichen Stadtherren war offenbar früh klar geworden, dass der wirtschaftliche Erfolg ihres Bischofssitzes vom Marktgeschehen abhängig war. Das alte Forum der Römerzeit kam dafür aber nicht mehr infrage. Das Areal, das sich einst in der Mitte der Stadt, auf halber Strecke zwischen der Porta Nigra und der Porta Media befunden hatte, lag nun ganz am Rand. Auch das römische Straßennetz hatte seine prägende Bedeutung längst verloren. Weil das mittelalterliche Trier zudem mit 138 Hektar nur noch die Hälfte der römischen Stadtfläche umfasste, bestimmte die einstige Bebauung kaum die spätere Nutzung, zu groß war der Bruch mit der Vergangenheit. Allerdings müssen die zahlreichen monumentalen Ruinen bis zum Bauboom um 1200, bei dem die Steine benötigt wurden, in Trier und Umgebung sehr prägend gewesen sein.
Mitten auf dem Markplatz von Trier steht das bereits 958 erwähnte Marktkreuz.
Wikimedia Commons/ Fritz Quant
Da im Mittelalter nur die Nähe zum Dom und damit zum neuen Stadtherren zählte, war schnell klar, wo ein neuer Marktplatz zu entstehen hatte: unmittelbar vor dem Gotteshaus.
Auch wenn die Menschen im Mittelalter Trier nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen neu gestalteten, verloren sie doch nicht vollständig den Bezug zur römischen Vergangenheit. Als der neue Marktplatz entstand, wurde an der neuen Stadtmauer noch kräftig gearbeitet. Im Norden, im Bereich der Porta Nigra und an der Mosel konnte die römische Mauer weitergenutzt werden. Im Osten und vor allem im Süden wurde eine neue errichtet.
Der Frankenturm von Trier
Wikipedia/gemeinfrei
Das eindrucksvollste Beispiel für den Bezug zur römischen Vergangenheit ist der Frankenturm, der nur wenige Schritte vom neuen Marktplatz entfernt um das Jahr 1100 errichtet worden war. Seinen Namen verdankt er einem hier einst ansässigen Adelsgeschlecht. Es ist ein typischer innerstädtischer Wohnturm, den sich ein Ministerialer des Erzbischofs erbauen ließ. Heute ist nur noch die Hälfte des Turms im Original erhalten, der Rest ist ebenso wie der Zinnenkranz eine Rekonstruktion der späten Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts.
Die Architektur des Frankenturms verdient einen genaueren Blick. Der Historiker Lukas Clemens vermutet, dass der Bauherr hier gezielt seinen Stolz auf die Vergangenheit und sein Traditionsbewusstsein zum Ausdruck bringen wollte – durch die Imitation der römischen Bauweise. Das ist so gut gelungen, dass der Turm immer wieder für römisch gehalten wird. Die unteren Lagen sind aus großen antiken Quadern gebildet. Darüber folgt ein sehr sorgfältig gesetztes Mauerwerk aus wiederverwendeten kleinen römischen Kalksteinquadern, jeweils nach mehreren Reihen unterbrochen durch Bänder aus roten Ziegeln. Die so entstehende charakteristische Optik findet sich auch in den römischen Kaiserthermen der Stadt. Um es ganz perfekt zu machen, wurde im hoch gelegenen Eingang sogar ein passend zugeschlagener römischer Grabstein als Türsturz benutzt. Es ist verblüffend, dass bei all der Sorgfalt, die der Bauherr an den Tag gelegt hat, ausgerechnet hier offenbar ein Fehler gemacht wurde: Die gut erkennbaren römischen Buchstaben stehen auf dem Kopf!
Vielleicht war dies aber auch bewusst geschehen, um dem einstigen Grabstein seine Wirkung zu nehmen und Schaden vom Haus abzuwenden. Das Mittelalter bewahrt Geheimnisse, die wir wohl nie lösen werden.
Am 6. Januar des Jahres 1200 erlebten die Teilnehmer des Hoftags, zu dem König Otto IV. nach Köln geladen hatte, ein glanzvolles Ereignis. Zum Fest der Heiligen Drei Könige, das hier besonders feierlich begangen wurde, überreichte der König der Stadt ein kostbares Geschenk – Gold und Edelsteine für die Stirnseite eines neuen Schreins. Der Schrein sollte die Gebeine der drei Magier aus dem Morgenland aufnehmen.
Kaiser Friedrich Barbarossa hatte die Reliquien in Mailand seinem engsten Berater, dem Kölner Erzbischof Rainald von Dassel, übergeben. 1164 brachte Rainald die wertvolle Fracht nach langem Weg sicher nach Köln, wo sie mitten im Dom platziert wurde. Dass die Gebeine der drei Weisen die Hauptattraktion des an bedeutenden Reliquien wahrlich nicht armen Doms der Bischofsstadt werden und endlich auch einen würdigen Schrein erhalten sollten, erlebte Rainald nicht mehr. Er starb drei Jahre nach dem Einzug der Gebeine in die Stadt Köln.
Otto IV. hatte allen Grund für seine großzügige Gabe. Sein Königtum war nicht unumstritten, im Gegenteil. Zahlreiche Größen des Reichs unterstützten König Philipp von Schwaben, der Machtkampf war um 1200 in vollem Gang. Otto benötigte starke Zeichen, um seine Herrschaft für alle sichtbar zu festigen. Was konnte da eine bessere Strategie sein, als sich in demütiger Christusverehrung unmittelbar in die Gefolgschaft der drei königlichen Weisen zu begeben? Sie galten schließlich als die ersten, die Jesus als »König der Könige« gehuldigt hatten, und waren damit zum Vorbild auch für das weltliche Königtum geworden.
In der Werkstatt des berühmten Goldschmieds Nikolaus von Verdun wurde der Wunsch des Königs mit äußerster Präzision und Kunstfertigkeit erfüllt. Bei der Grundform dürfte der Goldschmied sich an der Dreizahl der Könige orientiert haben. Denn eigentlich sind es drei Schreine, zwei untere und ein mittig darüber gesetzter. Die Stirnseite ist aus purem Gold gefertigt, die anderen bestehen aus vergoldetem Silber. Die fein herausgearbeiteten Figuren zeigen die Mutter Gottes mit dem Jesuskind, zu ihrer Rechten stehen allerdings nicht drei, sondern vier Könige. Der vierte in der Reihe, demütig ohne Krone dargestellt, ist Otto IV., der ein mit wertvollen Gaben gefülltes Kästlein in seinen verhüllten Händen trägt (siehe Abb. 15 im Bildteil).
An der Stirnseite sind auch die wertvollsten Edelsteine angebracht. Besonders die antiken Gemmen und Kameen stechen hervor. Sie schmücken eine auffällige, trapezförmige Platte. Sie wird noch heute am 6. Januar herausgenommen und gibt den Blick auf die verehrten drei Häupter frei. Eine Chronik berichtet, dass Otto auch die Kronen für diese Schädel gestiftet hat.
Ottos enorme Investition und die Mühen der dreißig Jahre dauernden Fertigstellung haben sich gelohnt: Die Pilgermassen, die zum Schrein strebten, brachten schon bald den alten, aus karolingischer Zeit stammenden Dom an seine räumlichen Grenzen. Im Jahr 1248 wurde mit dem Bau des gotischen Domchores begonnen. Nichts anderes als die vollkommene Kathedrale sollte hier in Köln entstehen – nur hatte man keine 600 Jahre bis zur Fertigstellung einkalkuliert. Erst 1880 konnte der Neubau eingeweiht werden. Doch wenn man wie die Menschen im Mittelalter in Zeitdimensionen denkt, die sich auf die Ewigkeit ausrichten, ist diese Spanne ein eher zu vernachlässigender Faktor.
Heute ist der Dom zweifellos das Zentrum und das Wahrzeichen von Köln. In der römischen Stadt lag der Dombezirk am äußersten Rand, unmittelbar an der Stadtmauer, deren Verlauf heute vom Nordteil des Doms überbaut ist und im Grabungsgeschoss unter dem Gotteshaus besichtigt werden kann.
Die ersten Christen errichteten ihre Kirche noch ganz unauffällig in der Randlage der römischen Provinzhauptstadt, der erste bekannte Kölner Bischof Maternus nahm bereits Anfang des 4. Jahrhunderts an Synoden in Rom und Arles teil. Zu diesem Zeitpunkt bestand Köln bereits seit 300 Jahren. Noch heute kann ein Bauwerk aus diesen Anfängen besucht werden: Das Ubiermonument unweit des Heumarkts entstand etwa vier bis fünf Jahre nach der Zeitenwende und ist das älteste steinerne Bauwerk in Deutschland. Wenige Jahre zuvor waren hier die Ubier, ein germanischer Stamm, angesiedelt worden.
Mit den Planungen für die Provinz Germanien begann dann der Ausbau zur zukünftigen Provinzhauptstadt. Die Ausformung einer großen Provinz Germanien mit Gebieten rechts des Rheins war mit der Niederlage des Varus und dem Verlust von drei Legionen im Jahr 9 n. Chr. beendet, der Rhein blieb die Grenze des Römischen Reichs. Die Gründung von Köln wurde dadurch aber nicht behindert, im Gegenteil, in den folgenden Jahrzehnten implementierten die römischen Militärs und Planer ihre Idee von Stadt erstmals in dieser bisher städtelosen Region.
Die Grundlage dafür bildete eine genaue Vermessung, die Köln bis heute prägt. Der Cardo Maximus verlief bereits am Ende der Regierungszeit von Kaiser Augustus (27 v. Chr. – 14 n. Chr.) dort, wo heute die Hohe Straße vom Dom kommend die Stadt von Nord nach Süd unterteilt. Die heutige Schildergasse verläuft im Bereich des Decumanus Maximus, der rechtwinklig nach Westen abzweigenden Hauptstraße. So viel Rom steckt noch in Köln. Es gibt aber noch andere überraschende Konstanten. Beim Neubau eines Gebäudes für die Stadtverwaltung unweit des mittelalterlichen Rathauses wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Mauern des Praetoriums entdeckt, Sitz des römischen Statthalters. Bei allem Wechsel der Verantwortlichen im Laufe der Zeit – die Verwaltungstätigkeit an dieser Stelle reicht 2000 Jahre zurück.
Um 50 n. Chr. erhielt Köln, dank des Drängens der hier geborenen und inzwischen mit Kaiser Claudius verheirateten Agrippina, den Rechtsstatus einer Colonia, mehr konnte eine Stadt in den römischen Provinzen nicht erreichen. Dazu kam gut vierzig Jahre später die Erhebung zur Hauptstadt der neuen Provinz Niedergermanien. Gleichzeitig, genau dendrodatiert um 90 n. Chr., begann die zügig umgesetzte Errichtung der über 3900 Meter langen Stadtmauer, die eine Stadtfläche von knapp 100 Hektar umfasste. Auf dem fast 4 Meter eingetieften Fundamentsockel wuchs die bis zum Wehrgang rund 8 Meter hohe Befestigung empor. Die Außenseiten der 2,4 Meter breiten Mauer wurden aus sorgfältig zugeschlagenen Grauwackequadern geformt, dazwischen wurde der einzigartige römische Beton gegossen. Ein festes Bollwerk, das bis in das 12. Jahrhundert genutzt werden konnte und noch heute das Fundament vieler Kölner Häuser bildet.
Für die Instandhaltung der Mauer war jedoch die durchgängige Anwesenheit einer ausreichend großen Bevölkerung notwendig. Tatsächlich überstand Köln die unruhige Zeit des 3. und 4. Jahrhunderts erstaunlich gut. Die Ausgrabungen am Heumarkt zeigen, dass sich Mitte des 5. Jahrhunderts fränkische Siedler niederließen, die nicht nur auf ihren Parzellen Kleinvieh hielten, sondern auch hochwertige Handwerkstätigkeiten wie Buntmetall- und sogar Glasverarbeitung ausübten. Die aus der gleichen Zeit stammenden reichen Adelsgräber unter dem Kölner Dom zeigen, dass auch die merowingische Elite in Köln residierte, was sicher zum wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen hat. Diese erstaunliche Kontinuität und die durchgehende Bedeutung von Köln als zentraler Ort bildeten die Grundlage für den enormen Aufstieg zur einzigen echten mittelalterlichen Metropole im deutschen Reich.
Die Herkulesaufgabe, auf die sich die Kölner mit dem Bau des Doms eingelassen haben, war enorm, zumal, wenn man die Möglichkeiten des Mittelalters mit unseren heutigen vergleicht. Als aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger des 21. Jahrhunderts fühlen wir uns dem Mittelalter mitunter gerne überlegen. Während die Geschichte mit dem Dom zwar lange gedauert hat, aber am Ende eine erfolgreiche war, gibt es auch heute noch gewagte städtebauliche Unternehmungen, die trotz enormer Risiken und unplanbarer Rahmenbedingungen begonnen werden – und nicht immer gut ausgehen. Der Bau einer U-Bahn, die von Nord nach Süd mitten durch das historische Stadtzentrum von Köln führen sollte, gehört zu dieser Art von Projekten. Das schreckliche Unglück vom 3. März 2003 hat sich in das kollektive Gedächtnis der Stadt eingeschrieben: Der Einsturz des Stadtarchivs und zweier benachbarter Häuser kostete zwei junge Kölner das Leben. Das wertvolle, über den Zweiten Weltkrieg hinweg gerettete Archiv schien verloren. Mittlerweile haben Archivare und Restauratoren in langwierigen Arbeiten große Teile des Archivs gesichert und sogar wieder zugänglich gemacht. Das schriftliche, an einem Ort komprimiert verwahrte Archiv der Kölner Geschichte konnte so wenigstens in Teilen für die Nachwelt gerettet werden.
Im Unterschied zum schriftlichen Archiv sprechen Archäologen häufig vom »Bodenarchiv« und meinen damit alle Informationen, die aus der Kombination von Schichten und Funden gewonnen werden können. Anders als die schriftlichen Quellen sind die archäologischen Informationsträger ohne Absicht in den Boden gelangt – niemand konnte ahnen, dass die Reste eines Hauses, der Abfall in der Kloake oder die verlorenen Gegenstände unter einem Fußboden einmal von Interesse sein könnten. Das ist ein Unterschied zum Brief, der absichtsvoll an einen Empfänger geschrieben worden ist. Oder auch zur Chronik, die niemals die vollständige Darstellung der Ereignisse enthält, sondern nur eine bewusste Auswahl dessen, was dem Chronisten der Überlieferung wert schien. Die schriftlichen Quellen sind also von den Interessen der Schreibenden geprägt und daher häufig eindimensional auf eine Ereigniskette bezogen. Im besten Fall können schriftliche Überlieferung und Bodenarchiv einander ergänzen.
Während man im Eifer des U-Bahn-Baus das Kölner Schriftarchiv ungewollt zum Einsturz brachte, griff man während des Bauvorhabens ganz bewusst und von langer Hand geplant in das Bodenarchiv ein. Da die Innenstadt von Köln bis in große Tiefen von archäologischen Zeugnissen seit der Römerzeit geprägt ist, muss jede Baumaßnahme archäologisch begleitet werden. Doch der U-Bahn-Bau war selbst für die erfahrenen Kölner Archäologen eine extreme Herausforderung: Zwischen 2003 und 2011 untersuchten mehrere Teams ein Areal, das an der Oberfläche 30.000 Quadratmeter umfasste. Das entspricht etwa vier Fußballfeldern. Weil aber die interessanten Schichten bis zu 14 Meter unter der heutigen Oberfläche lagen, wurden insgesamt 150.000 Kubikmeter Boden untersucht, und dies unter außergewöhnlichen Bedingungen.
Marcus Trier, der Direktor des Römisch-Germanischen Museums und Chefarchäologe von Köln, schildert die Grabungen so: »Im Regelfall wurde nur für kurze Zeit unter freiem Himmel und bei Tageslicht gearbeitet. Nachdem der Voraushub eine Tiefe von circa 3 Metern erreicht hatte, wurden Hilfsbrücken (Stahlträger und Betonplatten) über der Baugrube verlegt und der Verkehr darüber geleitet. Die Ausgrabungen fanden in der Folge unterirdisch bei künstlichem Licht statt. Trotz der Beton- und Stahldecken waren die archäologischen Arbeiten vor Wassereinbrüchen nicht geschützt. Probleme machten sowohl starke Niederschläge, die unkontrolliert in die Baugrube eindrangen, als auch unerwartete (geplatzte) Kanäle.« Zum Teil wurde im Dreischichtbetrieb gearbeitet, über 2,5 Millionen Objekte kamen ans Tageslicht, angesichts der Dimensionen eine Arbeit für Generationen von Archäologen.
Doch alle Anstrengung wurde am Ende belohnt: Auf der Südseite des Doms, östlich des heutigen Römisch-Germanischen Museums, stießen die Forscher in einer Tiefe von 4 Metern auf eine Schicht voller blinkender, glasartiger Steine. Es handelte sich um 65.000 teils winzige Bergkristalle mit einem Gesamtgewicht von 3,3 Kilogramm.
Bergkristall ist ein faszinierendes Material. Da es weicher ist als Diamant, lässt es sich besser bearbeiten. Aus besonders großen Kristallen können sogar kleine Flaschen oder Kugeln gefertigt werden. Geschliffene Linsen aus Bergkristall dienten als optische Geräte zur Vergrößerung eines Objekts – die Vorform der Lupe –, außerdem kamen die Kristalle bei der Aufbewahrung von Reliquien zur Anwendung. Für die Menschen des Mittelalters war Bergkristall ein symbolisch hoch aufgeladenes Material, das die Welten des Diesseits und Jenseits miteinander verband, und das für Reinheit stand.
Ein um 1200 entstandenes Kölner Reliquiar besteht aus einem Hohlzylinder und verschiedenen anderen Bergkristallschmuckstücken (siehe Abb. 16 im Bildteil). Im Tubus waren Reliquien eingeschlossen. Die transparenten, stark gewölbten Bergkristalle ermöglichen einerseits einen Blick auf die Reliquien, die andererseits nur verschwommen wahrnehmbar sind. Das Heilige scheint greifbar und bleibt doch entrückt.
In den Kölner Schatzkammern findet sich eine enorme Zahl an Kunstwerken aus Bergkristall. Dass es in der Stadt selbst eine Bergkristall-Werkstatt gegeben hat, wurde zwar vermutet, doch schriftlich war nichts darüber überliefert. Erst der Zufallsfund beim U-Bahn-Bau ermöglichte einen direkten Einblick in die Tätigkeit der mittelalterlichen Kunsthandwerker: Die meisten Funde stammen aus einer Grube, über der die Bergkristallschleifer auf einem Holzrost gearbeitet haben. Die zuvor mit kleinen Eisenhämmern in Form geschlagenen Kristalle wurden mit unterschiedlich gekörnten Sandsteinen unter Zuleitung von Wasser geschliffen. Zwar waren die Kölner nicht die Ersten, die sich diese Technik zu eigen machten – in Ägypten und den irakischen Kalifaten war diese Methode schon lange zuvor zu höchster Perfektion gebracht worden –, doch in Europa waren Bergkristallschleifer bis dahin nur in großen Zentren wie Paris oder Venedig tätig gewesen. Ab 1200 gehörte also auch Köln in diesen illustren Kreis.
Die Handwerker waren von den Auftraggebern, die die exklusiven Werke bei ihnen bestellten, abhängig. Daher ist es gewiss kein Zufall, dass die Kölner Werkstatt in unmittelbarer Nähe des erzbischöflichen Palastes und innerhalb des dem Erzbischof unterstehenden Rechtsbezirkes errichtet wurde. Denn so konnte der bischöfliche Auftraggeber genau beobachten, welche Fortschritte die Arbeiten machten, und zudem das Geheimnis der Bearbeitung der Bergkristalle wahren und den Verbleib des wertvollen Rohstoffs kontrollieren, der in den Alpen im Aar- und Gotthardmassiv abgebaut wurde.
Philipp I. von Heinsberg, Nachfolger von Rainald von Dassel, war zu jener Zeit, in der die Bleikristall-Werkstatt auf Hochtouren lief, als Erzbischof von Köln eine mächtige Instanz, aber keineswegs die reichste Person der Stadt. Im Gegenteil: Ihn plagten Geldsorgen und Schulden, seine auf die Erweiterung und den Ausbau seines Territoriums zielende Politik war kostspielig. Zu seinem Glück fand er nur wenige Schritte von seinem Palast entfernt einen Geldgeber, der über große Summen verfügte: Gerhard Unmaze.
Sein Name würde heute mit »unmäßig« übersetzt, und tatsächlich: Un- oder besser übermäßig war der Besitz, den Gerhard in seinem Leben, das 1198 endete, anhäufte. Bereits 1169, zwei Jahre, nachdem Philipp Erzbischof geworden war, hatte er das Amt des obersten Zollmeisters erlangt, das mit üppigen Vergütungen und noch deutlich lukrativeren Nebeneinnahmen verbunden war. Auf diese Weise konnte Gerhard sein ererbtes Vermögen immer weiter steigern. Wer Geld in großen Mengen benötigte, war bei ihm an der richtigen Adresse. Als einer der ersten christlichen Geldverleiher forderte er bereits Zinsen für nicht rechtzeitig zurückgezahlte Kredite ein, teils zu einem Zinssatz von 25 Prozent – in den damaligen europäischen Hochburgen der Finanzwirtschaft durchaus ein üblicher Betrag.
Um seine Teilnahme am Feldzug von Kaiser Friedrich Barbarossa gegen Italien zu finanzieren, bat der Erzbischof 1174 Gerhard um ein Darlehen. Für die enorme Summe von 650 Mark verpfändete er unter anderem ein Haus in unmittelbarer Nähe des erzbischöflichen Palastes, das sich einige Zeit später im Besitz Gerhards wiederfand. Doch damit hatte Gerhard nicht genug: Für 350 Mark erwarb er zusammen mit seinem Neffen und späterem Erben gleich mehrere Häuser, Grundstücke und Verkaufshallen am Hauptmarkt. Der Durchschnittswert für ein mittelgroßes mehrstöckiges Haus in guter Lage betrug damals etwa 30 Mark. So wurde Gerhard schon bald zu einem der größten Kölner Immobilienbesitzer, zusammen mit seinem Bruder gehörten ihm die Filetgrundstücke in unmittelbarer Nähe des erzbischöflichen Hofes. Die Grundstücke und Häuser der Straße am Hof in prominenter Lage zwischen der Hohen Straße und der Straße Unter Goldschmied gelangten fast vollständig in Familienhand.
Gerhard Unmaze tätigte nicht nur die großen und aufwendigen Kaufmannsgeschäfte, sondern nutzte auch sonst jede Gelegenheit, um sein Kapital zu mehren. Backstuben boten sich an, hier konnte man immer auf eine gute und vor allem steigende Miete setzen. Aber auch der Erwerb und Betrieb einer Fleisch- oder Tuchhalle rechnete sich. Als Zollmeister kam Gerhard Unmaze auch in den Besitz von Waren, die anstelle von Geldabgaben in seiner Hand verblieben. Gut möglich, dass er auch in den Handel investierte. Der so erfolgreiche Kaufmann könnte als Vorbild für die Figur des »Guoten Gerhard« gedient haben. In diesem mittelhochdeutschen Versepos von Rudolf von Ems unternimmt ein reicher Kölner Kaufmann eine große Handelsreise und erwirbt vor allem Stoffe und Pelze. Sein Weg führt ihn zunächst ins Baltikum, später in den Mittelmeerraum. Er soll sogar bis in das sagenhafte Sarant gelangt sein, wo er ein äußerst wertvolles Gut erwarb: Seidenstoff. Möglicherweise ist mit Sarant ein Ort an der unteren Wolga gemeint, an dem die wertvollen Stoffe, die aus chinesischer Seide gefertigt und im großen mongolischen Weltreich weiterverarbeitet wurden, erworben werden konnten. Auf dem Rückweg befreite er eine in Marokko festgehaltene Prinzessin, die ihm als eine Art Wiedergutmachung eine besondere Wertsteigerung des Seidenstoffs präsentierte. Die ihr vorgelegten wertvollsten, häufig schon mit Goldfäden gefertigten Stoffe verarbeitete sie zu mit kostbaren Steinen besetzten Borten – die Geburtsstunde der Perlenstickerei. Schon bald rühmten sich etwa Bischöfe, Gewänder mit Kölner Borte zu tragen.
Die epische Schilderung hat einen wahren Kern. Den reichen Kaufleuten gelang es, durch Weiterverarbeitung den Wert ihrer bereits äußerst exklusiven Produkte weiter zu steigern. Die Materialien, ja die gesamte Wertschöpfung blieben in der Hand der Kaufleute, die Arbeiterinnen, die sich um die Weiterverarbeitung der gelieferten Waren kümmerten, wurde nur für ihre Leistung bezahlt. Sie bekamen die Stoffe nur vorgelegt, die sie dann nach genauen Vorgaben zu bearbeiten hatten. Der Vorleger, umgewandelt der Verleger, ist damit derjenige, der über die Ware verfügt und das gesamte Produktionswesen unter Kontrolle hat. Es ist kein Zufall, dass sich um 1200 das kapitalistische System des »Verlegers« zur Perfektion entwickelte.
Während andere Städte um diese Zeit erst mühsam ihre Märkte aufbauen und für die Kaufleute gegenüber den konkurrierenden Marktstädten attraktiv machen mussten, konnten die mächtigen Kölner Kaufleute bereits auf eine lange Markttradition zurückblicken. Dass die Stadt zum Zentrum eines ganzen Netzwerks geworden war, verdankte sie einem der Vorgänger von Erzbischof Philipp. Bruno, ein Bruder von Otto dem Großen und zweitmächtigster Mann im Reich, hatte rund 250 Jahre zuvor den Marktplatz radikal neuorganisiert und so die Grundlage für das Erfolgsmodell um 1200 geschaffen.
Bruno war ein Macher, der den großen Wurf wagte. Er siedelte die Kaufleute und Handwerker, die hier auch in den schwierigen Jahrhunderten nach dem Zerfall des Römischen Reichs gewohnt, gehandelt und gearbeitet hatten, kurzerhand um und schuf den in einer Urkunde von 992 bereits so bezeichneten mercatus colonie.
Auf dem Plan aus dem Jahr 1571 ist die Nähe des Heumarkts zum Rheinufer gut zu erkennen.
Rheinisches Bildarchiv (rba_c025022)
Diesen Marktplatz haben die Kölner Archäologen vor dem Bau einer Tiefgarage in den Jahren 1996 bis 1998 intensiv untersucht. Es war ein Vorstoß in die Herzkammer des mittelalterlichen Wirtschaftslebens. Der Hauptmarkt nahm damals eine riesige Fläche ein, die den heutigen Altermarkt und den Neumarkt umfasste. Durch mehrere Tore war er auch von den am Rheinhafen anlegenden Schiffen schnell zu erreichen. Bis ins 13. Jahrhundert hinein wurde die Marktfläche fünfmal erneuert und dabei um insgesamt 6 Meter aufgefüllt – jedes Mal eine gewaltige und aufwendige Gemeinschaftsleistung, die bereits Anfang des 12. Jahrhunderts mit der Anlage von Abwasserkanälen verbunden war.
Während der ersten hundert Jahre standen hier auf- und wieder abbaubare Marktstände, erst Ende des 11. Jahrhunderts folgte eine feste Bebauung am Rand der Platzfläche. 1133 setzte der damalige Erzbischof dann ein mächtiges Zeichen für die Verbindung von Markt und Abgaben: Er ließ die Münze mitten auf dem Markt errichten, ein etwa 10 × 10 Meter großes Gebäude, in dem die sogenannten Münzerhausgenossen das erzbischöfliche Münzrecht ausübten.
Münzen zu prägen war ein königliches Privileg, das der König an den Erzbischof verlieh und das als »Münzregal« bezeichnet wurde. Zudem war es nur den Münzerhausgenossen erlaubt, Geld zu wechseln und mit Edelmetallen zu handeln. Um 1200 erreichten sie allerdings eine weitgehende Unabhängigkeit vom jeweils amtierenden Erzbischof: Ab 1205 durften keine neuen Genossen ohne ihre Zustimmung ernannt werden, ab 1225 konnten die Münzerhausgenossen ihre neuen Kollegen ganz frei aussuchen. Kein Wunder, dass bei dieser Nähe zum Geld die Todsünde der Habgier nicht weit war. Der Zisterziensermöch Caesarius von Heisterbach berichtete mahnend, dass ein Genosse, der zudem auch noch als Stiftsherr dem geistlichen Stand angehörte, so viel Geld zusammengescharrt haben soll, dass er aufgrund seiner Gier vor der Münze in Köln auf einem Amboss liegend mit einem Hammer geschlagen worden sei, »bis er klein geworden wie die kleinste Münze«.
Privilegien für Kölner Kaufleute
Um das Heiligtum der Geldwirtschaft tobte das Marktleben, vor allem Pelze und Lederwaren fanden ihre Käufer. Auf der Mitte und der Westseite des Marktes boten die Fleischer ihre Waren an, im 13. Jahrhundert baute man überdachte, steinerne Unterstände, die auch bei schlechtem Wetter den Handel mit verderblichen Waren ermöglichten. Auf der Ostseite konnte man Gemüse, Käse, Gewürze und Hülsenfrüchte erwerben, auf der Nordseite fand der Zwiebelmarkt statt, aber auch Kürschner und Leinwandhändler waren hier zu finden. In einer anderen Ecke wurde das wertvolle Salz angeboten, hier warteten auch Kohle und Heu in großen Mengen auf ihre Käufer.
Im Jahr 1259 frohlockten die Kölner Kaufleute – endlich erhielten sie das so begehrte Stapelrecht. Von nun an musste jeder Händler, der Köln passierte, seine Waren für drei Tage in der Stadt zum Kauf anbieten. Und damit nun nicht irgendwelche dahergelaufenen fremden Kaufleute den Kölnern die besten Stücke vor der Nase wegschnappen konnten, gab es sogar noch ein Frühaufsteher-Privileg: Im Sommer bis zehn, im Winter sogar bis elf Uhr morgens durften ausschließlich Kölner die Waren erwerben und konnten sich so die Filetstücke sichern. Nun, einen Vorteil hatte das Privileg für die fremden Händler, die in die Stadt kamen: Sie konnten eines der zahlreichen Brauhäuser und andere Etablissements in der Stadt aufsuchen und am nächsten Morgen erst einmal ausschlafen – sicher schon damals ein Grund für viele, einmal dienstlich nach Köln zu reisen.
Und was ist von diesem ganzen jahrhundertelangen Trubel im Boden geblieben? Über 150.000 Funde konnten im Zuge des Tiefgaragenbaus aus den Marktschichten geborgen werden. Der Platz blickte auf eine lange Tradition als einer der wichtigsten Umschlagplätze zwischen Nordsee und Donau zurück. Der Rhein bot mit seinen Nebenflüssen einfach ideale Verkehrsbedingungen.
Unter den Fundstücken fehlten Produkte des Handels fast vollständig – was soll auch von Fleisch, Obst und Gemüse, von Eiern und Leinwänden überdauern? Dafür haben Verkäufer und Käufer ihre Spuren hinterlassen. Ganze Tascheninhalte, vielleicht von Beutelschneidern zerschnitten, sind in den Dreck des Marktplatzes gefallen, Perlen von Rosenkränzen, ja Fingerringe und Schmuck sind im Gedränge verloren gegangen. Die Händler werden vor allem Bleigewichte vermisst haben, die beim Abwiegen und bei der Kontrolle des Münzgewichtes heruntergestürzt und nicht wiedergefunden worden sind.
Die Funde belegen, dass Köln um 1200 eine geschäftige Metropole, eine Stadt im Aufbruch war. Und als solche scheute sie auch nicht vor dem letzten Schritt zurück, der die städtische Unabhängigkeit sichtbar der Außenwelt präsentierte: dem Bau einer gigantischen Stadtmauer. Als der Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg, dem als Stadtherr eigentlich auch das Befestigungsrecht zustand, mit dem Kaiser gegen den König von England ins Feld gezogen und damit weit weg war, hatten die Kölner Bürger mit ihrem gewaltigen Unterfangen begonnen. Jetzt endlich wollten sie für die Zukunft bauen – nicht wie 1106, als sie bereits drei gewachsene Vorstadtbereiche mit einer Befestigung (auch damals ohne erzbischöfliche Erlaubnis) gesichert und schon wenig später keinen freien Platz mehr innerhalb der Mauern gefunden hatten. In den Jahren 1179/80 zog man nun also einen großen Halbkreis, der auch die wichtigen Stifte St. Gereon, St. Severin und St. Pantaleon und deren große Klosterareale mit umschloss. Ein 20 Meter breiter und bis zu 10 Meter tiefer Sohlgraben wurde ausgehoben und aus dem Aushub ein mächtiger Wall gebildet, auf dem die bis zu 10 Meter hohe steinerne Wallmauer entstand. Zwölf mächtige Torburgen ermöglichten die Zugänge, am Ende hatte das Bauwerk einschließlich der rheinseitigen Mauer eine Länge von 10 Kilometern und umschloss über 400 Hektar städtisches Areal. Damit war Köln dreimal so groß wie das mittelalterliche Trier und übertraf die einstige römische Stadtfläche um das Vierfache.
Die Entwicklung der Stadt Köln bis zum Mauerbau von 1180
Peter Palm, Berlin
Da die Bürger Fakten geschaffen hatten, blieb dem Erzbischof nichts anderes übrig, als sich zähneknirschend dem Ehrgeiz und Gestaltungswillen der Kölner zu fügen. Kaiser Friedrich Barbarossa persönlich vermittelte, und gegen die Zahlung von 2000 Mark – das Dreifache dessen, was Gerhard Unmaze wenige Jahre zuvor dem Erzbischof für seine Teilnahme am Feldzug an der Seite des Kaisers geliehen hatte – genehmigte der bischöfliche Stadtherr den Bürgern den Mauerbau zum »Schmuck und zum Schutz der Stadt«.
Die Stadtmauer gab Kölns Wirkung auf Reisende den letzten Schliff, allein die Tore übertrafen alle anderen im Land. Dominiert wurde das Bild aber schon von Weitem durch die Vielzahl der Türme. Profane und sakrale Architektur waren hier eine atemberaubende Symbiose eingegangen, allein die öffentlichen Gebäude des Rates und der Kaufmannschaft setzten Akzente im Stadtbild. Außerdem besaß Köln mehr Kirchen als jede andere Stadt im gesamten mittelalterlichen Reich und wurde darin wohl nur von Rom selbst übertroffen. 19 Pfarrkirchen prägten das Leben der rund 30.000 Bürger. Dazu kamen bis zum Ende des Mittelalters elf Stifte, 69 Klöster und weitere 158 Konvente religiöser Gemeinschaften, 35 Hospitalkirchen, zahlreiche Kapellen und ungezählte Hauskapellen. Die zu Anfang des 17. Jahrhunderts geäußerte Vermutung, dass Köln über so viele Kirche wie das Jahr über Tage verfüge, könnte durchaus zugetroffen haben. Um 1200 schien den selbstbewussten Kölnern nichts unmöglich. Die römische Vergangenheit blieb stets in Erinnerung, im Mittelalter aber fühlten sich die Bewohner nicht mehr wie in der Hauptstadt einer Provinz, sondern wie in Rom am Rhein.
Seit der Ernennung zum UNESCO-Weltkulturerbe im Jahr 2006 strömen immer mehr Besucher durch die engen Altstadtgassen in Donaunähe. Vor dem berühmten gotischen Dom St. Peter stehen Menschentrauben, den Kopf in den Nacken gelegt, das Handy gezückt, um die mächtigen Türme auf ein Foto zu bannen, die ähnlich wie die des Kölner Doms erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt wurden. Regensburg ist in.
Das Areal des römischen Legionslagers bildet den Kernbereich der mittelalterlichen Stadt Regensburg.
Peter Palm, Berlin
Wenige Schritte weiter, in einer engen Straße, die im Norden unterhalb des Domareals verläuft, wird es deutlich ruhiger. Dabei wartet hier, abseits des Trubels, eine der größten Überraschungen auf die Besucher der Stadt. Aus den verputzten Wänden der Häuser ragen unvermittelt mächtige, archaisch wirkende Blöcke hervor. Man erkennt einen Bogen, dazu einen halbrunden, aus der Häuserzeile hervorragenden Bau. Im unteren Teil reihen sich mächtige Quader aneinander, weiter oben sind sehr hohe und schmale Fenster eingelassen. Eine Architektur, die im mittelalterlichen Gassengewirr fehl am Platz wirkt. Und tatsächlich öffnet sich hier ein Fenster in eine viel länger zurückliegende Zeit.
Im Stadtmuseum wird eine mächtige Marmorplatte aufbewahrt, die als »Gründungsurkunde« von Regensburg gilt: Die in den Stein gehauene Inschrift kündet von der Gründung Castra Reginas im Jahr 179. Der Name hat nichts mit einer Königin zu tun, sondern bezieht sich auf die der Stadt gegenüberliegende Mündung des Flusses Regen in die Donau. Castra Regina bedeutet Festung oder Burg am Regen – Regensburg eben.
Die Spuren dieser Gründung vor mehr als 1800 Jahren lassen sich noch heute in der Stadt entdecken. Jene Steinquader in der Gasse nördlich des Domes sind die Überreste der Porta Praetoria, dem einstigen Haupttor des Steinkastells aus römischer Zeit.
Castra Regina war nicht wie Köln, Mainz, Trier oder Augsburg die Hauptstadt einer Provinz, sondern sollte in den unruhigen Zeiten der Markomannenkriege die Donaugrenze des Reiches sichern. In den Jahren zwischen 166 und 180 waren germanische und sarmatische Stämme eine stetige Bedrohung, weshalb Kaiser Marc Aurel hier eines von zahlreichen Legionslagern errichten ließ. Auf dem Gebiet der damaligen römischen Provinz Raetien befanden sich entlang der Donau zwischen Günzburg und Passau vermutlich elf solcher Kastelle, von denen bis heute allerdings nur vier sicher lokalisiert sind. Eine mittelalterliche Karriere war einem römischen Legionslager also nicht in die Wiege gelegt.
Die Porta Praetoria, von wo aus eine der beiden Hauptstraßen in das Legionslager hineinführte – und in umgekehrter Richtung hinab zur Donau –, war lange Zeit völlig in Vergessenheit geraten. Der Dom hatte die alte Nord-Süd-Achse überbaut, das Tor verlor seine ursprüngliche Funktion. Es überlebte, da es im Rahmen des auf der Nordseite des Domes befindlichen Bischofshofes weitergenutzt wurde, zuletzt war es ein Teil des großen bischöflichen Brauhauses. Als dieses Gebäude 1885 abgerissen werden sollte, fielen die römischen Quader auf. Stück für Stück schälten sich bei den Abbrucharbeiten ein Turm und ein Torbogen aus dem deutlich jüngeren Bauwerk heraus. Alte Rekonstruktionen und Grundrisse der Porta Praetoria aus der Zeit dieses Zufallsfundes zeigen denn auch nur diese beiden heute noch sichtbaren Elemente.
Doch wie sah dieses Tor ursprünglich aus? Entsprach es der Porta Nigra in Trier, die einige Jahre früher ebenfalls während der Regentschaft von Kaiser Marc Aurel gebaut worden war? Verfügte es tatsächlich nur über einen oder doch über zwei halbrunde Türme?