Die Unglückseligen - Thea Dorn - E-Book

Die Unglückseligen E-Book

Thea Dorn

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Beschreibung

Der große Roman über die Sehnsucht nach Unsterblichkeit

In der amerikanischen Kleinstadt Dark Harbor treffen im Supermarkt aufeinander: Johanna Mawet, Molekularbiologin aus Deutschland, die darum ringt, durch genetische Manipulationen den unsterblichen Menschen zu erschaffen, und Johann Wilhelm Ritter, 1776 geborener Romantiker und Physiker, der sich danach sehnt, endlich in Frieden sterben zu dürfen.

Vor dem Hintergrund der heutigen technologischen Möglichkeiten erzählt Thea Dorn von den alten Menschheitsfragen, dem Sinn von Leben und Tod. »Die Unglückseligen« ist ein nachdenklicher Wissenschaftsroman, eine anrührende Liebesgeschichte und großes Welttheater in der langen Tradition des Fauststoffs.

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Seitenzahl: 762

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DAS BUCH

Die Molekularbiologin Johanna Mawet verfolgt kein geringeres Ziel als die Abschaffung der Sterblichkeit. Während eines Forschungsaufenthalts in den USA begegnet sie einem leicht verkommenen Herrn undefinierbaren Alters, der glaubt, in Johanna den Teufel zu erkennen. Trotz dieses heiklen Beginns kommt sich das ungleiche Paar bald näher, und Johanna muss begreifen, dass sie es mit Johann Wilhelm Ritter zu tun hat, einem Physiker aus der Goethezeit, der 1776 in Schlesien geboren wurde. Kann er ihr helfen, das Geheimnis des ewigen Lebens zu ergründen? Und wer verbirgt sich hinter der altertümlich anmutenden Erzählstimme, die Johanna und Ritter bei ihrem Kampf um letzte Wahrheiten so leidenschaftlich anfeuert? Hat am Ende doch der Teufel seine Finger im Spiel?

Thea Dorn nimmt den Leser mit auf eine literarische Entdeckungsreise von den Extremen heutiger Biomedizin zu den Untiefen einer romantischen Seele und erzählt so den alten deutschen Faustmythos aufs Neue.

DIE AUTORIN

Thea Dorn, geboren 1970, arbeitete als Dozentin für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und Sachbücher, darunter die Bestseller Die Hirnkönigin und zuletzt Die deutsche Seele (zusammen mit Richard Wagner). Sie schrieb Theaterstücke (Marleni, Bombsong) und Drehbücher. Der Film Männertreu, zu dem sie das Drehbuch geschrieben hat, wurde 2014 mit dem Deutschen Fernsehpreis als bester Fernsehfilm des Jahres und 2015 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Von 2004 bis 2013 moderierte sie die TV-Sendung Literatur im Foyer.

Thea Dorn

Die

Unglückseligen

Roman

KNAUS

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2016 Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Oliver Schmitt, Mainz

Umschlagmotiv: Death and the Maiden, © 2015 James C. Christensen.

All rights reserved. Licensed by The Greenwich Workshop, Inc.

ISBN 978-3-641-16585-7V001

www.knaus-verlag.de

Dem Andenken meiner Mutter

VORSPIEL

Dein verzweifelt Herz hat dir’s verscherzt. Da stehst du, armer Johann, in unwürdigstem Hemde und nennst noch immer dich Ritter. Die Brust, die einst die Welt umspannte, umschlottert wird sie nun von Vögeln, die mit Farben um die Wette kreischen. Der Blick, der in der Tiefe suchte, verliert sich in Regalen, Gängen, Neonlicht. Nach nichts als dem Unendlichen zu fassen, hattest du geschworen. Jetzt tappen deine Hände über Plunder hin – packen Plunder in Tüten, Tüten in Kisten, schleppen Kisten über den Asphalt. Wie Blei zieht dich der Satz hinunter, der deiner Jugend Auftrieb war: Nur dass Unsterbliches entstehe, darf Hand anlegen der Mensch. Fleiß auf das Vergängliche zu wenden, ziemt ihm nicht, und Schande bringt’s ihm, wenn er selbst es ist, der, was er schafft, mit eignem Zahn zernichtet.

Ach, Ritter. Sehnst dich nach dem Tod und fürchtest den Teufel.

Wenn ich die Angst dir nehmen könnte. Schließe die Augen und sei daheim. Lass deine Seele dich entführen nach dem verwunschnen Pfarrhaus hin. Im Garten sitze unterm Apfelbaum, das Buch im Schoß, das dich als Kind erregte wie nichts Zweites auf der Welt.

Karfunkel leuchtet in der Finsternis. Der Jaspis stillt das Blut. Der Sonnenwendstein blendet das Gesicht, und wer ihn trägt, wird unsichtbar. Der Luchsstein nimmt den Zauber von den Augen. Der Saugfisch hält die Schiffe an. Wer bei sich führt ein Rabenherz, der kann nicht schlafen. Des Wasserfrosches Zunge jedoch macht, dass er im tiefsten Schlafe spricht. Aus Mücken werden Krokodile, aus Krokodilen Elefanten, aus Elefanten Fledermäuse. Nimm einem unbegrabnen Krebs die Füße weg, und fliehen siehst du ein’ Skorpion. Zu Pulver stoße die gebratne Ente, und wenn dies Pulver du in Wasser wirfst, entsteht sogleich ein Frosch daraus. Wenn aber du in Mehl die Ente backst und schneidest sie in Stücke dann, die Stücke wiederum an einen unterird’schen Ort verbringst, so springen bald schon Kröten um dich her. Der Fuß des Pelikans nun gar! Gräbst du behutsam ihn in warmen Mist und wartest eine Monatsfrist, so hebt ein neuer Pelikan sein Haupt.

Zum Kirchlein strolchst du, das an des Gartens Vorderpforte liegt. Doch nicht hinein ins kühle, dunkle Schiff strebst du. Vor jenem sonnenwarmen Stein weilst du, der außen an der Mauer prangt und starr und immergleich tut kund, dass nahe hierbei sei gelegt ein Weizenkörnlein, welches ist: des Pastors Johann Wilhelm Ritter zweiter Sohn, der weinend nur das Jammertal betrat und dessen Seele nach zwei Tagen schon GOtt nahm dorthin, wo man in Freuden ewig lobet.

Ins Herz gemeißelt sind die Worte dir, denn nicht allein den Namenlosen kennt der Stein, von einem zweiten Bruder muss er künden, des ird’sche Hülle hier begraben liegt. Noch hallt sein Lachen dir im Ohr, das Lachen Friedrich Benjamins, des Lieblings mit der feinen Seele, der bald erst recht vollkommen ward, da GOtt durch einen Stöckfluss ihn im Alter von zwei Jahren, dreizehn Tagen zu sich nahm.

Die Hand bebt dir, als in den Hosensack du fasst, doch wie den Entenfuß du spürst, beruhigst du dich. Schwarz ist die Erde, die du wühlst, schwarz wie die Nacht und kühler als der Tod. Du weißt, dass nimmer sie gleichet dem Mist, wie nimmer die Ente gleichet dem Pelikan. Allein – was sollst du tun? Kein Pelikan nistet im heimischen Moor, und tauglicher wär’s ohnedies, derBrüder Füße zu haben. Was außer Knöchelchen aber möchtst du wohl finden, selbst wenn tiefer du grübest? Drum senkst du flugs, was du hast, in den Grund – und murmelst die magischen Worte: «A Morule, Taneha, Latisten! Rabur, Taneha, Latisten! Escha, Aladia, Alpha und Omega! Leyste, Oriston, Adonai! Himmlischer Vater, erbarme dich meiner, erweise an mir, deinem unwürd’gen Sohn, den Arm deiner Macht …»

Da betritt der Pastor, dein Vater, den Garten. Eilends verscharrst du den Fuß und klopfst dir den Schmutz von den Händen. Wissen will er, was du getrieben, und lügenlos gibst du die Antwort: «Für die Brüder hab ich gebetet.» Über den Kopf streicht er dir da – so freut es ihn, ohn’ das verbotene Buch dich  zu sehen, das längst in des Apfelbaums Kron’ du versteckt.

Ach, Ritter, warum nicht verweilst du in jenem Garten? In dem alles war eins: Himmel und Hölle, Erkenntnis und Zauber, Geister und Geist? Warum verlierst du den Glauben, dass deiner eignen Seele Flügel und keine verruchten Schwingen es waren, die nach Haus dich getragen?

Du fröstelst, als ginge ein Eiswind. Du schauderst – dein Leib bäumt sich auf. Ein zottiger Dämon ist’s plötzlich, der mit dir in die Lüfte sich hebt – ein Lindwurm mit dem Kopf eines Ochsen. Fester krallst du ins leibfarbene Haar dich, das dem Scheusal wächst zwischen den Ohren. Feuerströme entweichen den Flügeln, die scharf wie die Disteln im Felde. Ein Kuhschwanz peitscht hinter euch her. Schon ist das Pfarrhaus entschwunden – über endlose Wälder und Berge jagt ihr dahin. So kalt wird die Luft, dass du meinst, du erfrörest. So dünn wird der Äther, dass du meinst, du ersticktest. Doch dero Gräulichkeit will dich nicht morden, zum Mindsten nicht jetzt, schon setzt zum jähen Sturzflug ihr an. Äste und Zweige zerhaun dein Gesicht, du fürchtest den Aufprall, aber tief und tiefer geht es hinab, wie wenn allen Grund hätt verloren die Erde. Die Bestie schnaubt und schlägt mit dem Kopfe. Deinen Fingern entgleitet das struppige Fell, bis endlich du stürzt – sonder Maßen und Einhalt und Ziel.

Schrilles Gekreisch sprengt dir den Schädel, fauliger Pesthauch nimmt dir den Atem. Ist’s dennoch ein Engel, der zürnt? Warum sonst bedient er sich englischer Worte – geißelt den slacker, who’s not paid to dream?

Du öffnest die Augen und siehst einen Rachen – einen Rachen mit Lippen wie Blut und Zähnen wie Schlachtreihen. Flehentlich wandert dein Blick in die Höhe, doch auch dort schallen englische Stimmen! Die aber jubeln von discount und deal.

Huch! Verehrter Leser! Da sind Sie ja! Ich habe Sie gar nicht bemerkt, verzeihen Sie! Sie fassen dies Buch aber auch mit sehr spitzen Fingern an. Nun, ich kann’s Ihnen nicht verdenken.

Ach, das ärgert mich jetzt wirklich! Dass Sie mitten in diese Unerquicklichkeiten hineingeraten mussten! So gern hätte ich Ihnen unsern Ritter von Anfang an in voller Pracht gezeigt: kühn, unermüdlich, genial! Je nun. Die Geschichte ist, wie sie ist. Da sind auch mir die Hände gebunden. Aber eins darf ich Ihnen versichern: Nie und nimmer würde ich Ihnen diese traurige Gestalt zumuten, wäre ich nicht voll Zuversicht, dass sie den Harnisch ihrer Trostlosigkeit bald ablegen und sich in frisches, forsches Leben führen lassen wird!

Wo wir gerade noch in den Präliminarien stecken – gestatten Sie mir eine Bemerkung in eigener Sache: Vergessen Sie bitte alles, was Sie über mich zu wissen glauben. Alles. Ich bin nichts als ein armer Teufel, der an der Menschheit einen Narren gefressen hat. So leidenschaftlich wie am ersten Tage feuere ich jeden an, der den Schicksalswagen besteigt und furchtlos nach den Zügeln greift. Nur erwarten Sie nicht, mich auf einem der Rösser zu sehen, die jenen Schicksalswagen ziehen. Mein Platz ist am Wegesrand. Und nicht etwa als Wegelagerer lungere ich dort herum, lauernd, dass die Achse bricht, um in schäbiges Gelächter auszubrechen – nein, der bescheidene Logenplatz ist’s, den die Geschichte mir zugewiesen hat, und den ich herzlich gern annehme. Da sitze ich also und schaue und lausche und bezeuge. Mein einziger Triumph: Ihr Stolz!

Verehrter Leser, wenn Sie wüssten, wie stolz unser Ritter einst gewesen ist! Hätten Sie wie ich das ursprüngliche Feuer gesehen, das in seinen Augen gelodert – weinen würden Sie angesichts der Ruine, die jetzt vor Ihnen glost.

Doch Rettung naht, ich seh’s! Ein Wesen, so zäh wie zart, so stur wie blond, kommt über den Ozean geeilt, unsern Ritter aus seiner Verdumpfung zu reißen. Noch weiß sie nichts von ihm, noch weiß er nichts von ihr, doch bald, bald, ich spüre es, werden sich die Bahnen dieser Kometen kreuzen. Und dann – dann Gnade GOtt!!

EINS

I

Johanna starrte den Mann an, der sie anstarrte. Einen Herzschlag. Zwei Herzschläge. Drei Herzschläge. Und noch immer kein Wimpernschlag. Was war los mit dem Kerl?

Auch wenn er sie normal angeschaut hätte: Dieses Gesicht war das merkwürdigste, das sie je gesehen hatte. Zumindest in echt. Allenfalls auf uralten, braunstichigen Photos – nein, nicht einmal dort –, in Gemäldegalerien, Abteilung finsterste Ölschinken, mochte ihr so ein Gesicht begegnet sein. Solche Gesichter wurden heutzutage nicht mehr gemacht.

Die schwarzen Augen unter den ebenso schwarzen Brauen starrten sie unverändert an, als wären sie ausschließlich zum Starren gemacht. Die breitflügelige Nase dagegen sah aus, als wollte sie jeden Moment davonfliegen. Was wiederum den beiden Magenfalten den Anschein verlieh, als dienten sie einzig dem Zweck, die Nase an den Mundwinkeln zu verzurren. Der eigentliche Mund war schwierig zu deuten: Dünn und streng lagen die Lippen aufeinander, an den Rändern jedoch strebten sie – unfreiwillig? – nach oben.

Je länger Johanna dieses Gesicht betrachtete, desto stärker wurde ihr Eindruck, dass sie es mit einem Vexierbild zu tun hatte. Ebenso wie es aussichtslos war zu entscheiden, ob dieser Mann der Inbegriff von Verbitterung oder der Inbegriff von Verschmitztheit war, war es aussichtslos, sein genaues Alter zu schätzen.

In der schwarzen Lockenmähne, die im Nacken schlampig zusammengebunden war, konnte Johanna nicht das geringste Grau entdecken. Die dürren Arme, die aus dem viel zu weiten und zum Fürchten bunten Hawaiihemd ragten, waren jedoch von einem schütteren weißen Flaum bedeckt.

War also das Kopfhaar gefärbt? Oder gab es hier in Amerika mittlerweile Menschen, die so verrückt waren, dass sie sich die Armhaare bleichen ließen? Falls es eine Krankheit gab, eine genetische Abweichung, die dafür sorgte, dass bei einem Menschen die Körperbehaarung vergreiste, bevor er auf dem Kopf das erste graue Haar bekam, hatte Johanna jedenfalls noch nie davon gehört. Und wem, wenn nicht ihr, hätte eine solche Abweichung bekannt sein müssen.

Johannas wohltrainiertes Gespür für Alter sagte ihr, dass sie es mit einem Mann jenseits der Sechzig zu tun haben musste. Auch wenn das Gesicht, abgesehen von den Magenfalten, beneidenswert glatt war. Vermutlich geliftet. Einem Senior, der keine Skrupel kannte, mit pechschwarz gefärbtem Pferdeschwanz und knallbunten Papageien auf der Brust herumzulaufen, war alles zuzutrauen. Vielleicht stand er deshalb im Supermarkt an der Kasse und packte Tüten: um seine schmale Rente so aufzubessern, dass sie für die umfangreichen Instandhaltungsmaßnahmen reichte.

Kaum hatte Johanna den gehässigen Gedanken gedacht, bereute sie ihn schon. Welche Lebensumstände auch immer diesen verwitterten Jüngling dazu brachten, sich als bagger, als letztes Glied einer ohnehin schon demütigenden Dienstleistungskette, zu verdingen – mit Eitelkeit dürften sie wenig zu tun haben. Und noch etwas ging ihr durch den Kopf: Nur eine winzige Vokalrochade war nötig, und schon wurde der bagger zum beggar – zum Bettler.

Jetzt erst entdeckte Johanna, dass die braune Papiertüte, die der Mann so fest an sich gedrückt hielt, als wollte er sie um jeden Preis verteidigen, in seinen Händen zitterte. Und im selben Moment begriff sie, warum er in eine derartige Schreckstarre verfallen war: Weil sie ihn ermahnt hatte, ihre Einkäufe doch bitte nicht in Papiertüten, sondern lieber in Plastiktüten zu verpacken.

Obwohl, was hieß da «ermahnt»?

«Excuse me!», hatte sie gesagt und vermutlich sogar noch ein «Sir» hintendrangehängt. «Excuse me, Sir! I would prefer plastic bags.»

Das war doch eindeutig höflich. Und überhaupt – wenn der Kerl so empfindlich war und keine Kritik vertrug: Warum hatte er dann, statt «paper or plastic?» zu fragen, wie es sich gehörte, eigenmächtig entschieden, dass sie paper wollte? Bloß weil sie darauf verzichtete, ihren Einkaufswagen bis obenhin mit Zeug vollzuladen, bei dem es sich in Wahrheit nicht um Lebensmittel, sondern um Lebensverkürzungsmittel handelte, hieß das noch lange nicht, dass sie ein Öko war. Sie wusste einfach nur, was dieser Mist im Organismus anrichtete: Er verwandelte Blut in Sirup und sorgte dafür, dass die Gefäße, die diesen Sirup transportieren mussten, schneller verkalkten als eine Waschmaschine, die ans Wassersystem einer Tropfsteinhöhle angeschlossen war. Anstelle des aufgekratzten Lautsprechergedudels und der farbenfrohen Werbebanner sollten an diesen Umschlagplätzen des Todes Choräle erklingen und Traueranzeigen hängen: ARIEL JOHNSTONE DIED, AGED 68, OF MEGA CHOCOLATE CHIP MUFFINS. JOSEF HOFFMANN DIED, AGED 75, OF TRIPLE BACON CHEESEBURGER. Immer wieder machte es sie fassungslos, wie unbelehrbar dieses Land – dieses Land, das sie so bewunderte, weil es sich als Letztes von allen zivilisierten Ländern nicht winselnd in die Ecke verkroch, sobald das Wort «Zukunft» fiel –, wie unbelehrbar dieses zuversichtliche, zupackende Land daran festhielt, auf Schritt und Tritt dem Untergang zu frönen.

Johanna atmete durch. Was sollte jetzt diese Tirade. Daheim in Deutschland ernährten sich die Leute trotz grassierendem Biowahn auch nicht viel gesünder. Und schließlich war sie nicht in Amerika, um einen Feldzug gegen den schleichenden Selbstmord im Supermarkt zu führen. Wenn es die Menschheit – rechts und links des Atlantiks! – nicht mehr erleben wollte, wie sie, Johanna Mawet, die Molekularbiologin, die Zellforscherin, die Humangenetikerin, ihr eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages die Tore zur Unsterblichkeit aufstieß, dann sollte sich die Menschheit eben weiter zu Tode fressen.

Erstaunt stellte Johanna fest, dass sich beim beggar/bagger das Zittern verschlimmert hatte.

Vielleicht war ihr die Bitte um Plastiktüten doch ruppiger herausgerutscht als beabsichtigt. Es kam immer mal wieder vor, gerade hierzulande, dass man sie für unfreundlich hielt, obwohl sie es gar nicht so gemeint hatte. Und jetzt stand der arme Kerl da und schlotterte, weil er glaubte, er hätte es mit einer verärgerten Kundin zu tun und würde deshalb gleich selbst Ärger bekommen. Himmel, kein paper nor plastic war eine solche Verzweiflung wert! Irgendwie würde sie die – allerdings tatsächlich komplett unpraktischen, da henkellosen – Papierdinger schon ins Auto und später ins Appartement geschleppt kriegen.

«Never mind», sagte Johanna und gab sich Mühe, diesmal wirklich super friendly zu klingen. «It’s okay! Please, go on with the paper bags.»

Irgendetwas musste schon wieder verkehrt rübergekommen sein. Weit davon entfernt, sich zu entspannen, stieß der Mann einen Schrei aus, der in keinem Verhältnis zu dem mickrigen Anlass stand – und in keinem Verhältnis zu seiner mickrigen Brust. Er schleuderte die Papiertüte, die er bis eben umklammert hatte, als hinge sein Leben daran, zu Boden, als hätte er plötzlich erkannt, dass sie in Wahrheit sein Verderben war.

Äpfel, Möhren, Paprika und Tomaten rollten heraus und führten auf dem gelben Noppen-PVC ein so faszinierendes Ballett auf, dass Johanna vollständig vergaß, sich über das unmögliche Benehmen des baggers aufzuregen. Das Getuschel und Gewisper, das von allen Seiten erklang, bekam sie allenfalls als ferne Geräuschkulisse mit. Auch das mädchenhaft gehauchte: «John, what are you doing?» – es musste von der Kassiererin stammen, die bis zu diesem Zeitpunkt unbeirrt Johannas Selleriestangen, Broccoli, Pecannüsse, Haferflocken, Sojamilch, Getreidekekse und so weiter gescannt hatte – vermochte sie nicht wirklich aus ihrer Trance zu reißen. Erst das «Now, that’s it! Enough is enough!», das sich ebenso wütend wie rasch näherte, holte Johanna in die Gegenwart zurück.

Sie sah eine Dame mit viel zu rotem Lippenstift heransegeln. Sie sah, wie sich der bagger panisch in Richtung der gläsernen Schiebetüren umblickte. Sie sah, wie die Dame beinahe auf einem der Äpfel ausgerutscht wäre. Sie sah den bagger Reißaus nehmen. Sie hörte: «John, you’re fired!» Sie roch den Angstschweiß, den der bagger als Duftmarke hinterlassen hatte. Sie sah das bebende Schildchen über der linken Brust, das die Dame, die vor ihr stand, als «Holly Myers, Assistant Store Manager» auswies. Sie sah, wie der bagger mit einer Geschwindigkeit, die sie ihm nicht zugetraut hätte, auf dem Parkplatz zwischen den dicht geparkten Autos verschwand.

Das alles sah, hörte und roch Johanna mit unbestechlicher Klarheit. Gänzlich unklar jedoch war ihr, woher sie die Gewissheit nahm, dass jener Mann nicht vor Holly Myers, sondern vorihr davonlief.

Fluchend, lachend, weinend stolperte er vorwärts. Die wütenden Hörner, die versuchten, ihn vom Highway zu hupen – willkommene Begleitung waren sie ihm zu jener Stimme, die in seinem Innern brauste.

O! Traure tief, meine Seele!

Hülle dich ein, mein Herz! In Asche der Nacht,

Und weine! –

Gewelkt ist deiner Hoffnung letzte Blume;

Gift hat ihren Kelch heimlich beschlichen,

Den zarten Stengel der Wind geknickt;

Ihre Blätter verweht – – –

Ewigkeiten hatte er ihn gesucht. Vom einen Ende der Welt zum anderen war er ihm gefolgt, hatte eisigste Höhen erklommen, in grauseste Schlüfte geblickt, endlose Wüsten durchwandert. Auf allen sieben Weltmeeren war er umhergekreuzt, jedem Gerücht folgend, wo er zuletzt gesichtet worden. Vor vielen Jahrzehnten dann war’s gewesen, dass er die Suche beendet. Im Angesicht des schwärzesten Grauens. Am absoluten Kältepunkt der Hölle, an dem er begriffen, wie sinnlos vermessen es war, den zu suchen, der solches konnte tun.

Und nun – nun hatte er ihn gefunden. Und war der altböse Feind, wie er ihm seit Vaters und Mutters Tagen bekannt: das Lufttier; der Erzschelm; der Schalksteufel, zu jedem Schindluder bereit; der ochsenköpfige Riesenwurm; der Gaukler, der Bassgeige spielte auf dem eigenen Leib; das flammrote Eichhörnchen, das sich im Kreise drehte, bis es selbst zum Feuerkreis ward; der Durcheinanderbringer, dem es gefiel, ihn heimzusuchen in jenes Weibes Gestalt.

Verschwunden ist des lieben Wesens himmlische Verklärung –

Wo ist sie hin? –

War es einen Augenblick nur,

Dass der große herrliche Gott sich dir verkündigte,

Durch dich mit dem leuchtenden Lichte anderen? –

Einen allereinzigen nur,

Dass du er selbst warst;

Dass, was sich dir nahte,

Du mit labendem Segen bis ins Tiefste erquickend erschüttertest –

Erschüttern konntest?

«Fuck you, sicko!» Die schmähenden Worte rauschten so flüchtig an ihm vorbei wie der Wagen, aus dessen Fenster sie gerufen.

Musste es ein höllisch Trugbild sein, das ihn narrte? Was, wenn sie es wirklich war? Wirklich und wahrhaftig sie selbst? Da er sie zuletzt gesehen, war ihr Haar dunkel gewesen. Heut hatte es hell geleuchtet. Doch was wollte dies besagen? In ihren Augen hatten die gleichen Funken wie damals geblitzt, da sie mit klirrenden Sporen von jenem Cabriolet gesprungen, das sie eigenhändig gelenkt, und die einfältige Wirtin vom Roten Krebs sie gefragt: «Junger Kavalier, womit darf ich dienen?»

Es war dieselbe Stimme, die heute ihn um plastic bags gebeten, die damals lachend zur Antwort gegeben: «Wein, und vom Besten! Aber servieren Sie ihn auch, wenn ich eine Dame bin?»

Bis weit nach Mitternacht hatten sie in der verrußten Gaststube des Roten Krebs’ gesessen und getrunken. Sie hatte ihm die wilde Geschichte ihres Lebens erzählt, die – nach allem, was er später erfahren – nicht mehr als eine wilde Geschichte gewesen sein mochte.

Als «Louise de Gachet» hatte sie sich ihm vorgestellt, uneheliche Tochter des Prinzen von Bourbon-Conti und der Herzogin de Mazarin. Bereits in frühester Kindheit habe ein neidischer Halbbruder sie verschleppt, als jungem Mädchen sei ihr gelungen, der Gefangenschaft mithilfe eines fingierten Totenscheins zu entfliehen. Dass sie es verstand, mit Pferden rüstig umzugehen, zu reiten und zu fahren – davon hatte er sich mit eigenen Augen überzeugen dürfen. Ob indes ihre zarten Hände auch im Hufbeschlag und Wagenschmieren so geübt, wie sie es bekannte, und ob sie tatsächlich bereit, es im Stichfechten und Pistolenschießen mit jedem Manne aufzunehmen – dies würden einige bloß ihrer zahlreichen Geheimnisse bleiben. In der Vendée wollte sie mutterseelenallein Hunderten von Bauern Brot in die nächtlichen Verstecke geschmuggelt sowie deren Weiber und Kinder versorgt haben, da die ausgebluteten Männer es selbst nicht mehr vermocht. Bis zu jenem Tage habe sie ihr edles Handwerk betrieben, an dem nur eine Winzigkeit gefehlt hätte, und sie selbst wäre den Schergen der Revolution in die Hände gefallen. Da habe sie den Entschluss gefasst, die schauerhaften Gewitter ihrer Heimat hinter sich zu lassen und künftig die Wissenschaft zu ihrem Freundesstab zu erheben. Also sei sie nach Deutschland gekommen. Denn wo, wenn nicht hier, würde sie die edelsten Geister finden, die kundig und willens waren, sie auf ihrer Reise ins Zauberreich der Natur zu geleiten?

Ein bitteres Lachen begleitete die Erinnerung noch jetzt. O ja! Er, Ritter, war kundig und willens gewesen. Nächtelang hatte er sich mit ihr in seinem Laboratorium – seiner leeren Speisekammer – eingeschlossen. Gemeinsam hatten sie physiziert, chemisiert, batterisiert. Er hatte sie in die Geheimnisse des Galvanisierens eingeweiht, bis sein Freund Brentano großmäulig in alle Welt hinaus verkündete, Madame de Gachet sei die einzige Französin, die auf der Höhe der deutschen Wissenschaft stehe. Welche Hymnen hatte der Tor nicht auf sie gesungen: Das «herrlichste Mannweib» sei sie, das je die Erde gesehen! Vom «elektrischen Feuer»beseelt! Vom «Weltgeschick» zum «großen Charakter» gereinigt! Selbst seine überspannte Schwester Bettine war da klüger gewesen. Natürlich hatte auch sie sich von diesem «Planeten» unwiderstehlich angezogen gefühlt – und hatte trotzdem gespürt, die Dame möcht am Ende nichts weiter sein denn Lüge und Gespensterwesen.

Über Nacht war sie verschwunden. Kein Wort des Abschieds, kein Brief, kein Gruß. Ausgelöscht die Augenblicke, die sie in innigster Zweisamkeit durchlebt. Seine Seele, die er ihr geöffnet wie keinem Weibe zuvor – doppelt frostig pfiffen der Einsamkeit Winde von Stund an durch sie hindurch.

Was also nahm es ihn Wunder, dass Satan sich der Gestalt dieser Urteufelin bediente, um ihn endlich nun zu holen?

Verehrter Leser, verzeihen Sie, dass ich mich einschalte, obzwar das Geschehen gerade im Begriffe ist, Fahrt aufzunehmen. Doch es sind Dinge gesagt worden, die müssen ins rechte Licht gerückt werden. Zwar ist unser Ritter nicht zu tadeln, wenn er sich Madame de Gachets mit einem gewissen Misstrauen erinnert. Eine Hochstaplerin ist das wackere Kind – das, nebenbei bemerkt, als Sophie-Pétronille Lafontaine, Tochter eines Schankwirts in Boulogne-sur-Mer, geboren wurde – zeit seines Lebens gewesen. Auch mag ich Rittern den Groll nicht verdenken, der aus der Wunde entwachsen, die Madame ihm ins Herz geschlagen. Sie deswegen aber der Teufelei zu verdächtigen, ist eine jener Eskapaden, zu denen er sich deutlich zu lange schon versteigt. Die Gründe für seine Narrheit mag er selbst offenbaren, wenn der Moment dafür gekommen. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle nur versichern, dass Louise de Gachet – bleiben wir bei dem Namen, unter dem sie unsern Freund betöret – nach ihrem plötzlichen Verschwinden ein erfolgreiches Weingut am Mittelrhein betrieben hat, um Jahre später eines durch und durch menschlichen Todes zu sterben. Wenn Sie es denn als durch und durch menschlich betrachten wollen, in Russland auf nächtlichen Wegen von einer Räuberbande erschlagen zu werden …

Viel zu pink versank die Sonne hinter den Wäldern. Der Planet sah aus, als hätte ihm jemand Farbstoff ins Essen getan. Wie sie es im Zoo mit den Flamingos machten, damit die genauso knallig leuchteten, wie es die zeichentrickverwöhnten Besucher erwarteten.

Johanna unterdrückte ein Gähnen.

Oder kam ihr der Abendhimmel nur deshalb so verkehrt vor, weil sie unmittelbar am Atlantik entlangfuhr, und die Sonne versank trotzdem nicht im Meer?

Mawet!, rief sie sich selbst zur Ordnung: Zum wievielten Mal bist du jetzt hier an der Ostküste? Zum zwölften, dreizehnten Mal? Und wie oft bist du als Kind an der europäischen Atlantikküste gewesen? Fünfmal? Sechsmal?

Das menschliche Hirn konnte eine bräsige Angelegenheit sein.

Im Rückspiegel warf sie einen Blick auf den geschlossenen Henkelkarton mit den Luftlöchern, der zwischen all den henkellosen Papiertüten mit ihren Lebensmitteln und den drei Weinflaschen stand, die sie zuletzt noch im liquor store besorgt hatte. Mehr als ein halbes Glas würde sie heute Abend bestimmt nicht mehr trinken.

Erst jetzt, wo sie am Steuer saß und sich mit dem trägen Feierabendverkehr von der Kleinstadt, in der die Shopping Center waren, nach Dark Harbor treiben ließ – jenen Ort, der im Grunde lediglich aus dem berühmten Campus mit seinem noch berühmteren Laboratory of Cell & Molecular Biology bestand –, spürte sie, dass in dem Land, in dem sie heute noch gefrühstückt hatte, bereits morgen war. Sie würde das Dutzend genmanipulierter Mäuse, das sie aus Deutschland mitgebracht und glücklich durch den amerikanischen Zoll bekommen hatte, nur kurz dem mouse boy übergeben, damit er die Tiere versorgen und sich darum kümmern konnte, dass deren Biorhythmus nicht völlig durcheinandergeriet. Anschließend würde sie gleich weiter zum Gästehaus des Instituts fahren: Gepäck und Einkäufe hochbringen, Koffer auspacken, Rohkostsalat und ab ins Bett. Zwar brannte sie darauf zu erfahren, wie sich die klinische Studie in Sachen Pankreas-Stammzellen entwickelt hatte – eins der heißesten molekularbiologischen Projekte weltweit –, dennoch sollte sie den «LabRatPack-Stammtisch», der sich heute Abend traf und zu dem auch sie eingeladen war, vernünftigerweise auslassen.

«But you promised … you promised you would come!»

Johanna musste lächeln, wenn sie daran dachte, wie sich Yo-Yos philippinisch-chinesisch-amerikanischer Mund in teils echter, teils gespielter Enttäuschung verziehen würde, sobald ihm klar wurde, dass sie heute Abend nicht mehr auftauchte. Zusammen mit den lustigen Augen ergab der enttäuschte Mund ein mehr als niedliches Gesicht. Was zwang sie, es sich nicht doch noch anders zu überlegen?

«LabRatPack.» Dieses Wort hatte sie bei einem ihrer ersten Besuche in Dark Harbor von Yo-Yo gelernt und ihm im Gegenzug das Wort «Stammtisch» beigebracht. Als sie bei ihrem nächsten Forschungsaufenthalt in den Pub gekommen war, in dem die ganze Clique hockte, hatte Yo-Yo ihr stolz das neue Messingschild präsentiert, das in der Mitte des großen runden Tischs an zwei Laborstativen hing: LABRATPACK-STAMMTISCH. Damals hatte Johanna herzhaft mit ihm und den anderen gelacht. Heute war ihr nicht nach Lachen zumute. Und nach Weiterführendem auch nicht. Seit Yo-Yo geheiratet hatte, war die Sache ohnehin so kompliziert geworden, dass sie sich vernünftigerweise nach einem anderen Lover umschauen sollte.

Mawet!, ermahnte sie sich abermals: Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?

Sie war einfach nur müde. Müde und immer noch gereizt, weil ihr die Bürokraten zu Hause verboten hatten, humane embryonale Stammzellen einzuführen. Wie sollte sie arbeiten, wenn ihr das nötige Material verweigert wurde? Es war ihr Lebensprojekt, sämtlichen Zellen im menschlichen Organismus Regenerationskräfte zu verleihen, die weit über das natürliche Maß hinausgingen, damit zugleich die Zellalterung abzuschaffen und also den Weg zur Unsterblichkeit zu ebnen. Und dieses Lebensprojekt war nun festgefahren im Packeis deutscher Bedenklichkeiten, obwohl man sich dort so viel darauf einbildete, im Gegensatz zu den «naiven Amis» alle Fesseln des Christlichen längst gesprengt zu haben. Sicher, hierzulande bekam man es regelmäßig mit Spinnern zu tun, die sich aufführten, als hätte Gott höchstpersönlich sie in den Aufsichtsrat seiner Schöpfung berufen. Dennoch war es hierzulande möglich, auf der Höhe der Zeit zu forschen, während die ach so fortschrittlichen Deutschen auf der Notwendigkeit von Alter, Krankheit und Tod beharrten, als handelte es sich hierbei nicht um die drei Erzfeinde des Lebens, sondern die wahre Dreifaltigkeit.

Johanna warf einen weiteren Blick in den Rückspiegel. Soweit aus dieser Perspektive zu beurteilen, herrschte Ruhe im Karton. Gut.

Sie konnte mehr als froh und dankbar sein, dass zwischen dem FHI, dem Ferdinand-Hochleithner-Institut, an dem sie angestellt war, und Dark Harbor eine so enge Zusammenarbeit bestand, dass sie dieses Mal ganze sechs Monate bleiben durfte. Sechs Monate, die sie gut nutzen würde. Die nächsten Wochen gehörten noch den Mäusen. Aber dann war er fällig. Der Schritt zum Menschen.

In der beginnenden Dämmerung sah Johanna, achtzig oder hundert Meter vor sich, eine Gestalt den Highway entlanghetzen. Sie wusste, wer es war, bevor sie das rote Hawaiihemd erkannte. Fürchtete der bagger, für seine Entgleisung verhaftet zu werden? Oder war er endgültig verrückt geworden? Nur Verbrecher oder Verrückte kamen in diesem durchmotorisierten Land auf die Idee, einen Highway als Fußweg zu benutzen!

Vorsichtig bremste Johanna, zog das Auto nach rechts auf die Standspur und ließ das Beifahrerfenster herunter. Dabei streifte ihr Blick die Schachtel Doughnuts, die ihr Assistant Store Manager Holly Myers als Entschuldigung für das «outrageous behaviour» ihres ehemaligen Mitarbeiters aufgenötigt hatte. Mit einer knappen Geste wischte sie die Schachtel vom Beifahrersitz in den Fußraum.

«John!», rief sie durch das geöffnete Fenster, sobald sie auf einer Höhe mit dem Flüchtenden war. «John!»

Seine schwarze Lockenmähne fuhr herum, seine Augen funkelten sie noch wahnsinniger an als im Supermarkt.

«John!», wiederholte sie unbeirrt. Sein Name war doch «John» gewesen? «Do you need a lift?»

Erst da wurde ihr bewusst, dass das, was sie tat, mindestens so verrückt war wie das Benehmen des baggers. Hatte sie diesem Durchgeknallten ernsthaft angeboten, ihn in ihrem Wagen – ihrem Mietwagen! – mitzunehmen?

Doch schon war der bagger stehengeblieben. Und anstatt schleunigst Gas zu geben, brachte Johanna das Auto zum vollständigen Stillstand.

«Apage, Satana!», hörte sie ihn murmeln, während der Verkehr links an ihr vorüberrauschte. «Iudica, Domine, iudicantes me, impugna impugnantes me …»

Schnell steigerte sich das Gemurmel zu einem regelrechten Gekreisch. «Apprehende clipeum et scutum et exsurge in auditorium mihi …»

Johanna zuckte zurück. Der bagger hatte sich mit beiden Händen ins offene Fenster gestützt und schrie seinen Lateinschwall nun direkt ins Auto hinein. Dieser Akzent! Woher kannte sie diesen Akzent, der jede Silbe einzeln stanzte, anstatt sie landesüblich zu verschleifen?

Bevor es Johanna einfiel, half ihr der bagger selbst auf die Sprünge. «Weiche, Satan!», brüllte er. «Erfinder und Lehrmeister jeglicher Falschheit, Feind des menschlichen Heils! Weichet, ihr höllischen Geister im Namen des Dreieinigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Weichet!»

Die Sekunde, die der Atemlose brauchte, um Luft zu holen, nutzte auch Johanna, um sich von ihrem Schrecken zu erholen.

«Sie sind aus Deutschland», stellte sie verblüfft fest.

Und als wäre die ganze Situation nicht absurd genug, entdeckte Johanna im Rückspiegel die Highway Patrol, die sich mit kreisenden Lichtern näherte.

«O Gott, komm mir zu Hilfe!»

Vom Wagen hatte Ritter die Hände gelöst, war auf die Knie gesunken, hatte die Hände gefaltet, zum Himmel gereckt und wusste, dass nichts davon helfen würde. Wann hätte der Himmel je ihm geholfen? Wann hätten die Psalmen je ihm geholfen? Und dennoch brach es mit Inbrunst aus ihm hervor: «Herr, auf dich traue ich, lass mich nimmermehr zu Schanden werden, errette mich durch deine Gerechtigkeit! Neige deine Ohren zu mir, eilends hilf mir! Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!»

«What’s going on here? Any trouble, pal?»

Ein Rotschopf in flohfarbener Uniform schaute auf ihn herab. Das heißt – vermuten konnte er bloß, dass der Rotschopf auf ihn herabschaute. Trotz nahender Dunkelheit waren die Augen hinter spiegelnden Gläsern verborgen. So eilig als seine zitternden Knie es gestatteten, richtete Ritter sich auf.

«Sorry, Officer», sagte er und senkte den Blick, um seinem eignen Anblick im Antlitz des Ordnungshalters zu entgehen. «I felt the urge to pray.»

All die Wochen seit Ruthies Tod, in denen er diese tosende Straße jeden Morgen und jeden Abend gewandert war, um seinem ehrlosen Broterwerb nachzugehen – stets war es ihm gelungen, sich im Gebüsch oder hinter einem Stamm zu verstecken, sobald er einen schwarz-weißen Wagen mit blau-roten Lichtern entdeckt. Und ausgerechnet jetzt, da die Hölle ihm einen ihrer grauenvollsten Fürsten auf den Hals gehetzt, musste einer ihrer lästigsten Knechte gleichfalls nach ihm greifen?

Gott, dachte er, dass du mich verlassen, weiß ich längst. Aber verdiene ich, dermaßen genarrt zu werden?

Der Rotschopf hatte sich von ihm abgewandt und war nach des Wagens anderer Seite gegangen, wo die Teufelin bereits ihr blondes Köpfchen aus dem Fenster reckte.

«Officer, I’m so sorry», sagte sie heuchlerisch und wedelte mit einem weinroten Büchlein umher. «I know, I shouldn’t have stopped. But my … my uncle’s a very religious man.»

Ritter schloss die Augen. War dies das Ende? Wenn es nur das Ende wäre. Endlich das Ende und nicht …

… Schwärzeste Nacht. Ein Lager aus Schimmel und Stroh. Durch rohen Stein dringen die Schreie der Entsetzten. Wasser von den Wänden lecken, um die Wette mit winddürren Ratten. Gütiges Spielgetier gegen den Wurm, der an seinem Herzen nagt … Hihihi … hihihi … Ritterlein … Ritterlein … Weltentdecker … Welterwecker … mach doch auf … au-au-auf … Feuer wolln wir holen gehn … ho-ho-ho-ho-holen gehn … Hinweg! Hinweg! Der böse Feind verfolgt mich. Durch scharfen Hagedorn saust der Wind. Hu! Geh in dein kaltes Bett und wärme dich! Thoms friert. O de de de de de de! Gott schütze deine fünf Sinne! Das ist der böse Feind. Flibbertigibbet. Thoms friert. Thoms …

«John, steig ein!»

Zu seiner Seite hin wurde die Wagentüre aufgestoßen. Lächelnd neigte die Teufelin sich herüber. Übers Wagendach maßen ihn die undurchdringlichen Augengläser.

Hölle oder Tartarus?

«John, der Officer ist so nett, uns weiterfahren zu lassen», flötete die Teufelin. «Jetzt komm aber auch, hopp!»

Der Wald stand schwarz und schwieg.

II

O großherzige, o mutige Johanna! Ew’ger Ruhm sei dir, dass jenes Scheusal du nicht stramm gepackt und unverzüglich aus dem Wagen hast geworfen! Dass jenen Widerling so sanft du geduldet! Dass auf verlassenen Wegen du zurück ihn gebracht in seine Waldeinsamkeit, in der’s seit Jahren ihm beliebt, dem Schuhu gleich sich zu versitzen.

Wahrlich, ich sage dir, die du von allen Weibern mir als trefflichstes erscheinst: Sei weiterhin so unverzagt, und Lohn soll dir werden! In der Asche schürfe tief, und stoßen wirst du dort auf eine Glut, die deiner Menschheit Himmel heller wird erleuchten, denn tausend Sonnen dies vermöchten.

Braune und blaue Punkte tanzten vor ihren Augen. Die braunen waren deutlich in der Überzahl. Eigentlich müsste sie sich freuen. Es war der Beweis, dass das Protein, das sie in monatelangen Versuchsreihen manipuliert hatte, tatsächlich so hyperaktiv war, wie von ihr erhofft. Obwohl sie der Maus umfangreiche Gewebeproben entnommen hatte, hatte das Tierchen, das in frühestem Embryonalzustand ein genetisches Upgrading mit Stammzellfaktoren von Zebrafischen genossen hatte, beste Aussichten, dass seine Wunden ungewöhnlich rasch verheilten und es die armselige Lebensspanne, die ihm die Natur zugestand, signifikant überdauern würde.

Johanna nahm die brennenden Augen vom Okular. Warum freute sie sich nicht? Sie stand vor dem größten Schritt ihrer wissenschaftlichen Laufbahn: In absehbarer Zeit würde sie wissen, ob sich menschliche embryonale Stammzellen in derselben Weise genetisch verbessern ließen. Zwar war es von dort immer noch ein weiter Weg bis zu jenem Tag, an dem sie ganze menschliche Embryonen genetisch so verändern konnte – und durfte! –, dass diese im späteren Leben die Aussicht hatten, dreihundert, vierhundert Jahre oder älter zu werden und sich nicht mit den lächerlichen einhundertzwanzig Jahren begnügen mussten, die das bedenkentragende Heer der Kollegen daheim der Gattung Mensch als «natürliches Maximum» bescheinigte. Aber es war ein entscheidender Schritt nach vorn. Dass sie, um die Krone der Schöpfung gegen vermeintlich unheilbare Krankheiten und den «ganz normalen» Altersverschleiß besser zu immunisieren, auf die Gene von Zebrafischen oder auch von Schwanzlurchen und Wimperntierchen – allesamt Organismen, die über erstaunliche Regenerationskräfte verfügten – zurückgreifen musste, störte Johanna nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Sie war überzeugt, dass die Natur nichts dagegen hatte, wenn der Mensch ihr bei der Perfektionierung half. Jeder Fortschritt, den die Menschheit seit ihren Anfängen erzielt hatte, kam daher, dass sie ihre gesellschaftlichen Gesetze immer wieder neu überprüft und korrigiert hatte. Warum sollte sie just dort, wo es um die natürlichen Gesetze ging, diese Korrekturarbeit der Evolution allein überlassen?

Johanna hatte gerade einen neuen Glasstreifen mit transgenem Mausgewebe in ihr Mikroskop gelegt, als ein Blitz ihr linkes Gesichtsfeld zerriss. Sie fuhr herum. Und sah nichts als die Rücken der Kollegen, einträchtig gekrümmt über Gelkammern, Teströhrchen und Petrischalen. Offensichtlich kein Unfall, keine Explosion. Von überallher hörte Johanna leises Klicken, Klappern. Irgendwo surrte eine der Neonröhren, oder war es die Lüftung?

Und wieder zuckte es. Doch außer Johanna schien niemand die Blitze zu bemerken. Das ganze Laborrattenrudel arbeitete ungerührt weiter, blind für die Aureole, die den großen Inkubator umgab und flackernd erstarb.

Pumm … pumm … pumm …

Johanna fasste sich an die Schläfen. Woher kam dieses dumpfe Pochen, mit dem sie heute Morgen bereits erwacht war? Sie war doch kein Migränemädchen, das auf jeden Ortswechsel oder sonstige Erschütterungen mit einem Anfall reagierte. Ob sie ausnahmsweise einen richtigen Kaffee trinken sollte? Aber wenn sie nicht alles täuschte, war der Kaffee, der draußen aus dem Automaten kam, ohnehin so schwach, dass sie keinen Koffeinschub erwarten durfte.

Yo-Yo, der am anderen Ende des Labors herumhantierte, schaute kurz herüber, spreizte zwei Finger zum Victory-Zeichen und tauchte wieder ab.

Gestern Abend waren sie zusammen essen gewesen. Johanna hatte erwartet, Yo-Yo würde ihr eröffnen, dass sie im Kampf gegen Diabetes den entscheidenden Durchbruch erzielt hätten, weil es ihm und seinem Team gelungen war, die Stammzellen, die im menschlichen Pankreasgewebe sinnlos vor sich hin dösten, aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und damit die Zahl der Insulin produzierenden Zellen in der erkrankten Bauchspeicheldrüse zu erhöhen. Stattdessen hatte er, vergnügt an seinem Steak säbelnd, gesagt: «Dead end. Game over.» Die klinische Studie, die sie hier in Dark Harbor im Frühjahr begonnen hatten, hatten sie wenige Tage vor Johannas Ankunft in Phase II abbrechen müssen. Das Medikament hatte bei den Patienten, denen es tatsächlich verabreicht worden war, keine andere Wirkung gezeigt als die Kochsalzlösung, die den restlichen Teilnehmern der Studie gespritzt worden war. Und jetzt durften Yo-Yo und seine Mitstreiter weder die Dosis erhöhen, noch durften sie weiter untersuchen, warum das neue Medikament nicht wirkte. «Failed is failed», hatte Yo-Yo gesagt und das Stück Steak, das er sich gerade in den Mund geschoben hatte, mit einem Schluck Bier hinuntergespült.

Es war Johanna unbegreiflich, wie er seine Niederlage so ruhig hinnehmen konnte. Jahrelang hatte er Tag und Nacht geforscht. Und jetzt hieß es: Alles zurück auf Anfang. Weil die Natur, die bisweilen ein verschlagenes Biest sein konnte, nicht bereit war, jene Zellmanipulation, die bei Mäusen so blendend funktioniert hatte, auch beim Menschen zuzulassen.

Pumm … pumm … pumm …

Gern hätte Johanna behauptet, dass sie die gut gelaunte Emsigkeit bewundere, mit der sich das Rudel daranmachte, den kunstvollen Bau, den die kalte Wirklichkeit mit einer einzigen Woge hinweggespült hatte, neu zu errichten. In Wahrheit jedoch war es eben jene gut gelaunte Emsigkeit, die ihr den Schädel dröhnen ließ. Wie ein Fremdkörper fühlte sie sich inmitten all dieser Dulder, die sich, ohne das Schicksal zu verfluchen, abermals für Wochen, Monate und Jahre über ihre Gelkammern, Teströhrchen und Petrischalen beugen würden und glücklich waren, wenn es ihnen gelang, ein einziges Transkriptionsfaktor-Gen zu klonieren. Die einmal im Monat ihr schales Glück feierten, indem sie beim Stammtisch zu viel Bier tranken, ganz gleich, ob die Natur ihnen gerade ins Gesicht gespuckt oder die äußerste Spitze des kleinen Fingers gereicht hatte. Keiner der versammelten Molekularbiologen, Genetiker und Physiologen hier glaubte, dass die Erde eine Scheibe war, und dennoch kam es Johanna so vor, als ob sie alle auf großen flachen Tellern lebten, über deren Ränder sie nur hinausschauten, um sich des nächsten Tellerrandes zu vergewissern. Wer von ihnen würde je einen Pub betreten, wie es einst James Watson und Francis Crick getan hatten, um der Welt zu verkünden: «Wir haben das Geheimnis des Lebens enthüllt!»

Mutige Väter der Doppelhelix! Helft eurer Tochter, dass sie eines Tages verkünden kann: «Ich habe das Geheimnis der Unsterblichkeit enthüllt!»

Der nächste Blitz ließ Johanna zusammenfahren. Und diesmal blickte auch das Rudel auf – rechtzeitig, um zu sehen, wie die Fensterscheiben, durch die den ganzen Tag keiner von ihnen geblickt hatte, vom Donner erschüttert wurden.

«Whoa», kam es aus einer der Ecken. «That was a big one!»

Aus einer anderen Ecke kicherte es.

Johanna hielt es nicht länger aus. Die Kopfschmerzen, die auch mit dem Gewitter zu tun haben mussten, trieben sie aus dem Labor. Yo-Yo warf ihr einen fragenden Blick zu, doch sie winkte ab, keine Begleitung, keine Nachfragen und bloß keine weiteren Gespräche.

Draußen in dem Gang – an dessen Wänden die zehntausendfach vergrößerten, in allen Neonfarben leuchtenden Aufnahmen hingen, die ein Multiphotonenmikroskop von Zell-Zell-Kontakten, Kernkörperchen oder Zytoskeletten gemacht hatte – beruhigte sich Johanna wieder.

Seit wann glaubte sie an Gewitterkopfschmerzen? Der Verrückte, der da draußen in seinem Wald hockte und vermutlich noch immer überzeugt war, der Teufel höchstpersönlich habe ihn heimgefahren, mochte an einen solchen Quatsch glauben.

Johanna warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz vor fünf. Wenn sie Glück hatte, erwischte sie drüben im Verwaltungsgebäude noch jemanden, der ihr eine ordentliche Campus-ID ausstellen konnte. Mit dem vorläufigen Ausweis, den ihr die Institutssekretärin am ersten Tag in die Hand gedrückt hatte, kam sie nicht in den Gym, in dem sie sich später am Abend dringend eine Runde aufs Spinningrad setzen wollte.

In dem engen, stickigen Gästebüro nahm Johanna ihre Jeansjacke vom Garderobenständer und ihre Handtasche vom Schreibtisch, auf dem ihr Vorgänger ein unverschämtes Chaos aus Papieren, Zeitschriften und leeren Keksschachteln hinterlassen hatte.

Hatte sie ihren Pass, den sie benötigte, um die ID zu bekommen, überhaupt dabei? Johanna konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn aus ihrer Handtasche genommen hätte. Allerdings konnte sie sich auch nicht erinnern, ihn heute oder gestern in der Tasche gesehen zu haben.

Mit aufsteigender Panik begann sie zu wühlen: Geldbeutel, Smartphone, die alte Bordkarte, Taschentücher – aber kein Pass. Ein wildes Durcheinander aus Schlüsseln, Münzen, Kugelschreibern, Halspastillen und Lippenstiften ergoss sich auf den ohnehin schon zugemüllten Schreibtisch. Kein weinrotes Büchlein dabei.

Im Auto! Jetzt fiel es Johanna wieder ein. Sie hatte den Pass zuletzt in der Hand gehabt, als sie von dem Officer kontrolliert worden war – an jenem Abend, an dem ihre Menschenfreundlichkeit sie so grotesk in die Irre geführt hatte.

In Windeseile war Johanna unten im Erdgeschoss, noch schneller wehte der Sturm sie über den Parkplatz hinter dem Institutsgebäude. Wasser, das waagrecht angeflogen kam, klatschte ihr in den Rücken, Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht. Unter dem Vordach, unter dem sich sonst die allerletzten Raucher versammelten, obwohl auch dies mittlerweile verboten war, standen zwei Möwen und lachten. Bis auf die Haut durchnässt, schlüpfte Johanna ins Auto. Wohin sie sich beugte, tropfte es von ihr herab: Sitze, Ablagen, Handschuhfach, Fußräume – bald war alles ebenso nass wie sie. Doch nirgends ein Pass.

Dieser Hund. Dieser Wahnsinnige. Dieser Endbekloppte. Er musste ihren Pass gestohlen haben.

Das Gewitter war vorüber, wie die Jahre verflogen waren, in denen er bei jedem Unwetter vor die Tür getreten, in der Hoffnung, der Blitz möge ihn erschlagen. Durfte er’s dem Himmel verübeln, dass dieser sein Flammenschwert kein zweites Mal an ihm stumpfschlagen wollte? Wo er selbst, der seiner eignen Verworfenheit doch am allermüdesten, es aufgegeben hatte, Hand an sich zu legen?

Ritter schloss die Augen und bot sein Gesicht dem Regen dar, der schwer und weich aus dem Blätterdach tropfte, das seine Hütte schirmte.

Selige Tage des Leichtsinns, da er mit dem Tode auf traulichstem Fuße gestanden. In denen das Leben ihm als unterirdischer Gang erschienen war, durch den geheime Hände ihn verbundenen Auges führten, und kaum, dass er hindurch war, die Binde fallen und Gott in all seiner Herrlichkeit vor ihm stehen würde – und er selbst dürfte sich, ähnlich einem Stern, dem Himmel gleich geworden fühlen. Kinderglaube. Verwelkt. Verstaubt. Zerschlissen.

So viele hatte er sterben sehen: sein Brüderlein, das sie namenlos ins Grab gesenkt, weil damals auch der Vater im Fieber darniedergelegen und zu schwach zum Taufen gewesen; seinen liebsten Bruder, seinen Benjamin, der, ehe er’s recht gelernt, mit ihm über den Rasen zu tollen, unter diesem schon verschwunden; seine Mutter, die am fünften Sonntage nach Ostern entschlafen; die Kameraden auf blutigem Schlachtfelde; die Kameraden im eisigen Meer; die Kameraden im ewigen Schnee; sein teures, treues Weib, das durch ihn mehr gelitten, denn je zu verzeihen; den falschen Freund, der ihm sein teures, treues Weib abspenstig gemacht; die wenigen echten Freunde, die er im Leben besessen, allen voran jenen Kostbaren, jene Blüte, die von den Motten zerfressen, bevor sie ihren Kelch vollends entfaltet.

Freunde schien der Himmel mir zu geben,

Einen gab er endlich wirklich mir;

Aber kaum, dass er ihn mir gegeben,

Nahm er wieder ihn hinweg von mir!

Traurig Los! Wenn alles nur beginnet,

Dass es fast beginnend noch zerrinnet …

Wehmütig entsann Ritter sich des fremden Selbst, dessen Schmerz bei solchem Wortgeklöppel Trost gefunden. Im Leben hatte er sterben, im Tode leben wollen. Jetzt wusste er weder, was das eine noch das andere war. Erloschen die Hoffnung auf den Tag, an dem die Geister der Lieben ihm die Hand reichen und ihn hinaufgeleiten würden dorthin, wo dem bösen Feind der Zutritt auf ewig verwehrt.

Die Welt ist bloß die Porte-Chaise, die uns aus dem Himmel in die Hölle bringt. Die Träger sind Gott und der Teufel; der Teufel geht voran … Ein eitler Geck war er gewesen. Nicht, was seine äußere Erscheinung anbetraf – die irdische Hülle hatte er stets bloß für eine Anmerkung gehalten, die der Schöpfer zum geistigen Text gemacht, zuletzt zu lesen, beliebig zu überblättern. Aber sein Geist war hoffärtig gewesen. Selbst auf dem, was er in verzweifeltem Irrtume für sein Sterbebett gehalten, hatte er schreiben müssen, obgleich die Feder seinen kranken Händen häufiger entglitten, als er sie aus eigner Kraft aufzuheben vermocht.

War dies nicht das Erste in der langen Kette seiner Verbrechen gewesen? SeineUrsünde? Dass er den Himmel angefleht, er möge ihn kurze Zeit noch auf dieser Erde lassen? Ein paar Monate, Jahre noch – nur so viel Frist als nötig zu vollenden, was er begonnen?

Wer immer es gewesen – er hatte ihn erhört. Ihm die irdische Hülle zum Spott gelassen und alles andere genommen. Glaube, Liebe, Wissenschaft: dahin. Von seinem einstmals so üppig wuchernden Geist nicht mehr geblieben als das tote Geäst, in dem die Gedankenkrähen einander zausten.

Ritter schüttelte sich den Regen aus den Haaren und trat in die Hütte zurück. Durch die schmutzigen Fensterscheiben sickerte letztes Tageslicht. Seit Ruthie nicht mehr lebte, hatte die Ödnis auch hier Einzug gehalten. Vor wenigen Tagen hatten sie ihm nun auch den Strom abgestellt.

Was galt’s? Ohnehin saß er lieber bei Kerzenlicht. Und obendrein: Woher hätte er wissen sollen, wie man heutigen Tags Rechnungen bezahlte? Damals schon, da selbige noch mit Louisdors und Talern beglichen wurden, hatte er’s nie recht gewusst. Und seit er sich im Lande der Greenbacks niedergelassen, hatte sich stets aufs Neue eine gastfreie Wirtin gefunden, die ihn der Notwendigkeit enthoben, sich um geldliche Angelegenheiten zu bekümmern … Martha … Deborah … Georgina … Pamela … nein, zuerst Pamela, dann Georgina … Sarah … und zuletzt: Ruthie … Sollte er abermals sein Bündel schnüren und losziehen, im festen Vertrauen, dass in den hiesigen Wäldern noch viele einsame Herzen hausten, die darauf warteten, dass ein andrer Einsamer daherkam und bei ihnen anklopfte?

Wenn er nur nicht so müde, so gliederlähmend müde wäre.

Sein Blick fiel auf den Stapel mit Briefen, die nach wie vor in der roten Box, die vorn an der Wegesmündung stand, für Ruthie eintrafen, und die er beiseitegelegt hatte, um damit später im Jahr, sobald die Abende gar zu kalt, den Ofen anzuheizen.

PAST DUE … ELECTRIC SERVICE TERMINATION NOTICE …

Selbst wenn er mit Bankgeschäften vertraut gewesen wäre, womit hätte er die geringste Rechnung nur bezahlen sollen? Acht Dollar fünfundsiebzig hatte er für jede Stunde ausgehändigt bekommen, die er zuhinterst am Fließband gestanden und die heranschaukelnden Waren in Tüten gepackt hatte. Und selbst die acht Dollar fünfundsiebzig waren nun Vergangenheit.

Er sollte mindestens hinausgehen und Holz sammeln. Wozu? Dann fror er eben. Frieren konnte er. Hungern und dursten auch – die einzigen Künste, in denen er Meister geblieben.

Holly, Ruthies liebe, gute Kirchenfreundin, die nach deren Tod so gütig gewesen, ihm den erniedrigenden Job im Supermarkt zu verschaffen und ihn nun zu feuern – holy Holly, churchy Holly, hatte ihm und den anderen Tütenbettlern erlaubt, all jene Lebensmittel nach Hause zu tragen, die ihr peinlich strenger Blick als nicht mehr verkäuflich ausgemustert. Wie köstlich indes hatten ihm, Rittern, die schwarz gefleckten Tomaten und die grünlich schillernden Koteletts geschmeckt! Wenn der brave Justinus Kerner hätte sehen können, mit welchem Appetit er das verdorbene Fleisch ins Feuer gehalten und vom Spieß genagt hatte! Alles hätte der Schwabendoktor widerrufen müssen, was er je über die Wurstvergiftung behauptet.

Warum lächelte er? Durfte einer lächeln, der einen Herbst und Winter vor sich sah, in denen er weder Feuer noch Essen haben würde? Sei’s drum. Dass er nimmer erfrieren und nimmer verhungern würde – das hatte er gelernt auf jenem Schiffe, mit dem er einen lichtlosen Winter lang im Eise eingeschlossen und dessen sämtliche Mannschaft elendig erfroren, verhungert und verreckt. Sämtliche außer ihm. Wärme und Nahrung, was waren sie ihm anderes denn sentimentalische Gewohnheit, sinn- wie zweckentleerte Annehmlichkeiten, bei deren Genusse er sich selbst einheucheln konnte, er sei ein Mensch – ein Mensch wie alle!

Erregt begann Ritter, die Hütte zu durchmessen, alle zwanzig Schritte, die er von der Eingangstüre nach der hinteren Wohnstube benötigte, und wieder zurück. Am Boden entdeckte er die Schachtel, die ihm die Fremde hinterhergeworfen, da sie ihn hier abgeliefert. Ein letzter, mit Zuckerguss geweißter Teigkringel lag darin.

Dumm, abscheulich dumm hatte er sich betragen. Da war ihm ein menschliches Wesen begegnet, das ihm wohlgesinnt, ein junges, frisches Weib noch dazu und – ihr gütigen Seelen, verzeiht! – keins der Silberlöckchen, bei denen er die letzten Jahrzehnte Zuflucht gefunden! Und er hatte sich nicht anders zu benehmen gewusst denn als Narr.

Sorry, Officer, but my uncle’s a very religious man …

«Onkel» – warum tat dies Wort so weh in der Brust! Warum? Weil’s schon einmal geschehen, dass ein Weib – ein Weib? sein Weib! seine über alles geliebte Catharina! – ihn für einen «Onkel» deklariert!

Wilhelm! Wir haben uns beraten. Um eurer alten Freundschaft willen ist Gotthilf bereit, dich in seinem Hause zu dulden. Oben im Kämmerchen magst du wohnen. Doch nicht bilde dir ein, unter diesem Dache je als «Gemahl» oder «Vater» begrüßt zu werden. «Vetter Hans», «Onkel Hans» bist du fürderhin. Johann Wilhelm Ritter ist tot. Jener Tag, da du die Kinder wissen lässt, wer leibhaftig vor ihnen steht, sei dein letzter hier in diesem Hause …

Kalt tropfte es auf seine Hand herab. Er blickte zur Decke empor und konnte keine undichte Stelle entdecken. Tränen? Wo kamen die her?

Schöpfungsauswurf, Höllenrotz war er! Endlich vom Antlitz dieser Erde zu tilgen, wie sich’s lange schon gehört hätte! Dort an der Wand hing Ruthies Jagdgewehr, ein alter, solider Stutzen. Oftmals hatte er ihn aus der Halterung genommen und wieder zurückgehängt, weil ihn im letzten Augenblick ein klägliches Zaudern befallen. Aber jetzt? Er weinte. Was weinte, konnte sterben. Zwei Kugeln: ein Ziel! Herz oder Hirn? Noch nie hatte er gewagt, die edelsten aller Organe direkt zu attackieren.

Und wenn sein vermaledeiter Leib ihn abermals foppte?

Ritter, ermanne dich! Seit Ewigkeiten sind Herz und Hirn dir zerspellt, was soll ihnen Ärgeres noch widerfahren?

Es würde eine klare Nacht geben, das spürte er. Sobald der Mond über dem See aufging, wollte er hinunter. Mondenschein in der Nacht seines Todes. Das hatte er sich immer gewünscht. Und zuvor ein paar Astern pflücken. Das brachte Glück.

Ohne die Waffe aus der Hand zu legen, entnahm Ritter der Schachtel den letzten Teigkringel. Zucker und Fett zerschmolzen auf seiner Zunge. O süße Henkersmahlzeit! Schöne Unbekannte, die du behauptet hast, eine Johanna zu sein – ich danke dir. Lebendig wird man, wenn das Leben endigt.

Ritter, Ritter, Ritter, was soll dies nun wieder werden? Zerfließt in Selbstmitleid und willst gar noch der Lappen sein, der sich aufwischt mit eigner Hand? Wie angstverblödet kann ein Mann denn werden! Erinnerst dich nicht mehr, wie lustig du auf Kerners Turm gebrannt, nachdem der Blitz dich dort getroffen? Wie dir der Schädel wollte platzen, nachdem auf Sonnenstein den Hals so zierlich durch die Schlinge du gesteckt? Wie’s krachte im Geripp’, da du zu Nürnberg hast den Fenstersturz erprobt? Doch wenn ein Tor aus Schaden nicht will lernen, so muss er weiter wohl ins eigne Tor sich schießen. In diesem Sinne, Ritter, wünsch ich: Waidmannsheil!

ENDE DER LESEPROBE