Die Chronik der Unsterblichen - Pestmond - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Die Chronik der Unsterblichen - Pestmond E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Verzweifelt hält Andrej seinen toten Waffenbruder in den Armen. Schon oft ist Abu Dun von ihm gegangen - und letztlich immer wiedergekehrt. Doch diesmal hat ein teuflisches Gift den Lebensfunken des Unsterblichen erstickt. In der hitzeflirrenden Wüste Ägyptens will Andrej seinen Freund beisetzen. Da trifft er auf einen geheimnisvollen alten Mann. Und der schlägt ihm einen unglaublichen Handel vor: Er verspricht, Abu Dun von den Toten zu erwecken, wenn er zuvor den Papst ermordet ...

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WOLFGANG HOHLBEIN

PESTMOND

Der 14. Roman

der Chronik der Unsterblichen

Kapitel 1

Abu Dun starb bei Sonnenaufgang. Es war ein Wunder, dass er nicht schon früher gestorben war. Doch selbstfür ein Wesen ihrer Art und einen der stärksten Männer auf dieser Welt waren die Wunden am Ende zu tief gewesen und das Wüten des Kat in seinen Adern zu grausam. Diesen letzten Kampf hatte er verloren. Doch wie alles, was der nubische Riese zeit seines Lebens getan hatte, war auch sein Sterben ein Akt beinahe mythischer Dimension gewesen, wie das Ringen zweier leibhaftiger Naturgewalten, das der grimmige Schnitter am Ende zwar genauso gewann, wie er alle seine Schlachten von Anbeginn der Zeiten an gewonnen hatte, an das er sich aber auch bis ans Ende aller Zeiten zurückerinnern würde.

Aber vielleicht war es auch nur das, was Andrej glauben wollte.

Die Sonne war aufgegangen – vor einer Stunde, vor zwei oder drei? Welche Bedeutung hatte Zeit jetzt schon noch? Er saß noch immer neben seinem toten Freund, hielt dessen gewaltige Pranke in beiden Händen und sah in seine leeren Augen. Obwohl er nicht nur gesehen, sondern auch deutlich gespürt hatte, wie es geschah, weigerte er sich immer noch, die Wahrheit zu akzeptieren. Dabei war sie so einfach wie grausam. Abu Dun war tot.

Das an sich war nichts Außergewöhnliches. In all den Jahrhunderten, die sie sich jetzt kannten, war er unzählige Male gestorben und genauso oft wieder aus der Dunkelheit zurückgekehrt. Aber diesmal war es anders. Vielleicht war er den Weg dieses Mal zu weit gegangen. Vielleicht blieb das allerletzte Geheimnis auch für sie unergründlich, wartete doch hinter der Tür, die sie als Einzige in beide Richtungen durchschreiten zu können glaubten, nur noch eine weitere Tür, hinter der es auch für sie keine Umkehr mehr gab.

Dabei gehörte der Nubier doch so wie er selbst zu jenen, die den uralten Vertrag zwischen Leben und Tod schon vor langer Zeit aufgekündigt hatten und seither als Unsterbliche durch die Welt und die Millennien wanderten. Abu Dun konnte nicht sterben. Und sei es nur, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.

Und dennoch war sein Freund jetzt tot.

Den ganzen Tag und auch noch einen guten Teil der hereinbrechenden Nacht waren sie geritten, bis zuerst Andrejs und dann auch Abu Duns Kamel unter ihrem Gewicht zusammengebrochen und kurz darauf gestorben waren. Selbst dann hatte sich der nubische Gigant noch bis lange nach Mitternacht weitergeschleppt, bis schließlich auch seine gewaltigen Kräfte aufgebraucht waren und er zuerst auf ein Knie und dann auf den Rücken gesunken war, um aus leeren Augen in den sternenklaren Himmel über der Wüste zu starren. Sein letzter Wunsch war es gewesen, die Sonne noch einmal zu sehen, und Abu Dun wäre nicht Abu Dun, hätte er diesen letzten Wunsch nicht dem Tod abgetrotzt. Erst als das goldene Rot der Sonne in seinen Augen schimmerte und das andere unsichtbare und heißere Feuer darin auslöschte, hatte sein Freund endlich seinen Frieden gefunden.

Andrej wusste nicht, ob es wirklich so gewesen war. Doch er hatte entschieden, dass dies seine letzte Erinnerung an Abu Dun sein sollte. Er wusste, dass sie dem Nubier gefallen hätte. Und ihm gefiel sie auch, besser als die an ihre Flucht aus der Oase, die Schreie, den Gestank und wie sie verzweifelt mit dem Schicksal gehadert hatten.

»Ich muss jetzt gehen, mein Freund«, flüsterte er leise, doch statt sich in der Leere ringsum zu verlieren, schienen die Worte von der schieren Weite der Wüste aufgefangen und zu ihm zurückgeworfen zu werden, mit einer verborgenen Botschaft, die er nicht verstand. Vielleicht ein sachter Vorwurf, wenngleich nicht ernst gemeint. Abu Dun eben, der ihn noch im Tode verspottete.

Trotzdem fühlte Andrej sich verpflichtet, mit einem verlegenen Lächeln hinzuzufügen: »Ich kann dich nicht begraben, mein Freund. Ich weiß, dass dein Glaube von dir verlangt, deinen Körper der Erde zurückzugeben, bevor die Sonne das nächste Mal aufgeht, aber der Boden hier ist zu hart, und ich habe weder Werkzeug noch die nötige Zeit. Sie werden bald hier sein.«

Etwas raschelte, dann hörte er ein ganz leises Schleifen, wie Stoff, der über Metall gezogen wurde, oder ein Fuß, der unachtsam an einen Stein kam. Vielleicht war es aber auch nur der Wind, der mit einem abgestorbenen Busch spielte – oder ihre Verfolger, die gekommen waren, um zu Ende zu bringen, was sie gestern angefangen hatten.

Er sah nicht einmal hoch.

Sollten sie kommen und ihn töten, es war ihm gleich. Was war er ohne Abu Dun? Nichts als die zurückgelassene Hälfte eines zerbrochenen Ganzen, das auch nur als Ganzes funktionierte und nie wieder werden würde, was es einmal gewesen war. Nutzlos.

Sollten sie kommen und ihn erschlagen. Sie taten damit vielleicht sogar ein gutes Werk – viele Leben, die er in den kommenden Jahrhunderten noch auslöschen mochte, würden so gerettet werden.

Denn wie viele ihrer Art lebten sie von gestohlenem Leben, indem sie die Jahre, die das Schicksal anderen zugedacht hatte, nahmen und ihrer eigenen Lebensspanne hinzufügten. Abu Dun und er waren immer stolz darauf gewesen, nur diejenigen getötet zu haben, die es verdienten, oder um ihre eigenen Leben zu verteidigen oder die derer, die es selbst nicht konnten.

Doch was, fragte er sich nun zum ersten Mal in seinem viel zu langen Leben, wenn es gar keine Rolle spielte, warum sie getötet hatten, und erst recht nicht, wie? Wenn in Wahrheit das der Pakt war, den sie vor so langer Zeit geschlossen hatten, ohne es selbst zu wissen: Dass sie für die ungebührliche Verlängerung ihres Lebens mit Hunderten anderer Leben bezahlten, die sie auslöschten?

Doch jetzt war nicht der Moment für Selbstmitleid. Sein Freund hatte sein Leben geopfert, um ihn zu retten; er war es ihm schuldig, am Leben zu bleiben. Für seinen eigenen Schmerz war später noch Zeit genug. So viel mehr, als ihm lieb war.

Wieder hörte er ein Geräusch, das Knirschen von Schuhwerk auf hartem Stein oder kaum weniger hartem Sand, und diesmal wusste er, dass es nicht der Wind war, sondern jemand, der sich ihm verstohlen zu nähern versuchte. Seine rechte Hand hielt weiter die Abu Duns, während die linke zum Gürtel kroch und sich um den Schwertgriff legte. Eine gleichermaßen alt und brüchig wie auch erstaunlich kraftvoll klingende Stimme sagte: »Wenn er wirklich dein Freund war, dann wird er das verstehen. Ich würde dir helfen, doch ich fürchte, du hast recht. Der Boden hier ist zu hart, um ein Grab auszuheben.«

Andrej schrak weder zusammen, noch sah er zu dem Mann hoch, der so unbemerkt hinter ihm aufgetaucht war. Das brauchte er nicht, seine scharfen Sinne verrieten ihm alles, was er wissen musste. Es war ein einzelner Mann, alt und kaum schwerer als ein Kind, der sich beim Gehen auf einen Stock stützte, obwohl er ihn nicht brauchte. Das leise Rascheln von Stoff auf Metall verriet Andrej, dass er bewaffnet war, doch er strahlte keinerlei Gewalttätigkeit aus und nur sehr wenig Furcht. Dennoch mahnte sich Andrej zur Vorsicht. Als er vergeblich auf eine Antwort wartete, ging der Fremde in respektvollem Bogen um ihn herum, um auf Abu Dun hinabzusehen. Andrej sah seine Einschätzung bestätigt: Es war ein Mann von mindestens sechzig Jahren, wenn nicht älter. Tatsächlich wog er nicht mehr als ein halbwüchsiger Knabe, kam Andrej aber alles andere als gebrechlich vor – obwohl er sein Möglichstes tat, um genau diesen Eindruck zu erwecken, so schwer, wie er sich auf seinen Stock stützte. Dennoch meinte Andrej zu spüren, dass er es ehrlich meinte.

Immerhin schien er ein halbwegs guter Beobachter zu sein, denn nun gab er seinen Mummenschanz auf, ließ den Stock einfach neben sich in den Sand kippen und ging in die Hocke, um dem toten Nubier ins Gesicht zu blicken. »War dein Freund gläubig?«

»Früher einmal«, antwortete Andrej. »Vor sehr langer Zeit.« Und in einem anderen Leben.

»Und du?«

»In einem anderen Leben.« Und früher einmal. Vor sehr langer Zeit.

»Dann war er es auch noch«, sagte der weißhaarige Alte mit einem sonderbar nachsichtigen Nachdruck. »Niemand, der einmal wirklich geglaubt hat, verliert seinen Glauben so einfach.«

Wer hatte gesagt, dass es einfach gewesen war? »Da habe ich andere Erfahrungen gemacht.«

»Und wahrscheinlich glaubst du das sogar, besonders in einem Moment wie diesem. Es ist nicht schlimm, mit Gott zu hadern, weißt du? Er hat durchaus Verständnis dafür. Auch dafür ist er da, musst du wissen.«

Was für eine absurde Situation, dachte Andrej. Saß er tatsächlich neben dem Leichnam seines einzigen Freundes und ließ sich auf ein theologisches Streitgespräch mit einem Wildfremden ein, dessen Namen er nicht wusste, geschweige denn, wer er war und welche Absichten er verfolgte? Er sollte diesen Greis einfach davonjagen oder besser noch auslachen. Stattdessen fragte er: »Wie meinst du das?«

»Viele halten Gott für einen eifersüchtigen Gott, und vielleicht ist er das ja sogar«, antwortete der Greis – auch wenn Andrej sich nun nicht mehr sicher war, ob er tatsächlich einer war. Er war alt, das stimmte, sehr alt sogar, doch Greisenhaftes hatte er wenig an sich. »Aber er ist auch die Stille, die dir zuhört, wenn du deine Wünsche flüsterst, und die Schulter, an der du dich ausweinen kannst. Und er ist der, den du beschuldigen kannst, und sogar der, den du hassen darfst, wenn das das Einzige ist, was deinen Schmerz noch lindert.«

Andrej sah ihn einfach nur an. Der sonderbare Greis hielt seinem Blick gerade lange genug stand, um ihn begreifen zu lassen, dass er sich auf dieses stumme Duell nur nicht einließ, weil er keinen Sinn darin sah, es zu gewinnen. Dann erschien ein verständnisvolles Lächeln auf seinem Gesicht, das ihn gleichermaßen älter als auch um Jahrzehnte verjüngt erscheinen ließ. »Das ist jetzt nicht der Moment für diese Art von Gespräch, nicht wahr?«

Dieser Moment würde nie kommen, doch Andrej, der diesen seltsamen Mann nicht vor den Kopf stoßen wollte, reagierte nur mit einem vagen Schulterzucken.

»Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte der Alte.

»Wir sind angegriffen worden«, antwortete Andrej. »Er hat mir das Leben gerettet.«

»Und wurde dabei selbst tödlich verwundet«, sagte der Fremde mitfühlend. »Jetzt verstehe ich. Du gibst nicht Gott die Schuld an seinem Tod, sondern dir.«

Das kam der Wahrheit näher, als Andrej zugeben wollte, auch wenn sich sein Verstand zugleich nach Kräften mühte, die Behauptung als unsinnig abzutun. Er zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen versuchte er, möglichst unauffällig seine Hand zu befreien, doch Abu Duns gewaltige Pranke hatte sich im Tode mit solcher Kraft darum geschlossen, dass es ihm unmöglich war, sich loszureißen, ohne Abu Duns Finger zu brechen.

»Wie ist dein Name?«, fragte der alte Mann.

»Andrej«, antwortete Andrej, deutete mit dem Kopf auf den toten Nubier und fügte hinzu: »Abu Dun. Und du?«

»Hamed«, antwortete der Alte, doch Andrej spürte, dass er log. Jetzt fiel ihm auch die sachte Färbung seiner Stimme auf; ein leichter Akzent, der verriet, dass der Besitzer dieser Stimme nicht in diesem Land gelernt hatte, sie zu benutzen. Nicht einmal in diesem Teil der Welt. Vermutlich hatte ein Leben unter dem unbarmherzigen Licht der Wüstensonne hatte seine Haut gegerbt und dunkel wie altes Leder werden lassen und sein Haar und den sorgsam gestutzten Bart ausgebleicht. Doch seine Züge waren nicht die eines Arabers. Zweifellos hatte er eine interessante Geschichte, doch es gab so viele interessante Geschichten wie Menschen auf der Welt, und es war unmöglich, sie alle zu kennen. Also schwieg Andrej.

»Abu Dun«, wiederholte der angebliche Hamed, als das Schweigen unbehaglich zu werden begann. »Ein interessanter Name. Hat er ihn sich selbst gegeben oder die, die ihn gefürchtet haben?«

»Er hatte ihn schon, als ich ihn kennengelernt habe«, antwortete Andrej.

Hamed nickte so gewichtig, als wären diese Worte von großer Bedeutung. Dann ließ er sich auf ein Knie sinken und beugte sich vor, um Abu Duns verstümmelten Arm zu begutachten. Andrej hatte im Laufe der Nacht immer wieder Streifen aus seinem Mantel geschnitten, um Abu Duns Armstumpf neu zu verbinden, doch es war ihm trotz aller Mühe nicht gelungen, den Blutfluss ganz zu stoppen. Abu Dun war, so absurd ihm der Gedanke auch vorkommen mochte, schlichtweg verblutet. Vielleicht eine letzte, schreckliche Wirkung des Kat, in dem sich sein Freund so furchtbar getäuscht hatte.

»Gehört ihr zu den Soldaten, die mit dem Schiff gekommen sind?«, fragte Hamed. »Oder zu denen, die sie gejagt haben?«

Andrej gelang es nicht, seine Überraschung zu verbergen. Die Ereignisse, auf die Hamed anspielte, hatten viele Meilen entfernt stattgefunden, und das in einem Land, das äußerst dünn besiedelt war und über große Strecken hinweg gar nicht. Der angebliche Araber war erstaunlich gut informiert. In Andrej regte sich ein Anflug von Misstrauen, erlosch dann aber sofort wieder, lange bevor es wirklich Gestalt annehmen konnte.

»Du willst nicht darüber reden«, stellte Hamed fest. »Das ist dein gutes Recht. Bitte verzeih meine Neugier! Aber man trifft in diesem Land nicht oft Fremde, mit denen man reden kann.«

»Und noch seltener solche, die es auch wollen«, pflichtete ihm Andrej bei. Er versuchte erneut seine Hand zu befreien und zog kräftiger, den stechenden Schmerz ignorierend, der durch seine Hand schoss. Es knackte leise, wie trockener Reisig, der zerbricht, doch er wurde mit ein wenig mehr Bewegungsfreiheit belohnt.

Hamed sah ihn stirnrunzelnd an, und etwas Neues erschien in seinen Augen. Andrej war nicht sicher, ob es ihm gefiel. »Dein Freund war Kat-Esser?«

»Woher weißt du das?«, fragte Andrej, aufs Neue argwöhnisch.

»Man kann es riechen.« Der alte Mann zog demonstrativ die Luft durch die Nase ein. Dann lächelte er. »Und es erklärt auch seinen Tod. Diese Verletzung war zweifellos schlimm, aber du hast sie gut versorgt, und dein Freund scheint mir ein sehr starker Mann gewesen zu sein.«

»Der Stärkste, dem ich je begegnet bin.«

Hamed stand auf und maß Abu Dun mit einem langen Blick, wie um sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. Andrej nutzte die Gelegenheit, um sich endgültig aus Abu Duns totem Griff zu befreien. Diesmal war der Schmerz so schlimm, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Zwar zuckte Andrej nicht mit der Wimper, doch das helle Knacken, mit dem sein Mittelhandknochen endgültig brach, konnte nicht einmal Hamed entgehen. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Andrej gestattete sich ein schmerzliches Kräuseln der Lippen und schob seine gebrochene Hand unter die Achselhöhle, wie es viele in der irrigen Annahme tun, der Schmerz ließe sich so lindern.

»Ich kann dir helfen«, sagte Hamed. »Wenn du Hilfe annimmst.«

»Mit meiner Hand? Das ist nichts.«

»Mit deinem Freund.« Hamed schüttelte so heftig den Kopf, dass sein Turban verrutschte und er ihn mit beiden Händen festhalten musste. Hastig schob er ihn zurück, doch Andrej entging nicht die hässlich gezackte Narbe, die hoch auf seiner Stirn begann und unter dem Turban verschwand, als hätte vor langer Zeit jemand versucht, ihm den Schädel zu spalten. Die Bewegung erinnerte ihn auf so unheimliche Art an Abu Dun, dass er zusammenfuhr und den älteren Mann anstarrte. Auch der Nubier hatte diese Geste oft gemacht, und manchmal sogar, wenn sie gar nicht nötig gewesen war.

»Wieso?«, brachte er mühsam hervor und viel zu spät.

»Du hast recht«, sagte Hamed. »Der Prophet sagt, dass der Leib in die Erde gelegt werden muss, bevor die Sonne zum zweiten Mal aufgeht, und es ehrt dich, dass du deinem Freund diesen letzten Dienst erweisen willst, obwohl du nicht einmal an denselben Gott glaubst. Aber es ist die Absicht, die zählt, nicht immer das Ergebnis. Allah wacht über unsere Taten, aber er schaut auch in unsere Herzen. Er wird deinen Freund nicht dafür bestrafen, dass deine Hände nicht stark genug waren, um in Felsen zu graben. Und dich auch nicht.«

Andrej starrte ihn an.

»Nicht weit von hier gibt es einen Felsen mit natürlichen Höhlen«, fuhr Hamed fort, als ihm klar wurde, dass Andrej nicht sprechen würde. »Wir können deinen Freund dort hinbringen und in einer der Höhlen bestatten. Es ist kein richtiges Grab, aber so können sich wenigstens keine Tiere an seinem Fleisch vergehen.«

Wäre es nicht Abu Dun gewesen, von dem der alte Mann sprach, hätte Andrej wahrscheinlich mit einer abfälligen Bemerkung geantwortet oder gar gelacht. Wer, wenn nicht er, sollte wissen, dass da weit mehr war als eine Hülle aus Fleisch und Knochen und Blut. Der Körper war nicht wichtig, nur Fleisch ohne Bedeutung. Abu Dun hätte nichts dagegen gehabt, wenn sich Tiere an seiner Hülle gütlich taten. Aber das tote Fleisch zu seinen Füßen war auch das seines Freundes, und so fragte er:

»Wo ist diese Höhle?«

»Nicht sehr weit von hier für einen Mann mit so jungen Beinen wie dich«, antwortete Hamed. »Aber viel zu weit, um deinen Freund zu tragen. Ich muss zurück in mein Dorf und einen Wagen holen. Vielleicht eine Stunde hin und zurück. Du kannst hier bei ihm auf meine Rückkehr warten.«

Ohne etwas zu erwidern, ließ sich Andrej in die Hocke sinken, lud Abu Duns leblosen Körper auf die Arme und erhob sich wieder. Hamed starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Diese Höhle«, sagte Andrej. »Bring mich hin!«

Kapitel 2

Die Höhle war nicht wirklich eine Höhle, so wenig wie der Felsen ein Felsen war. Hamed und den Seinen mochte der zyklopische Buckel mit seinen abgeschliffenen Spitzen und zerfurchten Flanken so vorkommen, doch Andrejs geschultes Auge erkannte das Gebilde schon aus der Entfernung als etwas von Menschenhand Erschaffenes, auch wenn es so alt sein musste, dass das Wissen um seine Entstehung schon vor langer Zeit aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden war und irgendwann auch aus ihren Legenden. Hamed konnte es nicht wissen, doch er hatte ein wahrhaft würdiges Grab für Abu Dun gefunden.

Da die Sonne noch nicht sehr hoch stand, warf die berggroße verwitterte Ruine einen langen Schatten, den die Hitze des Tages noch nicht erobert hatte. Dorthin trug Andrej Abu Dun und tat so, als müsste er ihn zu Boden legen, um neue Kräfte zu schöpfen. Doch Hamed sah ihn an, als würde er ihm die gespielte Schwäche nicht abkaufen. Warum sollte er auch? Schließlich hatte Andrej den leblosen Nubier, der doppelt so viel wog wie er, eine gute halbe Stunde lang durch die Sonnenglut getragen, ohne eine einzige Pause einzulegen oder auch nur einmal langsamer zu werden. Aber die Blicke, mit denen er Andrej nun maß, hatten sich verändert. Andrej war nicht sicher, ob er wirklich Angst darin las, aber es war zumindest etwas, das ihr sehr nahe kam.

Die Erkenntnis stimmte ihn traurig. Der angebliche Hamed war seit langer Zeit der erste Mensch gewesen, der freundlich zu ihm war und ihm ohne Wenn und Aber geholfen hatte, und er dankte es ihm, indem er ihn ängstigte.

»Ich danke dir, dass du mich hergebracht hast«, sagte er. »Aber das letzte Stück gehe ich lieber allein.«

Hamed nickte sehr ernst. »Ich werde hier auf dich warten. Meine alten Knochen werden es mir danken, wenn ich dich nicht dort hinaufbegleite.«

»Du musst das nicht tun«, erwiderte Andrej.

Hamed verzog den Mund zu einem flüchtigen Lächeln. »Was? Nicht mit dir dort hinaufklettern? Ich weiß.«

»Auf mich warten. Du hast schon mehr für mich getan, als ich erwarten kann.«

»Würdest du den Weg in unser Dorf denn allein finden?«

»Den Weg in dein Dorf?«

»Es ist das einzige im Umkreis von zwei Tagesmärschen«, sagte Hamed. »Es sei denn, du willst zurück in die Richtung, aus der ihr gekommen seid.«

»Nein«, sagte Andrej. Das hatte er ganz gewiss nicht vor. »Und wenn ich ehrlich sein soll, dann klingt die Aussicht auf eine Nacht in einem richtigen Bett und einen Schluck Wasser sehr verlockend. Aber ich kann euch nicht bezahlen, und ich will euch auch keine Schwierigkeiten machen.«

»Geh und kümmere dich um deinen Freund«, sagte Hamed, als wäre das Antwort genug, um alle seine Einwände zu entkräften. »Über alles andere reden wir später.«

Andrej war zu müde, um weiter zu diskutieren. Fast fürchtete er, es könnte ihm gelingen, Hamed davon zu überzeugen, seine Einladung zurückzunehmen. Vielleicht würde er mit ihm gehen, vielleicht auch nicht, aber jetzt war nicht der Moment, um das zu entscheiden. Er nickte nur noch einmal stumm, hob Abu Dun wieder hoch und machte sich daran, die zerklüftete Flanke des gemauerten Berges hinaufzusteigen.

Sein Vorhaben erwies sich als weit schwieriger, als er erwartet hatte, was nicht nur an Abu Duns enormem Gewicht lag und dem Umstand, dass er praktisch freihändig klettern musste. Was aus der Entfernung wie massiver Fels ausgesehen hatte, bestand in Wahrheit aus tausend Jahre alten Lehmziegeln, denen ungezählte Tage in brutaler Sonnenglut und ebenso viele Nächte in klirrender Kälte nicht nur die Form genommen hatten, sondern auch die Festigkeit, sodass sie ein ums andere Mal unter seinem Gewicht zerbröselten. Ein paarmal brach sein Fuß durch in verborgene Hohlräume, und noch öfter lösten sich unter seinen Schritten gefährliche Lawinen, die ihn mit sich in die Tiefe zu reißen versuchten.

Andrej wusste, auch ohne zu Hamed zurückzusehen, dass sein unbekannter Wohltäter aufmerksam beobachtete, wie vermeintlich mühelos er diesen Aufstieg bewerkstelligte.

Die erste Höhle fand er auf halbem Weg nach oben, vielmehr war es ein halb eingestürzter Raum, dessen Außenwand Wind und Sonnenhitze weggenagt hatten. Nicht einmal Andrejs scharfe Augen waren imstande, mehr als Schatten zu erkennen, doch was er sah, erschien ihm wenig vertrauenerweckend und Abu Dun als letzte Ruhestätte schon gar nicht angemessen.

Also kletterte er weiter, inspizierte eine zweite Öffnung, verwarf auch diese und blieb dann stehen, als ein Stein unter seinem Fuß ins Rutschen kam und eine schmale Lücke freigab, hinter der Schatten den Weg tiefer in den gemauerten Berg hineinwiesen.

Auch um Hamed nicht noch weiter zu beunruhigen, der immer noch unter ihm stand und jede seiner Bewegungen verfolgte, legte er Abu Dun behutsam ab und begann dann sehr viel weniger behutsam, die Öffnung in der verwitterten Mauer zu erweitern. Schon nach wenigen beherzten Griffen blickte er auf den Boden eines drei Meter tiefer liegenden Raumes hinab. Rasch vergrößerte er das Loch auf das notwendige Maß, dachte kurz daran, was die verstrichenen Jahrhunderte dem Inneren des Gebäudes und seiner Festigkeit angetan haben mochten, und sprang dann doch entschlossen hinab.

Es war, als würde das gesamte Gebäude unter seinem Aufprall erzittern. Der hochgewirbelte Staub nahm ihm die Sicht und ließ ihn husten, Steine lösten sich von der Decke und gingen wie ein schwerer steinerner Regen um ihn herum nieder. Eines der gezackten Bruchstücke schrammte an seiner Schläfe entlang und hinterließ eine blutige Schramme. Schmerz durchzuckte ihn. Als er wieder sehen konnte, hatte sich der Staub halbwegs gelegt.

Andrej trat einen halben Schritt zur Seite, um nicht noch einmal getroffen zu werden, wedelte mit der Hand vor dem Gesicht und hielt den Atem an, um den Hustenreiz in seiner Kehle zu unterdrücken. Viel konnte er immer noch nicht erkennen. Durch das Loch, das er in die Seitenwand gebrochen hatte, fiel vielleicht zum ersten Mal seit einem Jahrtausend Licht herein, doch nun schien die Dunkelheit dahinter umso tiefer. Der Großteil des Raumes war mit einer knöcheltiefen Schicht aus Staub bedeckt, den sein rüdes Eindringen gerade genug aufgewirbelt hatte, dass er sehen konnte, wie sorgfältig und kunstvoll der Stein darunter bearbeitet worden war. Andrej meinte, Reliefs von Menschen und Tieren sowie Hieroglyphen zu erkennen, gänzlich anders als alles, was er bisher in diesem Land gesehen hatte. Eine Erinnerung regte sich, doch er ließ es nicht zu. Ganz gleich, wer dieses Gebäude errichtet hatte und wozu, hier würde er Abu Dun beisetzen, denn es war ein Grab, wie es einem Mann wie ihm zustand.

Mit deutlich mehr Mühe, als er es erwartet hatte, stieg er wieder nach draußen, erweiterte den gewaltsam geschaffenen Eingang noch einmal um ein gutes Stück und brauchte dann all seine Kraft, um seinen toten Freund einigermaßen würdevoll nach unten zu schaffen.

Wenn es hier einmal eine Einrichtung gegeben hatte, dann war sie schon zu Staub zerfallen, lange bevor Andrej geboren wurde, doch am Rande des erhellten Bereichs fand er einen breiten steinernen Sims, auf dem er Abu Dun behutsam ablegte.

Jetzt gab es nicht mehr viel für ihn zu tun, und damit war der Moment gekommen, vor dem er sich am meisten gefürchtet hatte. Tief in seinem Inneren hatte er sich noch lange nicht mit Abu Duns Tod abgefunden – wie sollte er auch, hatte er ihn doch unzählige Male sterben und genauso oft wiederauferstehen sehen. Doch wenn er jetzt ging, akzeptierte er das Unvorstellbare endgültig.

Er ließ sich noch einmal neben Abu Dun auf die Kante des Simses sinken und griff nach dessen unversehrter Hand. Mit der anderen nahm er das Ende von Abu Duns Turban und drapierte es wie einen Schal auf seiner Brust – eine Geste, von der er selbst wusste, dass sie keinem anderen Zweck diente als dem, Zeit zu schinden.

Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr allein mit Abu Dun zu sein. Ein sachtes Rascheln erregte seine Aufmerksamkeit, ohne dass er hätte sagen können, aus welcher Richtung es kam. Er setzte sich auf, lauschte in die Dunkelheit hinein und legte die Linke auf den Schwertgriff, doch da war niemand, gegen den er die Waffe hätte richten müssen. Er lauschte, vernahm ein Trippeln und fuhr herum. Aus der Dunkelheit hinter Abu Dun kroch ein Skorpion heran, schwarz, fast so groß wie eine Männerhand und ohne die geringste Spur der natürlichen Scheu vor dem Menschen, die diese Tiere normalerweise an den Tag legten.

Der Skorpion war riesig, aber er kannte diese Art und wusste auch, dass sie nicht giftig war, sondern sich nur auf ihre gefährlichen Stacheln und die Ehrfurcht gebietenden Scheren verließ. Doch der Gedanke, dieses Ungeziefer könnte seinen toten Freund berühren, war ihm zuwider, also wedelte er heftig mit der freien Hand, um es zu verscheuchen. Der Skorpion kam jedoch ungerührt näher, krabbelte über Abu Duns Beine und Leib und schließlich auf seinen rechten Arm. Andrej beugte sich vor und schlug nach ihm, doch das Tier wich seiner Hand mit einer geschickten Bewegung aus, huschte weiter und grub seinen Stachel tief in den durchgebluteten Verband an Abu Duns Armstumpf.

Das war mehr, als Andrej ertrug. Blitzartig packte er zu und zerquetschte das Tier in der Faust.

Dennoch war er nicht schnell genug. Mit einer letzten Zuckung rammte der sterbende Skorpion seinen Stachel tief in sein empfindliches Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger. Andrej schrie vor Pein und Schrecken auf, schleuderte die zerdrückten Überreste des Skorpions fort und rieb sich angeekelt die Hand am Mantel, so lange und so heftig, bis sich seine Handfläche anfühlte, als hätte er glühendes Eisen berührt.

Mit vor Schmerz fest zusammengebissenen Zähnen und wütend auf sich selbst, weil er so dumm gewesen war, starrte er die Hand an. Dort, wo ihn der Stachel getroffen hatte, war ein schwarzer Fleck, der sich schnell ausbreitete wie Tinte in weißem Papier. Brennender Schmerz fraß sich durch sein Handgelenk und weiter seinen Arm hinauf, um in einer grellen Lohe in seiner Schulter zu explodieren.

Das war unmöglich.

Er konnte nicht vergiftet werden.

Aber Abu Dun konnte auch nicht sterben, nur weil ihm jemand die Hand abgeschnitten hatte.

Andrej ballte die Faust und versuchte den Schmerz mit schierer Willenskraft niederzuringen, wie er es schon unzählige Male getan hatte, aber jetzt erreichte er damit nicht mehr, als die Qual zu purer Agonie werden zu lassen, die seinen gesamten Körper wie Fieber schüttelte. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen, und ihm wurde übel.

Doch irgendwann gelang es ihm, des Schlimmsten Herr zu werden, und sein Blick klärte sich. Andrej hörte ein Stöhnen, von dem er annahm, dass es über seine eigenen Lippen kam. Seine Hand pulsierte immer noch und war auf das Doppelte ihrer normalen Größe angeschwollen. Ihm war, als hörte er rings um sich herum Trippeln und Huschen und Klacken, so als wäre der Skorpion zurückgekehrt und hätte sich verhundertfacht. Als er sich hastig zu Abu Dun umwandte, sah er zu seinem Grausen, dass sich der Verband vom Armstumpf gelöst hatte und das brandige Fleisch darunter brodelte und zischte, als begänne es sich kochend zu verflüssigen. Er wusste, Abu Dun war tot und konnte keinen Schmerz mehr spüren, trotzdem meinte Andrej, die Pein des Nubiers am eigenen Leib zu spüren, als sich das Gift des Ungeheuers tiefer in sein Fleisch fraß.

Es war unmöglich.

Der Skorpion konnte ihn nicht verletzen.

Wieder hörte er ein Stöhnen, nur dass er diesmal sicher war, dass es nicht von ihm stammte. Verwirrt und alarmiert zugleich sah er sich um und zog das Schwert halb aus der Scheide, doch da war niemand, nur die Dunkelheit und die Schatten, die sich in ihr bewegten und ihn belauerten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, hierherzukommen und die Geister dieses Ortes zu stören. Oder er war dabei, den Verstand zu verlieren, zerbrochen an dem, was seinem Freund zugestoßen war, und dem Wissen um das, was sie auf die Welt losgelassen hatten. Vielleicht würde dieses Ding ja immer weiter und weiter und weiter töten, so lange, bis es keine Menschen mehr gab, hatten sie es doch in eine Welt gebracht, die keine Gegenwehr gegen ein Ungeheuer aus einer längst vergessen geglaubten Zeit kannte.

Wieder erklang ein Stöhnen, und jetzt wusste er, woher es kam. Mit einem Ruck fuhr er herum und hätte um ein Haar laut aufgeschrien, als er sah, wie sich Abu Dun zu bewegen begann, zuerst seinen verstümmelten Arm und dann den Kopf hin- und herwarf und sich dann unbeholfen aufzusetzen versuchte. Er war zurück von den Toten. Dieses Mal war der Kampf länger und härter gewesen als je zuvor, und sein Eintauchen in die Welt des Dahinter so tief wie nie, aber am Ende hatte er auch diese Schlacht gewonnen.

»Abu Dun?«, flüsterte er.

Der Nubier drehte den Kopf und sah ihn an, und aus Andrejs wilder Hoffnung wurde Entsetzen, denn da war nichts mehr von seinem Freund in den dunklen Augen, nur Schwärze und Leere und ein abgrundtiefer Hass auf alles Lebendige und Fühlende.

»Du«, krächzte er mit einer Stimme, die nicht die seine war, vielleicht nicht einmal mehr die eines Menschen. »Du! Es ist alles deine Schuld!«

Andrej war wie gelähmt vor Entsetzen. Er konnte nicht sprechen, ja nicht einmal atmen oder denken. Abu Dun griff mit der verbliebenen Hand nach ihm, packte mit seiner ganzen titanischen Kraft zu und warf ihn so wuchtig auf den Rücken, dass ihm beinahe die Sinne schwanden.

»Du!«, brüllte er noch einmal. »Es ist nur deine Schuld! Du hast sie gerufen! Sie ist nur deinetwegen hier!«

Andrej verstand nicht, wovon er sprach, doch es gelang ihm, nach Luft zu schnappen. Die schiere Angst vor der verzehrenden Schwärze in Abu Duns Augen gab ihm die Kraft, den Nubier von sich zu stoßen – wenn auch nicht weit genug. Plötzlich war da ein Heulen, wie der Schrei eines schwarzen Todesengels hinter dem Horizont, und ein Schatten näherte sich, der niemals zu einem Körper gehört hatte.

Irgendwie schaffte er es, sich halb aufzusetzen und ein kleines Stück zurückzukriechen von dem tobenden Etwas, zu dem Abu Dun geworden war, doch der brüllende Dämon folgte ihm und zerrte ihn erneut zu Boden.

Andrej wollte ihm die Hände vor die Brust stoßen, doch er konnte nur die linke Hand benutzen, seine Rechte war dabei, sich aufzulösen, zerschmolz zu schwarzen teerigen Fäden, die zu Boden tropften. Er schrie, doch sein Schrei wurde schon nach dem ersten Ton von einer gewaltigen schwarzen Pranke erstickt, die sich ihm auf Mund und Nase presste.

Er riss den unversehrten Arm los und haute nach der Hand, die ihn ersticken wollte, aber es war, als hätte er gegen Stein geschlagen. Lediglich ein unwilliges Grunzen erklang, dann wurde er gepackt und mit solcher Wucht erneut auf den steinernen Boden geschmettert, dass er Sterne sah und auch noch das letzte bisschen Luft aus seinen Lungen gepresst worden wäre, hätte ihm die riesige Hand nicht noch immer Mund und Nase zugehalten. Instinktiv versuchte er die Beine an den Körper zu ziehen, um Abu Dun von sich zu stoßen, doch ihm war, als wäre er unter einen einstürzenden Berg geraten.

Die Atemnot drohte nun Panik in ihm auszulösen, sodass er wild und unkontrolliert auf seinen riesigen Gegner einzuschlagen begann, damit aber nicht mehr erreichte, als noch härter gegen den Boden gepresst zu werden. Seine Rippen knackten, und in seinem Rücken begann etwas nachzugeben. »Es ist deine Schuld!«, brüllte Abu Dun. »Sie ist nur deinetwegen hier! Du hast sie hergelockt! Deinetwegen hat sie mir das angetan!«

Er rammte Andrej den blutigen Armstumpf ins Gesicht. Schreiend bäumte sich Andrej auf, und diesmal gelang es ihm, den Nubier von sich herunterzustoßen, wenn auch um den Preis, dass sie beide wieder nebeneinander auf den Rücken fielen. Die Instinkte des Kriegers ließen seinen Ellbogen zur Seite und nach Abu Duns Kehle schnellen, doch auch der Nubier reagierte blitzartig und warf sich herum, sodass Andrejs Ellbogen gegen den harten Stein prallte. Warmes Blut lief an seinem Arm hinab. Dieses Mal versuchte Andrej nicht, gegen den grässlichen Schmerz anzukämpfen, sondern griff danach, wandelte ihn in Zorn und diesen wiederum in Kraft, um dann herumzurollen, auf Abu Dun, und ihm die Faust ins Gesicht zu rammen.

Es war nicht das erste Mal, dass Abu Dun – oder er – so aus dem Reich jenseits des Lebens zurückkehrte. Manchmal waren sie in einem Zustand der Verwirrung oder brachten etwas mit, etwas Fremdartiges, Beängstigendes, aber dieser Schrecken verging schnell, zumindest wenn der eine da war, um dem anderen den Weg zurück in diese Welt zu erleichtern. Gewiss würde Abu Dun wieder einmal behaupten, dass er den Moment seiner Wehrlosigkeit nur ausgenutzt hatte, um ihn ungestraft schlagen zu können, aber das war ihm immer noch lieber, als –

Andrej begriff seinen Irrtum gerade noch im allerletzten Moment. Er warf sich herum, und statt Hameds Schädel zu zertrümmern, prallte seine Faust mit einem dumpfen Laut gegen den steinernen Sims, auf dem Abu Dun lag.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Hamed ihn an und schien etwas sagen zu wollen, doch seine Lippen bewegten sich nur lautlos, wie die eines Fisches auf dem Trockenen, und in seinen Augen flammte reine Todesangst auf. Dennoch blieb Andrej auf seiner Brust hocken und sah verständnislos auf ihn hinab. Erst nach einem Moment begriff er, dass er mit seinem Gewicht dem alten Mann den Atem nahm. Hastig rollte er von ihm herunter und half Hamed eilig in eine sitzende Position auf, damit er sich gegen seine Knie lehnen konnte.

»Das tut mir entsetzlich leid!«, versicherte er. »Habe ich dich verletzt? Ich hoffe, es …«

»Es ist … schon … gut«, japste Hamed, doch seine Stimme zitterte. Andrej erschrak, als er das schreckliche nasse Rascheln hörte, das seine Atemzüge begleitete. »Mir ist … nichts passiert. Es war … meine Schuld.«

Andrej machte sich nicht die Mühe auf diese so offensichtlich falsche Behauptung zu antworten, sondern lauschte in den alten Mann hinein. Er spürte Schmerz und eine vage nagende Furcht (die seinem schlechten Gewissen noch mehr Nahrung gab), aber immerhin schien er ihn nicht wirklich schwer verletzt zu haben. Dennoch fühlte er sich für einen Moment nur noch schlechter.

»Was machst du überhaupt hier?«, fragte er.

»Du warst … lange weg«, brachte Hamed stockend heraus. »Ich habe mir … Sorgen gemacht und wollte nachsehen, ob … alles in Ordnung … ist.«

Lange weg?

Hamed nickte, als hätte er die Frage laut ausgesprochen. Vermutlich war es nicht sonderlich schwer, in Andrejs Gesicht zu lesen. »Ich habe eine Stunde gewartet, und als du nicht zurückgekommen bist, da habe ich mich gefragt, ob vielleicht etwas passiert ist.«

»Eine Stunde?«, wiederholte Andrej. Er hatte nicht einmal annähernd so lange gebraucht, um hier heraufzukommen, und Abu Dun …

Abu Dun! Andrej fuhr erschrocken herum, auf das Allerschlimmste vorbereitet, aber alles, was er sah, war Abu Dun, der mit geschlossenen Augen und so friedlich dalag, als hätte er sich nur zu einem kurzen Schlummer ausgestreckt. Das schwarze Turbantuch lag noch immer so auf seiner Brust, wie Andrej es dort drapiert hatte. Nirgendwo war ein Skorpion zu sehen, und es hatte auch niemals einen solchen gegeben. Seine Fantasie hatte ihm einen letzten, bösen Streich gespielt, das war alles.

Dennoch trat er noch einmal an das steinerne Totenbett heran, griff nach Abu Duns Hand und lauschte angestrengt in ihn hinein. Aber da war nichts mehr. Nur noch Leere.

»Es tut mir leid, wenn ich dich gestört habe«, sagte Hamed hinter ihm.

Andrej konnte hören, wie viel Mühe es ihn kostete, sich ganz in die Höhe zu stemmen, aber er drehte sich nicht zu ihm um, um ihm zu helfen, sondern lauschte weiter in seinen toten Freund hinein, und für einen kurzen aberwitzigen Moment meinte er, dem Schicksal selbst seinen Willen aufzwingen zu können.

»Eine Stunde?«, wiederholte er mit brüchiger Stimme.

»Sogar länger. Ich habe noch eine Weile gebraucht, um heraufzukommen und dich zu finden«, antwortete Hamed, nun ganz eindeutig im Tonfall einer Entschuldigung. »Aber ich bin ein alter Mann.«

Andrej riss sich von Abu Duns Anblick los und sah zuerst das Loch in der Decke und dann ganz unverhohlen zweifelnd den alten Mann an. Offenbar deutete Hamed auch jetzt wieder seine Miene richtig, denn er schüttelte den Kopf und beantwortete seine nächste Frage, bevor er sie aussprechen konnte.

»Es gibt noch andere Wege hier herauf«, sagte er und wies auf die Dunkelheit hinter sich.

Warum hatte er ihm das nicht gesagt, bevor er den halsbrecherischen Aufstieg über die Flanke des gemauerten Berges in Angriff genommen hatte?

»Du hast geschrien«, fuhr Hamed fort. »Laut. Sonst hätte ich dich vielleicht gar nicht gefunden. Als ich hereingekommen bin, da hast du auf dem Rücken gelegen und etwas gerufen, das ich nicht verstanden habe.« Er hob die Schultern. »Ich wollte dich wecken, aber …«

»Ich verstehe«, sagte Andrej, als Hamed nicht weitersprach, sondern seinem Blick auswich und unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Es war Andrej peinlich, diesen Mann in Verlegenheit zu bringen, der zumindest von seiner äußerlichen Erscheinung her durchaus sein Großvater hätte sein können und allein dafür schon seinen Respekt verdiente, dass er ihm so selbstlos geholfen hatte.

Falls es wirklich selbstlos gewesen war. Wer sagte ihm eigentlich, dass es nicht in Wahrheit – ?

Andrej riss sich zusammen. Nein, das konnte nicht sein. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Das war dumm von mir.«

Hamed tat ihm nicht den Gefallen, ihm zu widersprechen, sondern ging an ihm vorbei, um Abu Dun zu betrachten. »Er muss dir sehr viel bedeutet haben.«

»Das hat er.« Mehr, als du dir vorstellen kannst. Mehr, als er selbst bis zu diesem Moment auch nur geahnt hatte. Warum musste man erst einen Menschen verlieren, bevor man verstand, was er einem wirklich bedeutete?

Hamed machte ein mitfühlendes Gesicht. »Wart ihr nur Freunde oder auch – ?«

»Nur Freunde«, antwortete Andrej. Seltsam: Jeden anderen hätte er für die bloße Frage und die damit verbundene Unterstellung niedergeschlagen, wenn nicht getötet, aber Hamed nahm er sie nicht einmal übel. Vielleicht weil er spürte, dass weder Dünkel noch Wertung damit verbunden war. Es schien schwer vorstellbar, dass dieser Mann überhaupt jemanden verurteilen konnte.

»Dann willst du sicher noch eine Weile hierbleiben«, vermutete Hamed.

»Nein«, sagte Andrej. »Nur noch ein paar Augenblicke. Geh ruhig und warte unten auf mich … nur, wenn deine Einladung noch gilt, natürlich. Ich könnte verstehen, wenn nicht.«

»Unsinn«, antwortete Hamed, zwar in ärgerlichem Ton, aber auch mit einem verzeihenden Lächeln. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand genauso lautlos wieder in der Dunkelheit, wie er daraus aufgetaucht war.

Kapitel 3

Später an diesem Tag brachte Hamed ihn tatsächlich in sein Dorf, wenn auch um etliches später, als Andrejbeabsichtigt hatte. Erst hatte er gewartet, bis sich seine Augen endgültig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und die Kammer dann gründlich nach irgendwelchem Ungeziefer abgesucht, das nur auf sein Fortgehen wartete, um sich über Abu Dun herzumachen. Abgesehen von ein paar harmlosen Kakerlaken und etlichen noch harmloseren Sandflöhen war er zwar nicht fündig geworden, aber er hatte sich dennoch die Mühe gemacht, den ohnehin halb verschütteten Gang, durch den Hamed hereingekommen war, vollkommen zu verschließen. Endlich wieder im Freien war er nicht nur auf dieselbe Weise mit der Öffnung verfahren, die er in die Decke gebrochen hatte, sondern hatte auch noch große Sorgfalt darauf verwandt, sämtliche Spuren zu verwischen. Ganz gelang es ihm nicht, aber was er begonnen hatte, würden Wind und Sand vollenden, und in wenigen Tagen schon würde nichts mehr verraten, dass er je hier gewesen war.

Dass seine Mühe sinnlos war, dessen war sich Andrej bewusst. Weder gab es in dieser Gegend wilde Tiere, noch war die Ruine von Interesse für Grabräuber. Aber er war es Abu Dun schuldig gewesen, noch etwas für ihn zu tun.

Der Tag war schon ein gutes Stück fortgeschritten, als er endlich zu Hamed zurückkehrte, der noch immer geduldig am Fuße des Berges auf ihn wartete, und als sie endlich das Dorf des alten Mannes erreichten, da war die Sonne schon nicht mehr allzu weit von ihrem Zenit entfernt und die Hitze beinahe unerträglich.

Andrej war auf eine Art müde, wie er sie schon lange nicht mehr erlebt hatte. Seine Glieder waren schwer wie Blei, und jeder einzelne Schritt schien ihn mehr Kraft zu kosten als der davor. Noch nie hatte er sich so verloren gefühlt, so entsetzlich mutlos. Solange er sich zurückerinnern konnte, war da tief in seinem Inneren ein Quell schier unerschöpflicher Kraft gewesen und ein Wille, der stärker war als sein eigener und ihn befähigte, auch in der aussichtslosesten Situation nicht aufzugeben und nur zu oft das Unmögliche zu schaffen. Jetzt war dieser Quell versiegt, und wo er sein sollte, gähnte nur ein bodenloser Abgrund, von dem eine düstere Verlockung ausging. Er stellte keine Fragen, sah sich nicht um und erhob schon gar keine Einwände, als Hamed ihn zu einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes führte und ihm bedeutete, hineinzugehen und sich auszuruhen.

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