Berliner Aufklärung - Thea Dorn - E-Book

Berliner Aufklärung E-Book

Thea Dorn

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  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Alles beginnt mit einem Mord am philosophischen Institut der Universität Berlin: Der allseits unbeliebte Professor Rudolf Schreiner liegt sauber portioniert in den Postfächern seiner Kollegen. Als Rebecca Lux, die scharfzüngige Direktorin des Instituts, unter Mordverdacht gerät, ruft sie ihre ehemalige Studentin Anja Abakowitz zu Hilfe. Doch die will mit der Angelegenheit nichts zu tun haben. Erst als weiteres Denkerblut fließt, sieht sie sich gezwungen einzugreifen...

Von der Autorin des Bestsellers »Die Hirnkönigin«

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Seitenzahl: 199

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Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinERSTER TEIL
EIN FRAGMENTIERTES SELBSTGESCHWINDIGKEIT UND POLITIKKOMMUNIKATIVE KOMPETENZDIE TRÄNEN DES EROSEIGENNAMENGESETZESKRAFTDISKURSETHIKDAS KAPITALDIE RAUHEIT DER STIMMEIN DEN NETZEN DER LEBENSWELTTRANSZENDENZECCE HOMODIE GEBURT DER TRAGÖDIE
ZWEITER TEIL
OHNE LEITBILDFÜR-SICH-SEINPHILOSOPHISCHE BROCKENFÜR-ANDERE-SEINSTRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEITSPECULUM DE L’AUTRE FEMMEDIE TYRANNEI DER INTIMITÄTDER FEINE UNTERSCHIEDPLÖTZLICHKEITDIE KRANKHEIT ZUM TODEHORIZONTVERSCHMELZUNGMORGENRÖTEDER ZWANGLOSE ZWANG DES BESSEREN ARGUMENTSHOLZWEGELICHTUNGDAS ERHABENEILLUMINATIONENLETZTBEGRÜNDUNG
EPILOG - FAHREN, FAHREN, FAHRENDANKSAGUNGCopyright

Buch

Eines Morgens liegt der Berliner Philosophieprofessor Rudolf Schreiner sauber portioniert in den Institutspostfächern seiner Kollegen: zerlegt in 54 Teile und in Gefrierbeutel verpackt. Auf den Wänden der Poststelle steht mit blutigen Lettern geschrieben: »Schreiner ist tot. Die Wahrheit ist im Fragment«. Da der Nietzsche-Spezialist bei Kollegen wie Studenten höchst unbeliebt war, weint ihm keiner eine Träne nach. Nur die Institutsdirektorin Rebecca Lux beauftragt ihre ehemalige Studentin Anja Abakowitz, der Sache nachzugehen, denn sie wird von der Polizei des Mordes verdächtigt. Doch Anja zögert, denn als sie vor Jahren ihr Studium an den Nagel hängte, hatte sie sich eigentlich geschworen, nie wieder einen Fuß ins Philosophische Institut zu setzen. Sie hat sich längst von der Vorstellung, Philosophie und klares Denken hätten etwas miteinander zu tun, verabschiedet und statt dessen lieber im vornehmen Berliner Stadtteil Halensee eine »Philosophische Praxis für Lebensfragen« gegründet. Doch als sie Rebecca Lux erstochen an ihrem Schreibtisch findet, hat Anja keine Wahl mehr. Sie muß herausfinden, wer ihre ehemalige Dozentin auf dem Gewissen hat. Ihre Recherchen führen sie in die Abgründe, die hinter der scheinbar moralisch einwandfreien Gelehrsamkeit der Professorenschaft lauern – und in die Berliner Schwulenszene. Denn Rudolf Schreiner hatte sich nicht nur als Nietzsche-Spezialist einen Namen gemacht, sondern in einschlägigen Kreisen auch als »weicher Rudi« …

Autorin

Thea Dorn, geboren 1970, studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt, Wien und an der Freien Universität Berlin, wo sie Dozentin für Philosophie war. Schon mit vierundzwanzig Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Berliner Aufklärung«, für den sie den Raymond-Chandler-Preis erhielt. Es folgten ein weiterer Krimi und »Marleni«, ein Theaterstück über Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl, das 1999 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt wurde. Nach ihrem Roman »Die Hirnkönigin« machte sie mit ihrem neuesten Krimi »Die Brut« Furore, für den sie mit dem »Deutschen Krimipreis« ausgezeichnet wurde. Sie lebt als freie Autorin in Berlin.

Von Thea Dorn außerdem als Goldmann Taschenbuch lieferbar: Die Hirnkönigin. Roman (44853) Ringkampf. Roman (45404) Ultima Ratio (454115) Die Brut. Roman (gebunden, 54566)

ERSTER TEIL

EIN FRAGMENTIERTES SELBST

Es war kein schöner Mord. Aber ein echter. Die Möglichkeit, daß sich Professor Doktor Rudolf Schreiner selbst in vierundfünfzig Teile zerlegt, in Gefrierbeutel verpackt und gleichmäßig auf die vierundfünfzig Postfächer des Philosophischen Instituts an der Universität Berlin verteilt hatte, konnte ausgeschlossen werden. Auch ereigneten sich Unfälle dieser Art eher selten.

Die frühnachmittägliche Oktobersonne brach hinter Wolken hervor und tauchte den Postraum mit seinen offenen Fächern in staubiges Licht. Die roten, nach unten etwas ausgelaufenen Lettern, die sich quer über die beiden Glaswände des Raumes zogen, leuchteten auf. SCHREINER IST TOT. DIE WAHRHEIT IST IM FRAGMENT.

Anja Abakowitz trat einen Schritt von den Postfächern zurück. Sie hatte Schreiner nie ausstehen können, aber das hier fand sie nun doch ein bißchen übertrieben. Gleichwohl mußte sie zugeben, daß alles in allem der Anblick des fragmentierten Schreiner immer noch erträglicher war als der des lebenden.

Aus dem Postfach, in dem Schreiner sonst seine Korrespondenzen empfangen hatte, ragte eine speckige Hand, eingepackt in einen blutverschmierten, sorgfältig zugeknoteten Plastikbeutel. Ein klobiger Goldring am Ringfinger beseitigte letzte Zweifel an der Identität der Fleischteile – die »Kalte Platte« mit eingelegtem Brillanten war institutsbekannt.

Anja ließ ihren Blick langsam über die Postfächer gleiten: ein Fuß; die andere Hand; die linke Schädelhälfte mit Auge, abgetrennter Nasenwurzel und Ohr; noch ein Fuß; etwas, das ein Ellenbogen hätte sein können. Die anatomische Herkunft der meisten Beutelinhalte konnte Anja nicht klar ausmachen. In jedem Fall hatte der Mörder oder die Mörderin solide Arbeit geleistet, denn die Knochen, die sich in der blutig rohen Masse abzeichneten, zeigten so saubere Schnittflächen wie Knochen im Suppenfleisch. Leicht irritiert stellte Anja fest, daß sich keine Kleidungsfetzen unter dem Gemetzel befanden. Der Mörder schien ein gewissenhafter Mensch zu sein, wenn er im Moment der Zerlegung auch noch daran gedacht hatte, Schreiners Textilien zu schonen.

Anja wandte sich ab. Während sie in die fahle Herbstsonne blinzelte, fragte sie sich, ob es sich bei dieser Inszenierung um ein etwas überzogenes Anschauungsbeispiel für das philosophische Problem der Verteilungsgerechtigkeit handelte. Einige Institutsmitglieder hatten schon immer zu Überspanntheiten geneigt. Wie verteilte man aber einen Philosophieprofessor auf vierundfünfzig Mitarbeiterpostfächer so, daß die Verteilung gerecht war? Der monumentale Schreiner mochte sicher zwei Zentner gewogen haben. Das würde knappe zwei Kilo Schreiner pro Postfach bedeuten. Anja fand es allerdings fraglich, ob diese Art der Verteilung wirklich gerecht war, denn kam derjenige, der zwei Kilo von Schreiners Innereien oder ähnlichem erhielt, nicht besser weg als derjenige, der zwei Kilo Beinfleisch in der Post hatte? Wieviel Gramm Fuß würden Schreiners Hirn aufwiegen? Es gab auch die Möglichkeit, daß Schreiner gemäß den Bedürfnissen der Empfänger aufgeteilt worden war. Anja konnte sich kaum vorstellen, wie eine sinnvolle Verteilung in diesem Fall aussehen mochte. Ebenso erschien ihr eine Verteilung entsprechend der Verdienste der Empfänger schwierig. Sie kam zu dem Schluß, daß sich ein Professor nicht gerecht unter seinen Kollegen verteilen ließ. Vielleicht war das die philosophische Botschaft des Anschlags.

Ein kurzes, trockenes Klopfen an einer der Fensterscheiben holte Anja aus ihren Gedanken. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie über dem Kopiergerät ein Gesicht und zwei Hände, die sich an das Glas preßten. Beim zweiten Hinsehen erkannte Anja in dem zerstörten Antlitz mit den zotteligen rötlichen Haaren, zwei fehlenden Schneidezähnen und farblos wäßrigen Augen ihren ehemaligen Kommilitonen Fridtjof wieder. Er hatte ungefähr zur selben Zeit wie sie mit dem Philosophiestudium begonnen. Von Schreiner war ihm damals eine große Karriere prophezeit worden. Als Anja vor vier Jahren das Institut verlassen hatte, war bereits abzusehen gewesen, daß die Liebe zur Weisheit Fridtjof unglücklich machen würde. Die Dinge hatten ihre Erfüllung gefunden.

Anja schenkte ihren letzten Blick der in einem unteren Fach darniederliegenden Männlichkeit Schreiners, dann verließ sie den Postraum.

Der Weg ins obere Stockwerk führte durch ein geräumiges Foyer, über eine geschwungene Treppe mit anthrazit metallenem Geländer und schließlich über eine schmale Galerie. Anja hatte sich schon immer gefragt, wie es dieses Gebäude fertigbrachte, trotz der großen Glasflächen innen so düster zu wirken. Die Beleuchtung aus nackten Glühbirnen, die von Metallgittern nur spärlich bedeckt waren, verstärkte eher den Eindruck der Dunkelheit, als daß sie wirklich für Licht gesorgt hätte. Der Architekt mußte den Spruch, daß die Eule der Minerva ihren Flug erst mit der Dämmerung beginnt, wörtlich genommen haben.

Eigentlich hatte sich Anja geschworen, nie wieder ein Philosophisches Institut zu betreten, dieses nicht und auch kein anderes. Aber der Anruf, der sie heute morgen aus dem Bett geklingelt hatte, ließ sie ihrem guten Vorsatz untreu werden. Rebecca Lux, Direktorin dieser Anstalt, Spezialistin für antike Philosophie und Anjas ehemalige philosophische Lehrerin, hatte sie in einem keinen Widerspruch duldenden Tonfall gebeten, sofort herzukommen. Da Rebecca sehr wohl von Anjas Einstellungen hinsichtlich des Instituts wußte, war anzunehmen, daß etwas wirklich Schwerwiegendes geschehen sein mußte. Anja vermutete, das Schwerwiegende nun im Erdgeschoß gesehen zu haben, aber so richtig verstand sie nicht, was sie in dieser Angelegenheit sollte.

Anja wollte gerade an Rebeccas Zimmer anklopfen, als am anderen Ende der Galerie eine Tür aufflog. Heraus stürmte eine schlanke, blonde Frau in schwarzer Stretchhose und roter Bluse, mit einem großen Stapel Büchern unter dem Arm. Anja erkannte ihre feministische Erzfeindin früherer Tage sofort wieder. Soviel sie wußte, hatte Petra Uhse an diesem Institut inzwischen Karriere als Assistentin gemacht, ebenso wie Hugo Lévi-Brune, der nun in der Tür erschien. Sein altmodischer, großkarierter Anzug und die schwarze Lockenkrause seiner Halbglatze flatterten, als er Petra Uhse hinterhereilte. Diese erreichte die Treppe zum Foyer, ohne Anja zu beachten. Um ihre verkniffensinnlichen Lippen herum zuckte es. »Was soll das heißen, ›ich kann jetzt nicht kopieren‹? Ganz im Gegenteil – jetzt kann ich endlich in Ruhe kopieren.«

Hugo stolperte hinter Petra die Treppe hinunter. Sein Unterkiefer zitterte erregt. »Petra, du wirst doch nicht ich meine: äh Schreiner – er ist doch immer noch da – «

Die Angesprochene blieb abrupt stehen und drehte sich mit ausgestellter Hüfte um. »Ja und? Da in den Postfächern stört er mich weniger, als wenn er mit seinem Nietzsche-Quatsch stundenlang den Kopierer belegt. « Petras Lippen kräuselten sich verachtungsvoll lasziv. »Hast du dir eigentlich schon mal Gedanken darüber gemacht, wieso es immer die Formal-Logiker sind, die zu so einem irrationalen Pietätsgedusel neigen? «

Hugo führte ein stummes Mundballett auf, während Petra ihren Marsch zum Kopierer fortsetzte.

Da dies der Abgang der beiden zu sein schien, klopfte Anja nun an Rebeccas Tür und öffnete, ohne auf ein »Herein« zu warten. Rebecca Lux stand mit dem Gesicht zum Fenster. Einige verirrte Sonnenstrahlen umspielten die Silhouette der mittelgroßen, knochigen Gestalt im eleganten schwarzen Seidenanzug. Anja blieb in der Tür stehen. Der Seidenstoff um Rebeccas schmalen Rücken schimmerte matt. Anja war sich sicher, Rebecca niemals in einer anderen Kleidung gesehen zu haben. Diese schwarzen Anzüge strahlten dieselbe Strenge und Klarheit aus wie ein korrekter Syllogismus.

Anja sah wieder das Bild vor sich, als sie das erste Mal in Rebeccas Sprechstunde gekommen war. Die Professorin hatte so dagestanden wie jetzt, mit dem Rücken zur Tür, die linke Hand auf den Ebenholzstock mit Silberknauf gestützt, das seit Geburt leicht kürzere linke Bein nach hinten angewinkelt. Aber das erste Bild lag fast fünfzehn Jahre zurück, Rebeccas damals pechschwarze Haare waren silberweiß geworden. Anja riß sich von dem Anblick dieser Allegorie reiner Vernunft los und zog die Tür hinter sich mit einem leisen Knall zu. Rebecca Lux fuhr herum. »Ach, du bist es.«

»Hast du jemand anderen erwartet?« Anja ließ sich in einen der dunkelbraunen Institutssessel fallen. An einigen Kanten quoll aus dem zerschlissenen Stoff die Füllung hervor.

»Nein.« Rebecca ging leicht hinkend zu dem anderen Sessel und ließ sich umständlich nieder. Anja war fest davon überzeugt, daß Rebeccas Gehbehinderung mehr Teil ihrer Vorstellung von philosophischer Existenz denn wahrhaft anatomisches Leiden war. Rebecca zog eine Packung Roth-Händle aus ihrer Blazertasche, klopfte sich eine Zigarette heraus und hielt Anja die Schachtel hin.

»Du weißt doch, daß ich das Zeug nicht rauche.« Anja holte ihre eigene Packung Prince Denmark aus der Hosentasche. Rebecca zuckte mit der linken Schulter und zündete sich ihre Zigarette an. Eine Zeitlang qualmten beide schweigend. Außer dem Rauch, der langsam in Lungen gesogen und durch Nasenlöcher ausgestoßen wurde, um sich schließlich in kleinen Kringeln unter der Zimmerdecke aufzulösen, bewegte sich nichts.

Während sich Rebecca ihre zweite Zigarette ansteckte, drückte Anja die ihre energisch aus. »Hättest du nun vielleicht die Güte, mir zu verraten, wieso du mich herbestellt hast?«

Rebecca bewegte eine Weile stumm den Kopf, wobei sie gedankenverloren mit ihrem Stock auf den Boden klopfte. »Findest du die Sache mit Schreiner nicht wenigstens merkwürdig?«

Anja zupfte einige Hundehaare von ihrem schwarzen Ärmel. Sie konnten nur von Vico stammen, Rebeccas steinaltem Neufundländer. Anja fragte sich, wieso Rebecca ihn heute nicht mitgenommen hatte. Früher war er fast immer im Institut dabeigewesen. »Na ja. Hast du abgesehen von den Motiven, die hier jeder hat, jeden umzubringen – irgendeine Idee, was dahinterstecken könnte?«

Rebecca schwieg und blickte zum Fenster hinaus, nachdem sie abwesend in die volle Kaffeetasse geascht hatte, die auf dem niedrigen Resopaltischchen neben ihr stand. »Schreiner hatte in letzter Zeit eine Menge Ärger. Für Uhse war er ein chauvinistisches Arschloch, Lévi-Brune hielt ihn für einen Antisemiten, Wogner bezeichnete ihn als philosophisches Unglück, und die Studenten haben ihn auch mehr und mehr gehaßt.« Rebecca nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Vor einem halben Jahr gab es einen Skandal, in den Schreiner verwickelt war. Einer seiner Studenten hat über der Magisterarbeit Selbstmord begangen. Er wollte die Arbeit eigentlich bei mir schreiben, ich habe abgelehnt – irgend so ein Nietzsche-Thema. Vielleicht hätte Schreiner ihn besser auch abgelehnt.« Rebecca beugte sich vor und malte mit dem Stock unbestimmte Kreise auf den Teppichboden. »Ich glaube, seitdem hat keiner mehr bei Schreiner Magister gemacht, geschweige denn eine Promotion. Der einzige, der hier überhaupt noch mit ihm geredet hat, war Maier-Abendroth. «

Anja verzog das Gesicht. »Da sind ja die Richtigen zusammen. – Und du, wie war dein Verhältnis zu Schreiner?«

Rebecca zuckte die Schultern. »Das kannst du dir doch selbst denken.«

Anja verspürte den Anflug von Gereiztheit, die sie im Umgang mit Rebeccas herausfordernder Sprödigkeit nur zu gut kannte. »Verrätst du mir dann auch noch, warum du die Angelegenheit für so wichtig hältst, daß du mich mitten in der Nacht anrufst und hierherzitierst? Und erzähl’ mir bitte nicht, die Moralphilosophin in dir sei erschüttert.«

Ein entschiedenes Türklopfen ersparte Rebecca die Antwort. »Ja bitte?«

»Kriminalpolizei!«

Die Tür flog auf, und ein stämmiger Herr mit blondem Schnäuzer baute sich vor Rebecca und Anja auf. Ein weiterer Beamter flankierte ihn. »Frau Professor Lux? – Kriminalhauptkommissar Glombitza, Heinz Glombitza.« Er wandte sich zielsicher an Rebecca. »Sie sind die Direktorin des Instituts?«

Rebecca nickte.

»Ich muß Ihnen einige Fragen stellen. Unter vier Augen. « Der Kriminalhauptkommissar warf einen unfreundlichen Blick auf Anja. Diese verkniff sich die Frage, ob der kleine, grienende Beamte hinter ihm denn keine Augen hatte, und stand auf. Für einen Moment sah sie sich auf Rebecca zugehen und ihre Hand über deren Rücken streichen. Statt dessen wandte sie sich zur Tür. »Rebecca, wir telefonieren.«

Anja war froh, Rebecca den zwei Ordnungshütern allein überlassen zu können. Sie verstand immer noch nicht, weshalb sie sie ins Institut bestellt hatte.

Fridtjof kreiste gleich einem verirrten Planeten durchs Foyer, als Anja das Gebäude verließ. Sie war bereits ins Freie getreten und hatte einmal tief durchgeatmet, als sie hinter sich ein heiseres Flüstern hörte.

»Kehre um! Er wird uns alle holen!«

Anja roch den fauligen Atem, noch bevor sie sich umgedreht hatte. Fridtjof legte die Hand vor den Mund und neigte sich zu ihr hin. »Der Übermensch ist gekommen. « Die ausgefranste Lippe über der Zahnlücke verzog sich zu einem Grinsen.

»Ah ja?« Anja fragte sich, ob Fridtjof sie wiedererkannt hatte.

»Der Übermensch hat ihn vernichtet. Er wird uns alle vernichten. Mich, dich, alle hier.« Fridtjof richtete seinen Zeigefinger auf sich, dann drückte er ihn Anja auf die Stirn und ließ ihn schließlich in einem vagen Halbkreis über das Institut hinwegfahren. »Der Tag ist gekommen.«

Anja suchte in ihrer Jackentasche nach ein paar Groschen. Sie fand ein Markstück, das sie dem Instituts-Clochard in die Hand drückte. »Da, kauf dir davon ’nen Kaffee, bis es soweit ist.«

Fridtjof blickte befremdet auf die kleine silberne Metallmünze.

Die Irren hatte Anja schon immer als den besonderen Reiz des Instituts empfunden. Wenn diese im Foyer saßen, mußte sie stets an die Lobby eines Pharmakonzerns denken, der seine Nebenwirkungsgeschädigten zur Schau stellt. Doch seit heute war sich Anja nicht mehr so sicher, daß sich Neben- und Hauptwirkungen sauber trennen ließen.

GESCHWINDIGKEIT UND POLITIK

Ein Lächeln überzog Anjas Gesicht, als sie Hektor sah, der brav vor dem Institut auf sie wartete. Hektor war ein neun Monate alter, nachtblauer Mercedes Sechshundert SEL mit schwarzen Ledersitzen und Nußholzarmaturen. Anjas Eltern waren vor einem knappen Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und hatten der einzigen Tochter eine Erbschaft hinterlassen, die sich zwar als niedriger erwies, als diese gehofft hatte, aber immerhin groß genug für die Erfüllung ihres zärtlichsten Wunsches war. Als erste Amtshandlung nach Testamentsverlesung und einigen kleinen Rechenarbeiten hatte Anja also die Bestellung dieses Wunderautos mit Sitzheizung, Klimatisierungsautomatik, Doppelverglasung und Achtzehn-Loch-Leichtmetallfelgen aufgegeben. Mit dem restlichen Geld hatte sie ein spezielles Erbschaftskonto angelegt, das nun Hektor gehörte, und von dem er – wenn keine größeren Zwischenfälle passierten – die nächsten drei Jahre würde leben können. Schließlich war Hektor gar nicht so gefräßig, wie man ihm nachsagte. Bei seinem Gewicht von über zwei Tonnen fand Anja die zwanzig Liter »Super bleifrei«, die er im Stadtverkehr schluckte, eigentlich recht bescheiden. Dennoch: der Tag, ab dem Hektor ihr die Haare vom Kopf fressen würde, rückte näher.

Hektor startete mit sonorem Schnurren, offensichtlich dankbar, daß man ihn aus der peinlichen Nachbarschaft der drei grün-weiß gepinselten Polizei-Ladas befreite.

Der Verkehrsfunk meldete Stau auf allen Strecken. Anja überlegte, ob sie die nächste Stunde lieber in der Innenstadt oder auf der Stadtautobahn stehen würde. Sie entschied sich für letzteres. Stau auf der Autobahn war eine klare Sache.

Das Radio hatte nicht zuviel versprochen. Bereits auf der Autobahnauffahrt am Breitenbachplatz regte sich nichts mehr. Aber Anja hatte Zeit. Die notorische Party-Stimme des RTL-Moderators verriet ihr, daß es in Berlin und Brandenburg jetzt fünfzehn Uhr sei. Anja mußte erst um sechzehn Uhr in ihrer Praxis sein.

Nach zwanzig Semestern hatte sie die Hoffnung, daß Philosophie und klares Denken etwas miteinander zu tun hätten, endgültig fahrenlassen und ihr Studium an den Nagel gehängt. Ihrem ausgeprägten Sinn für Direktheit waren die geistigen Knoten, mit denen sich dieses Institut selbst fesselte, immer unerträglicher geworden. Da Anja nun aber nicht zu dem Genre Frau gehörte, das im Alter von dreißig, nach abgebrochenem Geisteswissenschaftsstudium, heiratete oder zur Fremdsprachensekretärin umschulte, hatte sie im vornehmen Berliner Stadtteil Halensee eine »Philosophische Praxis für Lebensfragen« gegründet. Das Geschäft lief zwar nicht gerade großartig, aber es gab doch einige reiche Sorgenkinder, auf die Anjas Werbespruch von der »diskursiven Verflüssigung Ihrer Lebensprobleme« tiefen Eindruck machte.

Im Radio lockte an diesem Tag zum zweiten Mal: Go west, life is peaceful there, go west, in the open air, go west, where the skies are blue, go west, this is what we gonna do. Wenn Anja sich auf der Straße umblickte, kam sie zu dem Entschluß, daß man diesen Song verbieten sollte. Es gab zu viele naive Skodas und Ladas, die dieses Lied auf dumme Gedanken brachte.

Anja lehnte sich in Hektors breitem Fahrersitz zurück. Im allgemeinen wunderte es sie ja nicht, daß an diesem Institut ein Mord begangen worden war, an diesem Institut, in dem man stundenlang darüber diskutieren konnte, ob Tod und Leben immer entgegengesetzt sein müssen. Ebenso wunderte sie es im besonderen nicht, daß es Schreiner erwischt hatte. Er und seine Nietzsche-Mannen hatten um sich schon immer die Aura des Katastrophischen verbreitet, wenn sie mit ihren vom »Oh-Mensch«-Gebrülle gezeichneten Mienen im Foyer herumstanden. So betrachtet konnte Schreiner mit seinem Abgang aus dem Diesseits zufrieden sein.

Gereiztes Hupen ließ Anja hochschrecken. Die Blechschlange vor ihr hatte sich symbolisch weiterbewegt. Anja tat dem Siebener BMW mit B-MW-Kennzeichen hinter ihr den Gefallen und parkte sich vier Meter weiter nach vorn. Autos mit Minderwertigkeitskomplex mußte man eben auch die eine oder andere kleine Freude im Leben gönnen.

Anja hielt es für möglich, daß einer der Institutsirren, die auf Schreiners Konto gingen, zurückgeschlagen hatte. Andererseits waren die meisten von ihnen bereits so verloren, daß sie nicht einmal mehr wußten, daß Schreiner sie auf dem Gewissen hatte. Außerdem wirkte die Aktion sorgfältig geplant und präzise ausgeführt.

Somit war es vielleicht doch ein ordentliches Institutsmitglied gewesen. Wenngleich Petra Uhse sich keinen Zwang angetan hatte, ihrer Genugtuung über Schreiners Tod Ausdruck zu verleihen, glaubte Anja nicht, daß sie Schreiner zerstückelt hatte: Petra Uhse war nicht die Frau, die konsequent den Schritt vom Schreibtisch zur Kettensäge vollzog.

Hugo Lévi-Brune dagegen schien rührend besorgt, des toten Schreiners Pietät zu wahren. Das mußte nicht unbedingt im Widerspruch dazu stehen, daß Rebecca erzählt hatte, Hugo habe Schreiner für einen ewigen Antisemiten gehalten. Hugo fehlte in Situationen wie der heutigen die Kraft, seine eigentlichen Positionen zu behaupten.

Blieb noch Hinrich Wogner. Er hatte Schreiner schon immer aus seinem ganzen tiefen Herzen verachtet. Für den feingliedrigen Musik-Ästhetiker mußte allein die physische Präsenz des dröhnenden Fleischgebirges eine Qual gewesen sein. Ganz zu schweigen von Schreiners philosophischen Kraftmeiereien, die die Kehrseite seines Welthasses gewesen waren und Wogner regelmäßig zum Erblassen gebracht hatten.

If we took a holiday’ yeah, took some time to celebrate, just one day out of life, it would be, it would be so nice. Anja drehte das Radio leiser. Beim Blick auf den Kilometerstand fiel ihr ein, daß Hektor einen Ölwechsel brauchte.

Sie spürte, daß ihr der Institutsaufenthalt nicht bekommen war. Nicht einmal Hektor gelang es heute, ihre Hirntätigkeit mit seinem vornehm gedämpften Zwölf-Zylinder-Stampfen in Gleichmaß zu bringen. Eigentlich sollte sie sich seit einer Viertelstunde auf die Lebensprobleme Hildegard Kloppenbrinks, ihrer besten – und im Moment auch einzigen – Kundin, einstimmen. Aber – so what.

Der gealterte Intellektuellen-Yuppie Willi Maier-Abendroth war bis zuletzt Schreiners philosophischer Stammtischbruder geblieben. Die beiden hatten sich schon zu Anjas Zeiten bestens verstanden und mit ihrem bevorzugt männlichen Studentenkreis gemeinsame Heidegger-Wochenend-Seminare veranstaltet. Anja hätte zwar vermutet, daß Maier-Abendroths jüngste, sehr weltzugewandte Politikambitionen ein Grund gewesen wären, ihn und den hauptberuflich an der Welt leidenden Schreiner zu entzweien, aber richtige Männerfreundschaften waren über solch kleine Differenzen wohl erhaben.

Im Seitenspiegel verfolgte Anja, wie sich der BMW mittlerweile auf der linken Spur an Hektor heranarbeitete.

Sie verstand immer weniger, wieso Rebecca sie zu sich bestellt hatte. Viel verraten hatte sie ihr nicht, einen triftigen Grund schien es also nicht zu geben. Andererseits wäre es heute das erste Mal gewesen, daß Rebecca einfach nur so nach ihr verlangt hätte. Daß ausgerechnet Schreiners Tod einen derartigen Schwächeanfall bei der einzigen nüchtern denkenden Person an diesem Institut verursacht haben sollte, konnte Anja kaum glauben. Außerdem hatte ihre alte Freundin vorhin nicht besonders anlehnungsbedürftig gewirkt, eher noch unnahbarer als sonst. Anja wußte jedoch, daß es gerade das war, was sie immer noch an Rebecca fesselte. Seitdem sie die Professorin das erste Mal gesehen hatte, kannte sie die verbotene Lust auf ein intelligibles Wesen.

Der Rundfunk-Moderator verkündete die Uhrzeit in dem Tonfall, mit dem man ganz persönliche Geschenke überreicht: fünfzehn Uhr zweiundvierzig. Erschrocken stellte Anja fest, daß sie noch im Privatoutfit, bestehend aus Lederjacke, Jeans und Cowboystiefeln, war. Sollte sie der gediegenen Hildegard Kloppenbrink jemals so über den Weg laufen, wäre sie vermutlich auch ihre letzte Kundin los. Also griff Anja hinter den Fahrersitz, wo ihre Berufskleidung – ein dezent teures Seidenkostüm mit passender Bluse – über einem Bügel wartete. Anja schälte sich aus ihren Stiefeln und Hosen. Aus dem BMW heraus, der sich inzwischen auf Schnauzenlänge mit Hektor befand, wurden ihre Verrenkungen betont unauffällig verfolgt. Anja stellte das Radio wieder lauter: All I want is a little reaction, just enough to tip the scales, I’m just using my female attraction on a typical male.

Anja warf ihre Jeans auf den Rücksitz und schlängelte sich in den knielangen Rock. Auf dem Fahrersitz des BMW ruckte es. Anja überlegte, daß sie Hektor vielleicht nicht nur mit einem Rollo für das Heckfenster, sondern auch noch mit einem für die Frontscheibe und Gardinen hätte ausstatten lassen sollen. Andererseits hatte so ein improvisierter Striptease montags nachmittags auf der Stadtautobahn auch seine Reize. Anja räkelte sich genüßlich aus ihrem schwarzen Wollpulli und warf ihn mit gespreizten Fingern ebenfalls auf die Rückbank. Auf der Straße rührte sich gerade gar nichts, so daß die Chance, einen kleinen BMW-Auffahrunfall zu provozieren, leider gering war. Nachdem Anja noch eine Weile so getan hatte, als ob sie ihr Oberteil nicht finden könnte, vervollständigte sie ihre Garderobe mit Bluse, Blazer und High Heels. Zum Abschluß steckte sie ihren Haarwust hoch und zückte einen knallroten Lippenstift, der sich mit ihrer neuen Haarfarbe »Rubin« gerade um die Nuance biß, daß es pikant aussah. Im Rückspiegel betrachtete sie ihr Werk. Sie war zufrieden mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, aus dem zwei dunkle Augen, eine markant gebogene Nase und der signalrote Mund hervorstachen. Jetzt fehlte nur noch die schmale schwarze Kastenbrille mit Fensterglas. Anja fand, daß erst sie ihr den nötigen seriösen Touch verlieh.

Langsam näherte sich Anja der akuten Stauursache, die, mit dem Autofahrer-Unfähigkeitsfaktor multipliziert, die fünf Kilometer lange Blechschlange produziert hatte. In Situationen wie dieser war Anja froh, daß sie schon länger zu der goldenen Berlin-Überlebensregel gefunden hatte: Niemals wundern oder ärgern! Laut Warnschild würde sich in fünfhundert Metern die Stadtautobahn von drei Spuren auf eine einzige verjüngen. Das Wochenende war vorbei, und sicherlich mußte wieder einmal dringend nachgesehen werden, ob unter dem Asphalt noch alles in Ordnung war.