Die Brut - Thea Dorn - E-Book

Die Brut E-Book

Thea Dorn

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Beschreibung

Tessa Simon steht ganz oben: schön und erfolgreich, das Leben fest im Griff. Und sie hat alles: den Traumjob als Talk-Show-Moderatorin, die Titelgeschichten in Lifestyle-Magazinen, und die Liebe ihres Lebens ist noch ganz frisch. Ein Kind passt da ausgezeichnet ins Bild. Auch wenn das Mutterglück nicht frei von Schönheitsfehlern ist – Baby Victor schreit Tag und Nacht, der Vater ist weniger enthusiastisch als versprochen, und ein kleiner Quotenknick macht die Produzenten nervös – steckt Tessa das, wie gewohnt, kompetent und souverän weg. Als Victor allerdings von der Dachterrasse stürzt, vielleicht sogar durch ihre Schuld, droht ihr Leben von einer Schmutzkampagne der Boulevardpresse zerstört zu werden. Doch so leicht lässt Tessa sich von dem hart erkämpften Platz im Rampenlicht nicht verdrängen. Nach einer kurzen Zeit der Verzweiflung trifft sie eine folgenschwere Entscheidung ...

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Seitenzahl: 512

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Thea Dorn

Die Brut

Roman

Copyright

PeP eBooks erscheinen in der Verlagsgruppe Random House

Copyright © 2004 by Thea Dorn

Copyright © dieser Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

ISBN 3894808136

www.pep-ebooks.de

Inhaltsverzeichnis

Teil 112345Teil 26789Teil 31011Epilog12ZitateDanksagungÜber das BuchÜber die AutorinCopyright

Teil 1

1

Der Bildschirm blieb schwarz. Sie war nur fünf Minuten auf die Dachterrasse gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Als sie in ihr Arbeitszimmer zurückkam, war der Laptop abgestürzt. Ganz gleich, welche Tasten sie drückte, der Bildschirm blieb schwarz. Sie griff nach dem Branchenverzeichnis, um die Panik zu bekämpfen, die ihren Magen zusammenzog.

Computerspiele. Computerschulen. Computerreparaturen. Siehe Datenverarbeitungsanlagenreparaturen und -wartung.

Sie blätterte.

Dachdeckereien. Dachziegel. Datenverarbeitung, Programmierung.

Da. Datenverarbeitungsanlagenreparaturen und -wartung.

Computernotdienst. 24-Stunden-Hotline.

Sie entschied sich für die Anzeige mit dem roten Stern. Nach dem zehnten oder elften Klingeln meldete sich eine müde Stimme.

»Computernotdienst Schäfer.«

»Hier ist Tessa Simon.« Sie wartete. Am anderen Ende der Leitung gab es keine Reaktion. »Mein Laptop ist abgestürzt.« Ihr Magen krampfte sich weiter zusammen. Warum reagierte der Mann nicht? Ach, Sie sind’s, Frau Simon. Was kann ich für Sie tun? Das sollte er sagen.

»Welches Fabrikat?«, fragte der Mann und klang noch müder.

»Macintosh.«

»Macintosh sind wir nicht mehr zuständig.«

»Halt. Hören Sie.« Tessa spürte, dass der Mann das Gespräch beenden wollte. »Ich habe morgen eine wichtige Sendung. Ich brauche meinen Laptop.«

»Der Techniker kommt um sieben.«

Tessa schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht.

»Ich brauche jemanden, der sich jetzt um meinen Laptop kümmert. Morgen früh ist es zu spät.«

»Tut mir Leid. Kann ich nichts machen.«

»In Ihrer Anzeige steht 24-Stunden-Hotline!«

»Bin ich nicht ans Telefon gegangen?«

»Bitte! Ich kann meine Sendung morgen nicht moderieren, wenn ich heute Nacht nicht an das Material herankomme, das mir meine Redaktion noch mailen wollte.«

»Ich sag Ihnen aber gleich, das kostet erst mal hundertfünfzig Euro für die Anfahrt. Plus fünfzig Euro Nachtzuschlag. Und wie gesagt: Macintosh sind wir nicht mehr zuständig.«

Tessa legte auf, obwohl das kleine Mädchen in ihr weiter bitte, bitte rufen wollte. Mit dreiunddreißig war sie zu alt, um dem kleinen Mädchen den Hörer zu überlassen. Sie betrachtete ihre schlanken, leicht gebräunten Knie, die sie durch die Glasplatte des Schreibtischs hindurch sehen konnte. Sie moderierte Auf der Couch, eine der angesagtesten Talkshows, die es im deutschen Fernsehen gab. Zwar nur auf einem Regionalsender, aber dies hier war das Sendegebiet. Der Nagellack an ihrem rechten großen Zeh blätterte. Obwohl sie erst vorgestern bei der Pediküre gewesen war. Sie musste mit der Kosmetikerin reden.

Tessa versuchte einen weiteren Neustart. Der Bildschirm flackerte kurz, dann wurde er wieder schwarz. Der Laptop begann sonderbare Geräusche zu machen. Selbstverdauung, dachte Tessa. Mein Computer frisst sich selbst.

Sie fuhr zusammen, als das Telefon klingelte. Unbekannte Nummer, sagte das Display. Es musste der Computernotdienst sein. Frau Simon, das ist mir schrecklich unangenehm, ich hatte Ihren Namen nicht richtig verstanden, und deshalb, also, na ja … Selbstverständlich schicke ich gleich unseren besten Techniker vorbei. Ich verspreche Ihnen: In einer Stunde ist Ihr Laptop wieder flott.

Der Anrufbeantworter sprang an. Hastig griff Tessa nach dem schnurlosen Telefon.

»Ja?«

»Kommst du gerade vom Joggen?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung gluckste.

»Ach, du bist’s.«

»Klingt das enttäuscht?«

»Mein verdammter Laptop ist abgestürzt.«

»Hast du ihn nicht richtig festgehalten?« Die Stimme gluckste wieder.

»Sebastian. Es ist nicht lustig.« Tessa legte den rechten Fuß auf ihr linkes Knie und begann an dem Nagellack herumzupulen. »Ich habe morgen die Behrens in der Sendung. Die wollten mir noch das große Interview schicken, das im Magazin erscheint.«

»Hast du schon versucht, den Laptop mit dieser Taste, wo man eine Büroklammer reinstecken muss, neu zu starten?«

»Ich habe die Reset-Taste ungefähr hundert Mal gedrückt.«

»Gibt es nicht so Rund-um-die-Uhr-Notdienste?«

»Da arbeiten bloß Idioten.«

Es entstand eine Pause.

»Wartest du nur auf eine Mail oder brauchst du auch Sachen, die auf deinem Computer gespeichert sind?«, fragte Sebastian schließlich.

»Das ist doch egal. Hin ist hin.«

»Wenn es nur um das Interview geht, kannst du denen in der Redaktion sagen, sie sollen es an meine Adresse schicken.«

»Und? Dann liest du es mir am Telefon vor?«

»Mein Laptop steht in meinem Zimmer.«

»Was?« Tessa ließ ihren rechten Fuß auf den Boden zurückplumpsen. Der große Zeh war fast geschält.

»Ich hatte keine Lust, ihn diesmal mitzuschleppen.«

Sie stieß einen Seufzer aus. »You saved my night.«

»Immer.«

Tessas Gesichtszüge entspannten sich. Kein Lachen der Welt kroch ihr tiefer unter die Haut als das von Sebastian. »Weißt du schon, ob du es morgen schaffst?«

»Ich denke, dass ich den letzten Flieger noch erwische.«

»Prima. Ich mach dann nach der Sendung auch nicht so lang.«

»Wer’s glaubt.«

»Ich vermiss dich so.«

»Ich dich auch.«

Sie wollte gerade auflegen, das Ohr noch warm, das Lächeln auf den Lippen, als ihr einfiel: »Halt. Wenn ich an die Mail ran will, brauche ich dein Password.«

»Oh ja«, sagte Sebastian. »Tasso.«

»Tasso? I hate you.«

»Wenn ich zurück bin, mach ich Tessa draus.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Schlaf schön.«

»Du auch. Ciao.«

»Ciao.«

Tessa hatte noch immer ein Lächeln auf den Lippen, als sie die Treppe ins untere Stockwerk hinunterging. Vor zwei Monaten erst war sie mit Sebastian in das Dreihundert-Quadratmeter-Loft eingezogen. Ich liebe diese Wohnung, dachte Tessa, als sie durch den dunklen Wohnbereich ging, an dem schlichten hellgrauen Filzsofa vorbei, das so breit und tief war, dass man zu zweit darauf liegen konnte. Schon als Studentin hatte sie vor diesem Sofa gestanden. Ein Klassiker, hatte die Verkäuferin damals gesagt und hinterhältig gelächelt, als habe sie längst erkannt, dass in Tessas Budget nicht einmal die linke Armlehne dieses Sofas vorgesehen war.

Sebastians Arbeitszimmer lag schräg unter dem von Tessa. Er hatte ihr das hellere, größere Zimmer mit dem Zugang zur Dachterrasse kampflos überlassen, nicht nur, weil er sie liebte, sondern weil er streng genommen gar kein Arbeitszimmer brauchte. Sebastian Waldenfels war Schauspieler. Ein berühmter. Bis vor kurzem hatte er nur auf der Bühne gestanden. Jetzt drehte er seinen zweiten Kinofilm. Herbstsommer. Er spielte einen Schriftsteller, der begeistert in den Ersten Weltkrieg zieht und Jahre später desillusioniert zurückkehrt.

Sie musste lächeln, als sie das Licht anknipste und die vielen Ordner und Schachteln sah, die sich in den deckenhohen Regalen stapelten. Als sie Sebastian beim Einzug gefragt hatte, was da um Gottes willen drin sei, hatte er gelacht und frag mich lieber nicht gesagt.

Der Laptop stand tatsächlich auf dem Empire-Schreibtisch. Und obwohl er selbst ein antikes Modell war, sah er aus, als wolle er sich dafür entschuldigen, dieses geerbte Prachtstück zu entweihen. Tessa setzte sich und fuhr über die gepolsterten Armlehnen des Stuhls.

Von Sebastians Telefon aus – jeder von ihnen hatte seinen eigenen Anschluss – rief sie bei ihrer Produktionsfirma an. Sie erreichte Ben, den jüngsten der drei Redakteure, der so dankbar für seine Festanstellung war, dass er jede Nacht als Letzter aus dem Büro ging. Er versprach ihr, das Interview mit Gabriele Behrens an Sebastians Adresse zu schicken. Tessa sagte ciao und legte auf.

Neben dem Schreibtisch hing ein gerahmtes Foto. Es war ihr noch nie aufgefallen. Sebastian auf der Bühne. Er trug eine tief geschlitzte Bluse mit bauschigen Ärmeln, um die Stirn herum einen Lorbeerkranz. Sein Blick war auf etwas außerhalb des Bildes gerichtet. Eine Mischung aus Triumph, Wut und Hohn. Warum ausgerechnet dieses Bild? Sie sollte öfter ins Theater gehen. Obwohl sie Germanistik im Nebenfach studiert hatte, kannte sie sich nicht gut aus. Früher, als die Liebe noch ein unsicheres Spiel gewesen war, hatte sie sich nächtelang hingesetzt und Wagner gehört, wenn der Mann, in den sie sich verliebt hatte, Wagnerianer war. Sie hatte die verschiedenen Hubräume von Formel-1-Wagen auswendig gelernt. Einmal hatte sie begonnen, ungarisch zu lernen. Sich alle sechs Monate in einen neuen Mann zu verlieben hatte unglaublichen Bildungswert. Die Liebe des Lebens gefunden zu haben, war einfach nur großartig.

Tessa hatte Sebastian vor einem knappen Jahr kennen gelernt. Er war Gast in ihrer Sendung gewesen. Meistens lagen Politiker auf der Couch, aber manchmal machten sie eine Ausnahme und luden Schauspieler, Sportler oder Sänger ein. Tessa hatte sich geschworen, nie mit einem Gast zu schlafen. Host und Herbergsmutter sind eins. Schläfst du mit einem, wollen alle anderen auch mit dir schlafen. In dem Moment, in dem Sebastian von der roten Couch aufgestanden war, hatte Tessa gewusst, dass sie mit diesem Mann schlafen würde. Als die Champagnervorräte in der Lobby des Senders aufgebraucht waren, hatten sie in der Stammbar nebenan weitergetrunken, schließlich waren sie endlos durch die Stadt gelaufen, um das, was nicht mehr aufzuhalten war, aufzuhalten. Im Morgengrauen waren sie am Ufer des Flusses gelandet, der hinter dem Sendegebäude entlangfließt. Das Gras war nass, die Männer auf den vorbeifahrenden Lastkähnen johlten. Als es endgültig hell wurde, trennten sie sich, ohne etwas zu sagen. Tessa war nach Hause gefahren, um ihren Zweitausend-Mark-Anzug in den Müll zu werfen. Sebastian war nach Hause gefahren, um seiner Lebensgefährtin zu erklären, dass er sie verlassen würde.

Der Laptop erwachte summend. Im blaugrauen Rahmen bauten sich die Dokumente auf.

Neugier ist ein eigenwilliges Tier. Als Mädchen hatte Tessa manchmal mit dem Hund der Nachbarn Gassi gehen müssen. Und obwohl sie irgendwie verstand, dass er an jeder Ecke stehen bleiben und schnüffeln wollte, hatte sie ihn stets weitergezerrt. So ging es ihr jetzt mit der Neugier. Sie überflog die Namen der Dokumente, die Sebastian auf der Festplatte gespeichert hatte. Geschäftsbriefe. Rechnungen. Steuerkram. Alles langweilig. Keine Tagebücher. Keine Gedanken. Sebastian war nicht der Mann, der sein Inneres auf der Festplatte präsentierte. Zufrieden startete Tessa das altmodische E-Mail-Programm und loggte sich ein. Tasso. Wenn sie sich recht erinnerte, der Titel eines Theaterstücks.

Begleitet von einer kurzen elektronischen Fanfare landete Bens Mail im Posteingang. Zusammen mit drei weiteren Mails.

Die Neugier richtete ihre Ohren auf.

Abovetheline: »Anfrage«

KHerz: »unser termin nächste woche«

ColumbiaTriStar: »Ihre Flugdaten«

Post von der Agentur. Von einem Journalisten, der ein Portrait über Sebastian schreiben wollte. Von der Filmproduktionsfirma, für die Sebastian gerade drehte.

Die Neugier kreuzte die Pfoten und ließ sich unter dem Schreibtisch nieder.

Der Computer begann, das Interview mit Gabriele Behrens herunterzuladen. Gabriele Behrens war seit einem Monat Kanzlerkandidatin. Die erste Kanzlerkandidatin, die die Sozialdemokraten aufgestellt hatten. Die erste Kanzlerkandidatin überhaupt. Das Volk wusste noch nicht, ob es Gabriele Behrens lieben sollte. Und Gabriele Behrens schien noch nicht zu wissen, ob sie das Volk lieben sollte. Es würde eine gute Sendung werden morgen.

Nein, ich glaube nicht, dass die bisherige Regierung begriffen hat, was Familienpolitik im 21. Jahrhundert bedeutet, las Tessa. Wir befinden uns in einer Zeit des Umbruchs. Wir müssen den Blick nach vorn richten. Aber trotzdem und gerade deshalb muss uns bewusst bleiben, welches die traditionellen Werte sind, von denen wir herkommen, und die das Fundament auch eines jeden neuen Modells bleiben müssen.

Ihr Blick wanderte zu dem Foto zurück. Es war unheimlich, wie sehr Sebastian auf der Bühne schwitzte. Im Bett tat er das nicht.

Tessa druckte das Interview aus, um es in ihr Arbeitszimmer mitzunehmen, und löschte die Mail, die Ben ihr geschickt hatte. Sie war bereits aufgestanden, da fiel ihr ein, dass dieses Programm, mit dem sie früher selbst gearbeitet hatte, die Mails nicht wirklich vernichtete, sondern zunächst bloß zwischenlagerte. Auch wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Mann Bett und Tisch teilte, bedeutete dies nicht, die Trennung der Laptops aufzugeben. Sie öffnete den Ordner Gelöschte Mails. Und entdeckte außer der Nachricht von Ben eine zweite.

»Warnung.« Absender: CDembruch.

Die Neugier war mit einem Satz auf den Beinen und kläffte. CDembruch. Carola Dembruch. Sebastians Ex. Tessa starrte auf den Bildschirm. Die Neugier zerrte, aber Tessa hielt sie fest an der Leine. Warnung. Was sollte das schon für eine Warnung sein? Sicher eine von diesen lächerlichen Viruswarnungen, die unterbeschäftigte Computerfreaks in die Welt setzten, weil sie Pickel hatten und keinen hochkriegten. Carola hatte Sebastians Mail-Adresse sicher immer noch in ihrem Adressbuch gespeichert und eine Viruswarnung an alle weitergeleitet. So musste es sein.

Tessa atmete aus und rieb sich die Augen. Es hatte nichts zu bedeuten. Deshalb hatte Sebastian die Nachricht auch einfach bei den Gelöschten Mails herumliegen lassen.

Sie stand auf und begann, im Zimmer umherzugehen. Im Regal vor ihr war eine Schachtel, auf der Platonow stand. Daneben Nathan. Daneben Stuttgart 1976/77. Ihre Hände zuckten. Es war lächerlich.

Geh zum Schreibtisch zurück, mach den verdammten Laptop aus, nimm das Interview und arbeite.

Sebastian höhnte noch immer unter dem Lorbeerkranz hervor. Er hätte ihr doch nicht angeboten, seinen Laptop zu benutzen, wenn dort eine verfängliche Mail von Carola herumliegen würde.

Die Neugier jaulte.

Sebastian hatte Carola wegen ihr verlassen. Endgültig. Es gab keinen Grund, ihm zu misstrauen. Carola hatte verloren, ein Jahr lang jedes Selbsterniedrigungsregister gezogen und trotzdem verloren. Sebastian war mit ihr, Tesssa, in diese Wohnung gezogen. Ein Mann, der sich den Rückzug offenhalten wollte, zog nicht mit seiner neuen Liebe in eine solche Wohnung.

Die Neugier presste sich winselnd auf den Boden.

Dieser Lorbeerkranz ist doch nur lächerlich, dachte Tessa. Und öffnete die Mail.

Mein Lieber,

man tut nichts ungestraft auf dieser Welt. Gestern Morgen fing bei mir das altbekannte Jucken an, und mein Arzt bestätigte, dass ich eine Candida habe. Da sich meine erotische Versorgung in den letzten Monaten auf das Gnadenbrot beläuft, das Du mir zuteil werden lässt, kann ich es nur von Dir haben. Bei wem Du Dir wiederum die Candida eingefangen hast, ist mir allerdings ein Rätsel, denn dass Dein Astralweib die Brutstätte einer ordinären Pilzkrankheit ist, kann ja unmöglich sein.

Kuss Carola

Der Bildschirm begann vor Tessas Augen zu verschwimmen. Die Buchstaben wurden unscharf, die Zeilen zerflossen, wurden immer länger, immer breiter, bis sie als zähe schwarze Masse über den Bildschirm liefen.

Candidus. Candida. Candidum. Glänzend weiß. Setzen. Eins. Lustig, wie die Sprache hässliche Dinge mit schönen Wörtern überzog. Candidamykose. Das klang nach Jahrmarkt und roten Äpfeln am Stiel.

Tessa war siebzehn gewesen. Und er Drummer in der einzigen Rockband, die es an ihrem Kleinstadtgymnasium gab. Sie hatten es nach einem Open-Air-Konzert am Ufer des Baggersees getrieben. Zwei Tage später hatte es zu brennen begonnen. Vulvovaginitis candidomycetica, sagte das medizinische Wörterbuch, und es klang nicht mehr ganz so nach Jahrmarkt. Starke entzündliche Rötung und typischerweise (jedoch nicht immer) rasenartige grauweißliche Beläge im Bereich von Vulva und Vaginalwand einschließlich Portio, bei deren Entfernung Blutungen auftreten können. Es hatte geblutet, als Tessa mit Fingernägeln in sich herumkratzte. Als sie Feli, ihrer jüngeren Schwester, davon erzählte, lachte diese. Welcome to the Club, Schwesterchen, ist doch schön, wenn die Geschlechtskrankheiten in der Familie bleiben. Tessa hängte sämtliche Kamillenteebeutel, die sie in der Küche finden konnte, in die Badewanne und schloss sich die ganze Nacht zum Sitzbad ein. Das bringt doch nix, rief Feli durch die Tür, nimm lieber den Rest von meinem Pilz-Ex. Am nächsten Morgen erklärte Tessa, dass sie den Frauenarzt wechseln würde. Aber du warst doch immer so froh, dass du mit Feli zusammen zu Doktor Prätsch gehen konntest, sagte die Stiefmutter. Feli lachte und ließ den Frühstücksjoghurt aus ihrem Mund in die Müslischale zurücktropfen. Es war der letzte Morgen gewesen, an dem Tessa einen Joghurt gegessen hatte.

Sebastian. Was soll das?

Tessa starrte auf den Bildschirm, auf dem jetzt wieder Buchstaben und Wörter und Sätze waren. Sie las die Mail noch einmal. Die Nachricht weigerte sich, in ihrem Hirn anzukommen. Steckte in irgendeiner Sinnesbahn fest wie ein Gerinnsel. Tessa hatte Angst aufzustehen. Es würde so sein wie mit dem körperlichen Schmerz. Du schneidest dir mit dem Küchenmesser beinahe den Finger ab, und du spürst den Schmerz erst, nachdem du ins Bad gerannt bist, das Medizinschränkchen geöffnet und einen Verband gesucht hast. Dann erst wird dir schlecht.

Hatten sie es in der alten Wohnung getrieben, in der Carola immer noch wohnte? Hatten sie vorher getrunken? Wann war Sebastian das letzte Mal spät nach Hause gekommen? Ständig. Hatten die beiden überhaupt jemals aufgehört, miteinander zu vögeln? Wie oft ist Gnadenbrot?

Carolas Mail war vom letzten Freitag. Am Sonntag war Sebastian zu seinen Dreharbeiten geflogen. Samstag waren sie so lange bei dem Empfang in der Filmakademie gewesen, dass sie sofort ins Bett gefallen und eingeschlafen waren. Freitag war es bei einem Essen mit Attila de Winter, ihrem Produzenten, spät geworden. Sebastian war nicht mehr wach gewesen. Donnerstag hatte sie Sendung gehabt. Die Sendung war gut gewesen, sie war glücklich nach Hause gekommen, und da hatte sie zum letzten Mal mit Sebastian geschlafen. Einen Tag, bevor Carola ihre Mail geschrieben hatte. Tessa zog ihre Joggingshorts herunter.

Gnadenbrot. Brutstätte.

Sie spürte nichts. Sie holte die Schreibtischlampe heran, um besser sehen zu können. Nichts. Keine Entzündung, kein rasenartiger grauweißlicher Belag. Carola log. Sie müsste es doch längst haben.

Welche Inkubationszeit hatte eine Candida? Vier Tage? Fünf Tage? Tessas Hirn arbeitete, als säße sie in einer mündlichen Prüfung, und dies war die Frage, auf die sie in den nächsten zehn Sekunden eine Antwort finden musste. Das Brennen hatte bei Carola letzten Donnerstag begonnen. Also musste sie es sich Samstag oder Sonntag geholt haben. Den ganzen Sonntag war Sebastian mit ihr, Tessa, zusammengewesen, aber Samstagabend hatte er Vorstellung gehabt. Sie war zu Hause gewesen, hatte Fernsehen geguckt, war auf dem grauen Filzsofa eingeschlafen, und er hatte sie hoch ins Bett getragen. Er war spät nach Hause gekommen. Aber sie kam auch spät nach Hause, wenn sie Sendung hatte. Es war normal.

Die beiden trieben es im Theater. In der Garderobe. Sebastian hatte fast immer seine Garderobe für sich. Auf dem schäbigen flaschengrünen Cordsamtsofa, das in der Ecke stand, mussten sie es treiben. Sebastian war kein Freund von Sex im Stehen. Oder behauptete er das nur, wenn er mit ihr zusammen war? Tessas Hände wühlten auf dem Schreibtisch herum, rissen Schubladen auf. Sie musste einen Spielplan finden. In welchem verdammten Stück hatte Sebastian letzten Samstag gespielt? Der Kirschgarten? Was ihr wollt? Die hatte sie gesehen. Da spielte Carola nicht mit.

Sie hätte mehr mit ihm darüber reden müssen. Seit Wochen hatte sie über das Thema Carola kein Wort mehr verloren. Damals hatte er ihr gesagt, dass sie nur noch in einem Stück miteinander auf der Bühne stünden, und das sei im Grunde abgespielt.

Endlich fand sie den Spielplan. Mit zitternden Fingern schüttelte sie das rot-weiß gestreifte Leporello auf. Samstag, 15. September. Torquato Tasso. Ihr Herz schlug schneller. Tasso. Das Password. Bitte, lass Carola nicht–

Das Leporello zerriss, als Tessa es wendete, um nach der Besetzung zu schauen. Torquato Tasso. Von Johann Wolfgang von Goethe. Mit: Denkler, Rudow, Schustermann, Sibbling, Waldenfels. Keine Dembruch. Tessa schloss die Augen und ballte die Faust. Carola spielte nicht mehr mit. Die Verlassene hatte sich das alles nur zusammenphantasiert. Das Gnadenbrot. Die Candida. Nichts als ein hilfloser Versuch, Sebastian die Lust am neuen Sex zu verderben. Beinahe tat sie ihr Leid. Das verzweifelte Erdweibchen, dessen ganzes Leben um den leuchtenden Gatten gekreist war. Das aus der Umlaufbahn geflogen war, seitdem der Gatte es verlassen hatte.

Tessa stützte sich auf die Armlehnen und streckte sich.

Sind Sie sicher, dass Sie die markierten Nachrichten dauerhaft löschen möchten?

Sie löschte nur die Nachricht, die Ben an sie geschickt hatte, schaltete den Laptop aus, zog ihre Hose hoch und verließ das Zimmer, um auf der Dachterrasse eine Zigarette zu rauchen.

Mensch, Tessa, siehst du heute gut aus. So hatte Wiebke, ihre Lieblingsmaskenbildnerin, sie begrüßt, als sie um kurz nach acht ins Studio gekommen war. Wiebke machte keine falschen Komplimente. Ganz schön geschafft, was? Das hatte Tessa oft gehört.

Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel.

Wiebke hatte recht. Sie sah gut aus. Unangreifbar.

Die große Uhr über ihrer Garderobentür sprang auf zehn vor zehn. Tessa nahm einen Schluck Kombucha, ein Getränk, das sie eigentlich hasste und das sie nur vor ihren Sendungen trank. Zum wiederholten Mal kontrollierte sie, ob die hellgelben Karteikarten, auf denen ihre Fragen standen, in der richtigen Reihenfolge waren. Noch nie hatte sie die Reihenfolge in einer Sendung eingehalten. Es war ihr Talent, zu spüren, wo das Gespräch hindriftete. Und nie merklich einzugreifen. Unterirdische Steuerung hatte es Attila de Winter, ihr Produzent, einmal genannt. Tessa, du bist die Meisterin der unterirdischen Steuerung. Du kannst es.

Das Publikum applaudierte, als Tessa das Studio betrat. Achtzig Menschen, alle glücklich, dass sie eine Karte für Auf der Couch ergattert hatten. Manche hatten bis zu vier Monate darauf gewartet.

»Danke. Danke.«

Tessa verbeugte sich und machte eine Handbewegung, als stünde sie in einem Kornfeld und strich über die reifen Ähren.

»Danke. Sehr freundlich. Sehr freundlich. – Aber nachher, wenn wir auf Sendung sind, will ich das doppelt so laut haben«, sagte sie, als die letzten Klatscher verstummt waren. »Mindestens. Der Applaus, den ich eben gehört habe, kommt auf dem Bildschirm als mittelschwere Depression rüber.«

Das Publikum lachte. Nicht, weil es diesen Scherz nicht erwartet hätte. Jeder kannte heutzutage jemanden, der schon einmal Gast oder wenigstens Publikum in einer Talkshow gewesen war. Jeder wusste, welche Art Scherze die Hosts machten, um ihr Publikum anzuwärmen. Das Publikum lachte, weil es das alles vom Hörensagen kannte. Es hätte sich betrogen gefühlt, hätte Tessa einen unerwarteten Scherz gemacht. Das Publikum wollte dasselbe haben, was alle vor ihm bekommen hatten. So serviert, als sei es das erste Mal.

»Wenn Sie gleich die Titelmusik hören, sind Sie bitte still. Und wenn ich Sie dann zur Sendung begrüße, klatschen Sie, als ob Sie mich den ganzen Abend noch nicht gesehen hätten. Wenn mein Gast durch diese Tür kommt«, Tessa zeigte mit der Hand, in der sie die Karteikarten hielt, nach links, »brauchen Sie nicht mehr zu spielen. Denn unseren Gast haben Sie ja tatsächlich noch nicht gesehen. So. Jetzt klappen Sie bitte die Tische zurück und stellen Ihre Rückenlehnen senkrecht. Ich wünsche uns allen eine schöne Sendung.«

Unter mehr Lachen und mehr Applaus nahm Tessa auf ihrem gepolsterten Stuhl Platz. Die Digitaluhr neben dem Monitor zeigte – 00. 00. 53.

Achtung. Noch eine Minute, sagte die Regie.

Das Getuschel im Publikum wurde leiser. Tessa schlug das rechte über das linke Bein, Wiebke kam noch einmal mit der Puderquaste herbeigeeilt, schob ihr eine Haarsträhne hinters linke Ohr.

»Alles in Ordnung?«

»Du siehst perfekt aus. Viel Spaß.«

Noch dreißig Sekunden.

Tessa lächelte ein letztes Mal ins Publikum. Die Scheinwerfer waren so eingestellt, dass sie von ihrem Platz aus keine Gesichter erkennen konnte. Mindestens zehn Menschen würden morgen ihren Arbeitskollegen und Freunden erzählen, dass sie sicher waren, Tessa Simon habe die ganze Sendung über speziell sie angelächelt.

Und Achtung.

Aus den Studiolautsprechern erklang die Titelmelodie. Die Digitaluhr sprang auf 00. 00. 07. Auf dem Monitor sah Tessa ihr Gesicht von rechts, von links, frontal, sah sich einen belebten Platz überqueren, einmal verschwörerisch in die Kamera lächeln und im Studiogebäude verschwinden.

Sie stand auf. Ihr Herz klopfte unter dem dunkelgrauen Anzug mit den asymmetrischen Nadelstreifen ein wenig schneller als sonst. Guter Joggingpuls. Hundertzehn. Hundertzwanzig. Höchstens hundertdreißig. Die rote Lampe auf Kamera 2 begann zu leuchten.

»Guten Abend. Herzlich Willkommen bei Auf der Couch.«Dam. Dam. Dam. Die drei Wörter gaben den Rhythmus vor, den die Sendung haben würde. Das Publikum begann zu klatschen. Eifrig. Es wollte seine Sache gut machen.

»Vielen Dank. Sehr freundlich. Vielen Dank.« Tessa verbeugte sich in drei Richtungen. »Vielen Dank.«

Der Applaus wurde leiser. Stille. Sehr große Stille.

»Auf unseren heutigen Gast freue ich mich ganz besonders«, sagte Tessa und klang so aufrichtig, dass sie sich von ihrer eigenen Begeisterung anstecken ließ. »Es ist eine Frau, die etwas geschafft hat, was in diesem Land noch keine Frau geschafft hat.« Pause. »Und es ist eine Frau, die etwas schaffen will, was in diesem Land erst recht noch keine Frau geschafft hat. Begrüßen Sie Gabriele Behrens, die erste deutsche Kanzlerkandidatin.«

Applaus. Die Politikerin kam im beigen Hosenanzug herein und nickte ins Publikum. Tessa ging zwei Schritte auf sie zu. Ihre interne Wette hatte sie gewonnen. Sie war sicher gewesen, dass Gabriele Behrens nicht in einem ihrer üblichen Kostüme mit wadenlangem Rock, sondern im Hosenanzug erscheinen würde. Nur wenige Frauen trauten sich, zu Auf der Couch im Rock zu kommen. »Schön, dass Sie da sind. Herzlich willkommen.«

Tessa schüttelte der Politikerin die Hand und wartete einige Sekunden, bis sie den ihr zustehenden Applaus bekommen hatte, dann zeigte sie in Richtung der Sitzgruppe. »Frau Behrens, darf ich Sie bitten, auf unserer gemütlichen Couch Platz zu nehmen. Bitte.«

Es war der Moment, den Tessa liebte. Zu sehen, wie der Gast sich der Couch annäherte. Ob er sich erst setzte, ob er einen Witz übers Schuhe-Ausziehen machte. Gabriele Behrens setzte sich in die Mitte und klopfte mit ihren kräftigen Händen zweimal auf das Polster, als wollte sie es vor dem Kauf prüfen.

»Oh, das ist gefährlich«, sagte sie, nachdem sie sich ausgestreckt hatte. »Hoffentlich schlafe ich nicht ein.«

Tessa setzte sich auf ihren Stuhl am Kopfende der Couch, schlug das rechte Bein über das linke Bein und zog ihre Nadelstreifen glatt.

»Keine Angst. Ich halte Sie schon wach.«

Lachen. Stille.

»Frau Behrens. Wie fühlen Sie sich heute?«

»Danke. Sehr gut.«

Tessa wartete. Sie war weder ausgebildete Psychoanalytikerin, noch hatte sie jemals selbst auf einer Couch gelegen. Eine nicht mehr praktizierende Freundin von Attila hatte ihr die Spielregeln des modernen Exorzismus beigebracht.

»Ich hatte einen langen Gremientag«, sagte die Politikerin.

Tessa verzog innerlich den Mund. Schlecht vorbereitet. Jede ihrer Sendungen begann mit: Wie fühlen Sie sich heute? Auf diese Frage hätte Gabriele Behrens eine bessere Antwort parat haben müssen. (Ach, ist tatsächlich immer noch heute? hatte der Außenminister neulich geantwortet.)

»Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihren Tag hätten anders gestalten sollen?«

»Überhaupt nicht. Gremiensitzungen sind das Herz der Politik.«

Tessa spürte, dass Gabriele Behrens sich aufrichten und den Blickkontakt zum Publikum suchen wollte. Vor über einem Jahr hatte Attila das Format erfunden. Du musst die Politiker verunsichern. Zieh ihnen den Boden weg. Kein Mensch will mehr hören, was die reden, wenn man sie reden lässt, hatte er bei dem Abendessen gesagt, bei dem Auf der Couch geboren worden war.

»Das ist den meisten Menschen ja gar nicht klar«, redete Gabriele Behrens weiter. »Dass die eigentliche Politik in den Gremien und in den Ausschüssen gemacht wird. Die Menschen sehen im Fernsehen immer nur die Bilder von Bundestagssitzungen und kritisieren dann, dass die Reihen dort so leer sind. Aber das müssen sie auch sein, weil die eigentliche Arbeit in den Gremien gemacht wird.«

Tessa hatte sich nur einmal zum Scherz auf die Studiocouch gelegt. Man sah Scheinwerfer und Lastenzüge und Beleuchterbrücken, darüber die hohe Decke, die sich im Schwarz verlor. Es war kein wirklich beruhigender Anblick.

»Sie betonen so sehr die Wichtigkeit der Gremienarbeit. Haben Sie Angst, dass die Leute, jetzt wo Sie Kanzlerkandidatin sind, den Verdacht haben, Sie würden die Basisarbeit vernachlässigen?«

»Ganz und gar nicht. Ich bin und war schon immer jemand, der gesagt hat: Ein Baum kann nur von den Wurzeln her wachsen.«

»Das ist ein schöner Satz. Wo würden Sie Ihre ganz persönlichen Wurzeln sehen, Frau Behrens?«

Die Politikerin bewegte den Kopf ein wenig nach links. Tessa wusste, dass sie sie von ihrer Position aus nicht sehen konnte. Die Kamera, die an einem Kran über der Couch befestigt war, zeichnete jede Bewegung auf.

»Ich komme vom Land. Ich bekenne mich dazu, und auch heute ist es für mich immer noch wichtig, ein paar Wochen im Jahr auf dem Land zu verbringen. Vergangenen Sommer haben wir einen kleinen Bauernhof gekauft. Ich fürchte, ich werde jetzt nicht mehr viel Zeit dafür haben, aber trotzdem brauche ich so einen Ort, der mich mit meiner Herkunft verbindet.«

Tessa entdeckte am Scheitel der Politikerin, die ihre braunen Haare schulterlang trug, einiges Grau. Sie schätzte, dass Gabriele Behrens alle sechs Wochen zum Färben ging. Alle sechs Wochen war zu wenig. Sie selbst wusste, wie lästig es war, alle vier Wochen eine Stunde unter Folien und Wärmestrahlern zu sitzen. Aber alle sechs Wochen war zu wenig.

»… erst als ich meinen Mann kennen gelernt habe. Das war ganz wichtig für mich.«

Tessa zuckte zusammen, wie ein Autofahrer, der sich beim Sekundenschlaf ertappt. »Sie sprechen oft von Ihrem Mann«, sagte sie schnell. Sie war sicher, dass niemand etwas gemerkt hatte. »Können Sie sagen, was Ihr Mann für Ihr Leben bedeutet?«

»Alles. Er ist derjenige, der mir die Kraft gibt, die ich in meinem Beruf brauche.«

»Ihr Mann ist Professor für Geschichte. Als Sie zur Kanzlerkandidatin nominiert worden sind, hat er spontan angeboten, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, um ganz für Sie da zu sein. Fühlen Sie sich deshalb schuldig?«

»Wieso sollte ich mich schuldig fühlen?«

»Haben Sie nicht das Gefühl, dass Ihr Mann Ihnen mehr gibt, als Sie bereit wären, ihm zu geben?«

Tessa sah, wie Gabriele Behrens versuchte, sich auf der Couch ein wenig mehr aufzurichten. Gespannt wartete sie auf die Alarmleuchte, die immer dann losging, wenn ein Gast sich während des Gesprächs aufsetzte.

»Mein Mann und ich sind nun seit fast zwanzig Jahren verheiratet. Und wissen Sie, in einer so langen Zeit gibt es immer Phasen, in denen mal der eine mehr gibt, und dann ist es wieder umgekehrt. Ich habe meinen Mann sehr unterstützt, damals, als wir uns kennen gelernt haben. Ich war da ja schon fertige Juristin, und er hat noch an seiner Habilitation geschrieben. Er weiß das und hat es nicht vergessen.«

»Ich spüre einen großen Ärger bei Ihnen, wenn Sie darüber reden.«

»Ich bin nicht ärgerlich. Ich wundere mich nur ein wenig –« An dieser Stelle ging der Alarm los.

»Frau Behrens, ich muss Sie leider bitten, sich wieder hinzulegen.«

»Das ist doch albern.«

Im Publikum kam leichte Unruhe auf. Live bei der Sendung dabei zu sein, war Glück. Live dabei zu sein, wie eine Sendung aus dem Ruder lief, war großes Glück.

»Frau Behrens, Sie kennen die Spielregeln.«

Lachend ließ sich die Politikerin zurücksinken. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie ärgerlich –«

»Ja, richtig. Nein, ich wundere mich, dass ausgerechnet Sie als Frau mir vorwerfen wollen, dass ich zu egoistisch handle, wenn mein Mann nun zwei Jahre vor der geplanten Zeit in den Ruhestand geht. Von uns Frauen wird doch seit Jahrhunderten erwartet, dass wir den Männern den Rücken freihalten.«

»Das ist jetzt interessant. Ist Ihnen aufgefallen, dass Sie eben das Wort egoistisch verwendet haben. Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie sich als Frau einen Egoismus erlauben, der üblicherweise Männern vorbehalten ist?«

»Ich glaube nicht, dass es hier um Schuld geht. Ich glaube, dass wir politisch dafür kämpfen müssen, dass Frauen beides, Karriere und Familie, unter einen Hut bekommen, und das wird auch eins der Hauptziele sein, für die ich mich im Wahlkampf ganz persönlich einsetzen werde.«

»Aber ich habe Sie nicht danach gefragt, wofür Sie sich im Wahlkampf einsetzen werden, sondern ich habe Sie nach Ihren Gefühlen gefragt.«

»Ich glaube, dass Frauen einen großen Nachholbedarf haben, was das Verfolgen ihrer eigenen Ziele im Leben angeht. Aber ich wehre mich strikt dagegen, dass dies von der Gesellschaft dann gleich als Karrierismus oder Rücksichtslosigkeit ausgelegt wird. Ich denke, man muss beides sein können: Eine Frau, die ihren Weg geht, und eine Frau, die für ihren Partner da ist.«

Eine klassische P-Frau, dachte Tessa. Proper. Patent. Politisch korrekt.»Können Sie sich erinnern, wann Sie Ihrem Mann das letzte Mal das Gnadenbrot gemacht haben?«

Gabriele Behrens lachte. »Sie meinen: das Abendbrot?«

»Ja. Natürlich.« Tessas Herz raste los, als wolle es durch ein Tor, das sich bereits schloss, noch ins Freie gelangen. Im Publikum gab es einige Lacher.

»Wie auch immer«, sagte sie, und ihr Lächeln klappte herunter wie ein Visier. »Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal bekocht?«

Tessa zog die Garderobentür hinter sich zu und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Das Kombucha in dem Weinglas hatte sich zersetzt. Auf dem Tisch lag der Ablaufplan, der jetzt nur noch Altpapier war. Tessa zündete sich eine Zigarette an und nahm das Handy aus ihrer Handtasche.

»Attila? Ich will ein Band von der Sendung … Nein, ich mache mich nicht verrückt … Ich will das Band heute Nacht noch haben … Dann bezahl halt jemanden, der’s kopiert … Ich mache keinen Terror.« Wütend warf Tessa ihr Handy aufs Sofa.

Dort, wo sie eben in die schwarze Kalbsledertasche hineingefasst hatte, entdeckte sie eine beige Make-up-Spur. Tessa versuchte, den Fleck wegzuwischen. Ein zweiter kam hinzu. Sie klemmte die Zigarette zwischen ihre Lippen, zog ein Tuch aus der Box mit den feuchten Abschminktüchern und begann sich die Hände abzuwischen. Sie hasste diese Körperschminke, die angeblich wasserlöslich war. Sie hasste diese Tücher, die eigentlich für Babyärsche erfunden worden waren. Gabriele Behrens machte es sicher nichts aus, sich mit diesen Tüchern auch das Gesicht abzuschminken. Gleich nach der Sendung war sie in der Maske verschwunden, um nach wenigen Minuten abgeschminkt und glänzend im Foyer aufzutauchen. Proper. Patent. Politisch korrekt. Einen halben Prosecco hatte sie noch mit Tessa und der Redaktion im Stehen getrunken, hatte die Sendung äußerst originell gefunden. Dann war sie in ihrem nachtblauen Dienstwagen davongefahren.

»Fuck«, sagte Tessa und warf das verschmierte Tuch in den Papierkorb. Es klopfte an der Tür.

»Ja?«

Ben, der Jungredakteur, der jeden Abend als Letzter ging, steckte den Kopf zur Tür herein. »Ach, du bist allein. Ich dachte, ich hätte dich mit jemandem reden gehört.«

»Scheiße, nein. Ich hab bloß telefoniert.« Tessa zog ein neues Tuch aus der Box.

»Entschuldigung.«

Normalerweise erwiderte sie Bens Lächeln pawlowsch.

»Ich glaub, die Behrens hat sich verhört«, sagte er. »Ich habe ziemlich deutlich Abendbrot verstanden.«

Tessa hörte auf, ihre Hände zu schrubben, und schaute Ben an. »Hat dich Attila hergeschickt, damit du mir das sagst?«

»Unsinn. Ich wollte dich nur fragen, ob du noch mit ins Krösus kommst. Ich hab um Mitternacht Geburtstag.«

»Ich bin müde.« Tessa widmete sich wieder ihren Händen.

»Ach komm. Bitte.« Ben machte einen Schritt ins Zimmer hinein und bohrte seine Hände in die Hosentaschen.

»Ich bin total geschafft.«

»Ein Glas«, sagte er und streckte einen Daumen in die Höhe. »Ein Glas. Ich werd nur einmal dreißig.«

Im Spiegel sah Tessa, wie er sie unter seinem verwuschelten Braunschopf anschaute. Seine Augen waren sehr dunkel. »Ich kann nicht«, sagte sie und betrachtete ihre gereinigten Hände.

Er war zurück. Tessa spürte es, kaum dass sich die Türen des Fahrstuhls, der sie direkt ins Loft brachte, hinter ihr geschlossen hatten. Nur aus dem Küchenbereich drang schwaches Licht. Keine Geräusche. Er war oben auf der Galerie. Und schlief. Neben dem Fahrstuhl standen die braunen Budapester, die er sich im Sommer hatte machen lassen.

Sie fühlte sich nüchtern, als hätte sie den ganzen Abend Apfelsaftschorle getrunken. Ben hatte sie schließlich doch noch überredet, mit ins Krösus zu gehen. Es war gut gewesen. Das Krösus war immer gut, besonders seitdem es in der Sperrzone rund um die amerikanische Botschaft lag, und jeder, der dorthin wollte, die Straßensperre mit den Ausweis- und Sicherheitskontrollen passieren musste. Letzte Woche waren eine Menge Leute im Krösus gewesen, die Tessa dort noch nie gesehen hatte. Der Barmann hatte ihr erklärt, dass es in drei Zeitungen Solidaritätsaufrufe mit der umzingelten Lounge gegeben hatte. Heute waren sie unter sich geblieben. Nur Leute aus der Redaktion und vom Sender. Sie hatten die Tische zur Seite gerückt und getanzt.

Gouchie, Gouchie, ya ya dada!

Es war gut gewesen. Die Bässe in der Wirbelsäule zu spüren. Das Stampfen. Das alles klein machte und zusammenstauchte, wie in einer Autopresse. Sie hätte Bens Vorschlag, noch in einen Club zu ziehen, annehmen sollen.

Im Halbdunkel hängte Tessa ihren Mantel an die Garderobe und ging zu dem Regal, in dem ihre CDs standen. In ihrer alten Wohnung hatte sie das oft gemacht. Bis zum Morgen mit sich selbst getanzt, wenn sie nach einer Sendung allein nach Hause gekommen war. Sie zog eine CD aus dem Regal, ohne das Cover zu erkennen. Es war egal. In ihrem Regal gab es nur CDs, zu denen man tanzen konnte.

Von der Galerie, die jetzt unmittelbar über ihr war, hörte sie ein Geräusch. Tessa hielt inne. Schnarchen. Sebastian schnarchte nur, kurz nachdem er eingeschlafen war. Er hatte auf sie gewartet. Fast. Die Uhr am DVD-Recorder zeigte 02:27. Tessa schob die CD ins Regal zurück.

Das Gästebad war im unteren Stockwerk. Tessa schnupperte an der Zahnbürste, die in dem weißen Keramikbecher neben dem Waschbecken stand. Sebastian hatte der Putzfrau aufgetragen, immer eine frische Zahnbürste in den Becher zu stellen. Für Freunde, die sich spontan entschlossen, über Nacht zu bleiben. Seitdem sie in dem Loft wohnten, hatte noch nie jemand bei ihnen übernachtet. Tessa betrachtete sich im Spiegel. Das Make-up war nur wenig verschmiert. Ein bisschen Puder. Ein bisschen Lippenstift, und alles war wieder in Ordnung. Sie konnte Ben anrufen und ihn fragen, wo er war. Sie hatte schon lange keine Nacht mehr durchgemacht. Wenn Ben in einen Club gegangen war, würde er sein Handy nicht hören. Oder er hatte es ganz ausgemacht. Morgen würde er sehen, dass sie versucht hatte, ihn letzte Nacht zu erreichen. Er würde sie anrufen. Sie würde morgen nicht mit ihm darüber reden wollen. Tessa stellte die Zahnbürste in den weißen Keramikbecher zurück und schlich in Strümpfen die Holzstufen zum oberen Stockwerk hinauf.

Sebastian hatte aufgehört zu schnarchen. Das Licht, das durch die großen, vorhanglosen Scheiben aufs Bett fiel, war hell genug, um seine Konturen zu erkennen. Sein Oberkörper lag nackt da, sein rechter Arm quer über ihrem Kissen. Es war noch nicht oft geschehen, dass er schon schlief, wenn sie nach Hause kam. Bevor sie mit ihm zusammengezogen war, war es nie geschehen, dass ein Mann in ihrem Bett lag und schlief, wenn sie nach Hause kam. Letzten Sonntag hatte sie ihn am Fahrstuhl verabschiedet. Sie hatten sich geküsst, er hatte tschüss gesagt und sie ciao. Ihre Liebe hatte sich wie etwas angefühlt, über das man nicht nachdenken musste.

Ohne ein Geräusch zu machen, ging Tessa ins Bad. Abschminken. Zähneputzen. Flossen. Lotion. Augencreme. Feuchtigkeitscreme. Keine Nacht erlaubte sie sich, von dieser Routine abzuweichen, ganz gleich wie müde oder betrunken sie war. Als sie auf die Galerie zurückkam, schien das Mondlicht noch immer durch die Fenster herein. Das Licht zeichnete Schatten auf Sebastians Gesicht. Die Ringe unter seinen Augen waren tiefer geworden, seitdem sie ihn kannte. Seine Lippen waren voll und ein wenig aufgesprungen. Sie beugte sich hinunter, um ihn zu küssen. Er zuckte im Schlaf.

Vorsichtig stieg sie ins Bett und ließ den Kopf neben ihr Kissen sinken, auf dem noch immer sein Arm lag. Ba. Damm. Ba. Damm. Machte sein Puls in der Matratze. Wenigstens wollte sie glauben, dass es sein Puls war. Die alte Ameisenstraße fiel ihr wieder ein. Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr hatte sie geglaubt, Kinder entstünden, indem das Sperma über die Matratze wandert und sich den Weg zwischen die Beine der Frau sucht. Natürlich hatte sie gelesen, was in den Biologiebüchern stand. Und hatte nicht prinzipiell abstoßend gefunden, was dort als Beischlaf beschrieben wurde. Sie hatte sich nur nicht vorstellen können, dass diese intime Art des Kindermachens für alle Menschen galt. Für die Schönen – ja. Aber dass die hässliche Kassiererin in dem Supermarkt, in den ihre Mutter sie immer geschickt hatte, dass diese Kassiererin, die so furchtbar klein war und eine quäkende Stimme hatte, zu ihren beiden Söhnen gekommen sein sollte, indem ein Mann mit ihr geschlafen hatte, das hatte Tessa sich beim besten Willen nicht vorstellen können.

Sie drehte sich auf die Seite und griff nach Sebastians Glied, das leblos zwischen seinen Schenkeln lag. Es war warm und weich, das haarige Dreieck verströmte einen Duft nach Waldboden und Duschgel. Sie begann vorsichtig zu reiben.

Wo die Candida-Pilze beim Mann wuchsen? Rings um das Glied herum, wie die schmutzig gelben Schwämme, die sie als Kind bei den Waldspaziergängen von morschen Baumstämmen getreten hatte? Das Mondlicht war schwach, dennoch konnte Tessa erkennen, dass es an Sebastians Glied weder Schwämme noch einen rasenartigen grauweißlichen Belag gab. Mit dem Drummer, bei dem sie sich damals die Candida geholt hatte, hatte sie nach der Nacht am Baggersee nie wieder gesprochen. Der Gynäkologe, der ihren Pilz dann schließlich behandelt hatte, hatte nur gesagt, der Junge müsse auch behandelt werden. Ohne zu sagen, was das genau hieß. Ob Sebastian eine Salbe nahm? Tabletten? Tinktur? Versteckten sich die Pilze innen im Glied, wie es auch im Wald manche Pilze gab, die sich lieber in hohlen Baumstämmen verbargen? Kamen sie erst heraus, um ihre tückischen Sporen zu verbreiten, wenn der Wirt sich entlud?

Sebastian stöhnte im Schlaf.

Er war der Moment, den Tessa am meisten liebte. Wenn sein Glied erwachte, während er selbst noch schlief. Sie rieb etwas fester.

Bei wem du dir die Candida eingefangen hast, ist mir allerdings ein Rätsel. Dass Dein Astralweib die Brutstätte einer ordinären Pilzkrankheit ist, kann ja nicht sein.

Carola log. Sie selbst war die Brutstätte. Hatte sich die Candida in irgendeinem Reagenzglas besorgt, um Sebastian zu infizieren. Hatte ihn zu sich gelockt, betrunken gemacht, auf die Couch gezerrt, mit keinem anderen Plan, als ihm eine Candida zu verpassen. Der Mann, dessen Glied sie in ihrer Hand hielt, vögelte nicht quer durchs Revier.

»Tessa? Da bist du ja endlich.« Sebastians Stimme war rau vor Schlaf. Er drehte sich um und zog Tessa an sich. »Ich habe so lange auf dich gewartet.«

Tessa ließ ihn los.

Schläfst du noch mit Carola?

»Tut mir Leid«, sagte sie. »Ben hatte Geburtstag.«

»Mmh …«

Sebastian umarmte sie noch fester. Sie drehte ihm ihren Rücken zu, so dass sie jetzt hinter sich greifen musste, um ihn weiterzureiben. Der Mond schien unverändert. Knie in Knie lagen sie da. Den Ausdruck Löffelchen, um diese Stellung zu bezeichnen, hatte Tessa immer abscheulich gefunden. Sie war glücklich, dass Sebastian ihn noch nie benutzt hatte. Wenn man ihr denn einen Namen geben musste, hätte sie die Stellung Sessellift getauft. Das warme, sichere Gefühl, einen Berg hinaufgetragen zu werden. Höher und immer höher …

Sie hielt sein Glied jetzt fest mit der Faust umschlossen. Erregung presste Sebastians Bauch kräftiger an ihren Rücken. Sein linker Arm schob sich an ihrem Arm vorbei und suchte den Weg zwischen ihre Beine. Mit einem Finger tauchte er in sie ein und stöhnte.

Keine Spur mehr von Schlaf in seiner Stimme. Keine Spur von Schlaf in dem, was seine Finger zwischen ihren Beinen taten. Er kannte sie. So gut wie kein Zweiter. Es konnte nicht sein, dass er sie betrog. Tessa stellte den rechten Schenkel auf, um seinen Finger mit seinem Glied zu verdrängen. Sebastian stöhnte lauter, zusammen fielen sie in einen Rhythmus, der Hintern und Schaft heftig aneinander schlagen ließ. Zwei Schlangen, die im Wüstensand ihre Balz austanzten. Der Tanz wurde schneller. Er konnte nicht mehr weit vom Höhepunkt entfernt sein.

Komm ... Nur noch ein kleines Stück … Gleich …

»Was ist?« Tessa blieb liegen. Schwer atmend. Sebastian hatte sich zurückgezogen aus ihr. »Was ist?« Ihre Stimme klang zu grell in dem mondbeschienenen Raum.

»Hast du nicht deine gefährlichen Tage? Ich zieh mir was über.« Er wisperte. Sein Mund zärtlich in ihrem Nacken. Sie hörte, wie eine seiner Hände von ihr weg in Richtung Nachttischschublade glitt.

Etwas in ihrer Kehle begann zu brennen.

Er hasste Kondome. Wieso dachte er ausgerechnet heute Nacht daran?

»Ich bin okay«, stieß sie hervor.

»Sicher?«

»Sicher.«

Er kehrte in sie zurück. Und sie ließ sich mitnehmen nach oben, obwohl sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, der Sessellift könne abstürzen.

Tessa lag in der Badewanne, als das Telefon klingelte. Sie hatte es extra auf den Stuhl daneben gelegt, weil sie damit rechnete, dass Attila ihr die Quoten von gestern Abend durchgab. Der erste Anruf freitagmorgens kam immer von Attila.

Als sie die grüne Taste drückte, war es Feli.

»Tessa, bitte, bitte, du musst mir einen Riesengefallen tun.«

Tessa liebte ihre Schwester, wie man eine Schwester liebte, die man vom ersten Tag an gehasst hat. Vier Jahre nach ihr geboren, an einem Tag, an dem in ganz Deutschland die Sonne schien, war ihre Schwester von vornherein zur Kür bestimmt gewesen. Großeltern hatten das brabbelnde Kleinkind in ihre Herzen geschlossen, zu denen Tessa den passenden Schlüssel nicht fand, obwohl sie bei jedem der anfallenden Geburtstage Blockflöte spielte. Tessa malte eine Woche lang nach Zahlen, bis aus den sieben verschiedenen Brauntönen endlich ein Pferd geworden war. Ihre Mutter lobte das Bild und stellte es auf den Kühlschrank. Feli schmierte ihr Zimmer mit Penatencreme ein, soweit die Babyhände reichten. Ihre Mutter lachte, bis sie Tränen in den Augen hatte. Auch der frühe Tod der Mutter hatte die Schwestern einander nicht näher gebracht. Tessa saß in ihrem Zimmer und kaute sich aus Hass gegen die Neue, die Kosmetikerin, die Nägel blutig, während Feli den Schoß der Neuen im Sturm erklomm und sich jeden Abend die winzigen Nägel mit einer anderen Bonbonfarbe lackieren ließ. Tessa hatte ihr Abitur mit 1,7 gemacht. In der Abizeitung war sie nur einmal erwähnt worden, als drittgenannte bei der Frage: Wer, glaubt ihr, macht später mal die größte Karriere? Feli hatte ihr Abitur mit 3,9 überstanden. Und war zur beliebtesten Schülerin des Jahrgangs gewählt worden.

»Tessa, bitte! Kannst du Curt nehmen?«

Wie oft hatte sie diesen Satz gehört, seitdem ihre Schwester vor einem guten halben Jahr Mutter geworden war?

»Ich habe keine Zeit.«

»Bitte, bitte, bitte. Ich muss zu einem Vorsingen. Die suchen eine Leadsängerin für eine neue Band.«

»Ruf Robert an.«

Robert war Curts Vater. Und der Bassist in Felis ehemaliger Band. Obwohl er Feli für das Fickbarste hielt, was ihm je begegnet war – so hatte er sich Tessa gegenüber nach einem Konzert ausgedrückt –, hatte er keine Lust darauf gehabt, zusammen mit dem Fickbarsten ein Kind in die Welt zu setzen. Also war Feli alleine Mutter geworden, Robert hatte sich bei einem Gig etwas anderes Fickbares gesucht, und einen Monat nach Curts Geburt hatten die Sad Animals ihre offizielle Trennung bekannt gegeben.

»Tessa, ich muss zu diesem Vorsingen.«

Während Tessa mit zwölf langsam von der Blockflöte aufs Klavier umgestiegen war, hatte Feli begonnen, Gitarrenunterricht zu nehmen, um Sängerin in einer coolen Band zu werden. Mit fünfundzwanzig hatte sie ihren Traum mehr oder weniger erreicht. Die Sad Animals hatten zwar nie die Charts gestürmt, aber in der Szene hatten sie am Schluss als coole Band gegolten.

»Ich muss in den Sender.«

»Ach. Die Sendung gestern war übrigens lustig.«

»Du hast geguckt?«

»Na klar doch.«

Tessa betrachtete ihren nackten großen Zehennagel. Sie musste sich das Band besorgen. Aber ihre Schwester hatte nichts gesagt. Ihre Schwester hätte es ihr triumphierend unter die Nase geschmiert, wenn sie sich gestern in der Sendung versprochen hätte. Auf ihre Schwester war Verlass.

»Und der Versprecher war echt lustig«, sagte Feli.

Moses war in einem Weidenkörbchen an irgendein Ufer gespült worden, und barmherzige Leute hatten ihn bei sich aufgenommen. Tessa konnte sich nicht mehr erinnern, was diese barmherzigen Leute für einen Beruf ausübten. Wahrscheinlich waren sie Schreiner oder Schafhirten oder gingen sonst einer besinnlichen Tätigkeit nach. Sicher waren sie keine Fernsehmoderatorinnen, die mit ihrem Produzenten die Quoten des Vorabends besprechen mussten (300000 Zuschauer, regionaler Marktanteil von 9,7 Prozent, keine Sensation, aber gut). Tessa hatte Attila schließlich aus der Leitung geworfen, weil ein anderer Anrufer allzu hartnäckig anklopfte. Es war zum zweiten Mal Feli gewesen. Die ihr mitteilte, dass sie Curt soeben vor Tessas Haustür abgestellt hatte und jetzt im Taxi zu ihrem Vorsingen saß.

Tessa öffnete eins der Fenster, die zum Hof gingen. Da stand es. Eins dieser Plastikweidenkörbchen, in denen moderne Eltern ihre Kinder aussetzten. Tessa beugte sich weiter hinaus und lauschte. Nichts. Sie sah nur die gemusterte Decke, die sich in dem Körbchen bauschte. Wahrscheinlich schlief Curt. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Tessa ihn gesehen hatte, hatte er fast immer geschlafen.

Tessa schloss das Fenster, ging in ihr Arbeitszimmer und klappte den Laptop auf. Sie musste hart bleiben. Wenn sie jetzt nachgab, würde sich dieselbe Geschichte in spätestens drei Tagen wiederholen. Als der Laptop keinerlei Lebenszeichen von sich gab, fiel ihr wieder ein, dass er vorletzte Nacht abgestürzt war. Sie musste den Laden anrufen. Sofort. Sie konnte nicht das ganze Wochenende ohne Laptop sein.

Ob Feli wenigstens daran gedacht hatte, den Kleinen vorher noch zu füttern? Tessa hatte keine Ahnung, was ein Kind in diesem Alter zu essen bekam. Noch Milch? Ob Feli Curt an die Brust legte? Bei dem Gedanken, ihre Schwester könnte nährende Mutter Natur spielen, musste Tessa lachen.

Der Mann im Computergeschäft erkannte ihre Stimme sofort. Er entschuldigte sich in jeder Hinsicht –mein Gott, ich hoffe, Sie hatten keine allzu großen Umstände, aber Ihre Sendung gestern war ganz toll– und versprach, Tessa heute noch einen Ersatzcomputer vorbeibringen zu lassen. Zufrieden beendete sie das Gespräch.

Ihr Arbeitszimmer ging zu den stillgelegten Gütergleisen hinaus. Wenn Curt im Hof zu weinen begonnen hatte, würde sie es hier unmöglich hören. Also ging sie ins untere Stockwerk und öffnete das Fenster. Der blaue Plastikkorb stand noch immer da. Sie lauschte und hörte nichts. Es regte sich auch nichts. Was, wenn Curt schon gar nicht mehr im Korb lag? Unsinn. Er konnte noch nicht krabbeln. Und niemand würde das Kind ohne den Korb mitnehmen. War sie schuld, wenn Curt verschwand? Kein Gericht in diesem Land würde sie schuldig sprechen können. Ihre Schwester hatte sie erpresst.

Mit dem Fahrstuhl fuhr Tessa ins Erdgeschoss. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert war oder wütend, als sie Curt im Körbchen liegen sah. Dass er sie anlächelte, machte sie in jedem Fall wütend. Lag da und lächelte sie an. So als ob sie irgendetwas mit ihm zu tun hätte. Gut, sie war seine Tante. Ein Gedanke, der ihr in diesem Augenblick zum ersten Mal kam. Ich Tante. Du Neffe. Was für eine Absurdität. Ihr Neffe war derselbe gottverdammte Sonnenschein wie seine Mutter. Es war klar, auch er glaubte, sich seinen Weg durch die Welt lächeln zu können. Tessa schaute sich um. In dem ehemaligen Fabrikhof war niemand zu sehen. Das Kind lag unter einer Decke, es regnete nicht, das Kind lächelte. Ebenso gut konnte es bleiben, wo es war.

Der Fahrstuhl war bereits am zweiten Stock vorbeigefahren, als Tessa der Gedanke kam, dass es genug Boulevardzeitungen gab, die Feli die Geschichte von der kaltherzigen Schwestertante abkaufen würden.

»Na, so was«, rief Sebastian, als er am frühen Nachmittag von seinem Termin beim Chiropraktiker zurückkam. Tessa sprang auf und eilte die Stufen zur unteren Etage hinab. Die Frage, ob er wirklich vom Chiropraktiker kam, wehrte sie ab wie einen Moskito, um den man sich gerade nicht kümmern kann, weil man einem Säbelzahntiger gegenübersteht.

»Sorry, ich kann nichts dafür«, sagte sie, noch auf der Treppe, »meine verdammte Schwester hat ihn einfach vor die Tür gestellt.«

Einmal, ganz zu Beginn ihrer Beziehung, als sie geglaubt hatte, schwanger zu sein, hatte sie mit Sebastian über Kinder gesprochen. In der Nachwuchs-Frage hatte er sich ebenso unenthusiastisch gegeben wie sie.

Jetzt beugte er sich jedoch mit einem Lächeln über das Körbchen. »Einfach ausgesetzt von der Mama«, sagte er und kitzelte Curt am Bauch. »Aus dir wird später mal ein Held, was?« Der Kleine schlug begeistert in die Rasselkette, die im Henkel des Körbchens gespannt war.

Bevor Tessa es richtig begriff, hatte Sebastian Curt an seine Schulter gehoben und schunkelte ihn sanft. Seine Nase näherte sich dem Hinterteil des Säuglings. Er verzog das Gesicht.

»Ich glaube, wir sollten seine Windeln wechseln.«

»Wir?« Tessa war immer noch nicht sicher, ob sie begriff, was sie sah. Sie war die beiden letzten Stunden hilflos um das Körbchen geschlichen, hatte sich fast nicht getraut, ihren Neffen von der Decke zu befreien, und nun stand Sebastian mit dem Kleinen da, als habe er im vorherigen Leben das Mutterkreuz getragen.

»Aber wir haben doch gar keine Windeln«, war alles, was ihr einfiel.

»Da im Korb ist eine«, sagte Sebastian und ging mit Curt die Treppe zum großen Bad hinauf.

Tessa blinzelte. Die Sonne schien wie ein psychedelischer Pfannkuchen. Woher um alles in der Welt wusste Sebastian, wie man einen Säugling wickelte? Mein Beruf ist mir so wichtig, hatte er damals gesagt, da ist beim besten Willen kein Platz für Kinder. Hatte er gelogen? Gab es irgendwo da draußen einen kleinen Waldenfels, von dem sie nichts ahnte?

Sie schloss die Augen. Die Sonne hörte nicht auf, sie auszulachen.

Wenn es im Sunshine-State einmal gewitterte, dann richtig. Feli sah aus, als ob man sich an jedem ihrer Million Korkenzieherlöckchen einen Stromschlag holen könnte.

»Das sind doch alles Wichser«, tobte sie. »Warum schreiben die in ihre verdammte Anzeige nicht rein, dass sie keine Sängerin suchen, sondern eine verdammte Springmaus?«

»Und warum setzt du den Kleinen bei mir ab, nachdem ich ausdrücklich nein gesagt habe?«, tobte Tessa zurück.

»Mein Gott, dir bricht kein Zacken aus der Krone, wenn du mir auch mal einen Gefallen tust.« Jetzt erst schien Feli Sebastian zu bemerken. Und Curt, den dieser auf dem Arm hielt.

»Hi«, sagte sie. Tessa fand, dass es eher nach fick dich geklungen hatte.

»Hallo«, antwortete Sebastian freundlich. Feli und er waren sich noch nicht oft begegnet. »Das muss hart sein, sich in diesem Musikbusiness zu behaupten.«

Feli stieß einen unartikulierten Laut aus. Curt patschte dem Mann, der ihn die letzte Stunde so liebevoll gehütet hatte, gegen die Nase.

»Das ist ja so ein süßes Kind«, sagte Sebastian unverändert freundlich. »Ich habe ihn vorhin sauber gemacht und gewickelt, ich hoffe, das war in Ordnung.«

»Ist schon okay. Zu Hause mach ich das dann richtig. – Das Bad war oben?«, wandte Feli sich abrupt an Tessa.

»Du kannst auch das Gästeklo hier unten benutzen«, sagte Tessa und zeigte auf die Tür, die zum hinteren Flur führte.

Feli schnappte sich ihr Kunstledertäschchen mit der applizierten Pistole und verschwand ohne weiteren Kommentar.

»Sorry, dass du an deinem einzigen freien Tag diesen ganzen Stress mitmachen musst«, sagte Tessa, als sie mit Sebastian allein war. Sie ging zu ihm und gab ihm einen Kuss. Sie fand, dass Curt immer noch den süßlich-fauligen Geruch verrottender Äpfel verströmte.

»Das ist doch kein Problem. Jeder hat mal einen schlechten Tag.«

»Aber nicht jeder führt sich so auf.«

Von nebenan ertönte ein lautes Klirren, als ob Glas zerbrochen wäre.

»Jetzt reicht’s.« Tessa marschierte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, bevor Sebastian versuchen konnte, sie aufzuhalten.

»Alles in Ordnung?«, rief sie, als sie die Tür zum Gästebad erreicht hatte.

»Alles cool«, hörte sie die Stimme ihrer Schwester.

»Soll ich den Staubsauger holen?«

»Nee, ist alles okay.«

Einem Impuls folgend – Familieninstinkt? – drückte Tessa die Klinke. Sie wusste, dass die Tür nicht verriegelt sein konnte. Der Schlüssel klemmte, seitdem sie eingezogen waren, und weder Sebastian noch sie hatten bislang die Zeit gefunden, sich um die Behebung dieses Mangels zu kümmern. Ihre Schwester kniete vor dem geschlossenen Klodeckel, unter dem Waschbecken glitzerten die Scherben eines Handspiegels.

»Hey!« Feli fuhr herum, dass ihre blonden Löckchen flogen. Ein zusammengerollter Geldschein steckte in ihrem linken Nasenloch. Es verstrich ein langer Augenblick, in dem keine der beiden Schwestern etwas sagte.

»Ich dachte, du hast seit der Schwangerschaft aufgehört«, beendete Tessa schließlich das Schweigen.

»Hab ich ja auch.«

»Das sehe ich.«

»Mann. Nur heute.«

»Woher hast du überhaupt noch die Kohle für das Zeug?«

»Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, Schwesterchen: Ich hab mal richtig Geld verdient.«

»Ich könnte dich beim Jugendamt anzeigen.«

»So spießig wärst nicht einmal du.« Feli grinste. »Warum gehst du nicht einfach wieder zu deinem Knacker raus und unterhältst dich weiter übers Musikbusiness.«

Sie drehte Tessa den Rücken zu, Sekunden später erklang das Geräusch, das das kleine Mädchen früher gemacht hatte, wenn ihm die Nase lief.

»Ich hätte nicht geglaubt, dass du so verantwortungslos bist.«

Feli lachte, tupfte mit dem befeuchteten Finger die letzten Krümel vom Klodeckel und leckte sie ab.

»So ‘ne halbe Linie alle paar Wochen – das ist weniger schädlich als die ganze Scheiße, die du täglich inhalierst.«

Sie stand auf, strich den Fünfzig-Euro-Schein glatt und steckte ihn zusammen mit der Kreditkarte ins Portemonnaie zurück. Wie in einer Reklame für ultracooles Haarstyling fuhr sie sich durch die Locken und lächelte ihr Spiegelbild an.

»Bitte, das Klo ist frei«, sagte Feli, »und das mit dem Spiegel tut mir echt Leid, ich kauf dir einen neuen.«

Tessa blieb im Bad stehen. Sie konnte sich nicht bewegen. Zu ihrem Ärger merkte sie, wie sich ihr Hals hinten zusammenzog und Tränen in ihre Augen drückten. Am liebsten wäre sie nach draußen gestürmt und hätte ihre Schwester geschlagen. An den Haaren gepackt, ihr Gesicht in den nächstbesten Spiegel geknallt und schau dich an gebrüllt. Mit der Spitze ihrer Flip-Flops schob Tessa vorsichtig die Scherben am Boden zusammen.

Als sie fünf Minuten später in den Wohnbereich zurückkam, war ihre Schwester nicht, wie sie gehofft hatte, samt Curt verschwunden. Sondern saß auf einem der cremeweißen Ledersofas, Sebastian gegenüber. Ihre weiße Bluse mit den Flatterärmeln war aufgeknöpft, die linke Brust hing heraus. Und an der linken Brust hing Curt.

»Hör sofort auf damit«, sagte Tessa und wunderte sich, wie ruhig sie klang.

Sebastian und Feli starrten sie beide an, Sebastian mit einem Blick, als habe sie soeben angekündigt, ihrem Neffen die Mutter rauben zu wollen.

»Tessa, du kannst doch nicht –«, setzte er an, aber Feli war schneller.

»Lass nur, meine Schwester war schon immer verklemmt, wenn’s um Titten ging«, sagte sie und streichelte ihrem Sohn über den Kopf.

Sebastian lag noch im Bett. Sie ließ ihn schlafen, schlüpfte in Sport-BH, Kapuzenjacke und Jogginghose, nahm die Autoschlüssel aus ihrer Handtasche und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage.

Außer ihrem schwarzen Cabrio stand dort nur der Jeep der Anwältin aus dem dritten Stock. Sebastian besaß weder Führerschein noch Wagen. Die Anwältin war Single. Und die restlichen Apartments in dem Gebäude standen leer. Die Jahre waren vorbei, in denen Luxuslofts verkauft waren, bevor die Fabrikmaschinen aus dem Gebäude geräumt werden konnten. Aus den jungen Millionären waren zu Beginn des dritten Jahrtausends junge Bankrotteure geworden. Die wenigen, die es selbst noch nicht erwischt hatte, blieben in ihren sanierten Altbau-Wohnungen hocken, die sie vor einigen Jahren mit dem ersten Geld gekauft hatten, und hofften, die wirtschaftliche Eiszeit dort überwintern zu können. Tessa wusste, dass sie Glück hatte. Der Friseur, zu dem sie jeden Donnerstag vor der Sendung ging, hatte ihr erst neulich erzählt, dass sie eine der letzten Kundinnen war, die noch jede Woche kamen.

Sie drückte die Fernbedienung. In der Garage war es so still, dass sie aus zehn Metern Entfernung hören konnte, wie sich die Schlösser in ihrem Mercedes entriegelten. Wäre das elektrische Rollgitter nicht gewesen, das die Außenwelt Außenwelt sein ließ, die Garage hätte im Stadtführer für Vergewaltiger drei Sterne verdient.

Tessa fuhr durch die sonntagmorgenleeren Straßen und genoss das Gefühl, allein zu sein. Es war kühl, aber der Himmel sehr blau, also öffnete sie das Verdeck und drehte die Stereoanlage auf.

Gouchie, Gouchie, ya ya dada!

Die vier Tage waren noch nicht ganz herum. Aber aus irgendeinem Grund, der mit dem blauen Himmel, der kühlen Morgenluft oder der Sonntagsstille zu tun haben mochte, war sie sicher, dass sie keine Candida mehr bekommen würde. Während sie im Handschuhfach nach einer Sonnenbrille kramte, erschien ihr der Gedanke, sie könnte sich mit einer Krankheit infizieren, die Carola ihr an den Hals wünschte, nur noch lächerlich.

Tessa parkte den Wagen in der Straße, die südlich am Park entlangführte, schlug sich durch die drei Haselbüsche, durch die sie sich immer schlug – seit einigen Wochen bildete sie sich ein, die Spuren davon zu sehen –, und trabte los. Der vordere Teil des Parks war so zivilisiert, wie es sich für einen großen Park im Zentrum einer großen Stadt gehörte. Es gab Ententeiche und Blumenbeete und Liegewiesen und Getränkebuden. In ein paar Stunden würden die Familien herkommen, um Ball zu spielen, ein letztes Mal in der Sonne zu liegen und hinter ihren Kindern herzubrüllen. Noch war der Park verlassen. Auf dem Weg am anderen Ende der Liegewiese sah Tessa einen zweiten Jogger traben. Sie kam nur morgens in den Park. Früher war sie manchmal auch nachmittags oder abends hier gelaufen. Bis die Geschichte mit der dicken Frau und den dicken Töchtern passierte. Ein vielleicht zehnjähriges, fettes Mädchen war hinter ihr hergerannt. Frau Simon, hatte es gerufen, meine Mutter will ein Foto machen! Und Tessa war stehen geblieben und hatte nicht gewusst, ob sie die Sonnenbrille abnehmen sollte oder nicht. Und dann kam auch schon die Mutter herangeschnauft. Das ist aber ein Glück, dass meine Jutta Sie noch erwischt hat. Das hab ich mir schon gedacht, dass Sie eine Sportliche sind