Ringkampf - Thea Dorn - E-Book

Ringkampf E-Book

Thea Dorn

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  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Die Frankfurter Oper steht in Flammen und mit ihr Wagners Untergangsepos vom „Ring des Nibelungen“. Jahre später wagt man einen Neubeginn mit dem Ensemble von damals. Doch den engagierten Regisseur Alexander Raven und die kühle Dramaturgin Cora Sterneck verbindet mehr als die gemeinsame Arbeit. Aus ihrer einst flammenden Leidenschaft ist eine schwelende Ruine geworden, die erneut ihre Opfer fordert.

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Seitenzahl: 263

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Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Ausgabe April 2003

Copyright © 1996 Europäische Verlagsanstalt/ Rotbuch Verlag, Hamburg Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin JE · Herstellung: Sebastian Strohmaier

ISBN 978-3-641-06779-3V002

www.goldmann-verlag.de

Buch

Frankfurt erwartet eine große Premiere: Das Opernhaus soll mit dem »Ring des Nibelungen« neu eröffnet werden. Vor Jahren war das Theater am Vorabend der Premiere ebenjenes Wagner-Zyklus abgebrannt. Neues Spiel, neues Glück: Der damalige Regisseur Alexander Raven und die Dramaturgin Cora Starneck werden an den Main zurückberufen. Zur Wiedereröffnung des Opernhauses sollen sie die in Flammen aufgegangene Mammut-Inszenierung kostengünstig reanimieren. Den engagierten, aber labilen Regisseur und die kühle Dramaturgin verbindet aber nicht nur die gemeinsame Arbeit am alten und nun am neuen »Ring«, sondern auch eine Liebschaft, die Raven jedoch, just in der Brandnacht, beendete. Vergeblich versucht Raven, den Rauchschwaden der Vergangenheit zu entkommen – die gemeinsamen Proben geraten schnell zum archäologischen Grabenkampf ...

Autorin

Thea Dorn, geboren 1970 in Offenbach, machte eine Ausbildung in klassischem Gesang und wäre beinahe Opernsängerin geworden. Sie wandte sich dann jedoch dem Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft in Frankfurt, Wien und an der Freien Universität Berlin zu, wo sie Dozentin für Philosophie war. Schon mit 24 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Berliner Aufklärung«, für den sie den Raymond-Chandler-Preis erhielt. Im Jahr 2000 machte Thea Dorn mit ihrem Roman »Die Hirnkönigin« Furore, für den sie mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Sie lebt als freie Autorin in Berlin.

Von Thea Dorn außerdem als Goldmann Taschenbuch lieferbar:

Die Hirnkönigin. Roman (44853) Berliner Aufklärung. Roman (45315)

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinWidmungDramatis PersonaeVorspielERSTER AUFZUG
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18
ZWEITER AUFZUG
Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37
DRITTER AUFZUG
Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45
VIERTER AUFZUG
Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48
EpilogCopyright

Für Richard Wagner in Erinnerung an die Tage im Exil

Obwohl 1987 in Frankfurt am Main tatsächlich die Oper niedergebrannt ist, handelt es sich bei »Ringkampf« um einen fiktiven Roman. Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären daher – außer im Falle Richard Wagners – rein zufällig.

Dramatis Personae

Cora Starneck: Dramaturgin, stand unglücklicherweise nicht immer in einem reinen Arbeitsverhältnis zu

Alexander Raven: Regisseur, erfährt bei seinem Daseinskampf eheliche Rückendeckungdurch

Elisabeth Raven-Winterfeld: Sängerin der Woglinde, hätte lieber die Rolle von

Jessica Johnson-Myer: international gefeierte Brünnhilde, steht im Zentrum des emotional-pekuniären Engagements von

Egolf Zanassian: feinsinniger Frankfurter Immobilienfürst, letzte Geldquelle für

Renate Krösch: Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt, hat meistens schlechte Nachrichten für

Hermann Preuss: Generalmanager der Oper Frankfurt, wäre der Vorgesetzte gewesen von

Hans von Gluck: Technischer Direktor der Oper Frankfurt a. D., verbringt seinen Lebensabend in nicht mindertiefem Groll als

Elli Schubert: zur Nachtpförtnerin umfunktionierte Souffleuse, glühende Anhängerin von

Haffner: scheidender Intendant und Generalmusikdirektor der Frankfurter Oper, übergibt den Dirigentenstab an

Benito Bellini: neuer Generalmusikdirektor und künstlerischer Intendant der Oper Frankfurt, läßt sich bekochen von

Reginald Schönstedt: Regieassistent, beweist kameradschaftliche Solidarität mit

Ivan Jouvain: zum Korrepetitor degradierter Kapellmeister, wird vom Schicksalfrüherereiltals

Slawomir Wolansky: Sänger des Alberich, macht auf der Bühne eine schlechtere Figurals

Jochen Sywoll: Sänger des Wotan, wird in dieser Eigenschaft heimgesucht von

Gwendolyn: Hospitantin, verrücktnach

Richard Wagner: deutscher Komponist, Dramatiker, Musiktheoretiker, Dirigent, Regisseur, Revolutionär, Bühnenbildner und Baumeister, widerspenstiger Stachel im Fleisch von

Cora Starneck: siehe oben

Vorspiel

Er hatte sich die Götterdämmerung anders vorgestellt. Zwar umhüllte ihn schwarzes Gewölk, zwar umloderten ihn gleißende Flammen, zwar brach der Himmelsdom in Trümmer, doch die rechte Stimmung wollte nicht aufkommen. Wotan röchelte. Er spürte, wie er langsam erstickte.

Reuig fiel er auf die Knie. Nie wieder wollte er seine Gattin betrügen. Nie wieder wollte er eine seiner Töchter oder alten Geliebten einschläfern. Nie wieder wollte er seine Schwägerin verhökern. Nie wieder wollte er gestohlenes Gold stehlen. Nie wieder wollte ereine Villa in Auftrag geben, die er nicht bezahlen konnte. Nie wieder wollte er inzestuöse Zwillinge zeugen. Nie wieder wollte ertumbe Ehemännererschlagen. Nie wieder wollte er sich als Wolf im Unterholz herumtreiben. Nie wieder wollte er ans einer göttlichen Bestimmung zweifeln. Nie wieder wollte er das Wort Götterdämmerung in den Mund nehmen.

Wotan hob den Blick. Er sah nur Rauch und rot. Glühende Metallskelette spreizten ihre Finger. Stahlträger hörten auf zu tragen. Mauerwerk wankte, Leinwand brannte. Vorhang flog in Fetzen davon.

Der Gott sank am Boden zusammen. Verzweifelt schlug seine Lunge mit den Flügeln. Noch nie gehörte Musik dröhnte in seinen Ohren. Auf roten Tatzen kroch das Feuer näher. Tausend Zungen leckten nach ihm.

Zum letzten Mal atmete Wotan die vergiftete Luft. Tränen füllten seine Augen. Erzog sich den weiten Göttermantel über den Kopf. Als die Flammen seine Füße fraßen, wurde Wotan Nihilist.

 

Der rote Hahn hatte Frankfurt aus dem Schlaf gekräht. Schwerer Qualm wälzte sich über der Stadt. Eine verschreckte Menschenmenge drängte um das Opernhaus. Aufgerissene Augenhingen an der Feuersäule, die aus dem Dach heraus mächtig in den Himmel stieg. Daneben ging die Sonne glanzlos auf. Im Foyer erwachten die Goldwolken, als dämmere ein gewöhnlicher Morgen. Die Außenmauern wahrten den Schein. Doch im Innern der Oper hatte das Sterben begonnen.

Die Möwen segelten im Funkenflug. Scharenweise stießen sie ins Flammenmeer hinab. Der Main bedeckte sich mit der Asche seiner Töchter.

Reglos kauerten die Junkies im Opernpark. Horror und Heroin kämpften um ihre Pupillen. Sie verfluchten den Stoff, aus dem ihr Alptraum war.

Wie ein Denkmal stand der Intendant und Generalmusikdirektor vor seinem brennenden Haus. Das grelle Spektakelverschlang sein letztes Werk der Nüchternheit. Noch eine Woche hätte er gebraucht, die Wagnerschen Feuerzauber im Ring des Nibelungen kleinzukochen. Doch die kantig gemeißelten Züge verbaten sich ein jegliches Lamento. So gefaßt und trocken, wie er hier neuneinhalb Jahre den Taktstock geführt hatte, so gefaßt und trocken nahm er nun seinen Abschied.

Neben ihm fröstelte der Kulturdezernent. Ein Streifen nackter, weißer Haut stach unterflatternden Schlafanzugbeinen hervor. Die Härchen sträubten sichim kalten Morgenwind. Auch seine Amtszeit ging zu Ende. Als Schutzherr einer blühenden Kulturlandschaft hatte er aus Frankfurt scheiden wollen. Er strich sich durch die Silbermähne. Was blieb, war nurmehr Wallenstein am Grabesrand.

Die Stunde des Einsatzleiters hatte geschlagen. Der oberste Branddirektor kam, sah und brüllte. Mit quietschenden Reifen war er vom Flughafen zurückgefahren. Schon die fernen Rauchgebirge hatten an seiner Ehre gekratzt. Die Flammen, die ihn jetzt zum Emporblicken zwangen, zernagten seinen Stolz. Er kommandierte ein Dutzend Männer in die Oper ab. Im Kraftwerk der Gefühle herrschten sechzehnhundert Grad.

Immer neue Löschzüge umstellten das verglühende Gebäude, gruben ihre Räderin den schlammigen Wiesengrund. Auf dem Main hängten Feuerwehrboote ihre Pumpen ins Wasser.

Der Technische Direktor der Oper bahnte sich den Weg durch das Gewühl aus Schläuchen und hilflos hilfsbereiten Händen. Zwanzig Jahre hatte eran diesem Haus gearbeitet, zwanzig Jahre in ihm gelebt. Ihm brannte das Herz.

Am Pförtnereingang hatte sich eine verzweifelte Menschentraube gebildet. Orchestermusiker wollten ihre hölzernen und blechernen Geliebten aus den Flammen retten. Feuerwehrmänner versperrten den Zutritt. Die Musiker kamen ohnedies zu spät. Der Himmel hing bereits voll Geigen und Posaunen.

Der Chor hielt sich abseits und kommentierte das Geschehen. Er konnte an dem Brand nichts Schreckliches finden. Denn schrecklicher erschien ihm das tägliche Proben.

Niemand hatte Augen für das Flüchtlingspaar, das spärlich bekleidet auf Reisekoffern hockte. Die bleichen Gesichter flackerten im Widerschein der Flammen. Der Mann saß wie tot. Die Frau wiegte vierschwere Bücherim Arm. Neun harte Monate hatten der Regisseur und seine Dramaturgin daran gearbeitet, den Ring des Nibelungen zu zerfeilen und neu zu schmieden. Schreckensstumm schauten sie zu, wie das Feuerihnin einer halben Nacht zerschmelzen ließ.

Ein Mädchen mit schwarzem Zopf schluchzte. Ihr einer Kniestrumpf war heruntergerutscht, der andere lehmverschmiert. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Zwischen den weichen Kinderfingern quollen Tränen hervor.

Immer lauter dröhnte das Löschwasser. Immer lauter tosten die Flammen. Eine Welt ging in Rauch auf. Die letzte Wand des Bühnenturms brach in die Tiefe. Funkengewittererleuchteten den Himmel.

Hoch oben, im zweiundfünfzigsten Stock des benachbarten Bankenturms, blickte eine einsame Gestalt durchs Panoramafenster. Zartfingrig zupfte sie die Saitenihrer Leier.

ERSTER AUFZUG

»Wie alles war, weiß ich|. . .«

Erda, Das Rheingold, 4. Szene

1

Die Erde war eine Aluminiumglatze. Nackt und schimmernd wölbte sie sich den anderen Planeten entgegen, die als stählerne Gedankenblasen das kahle Haupt umschwebten. Im Innern des Schädels herrschte die Finsternis eines erblindeten Hohlspiegels.

Er war zurückgekehrt, der Kopf, dem diese Welt entsprungen war. Schweigend wanderte er durch seine verlassenen Landschaften. Vor ihm lag eine dunkle Vergangenheit. Der Ring ging in die zweite Runde.

Alexander Raven hob den Blick von seinem Bühnenbildmodell. Fünfzig Augenpaare hatten sich auf ihn gerichtet. Wenige neugierig, manche blasiert, die meisten gelangweilt. Sänger, Sängerinnen, Kapellmeister, Korrepetitoren, Assistenten, Hospitantinnen, Werkstättenleiter, Inspizientinnen. Die Opern-Hydra war aus langem Sommerschlaf erwacht und hatte ihre zahllosen Köpfe um den Mann herum versammelt, der angetreten war, sie abermals zu bezwingen.

Der Regisseur schloß die Augen. Er sammelte Kraft für den Ring. Ein doppelter Kampf stand ihm bevor. Mit einer Hand mußte er die Bestie am straffen Zügel halten. Mit der anderen Hand mußte er hinter sich tasten, eine Inszenierung auferstehen lassen, die vor Jahren zu Asche verglüht war.

Brüchige Zelluloidbilder flimmerten an ihm vorbei. Er saheine Frau schaukeln. Einen Mann nahen. Die beiden Figuren sich langsam übereinanderschieben. Eine schwarze Gestalt sich im Hintergrund erheben. Ihre verschatteten Augen aufblitzen. Eine Stichflamme emporschießen. Die Schaukel leer pendeln.

Die Bilder krümmten sich. Der Film riß.

Knarrend öffnete sich am anderen Ende der Probebühne eine Stahltür. Pfennigabsätze klackten, Stuhlbeine schrammten über den Estrich. Eine Hand legte sich um den Nacken des Regisseurs. Die verspätete Frau setzte sich und warf die langen schwarzen Haare zurück.

Alexander Raven erstarrte. Um ihn herum breitete sich Unruhe aus. Seine Zungenspitze huschte über die aufgesprungenen Lippen.

»Ich freue mich, so viele bekannte Gesichter wiederzusehen«, begann er seine Ansprache ohne begrüßende Umschweife. »Das macht die Sache für uns alle einfacher. « Seine Stimme klang rauh. Er schluckte. In seinem Hals steckte ein Eiszapfen. »Denn wie Sie wissen, haben wir nicht viel Zeit. Zwei Monate für so eine gewaltige Produktion, das ist die absolut untere Grenze des Machbaren. Auch oder gerade für eine Re-Inszenierung. Das heißt, wir müssen alle sehr diszipliniert, sehr präzise zusammenarbeiten. Sackgassen oder unnötige Umwege bedeuten das Aus. Darüber sollten wir uns von vornherein im klaren sein. Ich will Ihnen nichts vormachen: Die nächsten Wochen werden für alle eine enorme Belastung. Nurwirklicher Enthusiasmus kann uns helfen, die Aufgabe zu bewältigen. Aber ich bin ganz sicher, daß Sie diesen Enthusiasmus besitzen. «

Verwundert lauschte Alexander Raven seinen Worten, die wie Pingpongbälle von den Wänden zurücksprangen. Seine Augen wanderten hinter den Brillengläsern. Noch war die Bestie benommen von ihrem Schlaf, doch in einigen Pupillen glomm bereits Widerspruch. An einigen Hälsen schwollen die Adern, pumpten sich voll für das anstehende Kräftemessen. Die meisten Gesichter aber lagen friedlich da: unbeschriebene Flächen, die von ihrem Regisseur gestaltet werden wollten.

Die langhaarige Frau studierte ihre Fingernägel. Von ihren Mundwinkeln tropfte Spott. Alexander Ravens Blick zuckte zurück. Der Eiszapfen rammte sich tieferin seine Eingeweide.

»Es hat keinen Sinn, jetzt viele Worte über mein Inszenierungs konzept zu verlieren«, floh er hastig in seine Rede zurück. »Ich will Ihnen nur einige Grundgedanken erklären. Alles weitere müssen wir dann in den nächsten Wochen Szene für Szene gemeinsam wieder erschließen.«

Der Regisseur, der sein eigener Bühnenbildner war, klammerte sich an den offenen Kasten neben ihm. »Die Kulissen sind nahezu unverändert«, begann er steif. »Diejenigen unter Ihnen, die damals schon dabei waren, werden sich erinnern. Wie Sie im Modell sehen, haben wir die Basis-Idee beibehalten.« Er holte Luft zu neuem Schwung. »Der gesamte Ring spielt an drei zusammenhängenden Grundorten. Denn wir haben es hier ja nicht einfach mit vier Opern oder Dramen zu tun. Der Ring ist ein geschlossenes System, ein totaler Weltentwurf. Wagners Universum funktioniert wie ein Räderwerk. Jedes Teil steht unter der Herrschaft des Ganzen. Aber damit steht auch das Ganze unter der Herrschaft des Einzelnen. Um das hermetische Gefüge zum Einsturz zu bringen, genügt es, daß ein Rädchen herausspringt.« Er pochte auf den Sperrholzkasten. »Diese Dialektik, diesen immanenten Vernichtungsprozeß, den der Ring exekutiert, müssen wir auch im Bühnenbild zeigen. Deshalb haben wir alle Orte auf drei Grundkonstellationen reduziert. Es ist dreimal dieselbe Welt, oder besser gesagt: Es sind drei verschiedene Blickwinkel auf denselben Mechanismus – den wir dann von Szene zu Szene stärker zerfallen lassen. Mit dem Drama schreitet die Zerstörung voran. Bis hin zur vollständigen Auslöschung, zum abschließenden Weltenbrand.«

Der Regisseur wischte sich die Stirn. Nervöse Flekken marmorierten die Haut über den angestrengten Wangenknochen. Der Eiszapfen in seinem Innern widerstand der Hitze, in die er sich geredet hatte. Er legte seine Hand auf die kühle Aluglatze des Modells. »Dies ist die erste Konstellation. Der Erde Rücken, wie es nachher in der Wissens-Wette von Wotan und Mime heißt. Auf dieser Krümmung müssen die Menschen, die Wälsungen und Gibichungen, ums Überleben kämpfen. Der Himmel mit seinen Planeten hängt in weiter Ferne. Wir werden gleich sehen, welche Beziehung zwischen diesen beiden Sphären besteht.« Er drehte den Kasten. »Doch kommen wir zunächst zur zweiten Konstellation. Die Nacht- und Schattenwesen erleben die Erdwölbung von innen, als gewaltigen, schwarzen Hohlraum. Das sind zunächst einmal die Nibelungen, aber auch die Rheintöchter sind im Grunde unterirdische Gestalten – im Bauch der Erde gärende Natur. Wenn der Nibelung, wenn Alberich ihnen das Gold raubt, vergreift sich kein Fremder an etwas Fremdem. Es ist die Selbstentzweiung der unmittelbaren, der differenz losen Natur.«

Metallische Blasen schimmerten in der dritten Kammer des futuristisch-tristen Puppenhauses. Fieberhaft redete Alexander Raven weiter. »Auf wolkigen Höhen wohnen die Götter – so sagt Wotan. Doch die Romantik dieser Beschreibung lügt. Und das weiß er selbst. Die Sphäre der Götter ist in Wahrheit eine eisige, starre Welt der Konventionen und Gesetze. Die Kälte, unter der die Erde erstarrt, strömt von diesen Planeten aus. Deshalb will Wotan den neuen Menschen schaffen – einen Menschen, der die abstrakte Götterwelt mit der brodelnden Natur versöhnt. Doch sein Heilsplan geht nicht auf. Der neue Mensch wird zwischen der über-und der unterirdischen, zwischen der kalten und der heißen Macht zermahlen. Sein Experiment scheitert. Die beiden Mächte lassen sich nicht versöhnen. Im Gegenteil. Die Vernichtung wird beschleunigt. Der gespaltene Kosmos implodiert.«

Der Regisseur fuhr sich mit der Hand an den Hals. Kalter Schweiß stand in seinem Hemdkragen. Die schwarzhaarige Frau blätterte in ihrem Kalender. Der Regisseur senkte den Blick. Er verlor sich in dem Gewirr dunkler Streifen, das seine Schuhe auf dem Holzpodest hinterlassen hatten.

»Ich hoffe, es ist ungefähr deutlich geworden, worauf es mir ankommt.« Das Feuer in seiner Rede war erloschen. Erschöpft sog er den Atem zum abschließenden Höflichkeitsakt ein. »Ich möchte Ihnen danken, daß Sie mireinezweite Chance gegeben haben, den Ring hier, mit Ihnen, zu inszenieren. Ich bin sicher, es wird eine spannende Zeit werden. Ich freue mich darauf. Haben Sie herzlichen Dank.«

Fünfzig Händepaare klatschten. Wenige frenetisch, manche höflich, die meisten pro forma.

Alexander Raven zwang ein Lächeln in sein Gesicht. Er trat vom Bühnenpodest herunter, sank auf einen Stuhl und faßte sich an die pochenden Schläfen.

 

Aus dem verebbenden Applaus erhob sich eine zierliche Gestalt. Mit drei geschmeidigen Schritten erklomm Benito Bellini den erhöhten Rednerplatz. Ein letztes Mal lockerte der Generalmusikdirektor und künstlerische Intendant der Oper Frankfurt die Muskeln. Ruhegebietend hob er die Arme. Es wareine bloße genealogische Laune, die ihn zum Urahn des italienischen Belcantokomponisten gemacht hatte. Der musikalischen Sache nach verband ihn mit Vincenzo nichts. Benito Bellini legte seine Leichtfüßigkeit ab, sobald erdie Pforten zur Kunst aufstieß. Den Tempel betrat er in Bleischuhen.

»Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Freunde! « Getragen begann der Dirigent den Eröffnungssatz. »Sie alle wissen, welch schwierige Jahre hinter mir, hinter uns liegen. Sie alle haben es schmerzlich erlebt. Als ichmeine Arbeit an diesem Haus aufnahm, stand ich voreiner Ruine. Ich kam, um Musik, um Operzu gestalten, und sah rauchende Trümmer. Für viele Jahre war unser Ensemble ohne feste Heimat, wirmußten an miserablen Ausweichorten spielen, einen Monat hier, den nächsten dort. Wir haben gelebt wie ein erbärmlicher Wanderzirkus.«

Die Last der Erinnerung senkte sich auf das edle Haupt. Eine immernoch schwarze Locke fiel ihm in die Stirn. Er verlagerte sein Gewicht. Mit freien Kadenzen schwang er sich ins Allgemein-Ideelle empor. »Was aber ist ein Opernhaus, wenn nicht ein vibrierender, tönender Organismus«, fragte er sinnend. »Was, wenn nicht ein sensibles Musikinstrument, das außer Liebe vor allen Dingen Geborgenheit braucht, um ungestört erklingen zu können? Das Wunder harmonischen Zusammenwirkens geschieht nicht auf der Straße. Wie eine erlesene Geige an widrigen Orten sich verstimmt, so leidet auch der empfindliche Körper eines Opernensembles, wenn es aus seiner sicheren Heimstatt vertrieben wird.«

Mitausholender Geste leitete der Dirigent das spekulative Zwischenspiel in strahlendes Allegro über. »Nun endlich kehrt unser teures Instrument an seinen geschützten Platz zurück, wo allein sein ewiger Zauber sich entfalten kann! Endlich ist unser Haus wiedererrichtet, hat sich erhoben wie Fenice aus der Asche!« Er blickte lange in die Runde. »Und es war mirvon Anfang an klar, daß ein so großes Ereignis, daß die Wiedereröffnung unserer Oper nur mit einem einzigen Werk gefeiert werden kann. Mit dem Werk, das vor uns das ewige Drama der Menschheit ausbreitet, das Liebe und Tod, Hoffnung und Haß, Macht und Ohnmacht, Verzweiflung und Erlösung in Töne gebannt hat wie kein zweites. Mit dem Werk, das in jeder Faser aus Schicksal gewoben ist – und das vor Jahren selbst – hier an diesem Ort – einem so bitteren Schicksal erliegen mußte. Ich brauche Ihnen weiter nichts zu sagen. Sie alle wissen, wovon ich rede. – Der Ring und dieses Haus, dieses Haus und der Ring – gemeinsam sind sie untergegangen, gemeinsam werden sie auferstehen in neuem Glanz.«

Der Generalmusikdirektor drosselte das Tempo und dämpfte die Lautstärke. »Dabei werde ich nie vergessen, welche Verantwortung ich auf mich nehme, indem ich zu vollenden wage, was meinem unglücklichen Vorgänger auf so tragische Weise entrissen wurde. Ich bin mir bewußt, welch schweres, aber auch unendlich reiches Erbe ich heute antrete. Ich verspreche Ihnen und ihm, diesem großen Musiker und Künstler, daß ich alles tun werde, um die Arbeit, die er begonnen hat, zu einem guten Ende zu führen, um das bittere Scheitern in leuchtenden Erfolg zu verwandeln.«

Der Dirigent hielt schweigend die Spannung. Zur Schlußkadenz wandte er sich an den versunkenen Regisseur. »Herr Raven! Haben Sie meinen ganz persönlichen Dank, daß Sie bereit waren, ein zweites Mal nach Frankfurt zu kommen und uns mit Ihrer wunderbaren Inszenierung zu beschenken. Mille, millegrazie! Mögen die langen Zeitender Diaspora fürunsere Operbeendet sein!«

Die versammelten Ensemblemitglieder stimmten eine Kakophonie an, die das beschworene Wunder harmonischen Zusammenwirkens in weite Fernerückte.

2

Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wallala weia! Wagala weiala weia!

Elisabeth Raven-Winterfeld hielt in ihren gleichmäßigen Bügelbewegungen inne. Sorgfältig stellte die Sängerin das heiße Eisen zur Seite und schaute in den Klavierauszug, der auf dem wachstuchbedeckten Küchentisch lag. Als erfahrene Plätterin wußte sie, daß man Textfehler ausbessern mußte, bevor sie im Gedächtnis eingebügelt waren.

Tatsächlich hatte sich eine kleine Falte in Woglindes Anfangszeilen geschlichen. Das Bügeleisen glitt wieder auf und ab. Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagala weia! Wallala weiala weia, korrigierte die Sängerin.

Das schwarze Hemd war fertig. Elisabeth knöpfte es zu – Weia! Waga! – drehte es auf den Bauch – Woge, du Welle! – faltete die Seitennach hinten – Wallezur Wiege! – winkelte die Ärmel an – Wagala weia! – schlug das untere Drittel ein – Wallala weiala weia! – und klappte es zusammen. Sie strich überdas saubere Rechteck. Künstlerischer wie hausfraulicher Anspruch waren fürs erste befriedigt.

Sie räumte das Bügelbrett weg, kochte ihren allabendlichen Lindenblütentee und setzte sich an den Küchentisch. Mit disziplinierter Lustlosigkeit kämpfte sich die Gesangssoldatin durch ihre Noten. Die Rolle des germanischen Riot-Girl bedeutete ihr nichts. Aber im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen hatte sie eine bescheidene Auffassung von ihrem Beruf. Sie sang nicht, um sich selbst zu verwirklichen. Sie versah ihren Dienst an der Musik. Zuverlässig und solide.

Elisabeth hatte im Klavierauszug eine der wenigen Stellen erreicht, die ihr jedoch tatsächlich gefielen. Woglinde offenbarte Alberich, dem läufigen Nibelungen, das Geheimnis des Rings: Nur wer der Minne Macht entsagt, nur wer der Liebe Lust verjagt, nur der erzielt sich den Zauber, zum Reif zu zwingen das Gold. Mit feinen Kreuzstichen stickte die Sängerin den Spruch in ihr Gedächtnis.

Ein Nachtfalter war durch das gekippte Fenster hereingekommen und flatterte um die orangene Plastikschüssel der Deckenlampe. Elisabeth fing ihn mit einem Küchenkrepp. Sie quetschte das Papier in ihrer Faust zusammen und warf es in den Abfalleimer. Vielleicht war es eine Motte gewesen. In Theaterwohnungen gab es immer Motten.

Die Sängerin repetierte das weitläufige Entsagungsmotiv ein letztes Mal. Drei Töne Anlauf, gemäßigter Hochsprung zur kleinen Sext, langsamer Abgang in Prim-und Sekundschrittchen.

Es warspät geworden. Leise Unruhe befiel die Regisseursgattin. Alexander Raven war überfällig.

Sie stand auf und trat ans Fenster. Ihre Finger nestelten am braunen Vorhang. Vor Jahren hatte sie Alexander Raven von Zigaretten und Alkohol weggebracht und ihn durch Heirat aus seiner dritten, noch ruinöseren Liebschaft befreit. Seitdem eben diese heute nachmittag beim Konzeptionsgespräch aufgetaucht war, hörte Elisabeth die alte Falle wiederschnappen.

Wasser rauschte durch das Abflußrohr. Die Sängerin fröstelte. Sie ging ins Schlafzimmer, um sich ihre gehäkelte Wollstola zu holen. Die immer gleichen und doch nie vertrauten Apartments von Amsterdam bis Zürich bereiteten ihr wachsendes Unbehagen. Der letzte Aufenthalt in der Münchner Eigentumswohnung lag Wochenzurück. Elisabeth begleitete ihren rastlosen Legionär des Musiktheaters auch dann, wenn er ihr in seinen Inszenierungen keine Rolle zugedacht hatte.

Im Flurspiegel begegnete sie einer abgespannt aussehenden Frau. Elisabeth erschrak. Weniger wegen der ungesunden Gesichtsfarbe an sich als vielmehr wegen der kostbaren Stimmbänder, deren Ermüdung ein grauer Teint anzeigte. Es waren ihre einzigen Juwelen, und sie achtete stets darauf, daß sie in einer makellos samtigen Kehle ruhten. Die Sängerin beschloß, ins Bett zu gehen.

Im Schlafzimmerwares schwül. Elisabeth öffnete ein Fenster und zog die Vorhänge zu. Sie begann, sich gewissenhaft auszukleiden, hängte ihre gestreifte Bluse und die dunkelblaue Bundfaltenhose in den Kleiderschrank, band zwei Lavendelsäckchen an die Bügel, roch an Söckchen und Slip, steckte beides in einen Wäschesack, holte aus ihrem Reisekoffer das letzte frische Nachthemd, schlüpfte in die flauschig warmen Hausschuhe, packte im Badezimmer den Kulturbeutel aus, putzte ihre ebenmäßigweißen Zähne, rollte das glattgedrückte Ende der Zahnpastatube auf, stellte diese gemeinsam mitihrerund der Zahnbürste ihres Mannes in ein gepunktetes Wasserglas, wusch sich das Gesicht, wusch sich die Füße, bürstete ihre kurzen braunen Haare, spülte das Waschbecken aus und setzte sich auf die Toilette.

Die Vorlegematte war zartgelb und hatte Zottelfransen.

Elisabeth kehrte ins Zimmer zurück, nahm die braune Tagesdecke vom Bett und verstaute sie im Schrank. Alexanders Schlafanzug hängte sie über eine Stuhllehne, seine Pantoffeln stellte sie davor. Nach einem prüfenden Rundblick löschte sie das Hauptlicht und knipste das Nachttischlämpchen an.

Mechanisch griff sie nach dem Rheingold. Die Zeit vordem Einschlafen nutzte Elisabethgern fürein letztes abendliches Rollenstudium. Die Angewohnheit zahlreicher Sänger, ihre Noten nachts unter das Kopfkissen zu legen, hielt sie dagegen für Aberglaube. Sie schlug den Klavierauszug beim Rheintöchtergesang auf.

Heiajaheia, jauchzte es ihr entgegen, heiajaheia! Wallala lalala leiajahei! Rheingold! Rheingold! Leuchtende Lust, wie lachst du so hell und hehr! Glühender Glanz entgleißet dir weiblich im Wag! Heiajahei! Heiajaheia!

Elisabeth runzelte die Stirn und klappte den lasziven lullaby wieder zu. Sie war und wurde keine begeisterte Rheintochter.

Wie zufällig glitten ihre Finger zu dem zweiten Klavierauszug, der unter dem Rheingold hervorlugte. Zögernd griff die Sängerin zu.

Eine ganze Weile hielt sie die verbotenen Noten geschlossen in ihren Händen. Woglinde hatte in der Walküre nichts zu suchen. Gemeinsam mit ihren Schwestern tauchte sie nur im Rheingold auf und dann noch einmal kurz im letzten Teil, in der Götterdämmerung. Insgesamt bedeutete das vier Auftritte: zwei kleine, zwei winzige. Bei vierzehneinhalb Stunden Musik. Doch wie karg die Beute auch immer gewesen war: Noch nie hatte Elisabeth sich gestattet, aus der Rolle zu fallen. Das braune Buch wog schwer auf ihrem Schoß.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Elisabeth legte rasch den Klavierauszug beiseite. Sie lauschte den harten, hektischen Schritten im Flur, die einen kurzen Halt an der Küchentür machten und sich dann dem Schlafzimmer näherten.

Alexander Raven betrat den Raum. Der Schatten eines Lächelns saß in dem dramatischen Gesicht, das Migräne und Magengeschwüre vorzeitig zerfurcht hatten.

»Guten Abend, meine Liebe, du liegst schon im Bett? Habe ich mich wirklich so verspätet? Es tut mir leid. Aber ich mußte noch ein paar dringende Sachen im Theaterbesprechen. Du weißt ja, wie das ist.«

Er nahm seinen weichen, breitkrempigen Hut ab. Unentschlossen drehte er ihn in den Händen. »Bellini hat letzte Woche den Produktionsleiter gefeuert«, sagte er düster, »und dieser vernagelte Preuss – Generalmanager oder wie er sich seit neustem nennt – behauptet, er hätte kein Geld für einen anderen. Ich bin gespannt, wie wirunter solchen Umständen arbeiten sollen.« Mit einem bitteren Lachen warf er den Hut auf einen Stuhl. »Ich verstehe das einfach nicht. Auf der einen Seite erklären sie mir, sie sind pleite, und dann zahlen sie völlige Phantasiegagen an die Johnson-Myer. Dabei war unsere alte Besetzung hervorragend. Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir mit dieser Bayreuth-Matadorin etwas gewinnen werden. Katharina wareine hinreißende Brünnhilde. Nie wieder habe ich eine so ehrliche, so echte Schlußszene gesehen.«

Umständlich kämpfte sich der Regisseur aus seinem Sommermantel. »Aber es ist vollkommen aussichtslos, mit denen zu diskutieren. Bellini will große Stimmen, will internationale Stars, und Preuss kuscht, obwohl er genau weiß, daß er damit in Teufels Küche gerät. Das Defizit soll dann natürlich auf die Inszenierung abgewälzt werden. Aber ich werde mir keine Kompromisse abhandeln lassen.« Alexander Raven setzte seine Brille ab und rieb sich die übermüdeten Augen. »Dieser Preuss ist eine elende Krämerseele von Kulturbürokraten. Ich sehe das jetzt schon: Überall wird er mir Steine in den Weg legen.« Er stutzte, als ob er sich an etwas zu erinnern versuchte.

Er trat ans Bett, beugte sich zu seiner Gattin hinunter, nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küßte sie auf die Stirn. »Ich bin schrecklich, Liebling«, seufzte er. »Reden wir nicht mehr von diesem Theaterkram. – Aberes macht mich wirklich wahnsinnig. Wie soll ich so arbeiten? Wie soll ich mit Leuten zusammenarbeiten, die nicht vorbehaltlos hinter mir stehen?«

Elisabeth hatte sich im Bett aufgesetzt. Sie ergriff die Hände ihres Mannes. »Komm, du mußt dich ausruhen. Du bist ja völligerschöpft.«

»Du hast recht«, sagte er, »morgen wird ein knochenharter Tag.« Er entwand sich dem zarten Händedruck. Abwesend knöpfte er sein durchgeschwitztes Hemd auf. »Ob es noch funktioniert?«

»Was?« Elisabeth war erleichtert. Sie hatte weder Tabak, Alkohol noch Parfüm gerochen, als Alexander sich übersie gebeugt hatte. »Ob was noch funktioniert«, wiederholte sie sanft.

»Meine Inszenierung.« Er sprach wie durch Nebel. »Es liegt ja alles so lange zurück, so viele Jahre, in denen so viel geschehen ist. Ob ich überhaupt noch begreifen werde, was ich damals gewollt habe? Manchmal habe ich Angst, wie ein Fremder vor meiner eigenen Arbeit zu stehen. Ich hätte mich auf diese Geschichte nicht einlassen sollen.«

»Das ist doch Unsinn«, beruhigte ihn Elisabeth. »Du weißt ganz genau, daß deine Inszenierung die beste seit Jahrzehnten ist. – Dein Schlafanzug hängtüber dem anderen Stuhl.«

Der Regisseur schüttelte sich. Er langte nach dem braunen, frisch gewaschenen Baumwollpyjama. »Hast du einen schönen Abend gehabt?«

»Ich bin ein wenig den Text für morgen durchgegangen. « Elisabeth dämpfte ihre Stimme. »Sag mal, kriegt die Johnson-Myerwirklich so eine hohe Gage?«

Alexander Raven zuckte die Achseln. »Zehn- bis Fünfzehntausend zahlen die ihr sicher pro Vorstellung. «

Elisabeth zupfte nachdenklich an dem rosa Satinband, das ihr Nachthemddekolleté zusammenhielt. »Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, daß ich früher Brünnhilde gesungen habe? In Gießen – bevor wir uns kennenlernten. Ich bin sicher, ich hätte die Rolle noch parat. Vielleicht – wenn du mit Bellini reden würdest – «

Der Regisseur zog seine schwarzen Socken aus. »Liebling, laß nur. Du bist eine wunderbare Woglinde. Brünnhilde – das ist nichts für dich.« Mit kalten Füßen stieg er ins Bett.

Elisabeth hatte sich auf die Seite gedreht. Gelb strahlte die Nachttischlampe. »Willst du dir nicht die Zähne putzen?« Sie bemühte sich, nicht gekränkt zu klingen. »Ich habe deine Zahnbürste schon ausgepackt. Sie steht im Bad.«

»Danke, das ist lieb von dir. Aber heute beim besten Willen nicht mehr.« Der Regisseur streckte sich aus.

»Kann ich dann das Licht ausmachen?« Auf Elisabeths Sopran-Glanz hatten sich Schlieren gelegt.

»Ja, bitte.« Der Regisseur gähnte.

Dunkelheit breitete sich über das Bett. Straßenbeleuchtung illuminierte die Vorhangränder. Der Radiowecker blinkte.

»Damals mit Haffner – ich habe heute oft daran denken müssen, wie wunderbar er mich verstanden hat« sprach Alexander Raven in die unvollständige Finsternis hinein. »Nächtelang haben wir zusammengesessen, nicht nurer und ich, das ganze Team. Alles Mögliche haben wirdiskutiert, wildes Zeug fabuliert, ohne Ende politisiert. Wir kannten nichts anderes als den Ring. Jeder war mit einem solchen Enthusiasmus bei der Sache! Und Wagner war immer nur der Anfang. Komplette Gegenweltentwürfe haben wir damals gesponnen. Es war eine chaotische, wundervolle Zeit. Ohne diese Atmosphäre wäre meine Inszenierung nie das geworden, was sie ist. Ich fürchte, mir wird das alles sehr fehlen, jetzt. Das neue Direktorium – ich weiß nicht. Bellini ist sicher ein exzellenter Dirigent, aber ich begreife noch nicht, was er mit dem Ring vorhat. Ich sehe noch nicht, was ihn an Wagner fasziniert. Irgendwie kann ich mich mit ihm nicht verständigen. Ich glaube, das Szenische interessiert ihn gar nicht. Wahrscheinlich ist er einer von diesen engstirnigen Taktstock-Egomanen, die unfähig sind, über den Rand ihres Orchestergrabens hinauszublicken. – Wie anders war Haffner. Er wollte immer genau wissen, was auf der Bühne geschieht. So oft er konnte, hat er die szenischen Proben besucht. Mit ihm konnte man richtiges Musiktheater machen, es war wirkliche Zusammenarbeit – damals.« Alexander Ravens Gedanken verloren sich im Halbdämmer.

Elisabeth hatte nicht zugehört. Im Schutze der Nacht wagte sich die Frage hervor, die sie seit heute nachmittag quälte. »Wieso hast du mir nicht vorher gesagt, daß diese Frau wieder dabei ist?«

Der Regisseur erstarrte, wie von einem plötzlichen Krampf befallen. »Ich habe kein Bedürfnis, mit dir darüber zu reden«, sagte er frostig. »Ich bin jetzt müde. Gute Nacht.«

3

Reginald Schönstedt, der Regieassistent, saß im Schneidersitz auf dem rotseidenen Diwan und starrte mit halbgeschlossenen Lidern ins Leere. Er war blicklos für die Herrlichkeit, die ihn umgab.

Zwei prächtige Fasanen spielten in der Abendsonne. Ihre weitgeschwungenen Schwanzfedern bogen sich dem bronzenen Himmel entgegen. Gold rahmte die Idylle. An den Fensterscheiben flossen blutrote Samtkaskaden hinab. Die farbigen Glasblätter des Muranoleuchters zitterten fein wie Pappellaub. Kaleidoskopische Lichtsplitter tanzten an den Wänden. Vorwitzige Putten streckten ihre Köpfe aus dem Stuckfries hervor.

Reginalds nackte, glatte Brust hob und senkte sich rasch. Schweißperlen der Anstrengung standen in dem blassen Gesicht, auf dem die erst kürzlich vergangene Jünglingszeit ihre Mondkrater zurückgelassen hatte. Stumm bewegte sich der Mund. Langsam stülpten sich die leicht geöffneten Lippen nach vorn. Der Regieassistent achtete darauf, daß die Ränder seiner gewölbten Zunge einen festen Abschluß am harten Gaumen bildeten und ihre Spitze nicht ganz bis an die oberen Schneidezähne heranreichte. Vorsichtig ließ er einen Luftstrom durch die sagittale Rinne des Zungenrückens entweichen.