Ultima Ratio - Thea Dorn - E-Book

Ultima Ratio E-Book

Thea Dorn

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  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Die Wirklichkeit ist grausam genug, finden Sie? Weit gefehlt! Die Phantasie kann noch viel grausamer sein. Jedenfalls die von Thea Dorn, der »besten jungen Krimiautorin Deutschlands« (Buch aktuell). »Ultima Ratio« versammelt ihre Krimi-Kurzgeschichten, die dem Leser Mord und Totschlag in geballter Form präsentieren, und das in der bewährten Dornschen Manier: klug, witzig und rasiermesserscharf ...

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Seitenzahl: 140

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Buch

Die Wirklichkeit ist grausam genug, finden Sie? Weit gefehlt! Die Fantasie kann noch viel grausamer sein. Jedenfalls die von Thea Dorn, der »besten jungen Krimiautorin Deutschlands« (Buch aktuell). »Ultima Ratio« versammelt ihre Kolumnen und Krimi-Kurzgeschichten, die dem Leser Mord und Totschlag in geballter Form präsentieren, und das in der bewährten Dornschen Manier: Klug, witzig, sezierend …

Autorin

Thea Dorn, geboren 1970 bei Frankfurt am Main, machte eine Ausbildung in klassischem Gesang und wäre beinahe Opernsängerin geworden. Sie wandte sich dann jedoch dem Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft in Frankfurt, Wien und an der Freien Universität Berlin zu, wo sie als Dozentin für Philosophie tätig war. Schon mit 24 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Berliner Aufklärung«, für den sie den Raymond-Chandler-Preis erhielt. Es folgten »Ringkampf« und das Theaterstück »Marleni«. Für ihren dritten Roman, den Bestseller »Die Hirnkönigin«, wurde sie mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Auch »Die Brut«, ihr jüngstes Werk, wurde von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen. Seit kurzem moderiert sie für den SWR die Fernsehsendung »Schümer und Dorn – der Büchertalk«. Thea Dorn lebt als freie Autorin in Berlin.

Von Thea Dorn außerdem als Goldmann Taschenbuchlieferbar:

Berliner Aufklärung. Roman (45315) Ringkampf. Roman (45404) Die Hirnkönigin. Roman (44853)

Als gebundene Ausgabe im Manhattan Verlag:Die Brut. Roman (54566)

Inhaltsverzeichnis

AutorinULTIMA RATIODIE ÜBERWINDUNG: Frau Dorn schreibt einen offenen Brief an »Hannibal the Cannibal«VERSTRICKTDIE PILOTIN: Frau Dorn versucht zu fliegenGELIEBTE GATTINOTHELLA KANN NICHT PLATZEN: Frau Dorn wundert sich über Frauenherzen und MännermordeDIE WELT ALS WILLE UND AUSSTELLUNGDIE SCHWARZEN ENGEL: Frau Dorn sucht den Verbrecher des MonatsVENUS MIT HUND: PrologSICHELN UND WÜRGEN: Frau Dorn entdeckt die Familie als Hort des VerbrechensDAS GOLDENE VLIESDEUTSCHLAND, LEICHE, MUTTER: Frau Dorn wirft einen Blick in die Abgründe der deutschen SeeleVORSICHT STEINSCHLAG!FUN & FUNDAMENTALISMUS: Frau Dorn sorgt sich um die Zukunft des VerbrechensQUELLENCopyright

ULTIMA RATIO

1

Am Morgen des siebzehnten November 1997 beschloss Professor Penelope Kura die Auslöschung des Philosophischen Instituts der Freien Universität Berlin.

Der Gedanke war einfach, plausibel und konsistent, war unmissverständlich und sparsam formuliert, kurz: Er besaß alle Merkmale eines guten philosophischen Gedankens. Darüber hinaus besaß er eine Eigenschaft, an der es guten philosophischen Gedanken im Allgemeinen mangelte: motivierende Kraft.

Penelope Kura spürte, wie ihr Körper unter dem plötzlich ausgeschütteten Adrenalin zu vibrieren begann. Ihr Herz stampfte. Ihre Hände scharrten auf dem Federbett. Wie lange war es her, dass sie eine solche Erregung verspürt hatte. Eine Erregung durch den Gedanken. Die Königin aller Erregungen.

Ohne es zu merken, war sie aufgestanden. Der Gedanke trieb sie vor sich her wie ein gefangenes Tier. Sieben Schritte hin. Drehung. Sieben Schritte zurück. Ausgelöscht waren die dumpfen Lehrstuhljahre, in denen ihr Halbschlaf keine Geistesblitze, sondern nur mehr Tiefschlaf geboren hatte. Sieben Schritte. Sieben Schritte. Alles war wie früher, als sie noch nicht in die akademische Falle getappt war. Blind folgten ihre Füße dem ausgetretenen Sinnierpfad im Teppichboden.

Penelope Kura atmete die Stille und Dunkelheit, die sie umgaben. Mochte die Eule der Minerva ihren Flug mit der Dämmerung beginnen – Penelope Kuras Geist erhob sich erst in absoluter Finsternis. Deshalb hatte sie die Wände dieses Raumes schalldicht isolieren und alle Fenster zumauern lassen. Und heute, am Morgen des siebzehnten November 1997, vier Jahre nach ihrer Antrittsvorlesung, fünf Monate vor ihrem siebenunddreißigsten Geburtstag – noch immer durfte sie sich jüngste Philosophieprofessorin der deutschsprachigen Welt nennen – war ihr Heiligtum endlich wieder seiner Bestimmung zugeführt worden: Der Schlafbunker diente der Konzentration.

Penelope Kura blieb stehen und lauschte. Irgendwo in ihrem Innern, von Blutrauschen, Herzstampfen und Brustflattern fast gänzlich überlagert, vernahm sie noch etwas anderes: ein Stimmchen, ein wohl vertrautes Stimmchen. Die Professorin lächelte. Der Aufruhr der Körpersäfte hatte die Moralphilosophin mitgeweckt. Zwar klang sie noch vorsichtig und ein wenig heiser, doch es bestand kein Zweifel: Die Stimme, die früher mit ihr – bevor sie von ihr ans Katheder geliefert worden war – nächtelang hitzig gestritten hatte, rührte sich wieder. Penelope Kura hielt die Luft an, um besser zu verstehen.

»Dein Gedanke ist gut«, wisperte die Stimme, »aber ist er auch gut?«

»Was meinst du mit gut? Inwiefern gut? Erkläre dich«, hakte Penelope Kura nach, bevor es sich die Stimme anders überlegte. Sie hatte plötzlich wieder Lust auf das alte philosophische Spiel, Begriffe so lange hin- und zurückzureichen, bis ihre Prägung einer restlos glatten Oberfläche gewichen war.

»Stell dich nicht dümmer, als du bist«, gab die Stimme ungeduldig zurück, »du weißt schon – moralisch gut, absolut gut, gut schlechthin.«

»Ach so«, sagte Penelope Kura und überlegte kurz. »Nach welcher Methode hättest du’s denn gern geprüft? « Ein Hauch von Boshaftigkeit lag in ihrer Stimme.

»Kant«, flüsterte die Moralphilosophin leise, aber entschlossen. Penelope Kura lachte. Natürlich. Ein’ feste Burg ist unser Kant. Wer sonst in diesen hirnerweichten Zeiten.

»Welche Formel des Kategorischen Imperativs sollen wir nehmen, eins, eins a, zwei, drei, drei a?«, fragte Penelope Kura, ihrer Herausfordererin die Wahl der Waffen überlassend.

»Egal«, erwiderte die Stimme siegesgewiss.

»Also gut.« Penelope Kura brachte sich in Position. »En garde!«

»HandlenurnachderjenigenMaximevonderduzugleichwollenkannstdaßsieeinallgemeinesGesetzwerde«, rasselte die Moralphilosophin herunter, bevor die Gegnerin Zeit hatte, sich zu räuspern. In dem geräuschlosen Raum entstand eine perfekte Stille.

»Na los, was ist«, stichelte die Stimme, »verteidige dich und deine Maxime!«

»Kann wollen«, parierte Kura knapp.

»Was soll das heißen?«

Die Professorin spürte, wie ihr autopädagogischer Eros nachzulassen begann. »Kann wollen soll heißen, dass ich wollen kann, dass meine Maxime ein allgemeines Gesetz werde.«

»Kannst du eben nicht«, krähte die Stimme triumphal. »Kannst du eben nicht! Ein solcher Wille würde sich selbst widersprechen!«

»Schön, dass du deinen Kant so brav gelernt hast«, sagte Penelope Kura, »aber denk doch in Zukunft bitte dreißig Sekunden nach, bevor du mir irgendwelche Königsberger Kamellen ins Gesicht spuckst. – Hier widerspricht sich gar nichts. Und am allerwenigsten mein Wille.«

Dem Stimmchen entwich ein hohler Schmerzenslaut. »Ist es etwa kein Widerspruch, Philosophin sein zu wollen und gleichzeitig Philosophische Institute auslöschen zu wollen«, vermochte es noch zu fragen, dann schwanden ihm die Sinne.

»Nein, nicht der geringste Widerspruch«, sagte Penelope Kura lächelnd und stieß ihr moralphilosophisches Selbst in die ewige Hölle der Inkonsistenzen, Kontradiktionen und ausgeschlossenen Dritten.

»Frau Kollegin, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber ich kann hier nicht länger schweigend zuhören.« Professor Friedrich Warburg stieß zitternd die Luft aus. »Es ist ein absoluter Skandal, was in diesem Papier steht. Ein Abbau von vier weiteren Professuren bis zum Jahr 2007! Unser neuer Strukturplan sieht doch ohnehin nur noch das Skelett eines Lehrkörpers vor. Wie können wir denn da vier weitere Stellen kürzen!« Die weißen Haare standen um Warburgs Kopf herum wie nach einem Elektroschock. »Wenn der Präsident dieser Universität wirklich meint, was er dort schreibt, dann soll er das Institut gleich schließen. Anstatt verschlüsselte Todesurteile mit der Hauspost zu verschicken. « Der Grandseigneur des deutschen Idealismus lehnte sich auf seinem ramponierten Holzstuhl zurück.

Regen prasselte gegen die gläserne Außenwand des Sitzungsraums. Ein bitteres Lächeln zog über Friedrich Warburgs Gesicht. Vor fünfzehn Jahren hatte er seinen samtgepolsterten Münchner Lehrstuhl verlassen und war nach Berlin, in die Stadt seiner zerbombten Kindheit zurückgekehrt, um das im postmarxistischen Brackwasser dümpelnde Institut ins offene Meer des Geistes hinauszunavigieren. Berlin darf nicht untergehen, hatte er damals gedacht. Und die Politik hatte ihm Recht gegeben. Es war ihm sogar gelungen, als Berufungszusage ein neues Institutsgebäude auszuhandeln, und er selbst hatte das philosophische Bauwerk aus redlichem Waschbeton, subtilen Metallgeländern und luziden Glasflächen mit entworfen. Und nun?

Eine Windbö peitschte Wasser gegen die Scheiben. Friedrich Warburg lief es kalt den Rücken hinunter.

Im Sitzungssaal hatte sich weiträumiges Schweigen ausgebreitet. Die stellvertretende Direktorin, die in Abwesenheit Penelope Kuras den Institutsrat leiten musste, blickte abwechselnd von dem präsidialen Schreiben zu ihren versammelten Kollegen. Der Antikespezialist schwieg gelassen, der Ästhetiker hintersinnig, der Sprachanalytiker deutlich, der letzte Altmarxist trotzig, der Logiker und Wissenschaftstheoretiker schwieg sachlich, und Kuras Assistentin schien zu schlafen. Ein Wille zur Wortmeldung war auf keiner der Mienen zu erkennen. Einzig Ludger Spieß, Warburgs Assistent, knetete seine Unterlippe, angestrengt überlegend, wie er den Gedanken apportieren konnte, den sein Dienstherr in den Raum geworfen hatte.

Wie in den vergangenen Sitzungen war es einmal mehr der Logiker, der mit seinem Räuspern die Institutsratlosigkeit beendete. »Ich möchte Warburg in seinen Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft dieses Instituts nicht widersprechen«, sagte er, »ich denke, niemand in diesem Raum möchte dies – aber ich denke dennoch, dass wir uns hüten sollten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Nur weil wir uns an das Leben in fetten Zeiten gewöhnt haben, heißt das nicht, dass in mageren Zeiten ein Philosophisches Institut nicht sinnvoll weitergeführt werden kann.«

»Magere Zeiten«, höhnte der Altmarxist, »Herr Kollege, vielleicht sollten Sie einmal die Frage stellen, woher diese mageren Zeiten kommen, bevor Sie sich über rationale Mangelverwaltung Gedanken machen. « Er lachte nasal. »Und auch zu Warburg kann ich nur sagen: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Unipräsident noch die Kompetenz hat, Todesurteile zu fällen. Er hat vielleicht die Kompetenz, seinen Dienststempel drunterzusetzen. Aber gefällt werden diese Todesurteile doch woanders.«

»Ich glaube auch nicht, dass Friedrich Warburg sein Argument in dieser Weise verstanden haben wollte«, nutzte Ludger Spieß die Gunst der beginnenden Eskalation. »Bereits letztes Semester hat – «

»Herrschaften!« Der Logiker fuhr im ungehaltensten Proseminarton dazwischen. »Ich bin strikt dagegen, wieder eine dieser sinnlosen Grundsatzdebatten anzufangen. Ich plädiere dafür, dass Renate den Brief vom Präsidialamt zu Ende vorliest.«

Das beleidigte Schweigen der Debattierhähne und das zustimmende Gemurmel der restlichen Ratsmitglieder bewegten die Sitzungsleiterin, mit der Verkündigung der neuesten Hiobszahlen fortzufahren.

Friedrich Warburg starrte durch die wasserverhangenen Fenster ins Leere. Ein Windhauch streifte seinen Rücken. Er drehte sich um und konnte gerade noch erkennen, wie Sophie Ackbach, Penelope Kuras Assistentin, den Sitzungsraum verließ. Sein Herz krampfte sich zusammen.

Weiterhin überlegen wir uns nicht die Ziele, sondern das, was zu den Zielen führt. Penelope Kuras Auslöschungsplan war in die Phase der praktischen Überlegung eingetreten. Sie musste sich über das Wann, das Wo und das Wie ihres Vorhabens Klarheit verschaffen. Denn der Überlegende geht forschend und analysierend vor, wie wenn er eine geometrische Figur konstruierte. Stur folgten Penelope Kuras Füße dem Teppichpfad.

Über das Wo ihrer Handlung musste sie nicht lange nachdenken, es ergab sich aus dem Ziel Institutsauslöschung beinahe von selbst, doch das Wie und das Wann verweigerten sich der einfachen analytischen Ableitung. Abstrakt gesehen wäre ein Bombenattentat die plausibelste Lösung, aber Penelope Kura hatte Zweifel, ob ein Bombenattentat auch tatsächlich für sie, wenn sie ihre konkreten Mittel und Möglichkeiten erwog, der richtige Weg war. Ein Brandanschlag wäre leichter zu bewerkstelligen, hatte jedoch den Nachteil, dass zu viele, die dazugehörten, sich würden retten können. Was sie zum nächsten Problem brachte, der Frage nach dem für die Auslöschung günstigsten Zeitpunkt. Selbst wenn der monströse Brutkasten Teil ihres Albtraums war, konnte es nicht ihr vorrangiges Ziel sein, das Instituts gebäude zu vernichten. Sie musste ihre Aufmerksamkeit darauf richten, die Institutsmitglieder möglichst vollständig auszulöschen. Was wiederum bedeutete, dass sie einen Zeitpunkt wählen musste, zu dem alle Institutsmitglieder möglichst vollständig versammelt waren. Und bei welchen Gelegenheiten waren alle Institutsmitglieder möglichst vollständig versammelt? Penelope Kura spürte, wie ihr Hirn auf Autopilot umschaltete.

Es hatte zu regnen aufgehört, und durch das große Fenster zum Institutsgarten fielen ein paar Sonnenstrahlen. Doktor Sophie Ackbach gähnte im Zehnsekundentakt. Während sie den letzten braun-gelben Kastanienblättern beim Fallen zusah, fragte sie sich, ob heute vielleicht doch nur der zweitschrecklichste Tag in ihrem Leben werden würde. Novemberliche Sonnenstrahlen in Berlin – sie war fast geneigt, es als Gottesbeweis gelten zu lassen.

Lustlos blätterte die Assistentin in dem zerfledderten Reclamheft, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Die Bleistiftdichte, die in dem Text herrschte, nötigte ihr einigen Respekt vor ihrem früheren, präpromovierten Arbeitsethos ab. Allerdings hatte sie nicht die leiseste Ahnung, was ihr die winzig an den Rand gequetschten Anmerkungen sagen wollten.

Sie griff nach der Tasse, die auf dem Bücherstapel neben ihrem Schreibtisch stand, warf einen forschenden Blick hinein und dachte nach. Wenn sie sich recht erinnerte, stammte der Kaffeerest von letztem Freitag. Das hieß, der Schimmel hatte diesmal nur knappe drei Tage gebraucht, um sich zu einer blau-weiß-grünen Inselhochkultur zu entwickeln. Ein neuer Rekord. Sophie schwenkte die Tasse, bis das pelzige Atoll in der Brühe versunken war. Vielleicht sollte die Univerwaltung dieses merkwürdige Treibhaus den Botanikern oder Biochemikern als Versuchsgelände überlassen.

Sophie hatte gerade mit einem zarten Seitenrascheln begonnen, um ihre herumstreunenden Hirnzellen wieder zu John Stuart Mill und seinen Auslassungen über die Meinungsfreiheit zurückzulocken, als es an der Tür klopfte. Ein aufgebrachter Friedrich Warburg stürmte ins Zimmer.

»Sophie, hast du eine Idee, wo ich Penelope erreichen kann? Niemand in diesem ganzen verfluchten Institut scheint etwas von ihr gehört zu haben.«

»Hast du es schon bei ihr zu Hause probiert?«, schlug Sophie im teilnahmslosen Tonfall der Philosophin vor, die signalisieren wollte, dass ihr Geist zur Zeit in ganz anderen Dimensionen weilte. Sie wandte sich selbst wieder dem Text und Warburg den Rücken zu.

»Selbstverständlich«, antwortete er gereizt, »aber dort geht immer nur diese grässliche Maschine ran.« Er blickte auf die Assistentin wie Moses auf ein besonders ungezogenes Israelitenmädchen.

»Dann fürchte ich, kann ich dir auch nicht weiterhelfen. « Sophie zuckte schwach die Achseln. Sie stellte fest, dass die Mill-Lektüre unter den Augen ihres philosophischen Ziehvaters überraschend an Attraktivität gewann.

»Sophie, Sophie.« Friedrich Warburg schüttelte den Kopf. »Warum bist du nur immer so störrisch.« Der zürnende Moses hatte sich in einen traurigen Teddybär verwandelt.

Ich bin nicht störrisch, aber dieser beschissene Institutsrat hat mir schon genug Zeit geraubt. In einer Stunde fängt mein Seminar an, und ich habe noch keinen Strich dafür getan.«

Der Teddy heftete seine Knopfaugen auf Sophies Rücken. »Dieser Vortrag von Wendelstein, morgen. Ich soll – « Er schnaufte herzkrank und setzte noch einmal an. »Ich soll die Einleitung machen. Aber ich kann nicht. Ich kann diesen Mann hier nicht willkommen heißen.«

»Und warum hast du ihn dann eingeladen?«, erkundigte sich Sophie träge.

»Das weißt du ganz genau«, brauste Warburg auf, »ich habe ihn eingeladen, um dir einen Gefallen zu tun.« Er strich sich zitternd durch die Haare.

»Und dafür danke ich dir herzlich, aber würdest du mich jetzt, bitte, arbeiten lassen.«

Es gelang Friedrich Warburg, sich an der abgestorbenen Topfpflanze vorbei in Sophies Gesichtskreis zu schieben. »Sophie, so kann das nicht weitergehen.« Der nackte Stängel der ungegossen-ungeliebten Pflanze ragte wie eine überdimensionale Stimmgabel aus dem Hydrokulturtopf.

Friedrich Warburg zupfte gereizt an einer der beiden Zacken. »Und, Sophie, was ist das für eine Arbeitshaltung. Ich beobachte das schon seit längerem. Du nimmst deine Pflichten nicht mehr ernst. Als ich Assistent war, kam ich morgens ans Institut und war vorbereitet.«

Sophie zog scharf die Luft ein. Sie zwang sich, den alten Mann nicht anzuschauen. Seine Herzkranzgefäße hätten ihrem Blick nicht mehr standgehalten. »Wahrscheinlich warst du auch nicht die halbe Nacht damit beschäftigt, die Sauerei wegzuräumen, die ein versoffener alter Bock in deiner Wohnung angerichtet hat. Für den Fall, dass du dich nicht mehr erinnerst: Vor knapp zwölf Stunden hast du noch bei mir auf dem Teppich gehockt, mit Immanuels Katzenstreu rumgeworfen und dir deinen verdammten Philosophenfrust von der Seele gewichst.«

Penelope Kura musste unwillkürlich lächeln, als sie die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter zum zweiten Mal abhörte. Da war er. Die ganze Zeit, während sie sich in ihrem Schlafbunker die Fersen heiß gelaufen hatte, war er hier auf ihrem Anrufbeantworter gewesen. Der zweite Vordersatz des praktischen Syllogismus, der sie zum Wann ihrer Tat führen sollte.

Ihr Lächeln verdüsterte sich. Eigentlich hätte ihr dieser konkrete Termin selbst einfallen können. Hätte ihr einfallen müssen, nachdem sie den allgemeinen Zeitpunkt so klar bestimmt hatte. Es wurde höchste Zeit, dass sie zu ihrer alten Funktionalität zurückfand.

Sie ging ins Wohnzimmer zurück, um die Tasche zu holen, in die sie vorhin bereits alles Nötige gepackt hatte. Während sie im Flur die Stiefel anzog, prüfte sie ein letztes Mal, ob sie nichts vergessen hatte. Sie wusste das Was, sie wusste das Wann, sie wusste das Wie. Sie war sich über alle Wege und Mittel, Risiken und Konsequenzen im Klaren. – Sie hatte den äußersten Rand der Reflexion erreicht.

Die Aristotelische Handlungstheorie unerbittlich vollstreckend, nahm Penelope Kura den dunklen Kaschmirmantel von der Garderobe, griff nach den schwarzen Kalbslederhandschuhen, schulterte ihre Tasche und setzte die Sonnenbrille auf. Wenn es sich aber als möglich erweist, beginnt man zu handeln.

»Mensch, ja klar, Pragmatismus, hähä. Ich würd das anders nennen. ’ne ganz widerliche Konformistenkacke ist das, was du uns hier erzählen willst.« Der zottelige Wortführer bedachte den Zweitsemesterkommilitonen im ambitionierten Oxford-Blazer mit einem Blick, der noch nicht entschieden hatte, ob ihm der ideologische Delinquent überhaupt einen Funken Verachtung wert sein sollte. »Das, was die da durchziehen wollen, hat doch Methode, Mann. Die wollen die Geisteswissenschaften ausräuchern. Am liebsten nur noch Unis, die so nette kleine stromlinienförmige Jura- und BWL-Wichser produzieren. Weißt du, was ich hinter diesem ganzen Reformgefasel höre? Das Diktat der Wirtschaft, Mann, nix anderes. Kritische Uni – pfft.« Der Redner machte eine eindeutige Bewegung mit beiden Armen und gestrecktem Mittelfinger. Das studierwillige Zweitsemester machte sich kopfschüttelnd auf den Weg in die Bibliothek.

Angesichts des anhaltenden deutschen Bildungsausverkaufs hatte die Fachschaft Philosophie wieder