Die Templerin - Wolfgang Hohlbein - E-Book
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Die Templerin E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Friesland im 12. Jahrhundert: Robin ist noch ein junges Mädchen, als Fremde ihr Dorf überfallen und ihre Mutter töten. Man verdächtigt die Tempelritter, doch Robin kennt die Wahrheit. Sie sucht Zuflucht vor den wirklichen Mördern bei den Templern und beginnt ihr eigenes, geheimnisvolles Schicksal zu begreifen.

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WOLFGANG HOHLBEIN

DIE TEMPLERIN

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Anno Domini 1177: Hilflos muss das Bauernmädchen Robin mit ansehen, wie ihr Dorf von Fremden niedergemetzelt wird. Für den Überfall sollen die Tempelritter verantwortlich gemacht werden, aber Robin, die das zweite Gesicht hat, kennt die Wahrheit und wird somit zu einer Gefahr für Gernot von Elmstatt und seine Handlanger. Sie wird von dem stolzen Tuareg Salim gerettet und flüchtet mit seiner Hilfe als Knappe verkleidet in die Komturei des Ordens der Tempelritter.

Während Robin von Salim in den Waffen und im Reiten ausgebildet wird, rüsten sich die Tempelritter für einen Kreuzzug ins Heilige Land. Doch was passiert, wenn Bruder Horace herausfindet, dass sich ein Mädchen in den geweihten Mauern der Komturei befindet? Zudem schürt ein nach Rache dürstender Feind Intrigen in den Reihen des Ordens, und ohne es zu wollen, gerät Robin zwischen die Fronten.

Der Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Seit er 1982 gemeinsam mit seiner Frau den Roman Märchenmond

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Der Verlag weist ausdrücklich daraufhin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 1999 by Wolfgang Hohlbein und Medienagentur Görden

Copyright © 2016 dieses E-Books by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightKAPITEL 1KAPITEL 2 KAPITEL 3 KAPITEL 4 KAPITEL 5 KAPITEL 6 KAPITEL 7 KAPITEL 8 KAPITEL 9 KAPITEL 10 KAPITEL 11 KAPITEL 12 KAPITEL 13 KAPITEL 14 KAPITEL 15 KAPITEL 16 KAPITEL 17 KAPITEL 18 KAPITEL 19 KAPITEL 20 KAPITEL 21 KAPITEL 22 KAPITEL 23 KAPITEL 24 KAPITEL 25 KAPITEL 26 KAPITEL 27 KAPITEL 28 KAPITEL 29

KAPITEL 1

Robins Welt war klein. Ausgehend von dem Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, maß sie weniger als einen Tagesmarsch in jede Richtung und im Norden sogar noch sehr viel weniger, denn dort hörte die Welt gewissermaßen auf. Wenn man zwei Stunden in scharfem Tempo in diese Richtung marschierte, erreichte man die Dünen, niedrig, unregelmäßig und von kärglichen Flecken borstigen Grüns bewachsen, und wenn man sie überquerte und sich dem Wind stellte, der selbst im Sommer manchmal eisig war, dann sah man das Meer: eine unendliche, manchmal blaue, zumeist aber schmutzig graue Ödnis, die nirgendwo anfing und nirgendwo endete.

Im Westen führte der Weg schon weiter. Brach man um die Osterzeit bei Sonnenaufgang auf, so erreichte man am späten Nachmittag den Fluss. Er war nicht sehr breit, aber tief und reißend. Die Bewohner des Dorfes auf der anderen Uferseite lagen mit denen aus Robins Dorf im Streit, was in gewisser Weise ungemein praktisch war: So kam niemand in Versuchung, den Fluss zu überqueren und dabei das Risiko einzugehen, in null Komma nichts zu ertrinken. Im Süden und Osten schließlich erhoben sich dicht bewaldete Hügel, durch die nur eine einzige, schmale und meist verschlammte Straße führte. Gerüchten zufolge wurden sie mitunter von Wegelagerern und wilden Tieren heimgesucht, aber Robin vermutete, dass diese Gräuelmärchen maßlos übertrieben waren. Überprüfen konnte sie das allerdings nicht: Niemand aus ihrem Dorf hatte diese Straße je benutzt; jedenfalls nicht, solange sie sich zurückerinnern konnte.

Robin verdankte ihren etwas ungewöhnlichen Namen ihrem Vater. Er war Engländer – vielleicht auch Schotte, so genau hatte sie diesen Unterschied nie begriffen – und hatte nur einen einzigen Winter in ihrem Dorf verbracht. Zusammen mit einer Hand voll Kameraden war er eines Morgens vor fünfzehn Jahren plötzlich aus dem Wald getorkelt. Dem halben Dutzend zerlumpter, blutüberströmter, aber auch schwer bewaffneter Gestalten erging es ganz offensichtlich nicht viel besser als ein paar Hasen bei einer Treibjagd: Sie waren vollkommen am Ende ihrer Kräfte und sahen so gehetzt aus, als ob sie schon das Hufgetrappel der Verfolgermeute hören würden.

Nachdem sich die erste Aufregung gelegt und die Dorfbewohner begriffen hatten, dass ihnen von den fremden Soldaten zumindest keine unmittelbare Gefahr drohte, hatten es sich die Fremden unter der großen Linde auf dem Dorfplatz einigermaßen gemütlich gemacht, ihre Wunden versorgt, etwas getrunken und gegessen und währenddessen begonnen, ihre Geschichte zu erzählen. Sie gehörten zu einem Heer, das sich auf dem Weg ins Heilige Land befand und nicht weit vom Dorf entfernt vorbeigezogen war. Während eines plötzlichen Schneesturms – so erzählten sie wenigstens – waren sie vom Haupttross getrennt worden, und kaum hatte sich das Wetter gebessert, da waren sie in einen Hinterhalt geraten, dem sie nur mit knapper Mühe entkommen konnten. Nun war ihr Heer fort und sie hatten keine andere Wahl, als auf das Frühjahr zu warten, um sich dann auf eigene Faust auf den Weg ins Land des Heilands zu machen.

Das war jedenfalls die Geschichte gewesen, die sie erzählten. Niemand im Dorf hatte sie wirklich geglaubt. Wahrscheinlicher war wohl, dass es das Heer, von dem sie gesprochen hatten, zwar gab, sie selbst aber nichts anderes als Deserteure waren. Aber welcher der einfachen Bauern und Fischer hätte schon den Mut gehabt, das einem halben Dutzend schwer bewaffneter Soldaten ins Gesicht zu sagen?

Dabei hätten sie es vermutlich ohne große Gefahr gekonnt. Die Leute im Dorf sprachen selten über den Winter, in dem die englischen Soldaten da gewesen waren. Aber wenn sie es taten, dann war in ihren Stimmen keine Bitterkeit oder gar Zorn, sondern vielmehr ein Ton, als spräche man über liebe alte Freunde, die man gerne einmal wiedersehen würde. Robin hatte nicht erfahren, was sich in jenem Winter vor fünfzehn Jahren wirklich zugetragen hatte, aber als die Schneeschmelze einsetzte und die Soldaten wieder abzogen, waren sie und viele Dorfbewohner Freunde gewesen.

Vier Monate später war Robin geboren worden.

Niemand im Dorf hatte Robins Mutter diesen Fehltritt wirklich übel genommen. Sie war damals schon seit zehn Jahren Witwe und führte ein einfaches, aber gottesfürchtiges Leben und Robin vermutete, dass der englische Soldat – ihre Mutter nannte niemals seinen Namen, wenn sie über ihn sprach, so nannte sie ihn stets nur den Soldaten –, dass dieser namenlose englische Soldat also ihrer Mutter etwas gegeben hatte, worauf sie zu lange hatte verzichten müssen.

Robin dachte an nichts von alledem, als sie sich an jenem Abend der leer stehenden Kapelle am Ortsrand näherte. Es war der vierzehnte Juli, aber obwohl es der Tag war, der Robins Leben in so vollkommen andere Bahnen lenkte, dass sie kurz darauf ein völlig neuer Mensch zu werden schien, wusste sie nicht einmal das Datum. Niemand im Dorf zählte das Verstreichen der Zeit anhand von Kalendertagen, und wozu auch? Das Leben im Dorf wurde von den Jahreszeiten bestimmt – Frühling, Sommer, Herbst, Winter – und vom sonntäglichen Kirchgang, nicht von Jahreszahlen.

Außerdem war Robin aufgeregt. Sehr aufgeregt. Sie war unterwegs, um ihren neuen Freund zu treffen, den sie vor vier Wochen kennen gelernt hatte; Jan, den Knappen, der im Dienst eines richtigen Ritters stand und stets spannende und aufregende Geschichten zu erzählen hatte.

Es war purer Zufall gewesen, dass sie sich getroffen hatten – oder, um genau zu sein, eine Kombination aus Zufall und Robins übergroßer Neugier, die ihr schon mehr als einmal gehörigen Ärger eingebracht hatte. Die alte Kapelle lag ein gutes Stück außerhalb des Dorfes, gerade weit genug, um den Weg lästig werden zu lassen, und niemand wusste mehr genau, warum man sie ausgerechnet dort errichtet hatte, und als sei damit alles gesagt, brachte man ihr auch nicht unbedingt den Respekt entgegen, den sie als ein Gotteshaus zweifellos verdiente. Ganz im Gegenteil: Düstere Geschichten rankten sich um die aufgelassene Kapelle. Es hieß, dass dort heidnische Riten abgehalten worden seien, und einige der Alten behaupteten sogar, dass der Teufel selbst dort nachts sein Unwesen treibe. Darüber hinaus war es ein offenes Geheimnis, dass die Kapelle den Liebespaaren aus dem Ort als verschwiegener Treffpunkt diente. Robin hatte sich oft gefragt, was sie dort eigentlich taten, und sie hatte diese Frage sogar einmal ihrer Mutter gestellt, aber eine so rüde Abfuhr erhalten, dass sie es fortan nicht mehr gewagt hatte, das Thema anzusprechen.

An jenem Abend vor vier Wochen befand sie sich auf dem Rückweg ins Dorf. Sie hatte Kräuter gesammelt, aus denen ihre Mutter allerlei Salben und Tinkturen herzustellen wusste, aber auch wohlschmeckende Tees, und sie hatte nicht auf die Zeit geachtet und musste sich nun sputen, um noch vor Einbruch der Nacht nach Hause zu kommen. Ihr Korb war schwer, denn sie hatte außer den Kräutern auch noch eine große Anzahl Pilze entdeckt, die sie kurzerhand eingesammelt hatte. Obwohl sie spät dran war und ahnte, dass ihre Mutter sie schelten würde, war sie guter Dinge, denn sie wusste auch, wie sehr sich ihre Mutter über die Pilze freuen würde. Sie stellten eine willkommene Abwechslung in ihrem sonst doch recht eintönigen Speiseplan dar, der aus Haferbrei, einem gelegentlichen Stück Fladenbrot und Rüben in jeder nur erdenklichen Form der Zubereitung bestand; drei- oder viermal im Jahr auch aus einem Stück Fleisch, wenn es ihnen gelang, einen Hasen zu erlegen, oder ein Nachbar ein Schwein schlachtete und ihnen großzügiger Weise etwas abgab.

Um dem Unmut ihrer Mutter nicht mehr Nahrung als unbedingt nötig zu geben, entschloss sie sich, die Abkürzung durch den Wald zu nehmen, der auf halbem Wege zwischen dem Dorf und der alten Kapelle lag. Normalerweise mied Robin das kleine Wäldchen. Das dichte Unterholz, die finstere Kühle unter den ineinander verwobenen Baumkronen und seine düsteren Schatten machten ihr Angst. Sie glaubte zwar nicht wirklich an den Teufel und die Existenz von Dämonen, aber andererseits … man konnte nie wissen. Außerdem standen die dornenbewehrten Himbeer- und Brombeersträucher so eng, dass sie Gefahr lief, sich ihr sowieso schon mehrfach geflicktes Gewand zu zerreißen – sollte das passieren, das wusste sie aus bitterer Erfahrung nur zu gut, würde ihre Mutter sie so lange mit sorgenvollen Vorwürfen überhäufen, bis Robin vor Scham am liebsten im Boden versinken würde.

Sie hatte den Waldrand fast erreicht, als sie ein verräterisches Knacken hörte; das typische Geräusch eines brechenden Zweiges. Seiner Lautstärke nach zu urteilen musste es sich um einen ziemlich kräftigen Zweig gehandelt haben, was wiederum bedeutete, dass es sich nicht um ein Eichhörnchen oder einen Hasen gehandelt haben konnte, und Robin erstarrte für die Dauer eines Herzschlags. Gleichzeitig sah sie sich erschrocken und sehr hastig nach einem Versteck um – nach einem Baum, auf den sie klettern konnte. Zwar hatten sich seit langer Zeit keine Wölfe, Bären oder andere gefährliche Raubtiere in die unmittelbare Umgebung verirrt, aber erst im vergangenen Jahr war ein Mann aus dem Dorf von einem Wildschwein angegriffen und schwer verletzt worden.

Sie hatte gerade einen Baum entdeckt, der ihr geeignet schien, als sich das Knacken – näher diesmal – wiederholte, und praktisch gleichzeitig sah sie einen Schatten. Nicht sehr weit entfernt, links von ihr war ganz eindeutig der Umriss eines Menschen. Robin atmete erleichtert auf und wollte sich gerade durch lautes Rufen zu erkennen geben, als ihr etwas bewusst wurde: Wer immer dort vor ihr am Waldrand entlang schlich, bewegte sich so vorsichtig und langsam, als wollte er jedes unnütze Aufsehen vermeiden. Er blieb immer wieder stehen, sah sich um und schlich dann geduckt und hastig weiter. Auch achtete er darauf, wohin er seine Schritte lenkte, denn er zerbrach keine weiteren Äste mehr. Das war sonderbar, fast schon unheimlich.

Robin setzte ihren Korb ab, ließ sich in die Hocke sinken und bog vorsichtig das Unterholz auseinander …

 … und erlebte eine Überraschung.

Aus dem Umriss wurde eine Gestalt, die Robin nur zu gut kannte. Es war Helle, die Frau des alten Olof. Olof war Fischer, hatte die vierzig schon weit hinter sich gelassen und war im Dorf nicht besonders beliebt, denn er hatte ein griesgrämiges Wesen und neigte zur Gewalttätigkeit, vor allem, wenn er getrunken hatte. Ganz anders Helle. Sie hätte Robins ältere Schwester sein können und sie war eine wirkliche Schönheit. Olof hatte sie vor fünf Jahren eines Tages einfach mitgebracht, ein halbes Kind noch, und ihre nachtschwarzen Augen und das nicht zu bändigende, rotbraune Haar hatten schon Anlass zu mancherlei Spekulationen gegeben, was ihre Herkunft anbelangte. Heute war sie die mit Abstand schönste Frau im Dorf und Robin wäre nicht einmal erstaunt gewesen, wenn man ihr erzählt hätte, sie sei die Schönste im ganzen Land. Selbst jetzt, vom Gegenlicht der untergehenden Sonne zu kaum mehr als einer bloßen Silhouette reduziert, kam sie Robin wie ein schwebender Engel vor. Das rote Licht schien ihr Haar in Brand zu setzen und stand in wundervollem Kontrast zu ihrem farbenprächtigen Sonntagskleid und dem bunt bestickten Wollschal, den sie sich über die Schulter geworfen hatte und den Robin noch nie an ihr gesehen hatte.

Sie war nicht allein. Eine zweite, etwas größere Gestalt folgte ihr mit wenigen Schritten Abstand. Es war ein schlank gewachsener Junge, den Robin noch nie zuvor gesehen hatte. Er trug ein einfaches, graues Gewand, das von einem groben Strick um die Taille zusammengehalten wurde und ganz gut eine Mönchskutte hätte sein können, hätte unter dem Kragen nicht die Kapuze eines fein gewobenen Kettenhemdes hervorgeschaut und unter dem Saum nicht Stiefel aus fein gegerbtem Leder. Als er näher kam, erkannte Robin, dass der Junge schwarzes, zu einem Topfschnitt frisiertes Haar und ein kantiges, aber trotzdem nicht unsympathisches Gesicht hatte. Auf seinen Wangen lag der erste, noch zarte Flaum eines Bartes, aber er konnte trotzdem nicht sehr viel älter als Robin sein. Er sah sich immer wieder nervös und sehr aufmerksam um. Einmal fiel der Blick seiner dunklen Augen genau auf den Busch, hinter dem sich Robin versteckt hatte, und sie war fast sicher, dass er sie einfach sehen musste. Doch dann drehte er den Kopf weiter und sah wieder zum Dorf zurück.

Robin sah den beiden nach, bis sie außer Hörweite waren. Dann stand sie auf, ging vorsichtig zum Waldrand und spähte in die Richtung, in der die beiden gingen. Sie war nicht einmal besonders überrascht, als sie dort die verlassene Kapelle entdeckte.

Robins Gedanken rasten. Wenn sie jetzt sofort loslief, dann würde sie vielleicht gerade noch rechtzeitig nach Hause kommen, um dem schlimmsten Zorn ihrer Mutter zu entgehen. Andererseits … Helle war mit einem Fremden unterwegs, und das noch dazu in aller Heimlichkeit. Sie war es nicht nur ihrer Mutter, sondern dem ganzen Dorf schuldig, den beiden nachzugehen und herauszufinden, was der Grund für ihre Heimlichtuerei war.

Zumindest schob sie das vor, um sich nicht selbst eingestehen zu müssen, dass sie vor Neugier nahezu platzte. Außerdem fand Robin, dass das Risiko einer Tracht Prügel die Gefahr längst nicht aufwog, die ein Fremder bedeuten mochte, der sich in aller Heimlichkeit hier herumtrieb, und folgte den beiden.

Es fiel ihr nicht besonders schwer, unerkannt zu bleiben. Bis zur Kapelle hin war das Gelände mit hüfthohem Heidekraut, Gras und wild wuchernden Büschen bewachsen und Robin kannte praktisch jeden Strauch wie einen persönlichen Freund. Geschickt huschte sie von Deckung zu Deckung, wobei sie sorgsam darauf achtete, den Abstand zwischen sich und Helle und dem Fremden nicht kleiner werden zu lassen. Zwei- oder dreimal blieb der dunkelhaarige Junge stehen und blickte aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung, ging aber jedes Mal weiter.

Robin war sich ziemlich sicher, kein verräterisches Geräusch verursacht zu haben, und auch die Natur kam ihr nun zu Hilfe: Mit Einbruch der Dämmerung war ein leichter Wind aufgekommen, der für genügend Bewegung sorgte und sie mit seinem leisen Raunen und Säuseln tarnte. Trotzdem blieb sie auf dem letzten Stück lieber etwas zurück. Tief in sich glaubte sie zwar selbst nicht daran, aber falls der Fremde wirklich Übles im Sinn hatte, so war er ganz bestimmt nicht begeistert, verfolgt zu werden.

Schließlich kauerte sie sich hinter einen Busch und beobachtete aus seinem Schutz, was weiter geschehen würde. Der Fremde steuerte mit raschen Schritten auf die Kapelle zu und verschwand darin. Helle folgte ihm dichtauf, allerdings nicht, ohne einen weiteren langen Blick zum Dorf zurück geworfen zu haben. Danach geschah eine ganze Weile lang nichts. Weder Helle noch der Junge kamen wieder aus der Kapelle heraus, aber nachdem es jetzt zu dunkeln begann, nahm Robin einen schwachen rötlichen Lichtschein wahr, der durch die beiden Fenster drang. Dort drinnen brannte eine Kerze oder eine kleine Fackel, deren Schein allerdings sorgsam abgeschirmt wurde. Aus ihrem Versteck heraus, das vielleicht zwanzig Schritte entfernt war, war dieses Licht schon fast nicht mehr wahrnehmbar, etwas weiter weg war es sicherlich nicht mehr zu sehen.

Lange Zeit rührte sich nichts, so lange, dass Robin schließlich zu dem Schluss kam, dass sie nichts Interessantes mehr zu sehen bekommen würde und sie hier hocken konnte, bis sie schwarz wurde. Was also sollte sie tun? Zurückgehen und das Donnerwetter, das mit Sicherheit über sie hereinbrechen würde, für nichts und wieder nichts in Kauf nehmen? Das erschien ihr nicht sinnvoll. Was sie erwartete, konnte schwerlich viel schlimmer werden, wenn sie sich um einige weitere Minuten verspätete. Also löste sie sich behutsam aus ihrer Deckung und näherte sich geduckt der Kapelle.

Unter einem der beiden schmalen Fenster auf dieser Seite kauerte sie sich schwer atmend zusammen und lauschte. Im ersten Augenblick hörte sie nichts außer dem Schlagen ihres eigenen Herzens, das ihr so laut vorkam, dass man es eigentlich bis zum Meer hinunter hören musste. Dann aber identifizierte sie zwei Stimmen, die miteinander flüsterten. Eine davon gehörte Helle, also musste die andere folglich die des Jungen sein.

Und nun, wo sie schon einmal so weit gekommen war, würde sie natürlich auch nachsehen, was die beiden da drinnen eigentlich trieben. Sie schob sich vorsichtig an der rauhen Wand entlang in die Höhe und hatte das Fenster fast erreicht, als eine harte Hand sie im Genick packte und so abrupt zurückriss, dass sie einen keuchenden Schrei ausstieß – allerdings nur für einen kurzen Moment, denn schon im nächsten Augenblick legte sich ihr eine zweite, ebenso starke Hand über Mund und Nase und erstickte nicht nur ihren Schrei, sondern nahm ihr auch den Atem.

Robin begann verzweifelt mit den Beinen zu strampeln und um sich zu schlagen, wurde aber trotzdem in die Höhe gerissen und grob herumgezerrt.

»Jan, was ist los?«, drang eine dunkle Stimme aus dem Haus.

»Nichts, Herr«, antwortete die Gestalt, die sie gepackt hielt. Nach einem kurzen Lachen fügte sie hinzu: »Nur ein streunender Köter, wie ich vermutet habe.«

Robin wurde von der Kapelle fortgezerrt. Nach ein paar Sekunden hörte sie auf, sich zu wehren, und dann gab sie auch den Versuch auf, einen hohen spitzen Hilfeschrei auszustoßen. Sie bekam keine Luft mehr. Wenn der Bursche sie nicht bald losließ, würde sie ersticken.

Der Fremde tötete sie nicht, aber er war kurz davor, ehe er Robin endlich losließ und grob zu Boden warf. Sie fiel, rollte, verzweifelt nach Luft ringend, auf den Rücken und sah eine riesige, verzerrte Gestalt über sich aufragen. Etwas Helles, Silberfarbenes schimmerte in der Hand des Angreifers und kaltes Metall berührte Robins Kehle.

»Nein!«, keuchte sie. »Bitte, Herr, ich …«

»Nicht so laut«, zischte der schwarzhaarige Riese. »Wenn du weiter so schreist, muss ich dir die Kehle durchschneiden. Willst du das?«

Robin schüttelte stumm den Kopf. Sie hätte vor lauter Angst mittlerweile sowieso keinen Ton mehr herausgebracht, aber sie erkannte immerhin, dass ihr Bezwinger alles andere als ein Riese war. Ihre eigene Angst hatte ihn dazu gemacht. Es war kein anderer als der schwarzhaarige Junge, den sie zusammen mit Helle gesehen hatte. Aber das silberfarbene Metall in seiner Hand war ein Schwert und die rasiermesserscharfe Klinge drückte mit solcher Kraft gegen ihre Kehle, dass sie kaum zu atmen wagte.

»Sind wir uns einig?«, fragte Jan.

Robin deutete ein Nicken mit den Augen an und wies mit der linken Hand auf das Schwert an ihrem Hals. Jan ließ die Klinge jedoch noch einige Augenblicke lang, wo sie war, und musterte sie in dieser Zeit ebenso aufmerksam wie misstrauisch. Dann aber zog er es mit einem Ruck zurück und schob es in die lederne Scheide, die er samt des dazugehörigen Waffengurts in der linken Hand hielt.

»Für dich brauche ich keine Waffe«, sagte er abfällig – was vermutlich der Wahrheit entsprach. Robin hatte ja gerade am eigenen Leibe erfahren, um wie vieles stärker er war als sie.

Sie setzte sich vorsichtig auf, betastete ihren Hals und betrachtete anschließend ihre Fingerspitzen. Es klebte kein Blut daran.

Jan lachte leise. »Keine Angst, Bursche – dein Kopf sitzt noch auf deinem ungewaschenen Hals. Aber das muss nicht unbedingt noch lange so bleiben«, fügte er in übertrieben gespielt drohendem Ton hinzu. »Wie ist dein Name?«

»Robin«, antwortete Robin. »Und du bist … Jan?«

»Jedenfalls hast du gute Ohren«, sagte Jan. »Hast du auch so gute Augen, Kerl?«

Offensichtlich hielt er sie für einen Jungen und Robin sah in diesem Augenblick keine Veranlassung, diesen Irrtum richtigzustellen. Sie glaubte zwar zu spüren, dass Jans auftrumpfendes Gehabe nur gespielt war, aber man konnte schließlich nie wissen. Das Leben eines Mädchen galt nun einmal weniger als das eines Jungen, das war schon immer so gewesen und würde wohl auch immer so bleiben. Vielleicht saß das Schwert doch nicht ganz so locker in seiner Scheide, wenn er sie für einen Jungen hielt.

Robin betrachtete die Waffe nervös. Seltsam – sie war fast sicher, dass Jan sie vorhin nicht bei sich gehabt hatte.

»Bist du zu stur, mir zu antworten, oder einfach nur blöde?«, herrschte Jan sie an.

»Nein«, antwortete Robin hastig.

»Nein – was?«, fragte Jan. »Du bist blöde.«

»Ich habe nur nicht verstanden, was … was du überhaupt meinst«, antwortete Robin stockend. »Ich habe nichts gesehen.«

»Deshalb bist du uns auch nachgeschlichen«, sagte Jan spöttisch.

»Ich habe dich zusammen mit Helle gesehen«, gestand Robin. »Und … und weil du ein Fremder bist und Fremde so selten in unser Dorf kommen …«

»… hast du dir gedacht, du spionierst uns mal ein bisschen hinterher, um zu sehen, was wir in dieser alten Kapelle so treiben«, führte Jan den Satz zu Ende. Er griente. »Na, was glaubst du denn, was im Moment da drüben in der Kapelle so alles passiert?«

Er lachte, aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die Robin spüren ließ, dass er eigentlich von ihr erwartete, in dieses Lachen einzustimmen. Zugleich aber setzte der Scherz, für den er seine Worte offensichtlich hielt, ein Wissen voraus, das sie einfach nicht besaß.

»Helle ist dort drinnen«, sagte sie so. »Zusammen mit … noch jemandem.«

Jan starrte sie für die Dauer eines Atemzuges eindeutig fassungslos an, dann begann er zu lachen – nicht besonders laut, aber dafür umso ausdauernder.

»Ja«, sagte er kichernd. »So könnte man es nennen. Sie ist mit jemandem zusammen.« Er schüttelte den Kopf. »Hat dein Vater dir eigentlich gar nichts übers Leben beigebracht? Über das, was Männer und Frauen miteinander so treiben?«

»Mein Vater ist tot«, antwortete Robin.

»Oh«, sagte Jan. »Das tut mir Leid.«

»Ich habe ihn gar nicht gekannt«, sagte Robin. »Er ist gestorben, bevor ich zwei Jahre alt war.« Sie war selbst ein wenig erstaunt, wie glatt ihr diese Lüge von den Lippen ging, aber sie las in Jans Gesicht, dass es ganz das war, was er in diesem Moment hören wollte.

»Und deine Mutter hat dir natürlich alles Lebenswichtige unterschlagen.« Jan schmunzelte noch immer, schüttelte aber dann den Kopf und wurde schlagartig wieder ernst. »Trotzdem haben wir ein Problem, Robin. Was soll ich jetzt mit dir tun?«

»Tun?«

»Tun«, bestätigte Jan ernst. »Mit dir, Robin. Ich meine, ich kann dich nicht einfach gehen lassen.«

»Warum nicht?«

Jan sah kurz zur Kapelle hin, ehe er antwortete. »Du hast vollkommen Recht. Deine Helle trifft sich dort mit jemandem – mit meinem Herrn nämlich.«

»Und wer ist dein Herr?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Aber niemand darf von diesem Treffen wissen. Euer ganzes Dorf könnte in Gefahr geraten, wenn es bekannt würde. Und mein Herr übrigens auch. Als sein Leibwächter kann ich das natürlich nicht zulassen.«

»Leibwächter?«, fragte Robin. »Was ist denn das?«

Jan maß sie mit einem Blick, der ganz deutlich fragte: Weißt du denn eigentlich gar nichts, du Dummkopf?, antwortete aber trotzdem: »Ich habe geschworen, das Leben und das Wohlergehen meines Herrn zu schützen. Wenn es sein muss, mit meinem eigenen Leben.«

Das klang so ehrlich und aufrichtig, dass Robin gar nicht anders konnte, als den schwarzhaarigen Jungen einen Moment lang bewundernd anzustarren. Dann blickte sie wieder das Schwert an, das Jan achtlos neben sich ins Gras gelegt hatte.

»Dein Herr ist ein Ritter«, murmelte sie.

»Ein Tempelritter sogar.« Robin kannte den Begriff nicht, aber so, wie Jan ihn aussprach, schien es sich dabei um etwas ganz Besonderes zu handeln. »So wie ich auch.«

»Du bist ein … Ritter?« Es gelang Robin nicht ganz, den Zweifel aus ihrer Stimme zu vertreiben, aber Jan lachte nur.

»Du glaubst, ich wäre zu jung dazu? Nun, du würdest dich wundern. Es gibt Könige, die jünger sind als du.«

»Das glaube ich nicht!«, sagte Robin impulsiv.

»Aber es ist die Wahrheit.« Jan hatte ihren Blick bemerkt und nahm nun das Schwert in die Hand. Er drehte es herum und hielt ihr die Waffe mit dem Griff voran hin.

»Möchtest du es einmal anfassen?«

Robin war viel zu verdattert, um überhaupt antworten zu können. Sie hatte noch nie ein Schwert aus solcher Nähe gesehen, aber sie wusste natürlich, welch ungeheuren Wert eine solche Waffe darstellte – und ganz besonders diese Waffe. Soweit sie das beurteilen konnte, bestand der mit feinstem Leder umwickelte Griff aus kunstvoll besetztem Gold. Knauf, Schaft und auch die lederne Scheide waren mit grünen, blauen und roten Edelsteinen besetzt. Robin vermochte seinen Wert nicht einmal zu erahnen, aber ihr war klar, dass dieses Schwert einem sehr, sehr reichen Mann gehören musste. Und einem entsprechend mächtigen.

»Nur zu, mein Freund«, sagte Jan aufmunternd. »Zieh es ruhig heraus. Es beißt nicht.«

Robin griff zögernd nach dem Schwertgriff, schloss die Hand darum und zog die Waffe aus ihrer Umhüllung. Es gab einen hellen, schleifenden Laut, ganz anders, als sie erwartet hatte. Fast wäre ihr das Schwert gleich wieder aus der Hand gerutscht, so schwer war es. Mit einem erschrockenen Ausruf nahm sie auch noch die zweite Hand zur Hilfe, um es Jan nicht vor die Füße knallen zu lassen. Der junge Ritter runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Ganz offensichtlich sonnte er sich in der Bewunderung, die sie dem prachtvollen Schwert – und damit auch ihm – zollte. Schließlich hielt er die Scheide in die Höhe und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, das Schwert hineinzuschieben.

»Sei vorsichtig«, sagte er. »Die Klinge ist sehr scharf.«

Das hatte Robin schon am eigenen Leib gespürt. Sie schob das Schwert behutsam in seine lederne Umhüllung zurück und Jan legte die Waffe ins Gras.

»Also, was mache ich jetzt mit dir?«, fragte er. »Das Treffen zwischen Helle und meinem Herrn muss auf jeden Fall geheim bleiben. Ich müsste dich eigentlich töten.«

Robin starrte ihn an. Mit einem Male war sie gar nicht mehr so sicher, dass Jan sich nur einen derben Scherz mit ihr erlaubte oder sie nur einzuschüchtern versuchte. Vielleicht waren Ritter so. Vielleicht stellten sie die Pflicht ja tatsächlich über ihr Gewissen oder das, was sie dafür hielten.

»Ich werde niemandem etwas sagen, das schwöre ich«, sagte sie feierlich.

»Die Frage ist nur, was der Schwur eines Bauerntölpels wert ist, der weder schreiben noch lesen kann und einen Gottesdienst vermutlich nicht von einer Schweinehatz unterscheidet«, antwortete Jan. Seine Hand strich währenddessen in einer fast zärtlichen Geste über das Schwert.

»Andererseits … irgendetwas sagt mir, dass du ein ehrlicher Bursche bist. Wenn du mir also dein Wort gibst, niemandem etwas zu verraten, dann könnte ich dich vielleicht am Leben lassen. Aber ich meine wirklich niemandem, verstehst du? Auch nicht deiner Mutter oder deinen Freunden.«

»Das verspreche ich«, sagte Robin hastig. »Ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist!«

»Ja«, knurrte Jan. »Fragt sich nur, was das wohl sein mag.« Er wedelte mit der Hand. »Also los. Ich habe zwar das Gefühl, dass ich es bereuen werde, aber verschwinde. Und schnell, bevor ich es mir anders überlege.«

Das ließ sich Robin nicht zweimal sagen. Sie sprang auf, wirbelte auf der Stelle herum und verschwand mit weit ausholenden Schritten in der Dunkelheit, so schnell sie nur konnte.

KAPITEL 2

Es hatte das erwartete Donnerwetter gegeben, und auch wenn ihre Mutter sie nicht geschlagen hatte, so war es doch schlimmer ausgefallen als erwartet. Am Schluss hatte Robin ihrer Mutter natürlich doch von Helle und dem fremden Ritter erzählt; schon, weil ihr Treffen mit dem jungen Tempelritter weitaus mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hatte und sie vor lauter Neugier schier platzte.

Am Anfang hatte ihre Mutter ihr gar nicht geglaubt und ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie sich das alles nur ausgedacht habe, um einer Bestrafung zu entgehen, aber nachdem Robin hartnäckig bei ihrer Geschichte blieb, wurde sie immer nachdenklicher und ernster. Schließlich hatte sie Robin aufgefordert, die ganze Geschichte noch einmal und in aller Ausführlichkeit zu erzählen, und nachdem sie das getan hatte, wurde sie noch stiller. Robin fasste all ihren Mut zusammen und fragte ihre Mutter, was Helle und der fremde Ritter denn nun eigentlich taten. Zu ihrer Überraschung hatte ihre Mutter dieses Mal nicht unwillig reagiert, sondern, im Gegenteil, gelacht. Dann war sie sehr ruhig geworden und hatte Robin beiseite genommen. Sie hatten lange und in einem für Robin neuen, sehr vertrauten Ton miteinander gesprochen. Danach wusste Robin eine Menge mehr über den Unterschied zwischen Männern und Frauen, der wohl doch größer war, als sie bisher angenommen hatte. Sie hatte längst nicht alles verstanden, denn ihre Mutter hatte oft in Andeutungen und Umschreibungen geredet und den meisten direkten Fragen war sie ausgewichen, fast als wäre ihr die Antwort peinlich. Immerhin hatte sie begriffen, dass es da noch eine ganz andere, aufregende und vielleicht sogar ein bisschen verbotene Welt zu entdecken gab.

Und schon drei Tage später hatte sie Jan wiedergesehen.

Diesmal war es ganz und gar kein Zufall. Im Gegenteil: Robin, die das Gefühl hatte, an einem wichtigen Wendepunkt ihres Leben angelangt zu sein, war nun wild entschlossen, auch die letzten Geheimnisse des Lebens zu ergründen. Jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang versteckte sie sich am Dorfrand und wartete auf Helle und schon am dritten Tag wurde ihre Geduld belohnt, als die hübsche junge Frau erschien und sich aus dem Ort schlich. Robin folgte ihr und eine halbe Stunde später verschwand Helle in dem verlassenen Gotteshaus. Robin wartete, bis Jan wieder herauskam, um ihn anzusprechen.

Wie sie erwartet hatte, war er alles andere als begeistert, sie wiederzusehen. Aber immerhin bedrohte er sie nicht mehr mit dem Schwert und er machte auch keine Anstalten, ihr den Kopf abzureißen.

Ganz im Gegenteil: Er war sogar froh, sie zu sehen. Immerhin hatte er nichts anderes zu tun, als herumzusitzen und darauf zu warten, dass das Treffen zwischen Helle und seinem Herrn seinem Höhepunkt und damit auch seinem Ende zutrieb – was meistens zwei oder auch schon mal drei Stunden dauern konnte. Ihn plagte schlichtweg die Langeweile und dazu kam, dass Robin keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für ihn machte. Immerhin war er ein richtiger Ritter und wer aus dem Dorf konnte sich schon rühmen, einen der Krieger Gottes persönlich zu kennen?

Wie sich zeigte, trafen sich Helle und Jans Herr regelmäßig zweimal die Woche – immer dienstags und freitags. Wie selbstverständlich folgten auch Robins und Jans Begegnungen diesem Rhythmus. Robin überschüttete den jungen Tempelritter nur so mit Fragen, die er allesamt geduldig und sehr ausführlich beantwortete. Robin begriff rasch, dass Jan große Freude daran hatte, Geschichten zu erzählen. Und er kannte eine Menge spannender Geschichten! Er erzählte von seiner Erziehung zum Ritter, von wilden Kämpfen und abenteuerlichen Reisen und vor allem von Outremer, dem Königreich Gottes im Heiligen Land. Robin klebte geradezu an seinen Lippen und sog jedes Wort in sich auf und im Laufe der Zeit geschah etwas Erstaunliches: Ihre Welt wurde größer. Zwar begann sie nach einer Weile zu argwöhnen, dass vielleicht nicht alles stimmte, was Jan ihr erzählte – der schwarzhaarige Ritter war gerade einmal siebzehn Jahre alt und somit zwar schon Manns genug, um an der Seite anderer Ritter in die Schlacht zu reiten und gegen die Heiden zu kämpfen, aber zugleich auch noch genug Kind, um sich in der Bewunderung eines Jüngeren zu sonnen und seine eigenen Heldentaten vielleicht etwas mehr herauszustreichen, als angemessen war.

Aber das spielte keine Rolle. Niemand konnte sich Geschichten wie diese ausdenken, ohne wenigstens etwas davon wirklich erlebt zu haben, und Robin begriff zumindest eines mit erschütternder Gewissheit: dass die Welt größer war, als sie bisher geglaubt hatte. Unendlich viel größer. Sie endete immer noch am Meer im Norden, dem Fluss und den Hügeln, aber sie wusste nun, dass sie dahinter weiterging und voller unbekannter, exotischer Länder war, voller Abenteuer und Geheimnisse, die es zu ergründen gab, aber auch voller schrecklicher Gefahren und großer Herausforderungen. Und mit jedem Wort, das sie hörte, jeder neuen Geschichte, die Jan erzählte – gleich ob ausgedacht oder wahr –, wuchs in ihr der Entschluss, diese Welt eines Tages kennen zu lernen. Sie wollte – sie musste! – mit eigenen Augen sehen, wie es dort draußen zuging!

Und an jenem schicksalhaften Abend stellte sie Jan die Frage, die ihr schon seit ihrem zweiten oder dritten Treffen wie keine andere auf der Zunge brannte, die sie aber bisher nicht auszusprechen gewagt hatte.

»Was muss ich tun, um Ritter zu werden?«

Jan starrte sie an, als hätte sie ihn gefragt, warum die Sonne morgens aufging. Es dauerte eine geraume Weile, bis er seine Sprache wiederfand, und auch dann war seine Antwort nicht besonders geistreich: »Was … hast du gesagt?«

»Ich will Ritter werden«, sagte Robin noch einmal und mit großem Ernst. »Genau wie du.«

»Du weißt nicht, was du da redest«, sagte Jan. Er klang plötzlich fast unwirsch, fast als hätte sie etwas gesagt, worüber er sich ärgerte. Robin verstand das nicht.

»O doch«, beharrte sie. »Ich habe es mir genau überlegt. Ich will all diese fremden Länder und Menschen sehen, von denen du erzählt hast. Ich will ins Heilige Land! Ich will gegen die Sarazenen kämpfen und … und die Kirche sehen, in der unser Heiland zu Grabe getragen wurde.«

Jan sah sie lange und sehr ernst an, dann sagte er leise: »Du glaubst doch gar nicht an ihn.«

Robin war schockiert, nicht ob dieser ungeheuerlichen Unterstellung – die vielleicht gar keine war –, sondern weil sie einfach nicht verstand, woher er das wissen konnte! Tatsächlich war Robin kein besonders gläubiger Mensch. Sie versammelte sich sonntags zusammen mit allen anderen zum gemeinsamen Gebet und selbstverständlich betete sie auch mit ihrer Mutter vor den Mahlzeiten und vor dem Schlafengehen. Aber es waren nur Worte, die sie sprach. Mit dem Herzen war sie niemals wirklich dabei gewesen. Sie hatte Mühe, sich mit einem Gott anzufreunden, der zuließ, dass ehrliche Menschen im Winter verhungerten und Neugeborene ertränkt wurden, nur weil sie das falsche Geschlecht hatten.

Aber wie um alles in der Welt konnte Jan das wissen?

Der junge Tempelritter sah sie noch einige Augenblicke auf die gleiche, unangenehm durchdringende Weise an, aber er war dann doch diplomatisch genug, nicht auf einer Antwort zu bestehen. Er sagte nur noch einmal: »Du weißt ja gar nicht, was du da sagst.«

»Aber du selbst hast mir doch …«

»Ich habe dir von meinen Abenteuern erzählt«, fiel ihr Jan ins Wort. »Von den Reisen, die ich zusammen mit meinem Herrn unternommen habe, und all den fremden Menschen und Ländern, die wir gesehen haben. Vielleicht war das ein Fehler.«

»Wieso?«, fragte Robin. »Ist es denn nicht wahr?«

»Doch«, antwortete Jan. Dann zuckte er mit den Schultern, rettete sich in ein verlegenes Lächeln und fügte hinzu: »Mehr oder weniger.«

Robin schwieg. Sie wollte Jan nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass Jan mehr erzählen würde, wenn sie ihn einfach reden ließ. Sie hatte mit ihrer Frage irgendetwas in ihm angerührt.

Jan riss einen Grashalm aus, steckte ihn zwischen die Lippen und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die große Buche, in deren Schutz sie sich niedergelassen hatten, vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte von der Kapelle entfernt und damit weit genug, um drinnen nicht gehört zu werden, aber zugleich auch nah genug, dass Jan seiner Aufgabe gerecht wurde.

»Du machst dir ein falsches Bild vom Leben eines Ritters, Robin«, sagte er leise. »Die Erziehung ist hart und sie dauert Jahre. Ich war acht, als ich zu Bruder Abbé kam, und es wird wahrscheinlich noch einmal so lange dauern, bis meine Ausbildung wirklich abgeschlossen ist … wenn überhaupt.«

»Das würde mich nicht schrecken«, behauptete Robin.

»Du willst kämpfen lernen«, sagte Jan. »Du willst lernen, wie man mit dem Schwert umgeht, dem Morgenstern und der Lanze. Du würdest dabei verletzt werden.«

»Ich habe mich schon oft verletzt«, sagte Robin leichthin.

»Du wirst dir Schnittwunden einhandeln, Prellungen und Knochenbrüche«, fuhr Jan unbeirrt fort. »Du wirst Schmerzen und Entbehrungen erleiden, die du dir jetzt nicht einmal vorstellen kannst! Und das ist noch der angenehmste Teil der Erziehung.«

»Aber du …«

»Du musst deine Familie verlassen«, fuhr Jan fort. »Du liebst doch deine Mutter?«

»Natürlich«, antwortete Robin impulsiv.

»Du würdest sie nie wiedersehen«, sagte Jan ernst. »Und auch alle anderen nicht, die du kennst. Du würdest dein ganzes Leben hinter dir lassen, um es gegen endlose Jahre harter Arbeit und Entbehrungen einzutauschen. Du müsstest die niedrigsten Arbeiten verrichten, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Würde es dir Freude bereiten, drei Jahre lang Pferdeställe auszumisten, bevor du das erste Mal auch nur ein Schwert anrühren darfst?« Er schnaubte wütend. »Und in der Zeit dazwischen, wenn du gerade keinen Pferdemist schaufelst oder Feuerholz hackst, bis dir die Hände bluten, endlose Exerzitien und Gebete.« Er sah Robin streng ins Gesicht: »Betet ihr vor dem Essen, deine Mutter und du?«

»Natürlich«, antwortete Robin.

»Sag mir ein Vaterunser auf«, verlangte Jan. Als sie nicht sofort gehorchte, fügte er noch hinzu: »Auf Französisch.«

»Das kann ich nicht«, antwortete Robin.

»Du müsstest es aber«, beharrte Jan grimmig. »Und zwar nicht nur eines, sondern dreißig, vor jeder Mahlzeit. Vor Sonnenaufgang musst du eine Stunde beten und eine weitere nach Sonnenuntergang. Bei der kleinsten Verfehlung wirst du hart bestraft – manchmal nur für ein Lachen oder einen falschen Blick. Für einen unkeuschen Gedanken musst du dich stundenlang kasteien, und wenn dein Herr es von dir verlangt, dann stehst du einen halben Tag mit nackten Füßen im Schnee und betest zweihundert Ave Maria.«

»Warum?«

»Allein für diese Frage würdest du zehn Klafter Holz hacken, mit einem stumpfen Beil«, antwortete Jan. Er schüttelte heftig den Kopf, stockte plötzlich und starrte einen Moment aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit hinter Robin – als hätte er etwas gehört, was seine Aufmerksamkeit erweckte. Seine Hand tastete nach dem Schwert, das neben ihm im Gras lag, zog sich aber zurück, bevor sie die Waffe erreichte, und er entspannte sich und ließ den Hinterkopf wieder gegen den Baum sinken, als habe er nur ein Tier gehört.

»Aber du … du hast doch dieses Leben auch gewählt!«, sagte Robin verständnislos. Die Bitterkeit, die plötzlich in Jans Stimme war, erschreckte sie zutiefst. Sie war verwirrt. Bisher hatte sie geglaubt, dass der junge Ritter nicht nur stolz auf das war, was er war, sondern sein Leben als Tempelritter auch über alles liebte. War es möglich, dass er all diese Geschichten und Abenteuer nicht nur erfunden hatte, um sie zu beeindrucken, sondern auch und vielleicht sogar vor allem, um sich selbst etwas vorzumachen, sich ein Leben einzureden, das es in Wahrheit gar nicht gab? Und wenn ja, warum? Weil er die Wirklichkeit nicht ertragen hätte?

»Das habe ich nicht«, sagte Jan bitter. »Mein Vater hat die Entscheidung für mich getroffen. Und glaube bloß nicht, dass ich sie nicht schon bereut hätte. Jeden, jeden und jeden Tag, seit ich diese verfluchte Komturei das erste Mal betreten habe!«

»Aber ich dachte, du wärst stolz darauf, ein Ritter zu sein!«

»Ein Ritter?« Jans Stimme wurde bei diesen beiden Worten schrill, aber er lachte nicht. »Du glaubst, das wäre ich? Ich will dir sagen, was ich bin: Ich bin sein Büttel!« Er deutete auf die Kapelle. »Ich bin nichts als ein Laufbursche, der den Dreck wegräumen darf. Und meine bisher größte Belohnung besteht darin, darauf zu achten, dass das schmutzige Geheimnis eines geilen alten Bocks nicht an den Tag kommt!«

Darauf wusste Robin nun gar nichts mehr zu erwidern. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage war ihre Welt aus den Fugen geraten. Sie hatte gerade erst angefangen zu begreifen, dass es jenseits der Wälder und des Flusses noch eine andere, viel aufregendere und größere Welt gab, und nun sollte sie glauben, dass sie vielleicht schlimmer war als die, die sie bisher kannte? Das konnte und wollte sie nicht.

Als sie wieder zu Jan hoch sah, hatte er sich beruhigt. Der Zorn auf ein Schicksal, gegen das er vollkommen machtlos war, war so schnell wieder verraucht, wie er gekommen war. Er kaute auf seinem Grashalm herum und lächelte sogar – auch wenn sie nun argwöhnte, dass das, was sie bisher für den Ausdruck eines tiefen inneren Friedens in seinen Augen gehalten hatte, in Wahrheit nichts anderes als Resignation darstellte.

»Aber selbst wenn du dumm genug wärst, all das auf dich zu nehmen, Robin, so gibt es noch zwei weitere Gründe, die es dir vollkommen unmöglich machen, ein Tempelritter zu werden. Der eine ist deine Herkunft. Nur wer adeligen Geblüts ist, darf ein Tempelritter werden.«

»Adelig? Bist du das denn?« Robin blinzelte verwirrt. Der einzige Edelmann, den sie kannte, war der Lehnsherr, der alle paar Jahre ins Dorf kam, um sich huldigen zu lassen, und sich mit seinem Gefolge über einen Gutteil der ohnehin knappen Vorräte hermachte, bevor er wieder verschwand und die Dörfler drei Kreuze hinter ihm her machten in der Hoffnung, dass sein nächster Besuch möglichst lange auf sich warten lassen würde. Doch dafür kamen dann seine Steuerschätzer und -eintreiber umso öfter. Nein, der Lehnsherr war kein guter Mensch, und nach allem, was Robin aus den Gesprächen der Erwachsenen aufgeschnappt hatte, waren die meisten anderen Adeligen auch nicht besser. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass auch Jan zu dieser Sorte von Menschen gehören sollte. Trotzdem musste sie sich beherrschen, um nicht ganz instinktiv ein Stück von ihm wegzurücken.

»O ja, das bin ich. Wenn auch nur …« Er lächelte und deutete einen winzigen Zwischenraum zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand an. »… ein ganz Kleiner. Mein vollständiger Name lautet Jan von Tronthoff.«

»Tronthoff?« Robin runzelte die Stirn und tat so, als müsse sie angestrengt nachdenken. »Davon habe ich noch nie gehört.«

»Und was besagt das?« Jan hob besänftigend die Hand, obwohl sie gar nicht auf seine Frage reagiert hatte. »Das war gemein. Verzeih. Es besagt wirklich nichts, ob du von Tronthoff gehört hast oder nicht. Niemand hat das, weißt du? Das Baronat meines Vaters liegt hoch oben im Norden, fast schon im Dänischen, und es besteht aus nicht viel mehr als einem zugigen Turm auf einer Felsspitze, den mein Vater sein Schloss nennt, und einem halben Dutzend Bauernhöfe und einer Hand voll Fischer, aus denen er gerade genug herauspressen kann, um das Dutzend Halsabschneider zu bezahlen, das er seine Armee nennt. Ich glaube, die Summe, die er dem Orden stiften musste, damit sie mich aufnehmen, hat sein gesamtes Vermögen verschlungen.«

»Aber warum hat er es dann getan?«, wunderte sich Robin. Sie wunderte sich auch noch über etwas anderes – nämlich über den Hass, den sie in Jans Stimme vernommen hatte, als er über seinen Vater sprach.

»Weil er ein geltungsbedürftiger alter Narr ist«, antwortete Jan, nun scheinbar leidenschaftslos. »Es hat ihm wohl alles bedeutet, seinen einzigen Sohn zu einem Tempelritter gemacht zu haben. Ein von Tronthoff, der nach Jerusalem zieht, um gegen die Heiden zu kämpfen! Pah!«

Er spie seinen Grashalm aus, zupfte sich einen neuen und sagte: »Sei froh, dass du nicht adelig bist, Robin. Du wirst vielleicht immer arm bleiben, aber dein Leben ist dafür um vieles einfacher.«

Robin wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Gespräch bereitete Jan sichtlich Unbehagen, vielleicht sogar Schmerz, und das wollte sie nicht. Vielleicht nur, um das Thema zu wechseln, sagte sie: »Du … hast von zwei Gründen gesprochen, warum ich kein Tempelritter werden kann. Was ist der andere?«

»Nur Männer können Tempelritter werden«, antwortete Jan, »und du bist ein Mädchen.«

»Woher …« Robin brach ab und biss sich ärgerlich auf die Unterlippe. Jans Worte hatten sie so überrascht, dass sie sich nun praktisch selbst verraten hatte. Trotzdem versuchte sie noch ein letztes Mal, sich herauszureden. »Ich meine: Wie kommst du auf diese verrückte Idee?«

Jan seufzte. »Du hältst mich für dumm, wie? Ich könnte dich jetzt auffordern, dein Gewand hochzuheben, um mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber das ist gar nicht nötig.« Er lächelte. »Hat dir noch nie jemand gesagt, dass du hübsch bist?«

»Hübsch? Ich?« Jan nahm sie auf den Arm. Helle war hübsch und Gese, die Frau des Müllers. Vielleicht noch ihre Mutter – aber sie doch nicht!

»Du wirst einmal eine sehr schöne Frau«, behauptete Jan, »und es wird nicht einmal sehr lange dauern. Aber das ist es nicht allein. Es gibt auch hübsche Knaben. Nur«, fügte er nach einem Blinzeln und grinsend hinzu, »dass man ihre Brüste nicht sieht, wenn sie sich vorbeugen.«

»Oh«, machte Robin verlegen. Sie sah an sich herab. So, wie sie jetzt dasaß, in das grobe und viel zu große Gewand gehüllt, das nicht nur vom Stoff her weit mehr Ähnlichkeit mit einem Sack als einem wirklichen Kleidungsstück hatte, sah man absolut nichts. Tatsache war aber, dass ihre Brüste vor bereits gut zwei Jahren angefangen hatten zu sprießen. Sie hatten noch längst nicht die Größe wie die ihrer Mutter oder gar die Helles, waren offensichtlich aber bereits verräterisch genug – jedenfalls für einen solch aufmerksamen Beobachter wie Jan von Tronthoff.

»Und noch etwas«, sagte Jan. »Bei einem unserer Treffen neulich war Blut im Gras, dort, wo du gesessen hast. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder, du leidest an dem schlimmsten Fall von Hämorrhoiden, von dem ich je gehört habe, oder du bist ein Mädchen.«

Er schien auf eine ganz bestimmte Reaktion zu warten, aber als diese nicht kam, sondern Robin ihn nur weiter betroffen anblickte, wurde er wieder sehr ernst und fragte leise und kopfschüttelnd: »Hat dich deine Mutter denn gar nichts über deinen Körper gelehrt?«

»Doch«, antwortete Robin. »Nur …«

»Nur nicht genug, scheint mir«, seufzte Jan. »Gerade das, was unumgänglich notwendig war, und wahrscheinlich nicht einmal das. Es ist immer dasselbe. Also nimm einen guten Rat von mir an, Robin – ist das überhaupt dein richtiger Name?«

Robin nickte. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, begannen ihre Hände und Knie leicht zu zittern. Sie fühlte sich ertappt und das Gefühl, ausgerechnet Jan belogen zu haben, machte es besonders schlimm.

»Bleib ruhig dabei, dich für einen Jungen auszugeben, wenigstens Fremden gegenüber, von denen du nicht weißt, ob du ihnen trauen kannst. Aber du solltest dich schnüren, und wenn du fühlst, dass sich … gewisse Tage ankündigen, dann sorge dafür, dass dein eigener Körper dich nicht verrät.«

Auch darauf sagte Robin nichts. Sie konnte es gar nicht. Alles, was sie zustande brachte, war ein angedeutetes Nicken, von dem sie nicht einmal wusste, ob Jan es überhaupt zur Kenntnis nahm. Die ganze Situation war ihr so peinlich, dass sie am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre.

»Und was … was wirst du jetzt tun?«, fragte sie schließlich. Sie warf einen raschen, ängstlichen Blick zur Kapelle hin. Wenn Jan seinem Herrn erzählte, wie dreist sie ihn belogen hatte, dann war es um sie geschehen.

Auch Jan sah in die gleiche Richtung, aber er schien an etwas vollkommen anderes zu denken, denn er runzelte kurz die Stirn, sah dann wieder Robin an und schüttelte den Kopf. »Das eine oder andere scheint dir deine Mutter ja doch über Männer verraten zu haben«, sagte er. »Aber keine Angst. Ich habe ein Keuschheitsgelübde abgelegt und ich halte mich daran.«

Er seufzte, hob beide Hände vor die Augen und drehte sie ein paarmal hin und her, ehe er mit einem schiefen Grinsen, das Robin nicht verstand, hinzufügte: »Na ja. Meistens.«

Er lachte. Robin stimmte aus reiner Höflichkeit in dieses Lachen ein, als aus der Dunkelheit hinter ihr eine Mistgabel geflogen kam, deren rechte Zinke sich in Jans linkes Auge bohrte und seinen Schädel an den Baum nagelte.

Robin erstarrte. Sie begriff weder wirklich, was geschah, noch war sie in der Lage zu schreien, einen klaren Gedanken zu fassen oder sich gar zu bewegen. Jan spuckte röchelnd Blut und Schleim und noch mehr Blut lief aus seiner ausgestochenen Augenhöhle, seiner Nase und seinen Ohren, und plötzlich begannen seine Glieder wie wild zu zucken, seine Blase und sein Darm entleerten sich gleichzeitig und endlich fiel auch die Lähmung von Robin ab. Sie war immer noch nicht in der Lage, auch nur den mindesten Laut von sich zu geben, aber sie konnte sich wenigstens wieder bewegen.

Hilflos streckte sie die Arme nach der Mistgabel aus, aber sie wagte es nicht, sie herauszuziehen. Trotz seiner grässlichen Verletzung lebte Jan noch immer, und obwohl sie ganz genau wusste, wie absurd dieser Gedanke war, hatte sie Angst, ihm Schmerzen zuzufügen.

Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Sie hörte schwere Schritte, wandte den Blick und sah Olof heranstürzen. Allerdings hatte Robin im allerersten Moment fast Mühe, ihn überhaupt zu erkennen. Er stürmte mit gesenkten Schultern und vorgestrecktem Schädel heran, schnaubend wie ein wütender Stier. Sein Gesicht war hochrot und zu einer Grimasse verzerrt, die Robin mit blankem Entsetzen erfüllte, denn sie begriff mit unerschütterlicher Gewissheit, dass er auch sie töten würde. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Ihre Kehle war noch immer wie zugeschnürt.

Olof stürmte heran, riss die Mistgabel aus Jans Schädel und traf Robin dabei – vermutlich nicht einmal mit Absicht – mit dem Stiefel an der Schläfe. Vielleicht rettete ihr das sogar das Leben, denn Robin fiel wie vom Blitz getroffen zur Seite, so dass Olof sie möglicherweise für tot hielt.

Sie verlor jedoch nicht einmal das Bewusstsein, war für einen kurzen Moment jedoch vollkommen gelähmt, so dass sie nicht einmal mehr atmen konnte. Olof würdigte sie keines Blickes, sondern packte seine Forke dicht hinter der Gabel, drehte sich schwerfällig herum und begann breitbeinig und schnaubend auf die Kapelle zuzustapfen. Er bewegte sich nicht sehr schnell, aber auf eine Art, die es ihm irgendwie unmöglich zu machen schien, auch nur einen Moment innezuhalten.

Endlich konnte Robin wieder atmen und im gleichen Moment erwachte auch ein grässlicher, hämmernder Schmerz in ihrem Kopf. Mit einem gedämpften, keuchenden Schrei sog sie die Lungen voller Luft, setzte sich auf und wimmerte, als die plötzliche Bewegung den Schmerz zwischen ihren Schläfen zu nie gekannter Schärfe explodieren ließ. Blut lief über ihr Gesicht und auch ihre Hände waren voller Blut. Sie wusste nicht einmal, ob es ihr eigenes war, aber sie wagte es auch nicht, in seine Richtung zu sehen, aus der furchtbaren Angst heraus, er könnte noch am Leben sein. Stattdessen hob sie – durch schlechte Erfahrung gewarnt, diesmal sehr vorsichtig – den Kopf noch ein Stückchen höher und hielt nach Olof Ausschau.

Sie hatte Schwierigkeiten zu sehen. Ihr eigenes Blut lief ihr in die Augen und der Schmerz war so schlimm geworden, dass alles zu verschwimmen schien. Trotzdem sah sie, dass er die Kapelle mittlerweile erreicht hatte, aber Schwierigkeiten zu haben schien, die Tür zu öffnen.

Sie musste Helle und den Tempelritter warnen. Olof hatte den Verstand verloren. Er würde jeden töten, den er dort drinnen fand, und wahrscheinlich würde er hinterher zurückkommen und sie auch noch umbringen, wenn er feststellte, dass sie doch noch am Leben war. Vielleicht würde er gar das ganze Dorf auslöschen. Zuzutrauen war es ihm in seiner Raserei.

Sorgsam darauf bedacht, nicht in Jans zerstörtes Gesicht zu blicken, streckte sie die Hand aus und griff nach Jans Schwert. Sie wusste nicht, warum. Sie konnte mit dieser Waffe rein gar nichts anfangen und war ohne sie vermutlich weit besser dran als mit ihr. Das einzig Sinnvolle, was sie in diesem Moment überhaupt hätte tun können, wäre sich umzudrehen und davonzulaufen, um im Dorf nach Hilfe zu rufen. Aber das hätte den sicheren Tod für Helle und Bruder Abbé bedeutet.

ENDE DER LESEPROBE