Die Dämonen - Tobias O. Meißner - E-Book

Die Dämonen E-Book

Tobias O. Meißner

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Beschreibung

Im ersten Band der »Dämonen« entkamen zwei düstere Geschöpfe aus ihrem magischen Gefängnis und stürzten das Land in einen verheerenden Krieg. Doch das waren nur zwei – jetzt brechen die restlichen hunderttausend Dämonen aus. Eine gigantische Armee fällt in die Menschenwelt ein. Die Menschen formieren Truppen und schmieden Allianzen, aber die Übermacht ist erdrückend. In dieser Schlacht geht es nicht mehr um Besitztümer, Ländereien oder das eigene Überleben. Das Einzige, was noch zählt, ist das Schicksal der Menschheit … Rasant und farbenprächtig wie ein Kinofilm – Tobias O. Meißner erschafft unvergessliche Bilder von einer sterbenden Welt.

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Tobias O. Meißner

Die Dämonen

Freiheit oder Finsternis

Roman

Piper München Zürich

PIPER DIGITAL

die eBook-Labels von Piper

Unsere vier Digitallabels bieten Lesestoff für jede Lesestimmung!

Für Leserinnen und Leser, die wissen, was sie wollen.

Mehr unter www.piper.de/piper-digital

ISBN 978-3-492-98034-0

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2013 © Piper Verlag GmbH, München 2010 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © isoga, kwest / Shutterstock.com Karte: Erhard Ringer Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2011

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Oder aber Orison,

der Dämonenkönig,

hatte dies alles von Anfang an

als Teil seines großen Planes vorherbestimmt,

hatte die Flucht der zwei Dämonen,

den Krieg,

die Seelen und die Unrast beschleunigt

und willkommen geheißen.

Und brauchte nun nur noch zu warten,

bis die mit neuer,

niemals zuvor gekannter Macht

angereicherte Freiheit und Herrschaft

aller Dämonen

in nicht allzu ferner Zukunft

endlich Wirklichkeit würde.

Schlusssätze von DIE DÄMONEN

noch neunundvierzig bis zum Ende

Der Himmel, grau in grau, spie weichen Regen über das Land. Wolken hetzten von Süd nach Nord, ineinanderrasend, zerreißend und getrieben.

Die kleine Kapelle, die in der Nähe des Dämonenschlundes errichtet worden war, damit Pilgerfahrer hier beten und spenden konnten, duckte sich verschattet und glänzend unter dem Ansturm der Elemente.

Mit hochgeschlagenem Mantelkragen, aus dem das Wasser perlte, band Dirgin Kresterfell sein störrisches Maultier an einer geborstenen Säule an und schüttelte sich unbehaglich. Von den sonst scharf umrissenen Konturen der Brüchigen Berge waren nur fahle Gespenster zu sehen. Dieser Regen wusch alles aus. Die gesamte Jahreszeit, ein nasser und winddurchtoster Herbst, versank im Morast.

Als Dirgin Kresterfell sein faltiges, von grauen Bartstoppeln befallenes Gesicht dem Schlund zuwandte – der von hier aus schlecht zu sehen war, nur zu erahnen als lochförmige Unterbrechung des Landes –, konnte er trotz des Regens und trotz des stürmischen Brausens diesen eigentümlichen Eiklargeruch wittern, der dem unheimlichen Abgrund zu eigen war. Unruhig zerrte das Maultier an seinem ausgefransten Zügel. Kein lebendes Wesen wagte sich gern an den Schlund heran, doch Dirgin Kresterfell hatte einen Eid geleistet, und er gedachte, ihn bei jedem Wind und Wetter zu erfüllen.

Viermal im Jahr kam er hierher, auf Pilgerfahrt, wie er es nannte, um Stücke zu spenden, einen Laib Brot, ein Gefäß mit Farbe und alte Kinderkleidung seiner Tochter Lehenna, die vor einundzwanzig Jahren im schrecklichen Krieg zwischen dem Sechsten und dem Fünften Baronat verschont worden war, die hatte überleben dürfen aufgrund der Gnade des einzigen wahrlich überdauernden Gottes.

Was für ein Wahnsinn das gewesen war!

Die Baroness Meridienn den Dauren war plötzlich verrückt geworden, hatte ihr Baronat in Irathindurien umbenannt und begonnen, gegen das gesamte übrige Land Orison Krieg zu führen. Lehenna Kresterfell hatte sich damals freiwillig zu den Waffen gemeldet, mitgerissen von den aufpeitschenden Worten der schönen Baroness, noch bevor diese sich in das Zerrbild eines Menschen zu verwandeln begann. Sechzehn Jahre jung war Lehenna damals erst gewesen, und dennoch hatte die Armee sie aufgenommen, um einen, wie das damals vollmundig geheißen hatte: »Schwesternbrand zu entfachen, dessen Rauch noch auf Jahre zu schmecken sein wird.« Dirgin Kresterfell hatte getan, was ein Vater nur vermochte, um seine Tochter vor diesem Wahn zu bewahren. Er hatte sie angeschrien, geschlagen, schließlich sogar im Keller eingesperrt. Doch der Einfluss der Baroness, die sich selbst erst zu einer Art illegitimer Königin gekrönt hatte und sich später sogar in maßloser Verblendung als Göttin bezeichnete, war zu groß gewesen. Vernünftige Menschen verwandelten sich unter ihren Hetzworten in Bestien. Brüder und Schwestern wandten sich gegeneinander und fielen übereinander her. Viele Freunde und Vertraute hatte Dirgin Kresterfell in jenem Jahr verloren, und seine Tochter, das zarte Kind, hatte sich aus dem Keller gewühlt wie eine Ratte oder ein Wurm und war mit dem Heer gen Norden gezogen, Richtung Witercarz, in all das Blut und all das Leid. Und dort endlich wurden die Gebete eines verlassenen und zugrunde gerichteten Vaters dann endlich erhört: Im Kampfgetümmel wurde Lehenna von einem Versorgungsviehwagen der eigenen Armee überrollt und blieb mit zwei zerschmetterten Beinen im Lazarett, bis der ganze Spuk vorüber war. Die Armee zog noch weiter, bis in die Baronate des Nordens, wo der Feldzug sich dann auflöste, weil Meridienn den Dauren und der rechtmäßige König längst aneinander zerschellt waren und niemand mehr wusste, wohin und wozu. Unter der neuen Königin Lae I. schwappten die Baronate in ihre angestammten Grenzen zurück, das Land beruhigte sich, Geschmolzenes verfestigte sich, die Waffen wurden wieder zu Werkzeugen umgeformt, die Toten wurden begraben, die Wunden versorgt. Die Albträume blieben. Noch heute wachte Dirgin Kresterfell nachts manchmal stöhnend auf und sah seine einzige Tochter mit zu blutigem Staub zerriebenen Beinen in das Feuer einer Brandschatzung kriechen. Sie war nun längst verheiratet mit einem anständigen Mann, hatte zwei Kinder zur Welt gebracht und lebte fern ihres Geburtsdorfes in der Hauptstadt des Landes, aber Dirgin Kresterfell kam noch immer viermal im Jahr hierhin zu dieser Kapelle, um ein Dankesgebet zu sprechen und den einzigen wahrlich überdauernden Gott darum zu bitten, dass der Wahnsinn nicht von Neuem auflodere und den Eltern die Kinder entreiße.

Seit jeher war der Dämonenschlund in den Brüchigen Bergen ein verschwiegener Teil des Sechsten Baronats. Damals, vor einundzwanzig Jahren, hatte es so manche Gerüchte gegeben, dass die Baroness den Dauren eine Hexe, ja sogar eine Dämonin gewesen sei, mit goldener Haut und der Brust eines Mannes. Es gab auch welche, die behaupteten, der König selbst habe sich ebenfalls in einen Dämon verwandelt, in einen Riesen mit sechs Armen und drei Beinen, um der Dämonin den Dauren entgegentreten zu können. Und dennoch waren sich alle Geschichtsschreiber einig, dass dieser Krieg zwischen frei erfundenen Ländern mit seltsamen Namen wie Irathindurien und Helingerdia ein Krieg der Menschen gewesen war, in dem die Dämonen, die am Grunde des Schlundes kreisten, sich still verhalten und allenfalls schadenfroh geraunt hatten. Ein Krieg der Menschen, der den Menschen die Menschlichkeit geraubt hatte. Ein Krieg der Ideen, die nichts mit Aufbau und Schönheit zu tun gehabt hatten, sondern ausschließlich mit Zerstörung, Willkür und Gier.

Dirgin Kresterfell war ein Maler. Vor dem Krieg hatte er die Farbigkeit von Häusern gegen die Witterung ausgebessert, danach hatte er so manches Mal das Lodern des Krieges auf Leinwand darzustellen versucht. Immer wieder aufs Neue war der außer Kontrolle geratene Versorgungsviehwagen des eigenen Heeres in den Gemälden aufgetaucht. Sinnbild irregeleiteter Bemühung. Alles unter sich begrabenden Eigennutzes. Kalt kalkulierter Eifersucht, die im Angesicht der Flammen schrill zu brennen begann.

Einundzwanzig Jahre war das jetzt her. Dirgin Kresterfell konnte die Furcht und die Hilflosigkeit der damaligen Monate noch immer in seinen Knochen spüren, als hätte sich das alles erst vor wenigen Tagen ereignet.

Seitdem war so vieles besser geworden. Der Koordinator für kirchliche Angelegenheiten hatte neue Gebetshäuser errichten lassen, zum Ruhme des einzigen, wahrlich überdauernden Gottes. Der Koordinator des Wissens hatte Gemälde in Auftrag gegeben, die dazu beitragen sollten, den überstandenen Krieg als Mahnung zu bewahren. Der Koordinator der Schlösser hatte die Mittel bereitgestellt, beim Wiederaufbau des Fünften Baronats mit Fassadenfarben nicht zu sparen, sodass Dirgin Kresterfell in gleich zwei Baronaten regelmäßig Aufträge erhielt und ein wohlhabender Mann hatte werden können. Ein Weiser namens Serach den Saghi, war, obschon hochbetagt, in der ersten freien Volksabstimmung seit undenklichen Zeiten zum neuen Baron des Sechsten Baronats gewählt worden, zum Nachfolger der männerbrüstigen Baroness, und obwohl Serach inzwischen zu alt war, um noch ohne Hilfe laufen zu können, regierte er dieses Baronat mit Weisheit und Mildtätigkeit. Baron Serach hatte sogar daran gedacht, vor einigen Jahren den Bannkreis wieder instand setzen zu lassen, der den Dämonenschlund umgab und die in ihm gefangenen Dämonen am Ausbruch hinderte. Unter der Baroness den Dauren war dieser Bannkreis nämlich zerfallen, missachtet als nutzloses Relikt überlieferten Aberglaubens. In manchen Nächten war Dirgin Kresterfell sich keinesfalls sicher, ob das Kriegsgeschehen von damals nicht doch damit zu tun hatte, dass den Dämonen ein ungehinderter Zugang in die Welt der Menschen ermöglicht gewesen war. Denn was waren Dämonen, wenn nicht jener Teil der menschlichen Seele, der den Bruder gegen die Schwester hetzt und die Tochter wider den Vater? Und wo kam dieser Teil der menschlichen Seele her – wenn nicht aus dem Dämonenschlund?

Im Inneren der Kapelle, in der es dank der erst vor wenigen Jahren ersetzten Fenster still war, packte Dirgin Kresterfell sorgfältig seine in wasserdichtes Wachstuch gehüllten Opfergaben aus. Einundzwanzig Stücke, für die einundzwanzig Jahre Leben, die seiner Tochter seit dem furchtbaren Krieg geschenkt worden waren. Einen Laib frischgebackenes Malzkornbrot. Einen flachen Tiegel mit der Farbe, die er als Letztes zum Arbeiten benutzt hatte, diesmal ein sehr helles, beinahe an Eierschalen erinnerndes Gelb. Und ein winziger Strumpf, den Lehenna als Säugling getragen hatte. Das mit der Kinderkleidung war eine eigenartige Sache, für die Lehenna auch heute noch wenig Verständnis zeigte. Aber auf irgendeine Art und Weise musste Dirgin Kresterfell dem einzigen wahrlich überdauernden Gott doch zeigen, dass ihr Leben tatsächlich weiterging, und ihm danken, indem er ihn daran teilhaben ließ.

Und warum ausgerechnet diese Kapelle? Das fragte ihn seine Frau jedes Mal, wenn er wieder das Maultier bepackte und zu der beschwerlichen dreitägigen Reise aufbrach. Weshalb nicht eine der neu errichteten Kirchen im Dorf oder im nahe gelegenen Äußeren Schloss?

Eben weil diese Kapelle nicht nahe lag. Sie war der den Dämonen am weitesten entgegengeführte Vorposten der Menschlichkeit. Sie war ein winziges, von Weitem unbeträchtlich wirkendes Symbol, das auf Dirgin Kresterfell jedoch schon als Knabe großen Eindruck gemacht hatte. Denn genauso winzig und unbeträchtlich wie diese Kapelle waren ihm vor einundzwanzig Jahren sein Glauben und seine Hoffnung im Angesicht des lodernden Weltenbrandes vorgekommen. Und dennoch hatten der Glaube und die Hoffnung sich mit Gottes Hilfe gegen den Wahnsinn behauptet.

Er entzündete zwei Lichterchen, eines für sich und eines für Lehenna, und stimmte ein uraltes Lied an. So lasset uns in Demuth sein, im Lichte Gottes mildem Scheyn, so lasset uns gedencken der Schrecken und Geschencken. Von draußen rüttelte der Wind an den Schindeln des kleinen Daches, aber Dirgin Kresterfell ließ sich nicht beirren. Beinahe zwei Tage hatte er wandern müssen, nun wollte er sich auch zwei Stunden Zeit nehmen, die vergangenen Monate in der Rückschau zu betrachten und das, was sie ihm und seiner Tochter an Lebenswertem eingebracht hatten.

Ein eigenartiges, reißendes Geräusch unterbrach seine Erinnerungen. Zuerst wollte Dirgin Kresterfell sich gar nicht in seiner Andacht stören lassen. Doch dann kam ihm der Gedanke an sein Maultier, das schon fransig gewetzte Zaumzeug, den Sturm und den Regen. Falls das Tier sich losgerissen hatte, panisch geworden in unmittelbarer Nähe des Schlundes, würde Dirgin Kresterfell ein mühseliger Rückweg bevorstehen, ohne Wasser, Vorrat und Gesellschaft, bei diesem grässlichen Wetter. Aber wenn er sich beeilte, konnte er das Tier sicherlich noch einfangen, denn ohne menschliche Führung geruhte es, nach einigen Schritten wildem Galopp immer schnell wieder stehen zu bleiben und sich ratlos umzublicken.

Er bat den einzigen wahrlich überdauernden Gott um Verzeihung, schlüpfte in den Mantel, den er hier drinnen abgelegt hatte, und trat durch die schmale Tür ins Freie.

Das Maultier war immer noch an der Säule angebunden, die Zügel hielten, obwohl das Tier unruhig war, den Kopf hin und her warf und nervös die Augen verdrehte. Wahrscheinlich würde es bald zu donnern und blitzen beginnen, bei solcher Witterung wurde jedes Tier schwer zu bändigen.

Aber wenn die Zügel noch immer heil waren, was war das dann für ein Geräusch gewesen?

Dirgin Kresterfell kniff gegen den anstürmenden Regen die Augen zusammen und blickte sich um. Dann sah er es. Das Bannseil, das den Dämonenschlund in seinem ganzen Rund umgab als ein mit Sprüchen und Flüchen behängter Zaun, war gerissen und lag in Richtung auf die Kapelle schlaff zwischen zwei Pfählen auf der Erde. Gerissen durch die Einwirkung des Windes? Zermürbt vielleicht vom schon seit Tagen allem und jedem in die Poren kriechenden Regen? Das kam Dirgin Kresterfell eher unwahrscheinlich vor, schließlich wurde das Seil jetzt unter Baron Serachs aufmerksamer Hand alle zwei Jahre erneuert. Und weshalb war das Seil ausgerechnet in Richtung der Kapelle gerissen? Weil sich dort der Wind am eigentümlichsten brach? Oder war dies ein Zeichen Gottes, eine direkte Reaktion auf sein, Dirgin Kresterfells, Opfer und seinen Lobgesang? Man hatte ja schon gehört, dass jemand ein Trinkglas zersingen kann – aber ein Seil?

Jedenfalls brauchte Dirgin Kresterfell nicht lange zu überlegen, was zu tun war. Gott gab ihm einmal mehr die Gelegenheit, ein den Menschen wohlgefälliges Werk zu tun. Er war als Einziger vor Ort, als das Bannseil riss. Also würde er sich daran kümmern, es so gut als möglich zu flicken, und dann im Äußeren Schloss Bescheid geben, damit das Seil dauerhaft erneuert werden konnte.

Die lediglich einhundert Schritte bis zum Seil und zum Schlund erwiesen sich als mühselig. Der Wind schien hier ständig die Richtung zu wechseln, sodass der Regen Dirgin Kresterfell in einem Moment ins Gesicht klatschte, im nächsten schon von hinten und oben in den Nacken rann. Es fühlte sich an, als würde jemand an ihm zerren, ihn abzuhalten versuchen von einem geradlinigen und rechtschaffenen Weg. Der Geruch nach warmem Eiklar verstärkte sich, obwohl bei diesem Wetter eigentlich alles nur nach Regen und Nässe hätte riechen dürfen. Im Hintergrund der Berge vermeinte Dirgin Kresterfell, einen Geysir aufsteigen und wieder in sich zusammenfallen zu sehen. Geister von Gespenstern. Das Land ein Trugbild im wirbelnden Grau des vielfach gebrochenen Himmelslichtes.

Er erreichte das geborstene Seil. Von hier aus waren es nur noch wenige Schritte, zehn oder elf, bis an den Rand des Abgrundes. Schon vermeinte er das Rumoren des Seelenmahlstroms zu hören, der dort unaufhörlich in der Tiefe kreiste. Erst zweimal in seinem Leben hatte Dirgin Kresterfell es gewagt, dort hinabzublicken. Einmal als Knabe, der an der Hand seiner Mutter das Fürchten noch nicht erlernt hatte, und ein zweites Mal nach dem Krieg, als er hierhergekommen war, um ein Opfer zu bringen, und als er dem prüfenden Blick des Abgrunds beinahe triumphierend standgehalten hatte, weil doch das Menschengeschlecht ebenfalls am Abgrund gestanden und überdauert hatte, die dunkelste Stunde durchschritten, die Gottlosigkeit und Götzendienerei nur noch Erinnerung.

Jetzt, im tosenden Wüten des Windes, fürchtete sich Dirgin Kresterfell plötzlich vor dem Abgrund. Er konnte die Tiefe nicht sehen, stellte sich aber vor, dass sie bei diesem Wetter aufgewühlter sein müsse als sonst. Ein ruheloses Spiegelbild des Wolkentreibens. Auch war das Seil gerissen, und es lag nun kein Schutz mehr zwischen ihm und dem Schlund, und obwohl er schon zweimal in seinem Leben das Seil gequert hatte, um direkt an den Abgrund zu treten, kam ihm seine Lage jetzt ungewöhnlich beunruhigend, geradezu schwindelerregend vor. Vielleicht war auch sein Gemüt in diesen Augenblicken nur ein ruheloses Spiegelbild des Wolkentreibens.

Er nahm die beiden gerissenen Seilstücke auf.

Sie waren nicht gerissen.

Sie waren durchgehauen worden, mit einer nicht ganz scharfen Klinge.

Aber hier war doch niemand! So weit seine Augen reichten, konnte Dirgin Kresterfell nichts anderes erkennen als Felsen, Regen, Wolkenschlieren und das grauenerregende Loch.

Und dann stand plötzlich dieses Ding neben ihm.

Es war nackt, mit rötlich schimmerndem Fell bedeckt, hatte den Körperbau eines schlanken, hochgewachsenen Mannes, den Kopf eines schlappohrigen Hundes und stand aufrecht auf zwei Beinen, sodass es Dirgin Kresterfell um gut eine Elle überragte. Es schien zu grinsen. Aus seinem zahnbewehrten Lächeln troffen Geifer und Regen.

»Entschuldigt, guter Mann«, sagte das Tier, »habt Ihr vielleicht eine Seele übrig für einen armen Vagabunden?«

Dirgin Kresterfell konnte es nicht verhindern: Er machte sich gründlich in die Hose. Der Schrecken ließ ihm schier die Haare zu Berge stehen. Breitbeinig begann er zu rennen, japsende Geräusche ausstoßend, der schwankenden Kapelle und dem sich jetzt wie tollwütig gebärdenden Maultier entgegen.

Um das rote Tier herum begann der Kraterrand zu brodeln. Hunderte, Tausende von Armen, Krallen, Fühlern, Tentakeln, Greifzangen, Insektenbeinen, Flossen, Gallertklumpen, Tasthärchen, Saugnapffingern, Stielaugen, Pfoten, Tatzen, Hufen, Hautflügeln und Hakenhände tasteten sich über den Rand in die Höhe.

Der hundeartige Dämon stützte die Arme in die Seiten und lachte zurückgebeugt aus vollem Hals. Neben ihm schwang sich mühsam ein dunkles Wesen in die Höhe, das gepanzert war wie ein Käfer, aber drei aus Fett bestehende männliche Gesichter besaß. »Warum bist du schon wieder VORNEWEGGEPRESCHT, Orogontorogon?«, tadelte der Käfer, der den Hundeartigen an Körpergröße noch überragte. »Orison hat MIR die Führung unseres Feldzuges übertragen!«

»Blas dich nicht so auf, Culcah«, entgegnete Orogontorogon respektlos. »Hast erst vor kurzer Zeit den Weg in den Dämonenrat gefunden und musst dich schon aufspielen, nur weil du besser katzbuckeln kannst als ich.«

Culcah blieb ruhig. »Tu, was du willst, wenn du dich nicht BEHERRSCHEN kannst. Aber Orison hat RECHT. Gäus und Irathindur sind hier draußen GESTORBEN. Die Menschen MÜSSEN also über die Fähigkeit verfügen, einem Dämon das Leben zu rauben. Wenn wir einfach nur Hals über Kopf hinausstürmen in die Welt, wird dies unser UNTERGANG sein.«

Orogontorogon missfiel die Art, wie die drei Gesichter Culcahs sich beim Sprechen abwechselten. Er schüttelte sich im Regen. Der Ausbruch sämtlicher Dämonen sorgte unterdessen am Rand des Schlunds für ein gehöriges Spektakel. »Der dort«, sagte er mit breitgezogenen Lefzen und deutete auf den rennenden Dirgin Kresterfell, »gehört mir. Ich habe ihn zuerst gesehen.«

»Dann SCHNAPPE ihn dir, du Hetzhund des Krieges. Sonst gelingt es ihm noch, die Menschen vor unserem Kommen zu WARNEN.«

Orogontorogon lachte wieder, dann ließ er sich auf alle viere fallen und rannte los. Hinter ihm schien nun der Schlund zu explodieren. Wie ein Vulkan spie er Tausende unterschiedlichster Lebewesen aus, die kleinsten von ihnen nur von der Größe einer Ameise, die gewaltigsten so hoch wie fünf Menschen übereinander.

Dirgin Kresterfell rannte, was seine alt gewordenen Glieder hergaben. Bevor der rote Hundedämon ihn erreichte, machte er sich Sorgen, dass man ihn so finden könnte, mit vollen Hosen, würdelos beschmutzt. Aber diese Sorgen waren vollkommen unbegründet. Orogontorogon und dann die anderen ließen nichts von Dirgin Kresterfell übrig. Ebenfalls nichts von dem Maultier. Und nur wenig von der Kapelle.

Culcah hatte alle Hände voll zu tun, in den Massenausbruch so etwas wie Ordnung zu bringen.

Dabei hatten die Menschen sogar noch Glück.

249 Dämonen vertrugen den Regen nicht und verendeten gleich in der Nähe des Schlundes.

Die übrigen 121 881 jedoch sammelten sich erstmal und schwärmten dann aus, um sich die Welt Orison untertan zu machen.

noch achtundvierzig bis zum Ende

Das Hauptschloss des Sechsten Baronats lag blau und schlank unter dem Wolkenzelt der Nacht. Nur wenige Gebäude waren noch erleuchtet. Die Tavernen natürlich, die Ställe, das Zeughaus, in dem Zahlmeister am Rechnen waren – aber auch oben im Turm des Barons zitterte noch Kerzenlicht im kühlen herbstlichen Ansturm halb geöffneter Fensterscharten.

Baron Serach den Saghi war mit einiger Wahrscheinlichkeit der älteste Mensch Orisons. Unter normalen Umständen hätte ihn der Tod wohl schon vor mindestens zehn Jahren ereilt, aber er war nun ein Baron und konnte deshalb über die besten Leibärzte seines Baronats verfügen.

Bereits als er die Straßen Kurkjavoks durchstreifte und im hügeligen Bereich der Altstadt den einfachen Menschen Vorlesungen hielt, in denen er die Missstände des Landes anprangerte, war Serach in greisenhaftem Alter gewesen. Aber was für ein jugendlicher Narr dieser Greis damals gewesen war! In wie vielem Wesentlichen er sich grundlegend geirrt hatte!

Er hatte den Menschen erzählt, dass der König noch ein Kind sei, und er hatte damit unrecht gehabt. Der jugendliche König hatte sich im Krieg als umsichtiger und besonnener Anführer erwiesen, bevor er unter ungeklärten Umständen in der Feuersbrunst des Gramwaldes ums Leben kam. Das Volk wusste noch heute nicht, was damals wirklich vorgefallen war, aber die Königin Lae hatte auf der Insel Kelm mit eigenen Augen gesehen, dass sich die Krone Tenmacs III. in den Händen eines grässlichen Dämons befunden hatte, der glücklicherweise von einem einfachen Soldaten des irathindurianischen Heeres erschlagen werden konnte. Erst in der Folgezeit hatte die neue Königin ihre Barone über diese Vorgänge in Kenntnis gesetzt. Aber an der Untadeligkeit Tenmacs III. in den Zeiten des Notstandes bestand heute keinerlei Zweifel mehr.

Serach hatte, als sich ereifernder Greis auf den Plätzen der Hafenstadt predigend, den Menschen erzählt, dass alle Könige und Barone und selbst die Baroness den Dauren nicht besser oder klüger wären als jeder einfache Arbeiter, und er war nicht weit genug gegangen mit seiner Kritik. Die Baroness den Dauren hatte sich als weit übler erwiesen als jeder andere beliebige Mensch. Sie hatte einen Krieg entfacht, sich in einen leibhaftigen Dämon verwandelt und versucht, dem Land Orison einen neuen Namen aufzuzwingen – alles im Zeichen von Eitelkeit und Ehrgeiz. Einer der anderen Barone hatte sich anstecken lassen und war ebenfalls größenwahnsinnig geworden. Die übrigen Landesfürsten wurden nur umhergeweht, weniger wert als jeder einfache Arbeiter.

Serach hatte gepredigt, dass es das Schicksal von mächtigen und ausgedehnten Königreichen sei, eines Tages zu zerbrechen und dem Vergessen anheimzufallen, und er hatte sich geirrt dabei, denn Orison bestand noch immer, überdauerte alle Barone und Baronessen und selbst das nun ausgestorbene Geschlecht der Tenmacs und bewahrte sich die Erinnerung an Menschdämonen und Kindskönige in Schriften und Gemälden.

Serach hatte gepredigt, dass gewisse Grundgesetze in der Natur des Menschen verhinderten, dass der Mensch auf Dauer friedliebend und glücklich wäre, und er hatte sich geirrt dabei, denn der Mensch an sich wollte in Ruhe und Frieden leben. Die seit dem Krieg vergangenen einundzwanzig Jahre der Aussöhnung und Ruhe bewiesen dies.

Serach hatte die Legende vom Dämonenschlund umrissen, in dem die Ungeister gefangen wären in ewiger Pein, angekettet durch das Wenige, das gut ist im Herzen der Menschen, gebunden durch Liebe und Selbstlosigkeit, durch Schönheitsempfinden und Mitgefühl – und er hatte sich geirrt dabei. Denn die Insassen des Dämonenschlundes wurden nicht durch die Güte der Menschheit im Zaum gehalten. Wäre dies so, dann hätten während des Krieges sämtliche Dämonen hohnlachend in die Freiheit springen müssen, denn Güte war vollständig abwesend gewesen in diesem Jahr des Schmutzes.

Serach hatte gemahnt, wie dünn und brüchig die Wände des Dämonenschlunds geworden seien, weil die Menschen taube Ohren entwickelten für das Gute in ihnen, und erneut hatte er den Schlund aus Stein mit dem beinernen Abgrund in den Menschen verwechselt, und das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Der Mensch war sich selbst ein Dämon und der Dämon vielleicht nur ein Märchen.

Serach hatte gesagt, wie groß die Ähnlichkeit eines Dämonen war mit jedem, der sein Kind schlägt, seine Frau, oder seinen Trinkkumpanen, und er hatte sich verschätzt dabei, denn ein Dämon wie die Baroness den Dauren schlug nicht nur ein Kind, eine Gattin und einen Kumpanen, sondern alle Kinder, Frauen und Freunde auf einmal, und schlug sie, bis sie tot waren.

Serach hatte auch geredet über das Meer und die Wolken, und dass die Wolken das Meer mit ihren Tränen speisten und das Meer die Wolken mit seinem stets erregten Atemhauch, und er hatte damals geglaubt, in seinen Erklärungen der Welt auf einen Gott verzichten zu können und sich geirrt dabei, denn ohne einen lenkenden Geist wäre doch alles nur Willkür und Chaos, das wusste er nun, das hatte der Krieg ihn gelehrt. Die Wolken waren Gottes Atemhauch, und das Meer ein Spiegel seines unendlichen Antlitzes. Zu dieser neuen Überzeugung war Serach vor einundzwanzig Jahren gelangt, als die Menschdämonen sich alle gegenseitig auslöschten auf der Insel Kelm im Süden der Grünen See, und die Menschen des Krieges sich wieder einfanden bei ihren Familien, müde und verwirrt, aber begierig darauf, das Tagwerk des einfachen und gerechten Lebens dort aufzunehmen, wo sie es im Blutrausch achtlos fallen gelassen hatten.

Serach hatte gesprochen von der Anwesenheit der Sonne, die jedes Lebewesen brauchte, um sich wärmen und nähren zu können, und von der Abwesenheit der Sonne, die ebenfalls wichtig sei, da nur so das Leben sich abkühlen könne und in der Lage sei, Ruhe zu finden, und wieder hatte er nicht begriffen, dass diese Wechsel der Temperamente, diese Sinnhaftigkeit eines Lenkers bedurfte, und dass Gottes Ratschluss in allem enthalten war, was sich nun Licht nannte oder auch Schatten.

Vor allem jedoch hatte Serach den Menschen gepredigt, dass jeder Einzelne, ob er nun als König, Baron, Bauer oder Knecht geboren sei, die Zügel seines eigenen Schicksals in der Hand trage und alles zu werden vermöchte, was er sich auswählte: ein König, ein Baron, ein Bauer oder auch nur ein Knecht. Und selten zuvor in der Geschichte der Menschheit hatte ein Redner mehr Unsinn von sich gegeben. Denn der Einzelne war nichts im Wirken der Gewalten, weniger noch als ein Tropfen im aufgewühlten Meer. Der Krieg hatte bewiesen, dass niemand etwas anderes werden konnte als ein Knecht, und hatte widerlegt, dass es Zügel gab, die überhaupt ergriffen werden konnten.

Der Krieg hatte Serach das Menschsein und die Demut gelehrt.

Und als dann ausgerechnet er, der große Widerstreber, Zauderer, Mahner und Quertreiber, ausgerechnet er von den Menschen zum neuen Baron erkoren wurde, wunderte er sich nicht mehr. Denn natürlich wollte das, was vom Volk nun noch übrig war, das genaue Gegenteil von dem, was vorher herrschte. Und etwas Gegenteiligeres als der alte Serach ließ sich zur schönen und schrecklichen Baroness Meridienn den Dauren nicht finden.

Nun humpelte er umher in den Kammern, die einstmals die Baroness bewohnte und mit ihrem Zorn auf alles Lebendige verpestete. Gestützt auf gleich zwei maßgefertigte Krücken hievte Serach seinen alten, ausgemergelten Leib von Raum zu Raum. Die Treppen zwischen den Geschossen waren in Rampen abgemildert worden. Damit der Baron weitere Strecken wie zum Beispiel in den Ratssaal zurücklegen konnte, standen zu jeder Tages- und Nachtzeit Träger bereit, die ihn in einem mit Haltestangen versehenen Ohrensessel an das gewünschte Ziel bringen konnten. Gerne jedoch durchmaß Serach, wenn er nachts nicht schlafen konnte, die oberen Geschosse aus eigener Kraft. Das Schaben der Krücken auf den weichen Teppichen gab seinem Leben einen Takt und erinnerte ihn an das Fortbewegen der Welt in der Zeit. Die Zeit stand niemals still. Die Welt desgleichen. Selbst wenn ein Mensch schlief, bewegte er sich fort durch die Zeit.

Serach wusste nun, dass unter einer dünnen Schicht des Anstands in jedem Menschen ein Dämonenschlund klaffte. Dieses Wissen hielt ihn nachts oft wach. Wenn seine trübe gewordenen Augen es ihm erlaubten, arbeitete er an einem Traktat über die Unendlichkeit des Seins, die Überwindung des Eigenen, das Gewinnen neuer Perspektiven in der Betrachtung von Jahreszeiten und Tierverhalten. Eine einfache dickliche Hofkatze konnte ihn mehr lehren von den Notwendigkeiten des Lebens als jedes noch so kluge Buch. Über das Fressen, Schlafen und Gottvertrauen hinaus – was war da noch wirklich von Bedeutung? Schufen die Menschen sich nicht nur immer wieder Vorwände, um sich von den Tieren unterscheiden zu können? Und entfernten sie sich dadurch nicht stetig von der Welt und ihren Ewigkeitsgesetzen und wurden anfällig für die Anfechtungen der Dämonen in ihrem Inneren?

Lag der Irrweg der Menschen also darin, keine Tiere mehr zu sein?

Aber war nicht andererseits den Menschen, eben weil sie keine Tiere mehr waren, eine besondere Rolle zugedacht in Gottes unerfassbarem Plan?

Baron Serach den Saghi wusste es nicht. Er grübelte hin und her. Seine Krücken stanzten matte Abdrücke in die Teppiche und zogen den greisen Leib dann nach. Hundert Jahre. Bald hundert Jahre war er nun schon alt.

Ein Schatten flatterte vor den Fenstern. Kaum wahrnehmbar vorm wolkenschweren Dunkel dieses Herbstes. Und dennoch: größer, weit größer als eine Fledermaus.

Aus dem Hof erschollen Rufe. Dann etwas Höheres, das wie Katzen klang. Schreie? Schreie von Frauen oder Kindern?

Serach beeilte sich, zu einer der Fensterscharten zu staken, aber er war dennoch langsam, seine alten Arme ließen ihn beinahe im Stich. Sein letzter Gedanke wehte hinter ihm her wie eine zerrissene Flagge. Aber war nicht andererseits den Menschen, eben weil sie keine Tiere mehr waren …

Mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht erreichte der Baron das Fenster, hieb mit der linken Krücke den hölzernen Laden auf, während er sich voll und ganz auf die rechte stützte, und starrte hinaus in die hohe Nacht. Regen empfing ihn, der vertraute Geruch von Rauch und Pferden. Nichts war zu sehen.

Dann: wieder ein Schatten. Noch einer. Ein dritter. Es war, als würfen die Wolken mit aus Wolkenstoff geballten Drachen, aber es waren keine Drachen, konnten keine sein. Es gab keine Drachen mehr in Orison seit dem Zeitalter, als alles noch magisch war. Aber irgendetwas kreiste um den Turm. Irgendetwas Großes.

Von unten nun wieder Rufe und Schreie. Geschirr zersprang. Zwei Pferde rissen sich aus dem Stall los und galoppierten leicht seitlich über den Innenhof.

Die Fahne. Die Baronatsfahne, die auf dem gegenüberliegenden Turm im Nachtwind flatterte. Etwas hatte sie in Fetzen gerissen. Baron Serach spürte eine eiskalte Hand sein Rückgrat hinaufkriechen. Es mochte der Tod sein, vielleicht aber auch nur Furcht.

Hinten im Schreibsaal entstand Bewegung. Einer der Wachtposten machte Meldung. Er war so außer Atem vom Rampenerstürmen, dass seine Worte wie Zugluft klangen. »Baron! Baron!«, rief er überflüssigerweise, »Wir werden angegriffen! Etwas kommt über die Mauern! Es sind Tiere oder … oder … verkrüppelte Menschen?«

»Was?« Baron Serach war alles andere als begriffsstutzig, aber sein Geist konnte nicht fassen, was da gesagt wurde. Noch immer war all sein Denken in seinem Traktat verheddert, in den ruhelosen Philosophien der Schlaflosigkeit.

Er blickte wieder nach draußen. Die Schlossmauern waren nicht ganz so weit unten wie der Hof, der Trübheit seiner Greisenaugen nicht ganz so sehr verhaftet.

Jetzt sah er es auch. Etwas quoll über die Zinnen. Ein Wachsoldat, ein einziger nur, warf sich der brodelnden Masse entgegen und verschwand in einem rötlich schimmernden Regenschauer. Mehr und mehr Schreie loderten jetzt auf, von überall im Schloss.

Baron Serach wollte sich gerade vom Fenster ab- und seinem Melder zuwenden, als etwas Fettes, Ledernes aus den Wolken herabschoss und vor ihm gegen die enge Fensterscharte klatschte. Ein Arm oder Tentakel wischte kurz nach drinnen, zerriss die Robe des Barons, zertrümmerte den Fensterladen und kippte eine Öllampe um, die sich blakend über einem Pult entzündete. Der Baron wankte unter dem Angriff, das Wesen wich jammernd in den Sturm zurück. Nur mithilfe des brennenden Stehpultes konnte der Baron einen Sturz abfangen. Der Wachsoldat rannte quer durch den Saal mit gezogenem Säbel auf ihn zu. Von unten waren die vertrauten Stimmen der Sesselträger zu hören. Sie schnatterten und schrien sich schließlich gegenseitig an.

Der Baron gebot ihnen in Gedanken Stille, brachte aber nur ein mühsames Keuchen hervor. Sein Herz hämmerte ihm im ausgemergelten Hals. Er durfte jetzt nicht sterben. Nicht ausgerechnet jetzt. Er wollte lauschen. Sehen. Begreifen. Einen sinnvollen Verteidigungsplan entwerfen.

Vorsichtig näherte er sich wieder der Fensterscharte. Unten wurde nun gekämpft, aber seltsam und mehrdeutig. Nicht wie bei einem Überfall oder einer Belagerung. Mehr wie bei einer Sturmflut. Als Kind hatte Serach in Saghi einmal einen solchen Kampf erlebt. Menschen gegen das andrängende, rasende und vor Tollwut gischtsprühende Meer. Ein stiller Kampf, da aussichtslos. Nur die Zeit gewann. Nur die Zeit.

Der Wachsoldat riss einen Wandteppich herunter, wirbelte ihn wie einen Zaubertrick und hieb damit auf das Feuer ein, dass sich im Raum auszubreiten suchte. Dabei brabbelte der Soldat die ganze Zeit etwas, war aber beim besten Willen nicht zu verstehen.

Im Licht eines Brandes konnte der Baron nun die Mauerzinnen genauer sehen. Was da hochgestiegen war und nun innen an senkrechter Wand wieder hinunterschabte, waren Reptilien, ins riesenhafte aufgeblähte Echsenwesen. Würmer mit Armen. Fischaffen. Mollusken. Muscheln mit Zähnen. Pflanzen mit Dornenfratzen. Albtraumwesen in unendlicher Zahl.

Das Schloss war verloren.

Das Traktat.

Das Baronat.

Aber wie war das möglich? Warum hatte sie niemand gewarnt? Selbst wenn dies die Dämonen aus dem Schlund waren, dann mussten sie doch schon mehrere Tagesreisen lang unterwegs gewesen sein, und niemand, kein berittener Flüchtling, kein rennender Landmann hatte das Schloss vor ihnen erreicht und die Bewohner in Alarmbereitschaft versetzt. Wie war das möglich?

Weil es keine Überlebenden gab. Keinen Einzigen zwischen hier und dem Schlund. Es gab nichts mehr. Dies war nun der neue Rand des Dämonenschlundes.

Unten brüllten die Träger Todesschreie in die Nacht. Der Hauptturm wurde also bereits gestürmt.

Was blieb noch zu tun? Worin bestand die Pflicht eines vom Volk gewählten Barons, wenn alles, auch das Volk, verloren war?

»Jemand muss überleben«, brachte Serach mühsam hervor. Dann herrschte er übergangslos den brabbelnden Soldaten an: »Die Königin muss gewarnt werden! Jemand muss auf einem Pferd lebend hier rauskommen! Trag dafür Sorge, Kerl, dass jemand hier lebend raus nach Norden kommt! Hörst du mich? Lass es doch brennen! Pack dich nach Norden!«

»Nach Norden?« Das rußige Gesicht des Soldaten zuckte vor Anstrengung.

»Zur Königin!«, meißelte der Baron ihm mitten ins Gesicht.

»Zur Königin, ich verstehe!«

»Orison wird von Dämonen verschlungen! Nimm nicht die Rampe! Seile dich aus einem der Fenster ab! Mach schon, beeil dich doch, du Tölpel!«

Der Soldat, dessen Name Kunn Berbes war, hatte kein Seil bei sich. Aber er knüpfte geschickt aus mehreren Wandbehängen, mannshohen Kerzenständern, einem Stuhl und einem hastig umgeworfenen und somit geleerten Bücherregal ein verwinkeltes Gebilde, an dem hinab er den Höhenunterschied bis zum nächsttieferen Mauerumlauf überwinden konnte. Der Baron war zu langsam, um ihm helfen zu können. Von unten herauf drang weiterhin das Gurgeln des Mordens, und erste scharrende, tappende Monstrositätenfüße wurden auf der Rampe hörbar. Von oben war jetzt auch etwas zu hören: Die Wachtposten der Turmplattform kamen nach unten gelaufen, um ihrem Baron beizustehen. Sie waren das letzte Aufgebot Beherzter.

Der Soldat zögerte noch, machte Anstalten, zum Baron zurückzugehen, um diesen zu ergreifen, huckepack zu nehmen und in Sicherheit zu bringen.

Serach den Saghis Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Lass mich, bist du närrisch geworden? Willst du dich auf der Flucht mit einem sterbenden Greis belasten? Du hast eine Aufgabe! Die Welt wird untergehen, und alle Menschen mit ihr, wenn du scheiterst!«

Der Soldat nickte und salutierte. Eine Geste der Hilflosigkeit. Dann schwang er sich aus dem Fenster. Überall brodelte es. Die Mauern kochten über vor Dämonen. Selbst die rauchige Regenluft wurde von Fledermausgeiern und aussätzigen Flügelmenschen durcheilt. An den glatten Mauern des Turmes schleimten sich riesige Schneckenwesen aufwärts, die aussahen, als würden in ihrem Inneren Kinder verdaut. Vereinzelt kämpften Menschen mit Säbeln, Schürhaken und Fackeln um ihr Leben und unterlagen. Eine Frau schoss mit einer Armbrust auf ein Vieh, dessen vier Beine doppelt mannshoch waren. Ein Knecht stürzte sich brennend in den Brunnen. Kunn Berbes konnte gar nicht auf den Mauerumlauf gelangen: Von dort strömten unablässig Feinde nach. Also kletterte er an seinem quietschenden und ächzenden Möbelsammelsurium so weit wie möglich nach unten, schlug dort mit dem Knauf seines Säbels ein Fenster ein und zwängte sich nach drinnen. Er war nun ein Stockwerk tiefer als die Sesselträger und hatte den Mordtrupp, der den Turm hinaufstieg, derart umgangen. Dennoch konnten jederzeit neue Dämonen von unten nachdrängen, das war ihm klar. Es blieb ihm aber nichts weiter übrig: Er eilte ihnen entgegen, und als sich ihm tatsächlich zwei verzerrte Albtraumgestalten in den Weg zu stellen versuchten, sprang er einfach über beide hinweg und suchte sein Heil in der Flucht. Eines der beiden erhob sich in die Luft und stieß von der Zimmerdecke auf ihn herab, aber es gelang Kunn Berbes, dem Wesen einen Stuhl entgegenzuschleudern und es so abzuwehren.

Er erreichte die Tür zum Innenhof. Sie stand weit offen, ihr Rahmen war mit den Überresten dreier Wachtposten verkleidet.

Kurz dachte Kunn Berbes an Selbstmord, als er das Gewimmel im Hof erblickte, doch dann überlagerte in seinem Kopf das vor Furcht und Schmerz verzerrte Gesicht seines Barons alles andere.

Er ergriff die einzige Chance, die sich ihm bot: Ein Pferd galoppierte wiehernd vorüber und versuchte dabei, einen pulsierenden, katzengroßen Seeigel, der sich wie eine Distel auf seinem Rücken festhielt, abzuwerfen. Kunn Berbes sprang von der Seite auf das Pferd und stieß das Seeigelding hinunter. Eine der Stacheln drang ihm dabei seitlich ins Bauchfett, aber das spürte er kaum.

Vor dem durchgehenden Gaul bildete sich eine schmale Gasse. Selbst das Dämonengezücht schien Respekt zu empfinden vor einem anstürmenden Ross. Ohne Sattel und Zügel konnte Kunn Berbes weder lenken noch einen sicheren Halt finden. Er musste sich dem Pferd anvertrauen, das den Weg zum Schlosstor von vielen Ausritten kannte und diesen Weg nun auch instinktiv einschlug. Klauen und Tentakel versuchten, Kunn Berbes vom Rücken zu fegen, aber er duckte sich, bis er beinahe seitlich am Pferd hing.

Das Schlosstor war immer noch verriegelt. Die Dämonen hatten sämtliche Mauern erklommen, das Tor war ihnen nicht weiter wichtig gewesen. Es gab kein Entkommen für den Soldaten und das Pferd, aber immerhin war hier am Tor weniger Kampfgeschehen als anderswo. Kunn Berbes sprang vom wiehernden und auskeilenden Ross und machte sich – selbst winselnd und sich wie rasend gebärdend – am Tor zu schaffen, aber es war zu schwer für einen einzelnen Mann. Hinter ihm wurden zwei Mägde gefressen und schrien dabei um Hilfe und Vergebung.

Kunn Berbes kletterte innen an der Torverriegelung hinauf, riss sich dabei zwei Fingernägel ein, ließ sich aber nicht aufhalten. Ein Fledermausgeier erblickte ihn und schoss kreischend auf ihn zu. Kunn Berbes zog seinen Säbel und hieb damit einhändig nach dem Angreifer, der geköpft gegen ihn klatschte und ihm beinahe das Rückgrat brach. Dann stürzte der Fledermausgeier in den Hof. »Sie können sterben!«, triumphierte Kunn Berbes mit Tränen in den Augen, und dieser Sieg gab ihm neue Kraft. Er klomm sich auf die obere Toreinfassung hinauf.

Tausende, wenn nicht gar Zehntausende von Dämonen wimmelten auf der Ebene vor dem Schloss umher. Es sah aus, als würden sie sich vor lauter Übermut gegenseitig bekriegen und auffressen.

Kunn Berbes sah nirgendwo ein Durchkommen, nirgendwo Hoffnung. Schon gar nicht ohne Pferd.

Er sank oben auf der Torbrüstung in die Knie, neben dem Leichnam des von einem geworfenen Arm durchbohrten Wachtpostens. Es war nicht nur Verzweiflung, die ihn niederzwang. Das Gift des Seeigels begann zu wirken und ihn am ganzen Körper mit Kälte zu lähmen.

Kurze Zeit später wurde der starre, aber immer noch lebendige und gellendes Entsetzen empfindende Kunn Berbes von einem achtflügeligen Wespenpanther von der Brüstung gepflückt, in der Luft zerrissen und von oben herab als kleine Erfrischung für unterwegs unter dem jubelnden Dämonenheer verteilt.

noch siebenundvierzig bis zum Ende

Für Orogontorogon war der Feldzug ein gewaltiger Spaß. Zumindest dann, wenn dieser Angeber Culcah nicht irgendwo in der Nähe war.

Vom Schlund aus schon hatte Orogontorogon alle Anweisungen des sich wichtig machenden Dreigesichtigen ignoriert und war erstmal nach Südosten gehetzt, zur nächsten größeren Stadt, mit heraushängender Zunge und eifrigem Hundegesicht. Zehntausend waren ihm gefolgt, da hatte Culcah schreien und toben können, so viel er wollte. Es galt Regen zu durchmessen, sich in Pfützen zu wälzen, über Bäume hinwegzuspringen, Zäune niederzureißen, Dörfer und ihre Häuser zu durchtoben, Menschen aufzustören und zu treiben, Hunde zu zerbeißen, mit dem Wind und gegen den Wind zu stürmen, kleine Brücken zum Bersten zu bringen, Feuer zu durchspringen mit nur leicht angesengtem Fell, Kälte und Hitze zu erfahren, in den Bergen von Fels zu Fels zu setzen und in den Ebenen von Tal zu Tal. Ein schöner Wettlauf war das gewesen mit zehntausend anderen, ein herrliches Sichaustoben durch spätherbstliche Wolkenbruchlandschaften.

Orogontorogon war nicht als Erster in der Hafenstadt Kurkjavok angekommen, aber als einer der einhundert Ersten. Die Geflügelten hatten einen ungerechten Vorteil in diesem Rennen gehabt, weshalb Orogontorogon auch erstmal zweien von ihnen die Flügel stutzte. Dann wurden Menschen zerrissen, Rinder zertrampelt, Hühner in Brand gesetzt, Häuser auf den Kopf gestellt, Schiffe versenkt und sogar ein Leuchtfeuerturm umgerissen. Übermut tat unglaublich gut. Man konnte Geschrei trinken wie weißen Wein. In den Nächten, in denen nicht dichte Wolken regierten, leuchteten oben im Firmament die fernen Städte des Himmels und unten die Scheiterhaufen der Stadt. Nie zuvor in seinem undenklich langen Dasein hatte Orogontorogon sich so lebendig gefühlt. Er paarte sich sogar mit einer Menschenfrau, gegen ihren Willen natürlich, und hinterher leckte er ihr Blut von den von seinen Krallen zerrissenen Brettern. Um ihn herum verwandelte sich alles in Glut und Krach. Lachend sah er mit an, wie zwei seiner alten Gefährten aus dem Dämonenrat, der Krebs mit den langwimprigen Stielaugen und der eisfarbene Klapperzahn, sich ganz besonders wild und hemmungslos gebärdeten. Die beiden waren eigentlich fürchterliche Angsthasen, aber in der Menge fühlten sie sich stark. Orogontorogon, der rötlich lodernde Hundedämon, war da ganz anders. Er fühlte sich immer stark, und am stärksten bis dahin in Kurkjavok.

Und dann erst das Meer! Die Brandung und das unebene Gekräusel dahinter erinnerten ihn an den Dämonenschlund, an das ewige Kreiseln und Strudeln, aber es war überhaupt nicht begrenzt. Keine Wände, nirgends. Es gab einen Horizont, weil die Welt nicht flach war, sondern Senken und Erhebungen besaß wie auf dem Land, und hinter dem Horizont lag vielleicht ein noch größerer Kontinent – aber ein Gefängnis war das nicht. Es gab keine Gefängnisse mehr für Dämonen. Die Freiheit schmeckte nach Salz und Menschenblut und Funkenflug.

Culcah war nicht nachgekommen zur Küste, er befehligte sein lachhaft zusammengeschustertes Heer landeinwärts. Doch auch Orogontorogon hatte sich nicht mit den anderen Zehntausend die Küste entlang nach Icrivavez und Saghi aufgemacht, sondern war wieder zurück nach Norden gehechelt, damit ihm nichts entging, damit der verfluchte dreiköpfige Culcah nicht den ganzen Rahm der Schlösser für sich behalten konnte.

Am Äußeren Schloss des Sechsten Baronats war Orogontorogon zu spät angelangt. Das Schloss war nur noch ein qualmendes Wrack, einer von Meeresflut hinfort gerissenen Sandburg nicht unähnlich. Überall lagen satt rülpsende Dämonen herum. Culcahs Disziplinierung hatte ihre natürlichen Grenzen. Das erfüllte Orogontorogon mit Schadenfreude.

Auf allen vieren rannte er weiter nach Norden. Und diesmal kam er rechtzeitig. Der Höhepunkt dieses Baronats, das Hauptschloss, war gerade im auflodernden Untergang begriffen.

Culcah stand auf einem aus Menschenfleisch und Menschengebein aufgetürmten Feldherrenhügel und schrie Befehle in alle Richtungen. Auch Orogontorogon erteilte er einen Befehl: »Kümmere dich darum, dass sich nicht alle um die BEUTE streiten! Du kommst doch so gut mit allen KLAR, also nutze deinen Einfluss, um im Heer für RUHE zu sorgen!«

»Kümmere dich doch selbst, Fettwanst.«

»Das ist INSUBORDINATION!«

Orogontorogon ignorierte den lächerlichen Emporkömmling, der sich unter Orisons Schutzschatten aufspielen wollte wie ein menschlicher Heereskoordinator. Culcah begriff es einfach nicht: Sie waren Dämonen, keine Menschen. Was nutzte es Spielregeln aufzustellen, wenn man die Macht hatte, das Spiel nach Gutdünken zu gestalten? Weshalb bremsen, wenn man auf der Lawine reiten konnte? Orogontorogon hatte das Meer gesehen und das Meer begriffen. Die Dämonen waren eine Brandungswelle. Sie würden irgendwann von selbst an Höhe und Kraft verlieren, weil das Land weitläufig war und hinter dem Wolkenpeinigergebirge noch weiterging. Aus der geballten Krallenfaust würde irgendwann eine erschöpft leckende Zunge werden. Aber bis dahin konnte man den Rausch feiern und auf diesem Fest alles umund mitreißen, was sich auch nur halbwegs widerständig im Weg befand.

Er mischte sich unter das angreifende Heer. Tatsächlich hatten hier und dort Verteilungszankereien begonnen. Orogontorogon sah Dämonen, die sich wütend ineinander verkeilt hatten und sich gegenseitig Fleischfetzen aus den Leibern rissen. Culcahs Heer würde seine größten Verluste wahrscheinlich durch innere Streitigkeiten erfahren. Aber das war lustig so. Einhunderttausend waren ohnehin zu viel, als dass jeder noch zu seinem Spaß und seinem Recht gekommen wäre. Schon jetzt gliederten sich die Dämonen in Befehlsempfänger und Befehlsgeber, in Ahnungslose und Orientierte, in Wilde und diejenigen, die im Sinne Orisons planvoll handelten. Orogontorogon verspürte durchaus Respekt für Orison, den größten und machtvollsten Dämon aller Zeiten. Aber Orison hatte ihn nicht ohne Grund in den Dämonenrat berufen. Orogontorogon ahnte, dass es seine Rolle war, der Wildeste unter den Wilden zu sein. Ein Gegengewicht zu Culcahs peinlichem Maßhalten. Nur so konnte der Feldzug wahrlich dämonisch bleiben, und nicht zu einer Parodie auf menschliches Gebaren verkommen.

Es fiel ihm leicht, sich bis an die Mauern durchzudrängeln. Viele im Heer wichen ehrfurchtsvoll vor ihm zurück: Oro Gon Toro Gon vom Rat.

Er konnte sich nicht in die Lüfte erheben, um die Mauer fliegend zu überqueren, und er konnte sich auch nicht emporsaugen wie die schleimigen Kriechtiere das taten, also ließ er sich von einem zwölfarmigen Titanen einfach hinüberwerfen. Auf allen vieren landete er im blutigen Matsch des Innenhofes und witterte sogleich nach lohnender Beute. Alles war in Auflösung begriffen. Die meisten Gebäude brannten bereits. Die schönen schlanken Türme waren nicht mehr blau, sondern loderten in knisterndem Rot. Die Verteidiger waren hingeschlachtetes Fleisch. Kampfgeräusche drangen nur noch aus dem höchsten der Türme. Vielleicht hatte Orogontorogon ja Glück, und er konnte sich einen leibhaftigen Baron vorknöpfen.

Mit einem Bockssprung setzte er über die anderen Dämonen hinweg, die sich zaudernd in der Nähe des Turmeingangs herumdrückten.

»Die anderen Gebäude sehen leichter zu plündern aus«, maulte einer.

»Aber wenn wir uns nicht bald entscheiden, fällt gar nichts mehr für uns ab«, zeterte ein anderer.

Orogontorogon lachte über diese Fußsoldaten. Die waren einfach kein Ratsmaterial. Dabei stand die Tür weit offen. Ihr Rahmen war recht hübsch mit den Überresten dreier Wachtposten geschmückt. Festtagsputz wie zur Einladung.

Der Hundedämon durchquerte den unteren Saal und eilte die Rampen hinauf. Im fünften Stockwerk wurde noch gekämpft. Das letzte Aufgebot der Turmplattformposten hielt sich beherzt – den Vorteil, von oben herab zuschlagen zu können sowie die Krümmung der Wendelrampe geschickt ausnutzend – gegen einen aus viel zu langen Gliedmaßen bestehenden Dämonentrupp. Hielt sich, bis Orogontorogon von hinten durchbrach. Er tötete auch zwei seiner eigenen Leute bei seinem Reißangriff, aber das war ihm gleich. Es gab genügend Dämonen. Genug für zwei Orisons, das Land und seinen Herrscher.

Blutsprudelnd kroch der letzte überlebende Baronsritter rückwärts vor Orogontorogon die Rampe hinauf. Schade, dass er keine Frau war, sonst hätte der Hundedämon ihn lüstern begattet. Aber auch so war es eine Freude, den Helden verrecken zu sehen und mit langer Zunge sein Blut von den Stufen zu schlecken. Der Ritter sagte etwas, das wie »Weiche von mir, Ausgeburt des Schlundes« klang. Vielleicht hieß es aber auch: »Nachgeburt eines Hundes«. Es war einerlei. Orogontorogon riss ihm den Kopf ab, fraß ihm das zarte Gesicht vom Schädel und warf den Rest seinen erschöpften Dämonen zu. »Wartet hier. Oben könnte es noch viel gefährlicher werden«, log er grinsend.

Im nächsten Stockwerk bereits fand er den Baron. Es konnte niemand anders sein: ein uraltes Menschlein auf Krücken, das zwar nach Verwesung und Verdauung roch, aber mit dem Ornat eines echten Potentaten angetan war.

»Wie ist dein Name, Baronchen?«, grollte der Hundedämon, als er mit schlenkernden Armen quer durch den Raum auf den Tattergreis zuging.

Der Baron straffte sich so würdevoll wie möglich, obwohl sein Herz nicht mehr im Takt schlug und die stockende Blutzufuhr im Gehirn ihn schwindelig machte. Das Wesen, das auf ihn zukam, war ein zwei Schritt großer, aufrecht gehender Jagdhund mit lodernd rotem Fell und den muskulösen Gliedmaßen eines ausgebildeten Kriegers. »Serach«, antwortete der Baron leise. »Serach den Saghi.«

»Ach, ja. Dieses ›den‹ bedeutet ›von‹, nicht wahr? Das bedeutet, du bist in der Hafenstadt Saghi geboren. Und das Geschlecht der den Daurens, das vor dir hier das Sagen hatte, kam aus einem kleinen Kaff namens Dauren, das auf keiner anständigen Karte verzeichnet ist. Stimmt’s?«

»Du bist … gut unterrichtet für einen, der seit Ewigkeiten in einem Strudel … gefangen war.«

»Ahhh, aber das Land hat uns Geschichten erzählt! Jeder Bittsteller, der zu uns kam, um in uns hineinzugaffen, jeder Betgeselle, der die kleine Kapelle benutzte wie einen Abtritt, hat uns teilhaben lassen an allem, was draußen vor sich geht. Natürlich sind wir unterrichtet! Wir wollen doch wissen, in welchem Zustand sich das Land befindet, das uns gehört.«

»Nichts gehört euch«, begehrte der Greis auf. »Nur der Schlund, in den wir euch … zurücktreiben werden wie die Tiere, die ihr seid!«

»Ach richtig, man vergisst das nur zu leicht: Ihr kennt ja die Wahrheit nicht! Ihr glaubt noch immer, dass Orison ein Mensch war, ein Magier, der uns Dämonen in den Schlund verbannte.« Orogontorogon heulte triumphierend die mit Gemälden verzierte Decke an. »Was für eine meisterliche Maskerade! Wir waren vor euch, und wir werden nach euch sein. Ihr wart in der Zwischenzeit nichts weiter als Gutsverwalter. Und ich muss sagen: Ihr habt das Gut ziemlich beschissen verwaltet.«

Der Dämon war dem Baron nun so nahe gekommen, dass dieser seinen nach frischem Blut und Pansen stinkenden Atem riechen konnte. Serach spürte, dass er sich übergeben musste, vor Ekel und Furcht. Er ängstigte sich vor dem Ersticken und hielt die Würgereflexe zurück. Die Hundefratze schnupperte von oben herab an ihm, weidete sich an seiner Qual wie am Duft einer kostbaren Blume.

»Weißt du was, Baronchen?«, fragte Orogontorogon, und seine Stimme klang kaum noch menschlich, mehr wie ein moduliertes Bellen. »Unser Anführer, Culcah, hätte dich wahrscheinlich gerne lebend. Aber weißt du noch was? Ich kann ihn nicht leiden, den Culcah.« Jetzt lachte er, und dann riss er den Baron in Stücke.

Die Deckengemälde, von denen einige den großen Magier Orison als pausbäckigen, gewichtigen Menschen darstellten, der mit einem Stab in der Hand den Horden der Finsternis ein für alle Mal Einhalt gebot, sahen plötzlich aus, als schwitzten sie Blut.

noch sechsundvierzig bis zum Ende

Welch ein Chaos! Mit schweißüberströmten Gesichtern versuchte Culcah, so etwas wie Ordnung in seine Reihen zu bekommen. Wie es im Moment aussah, verlor er Hunderte von Dämonen einfach dadurch, dass sie sich gewaltsam um die Plünderbeute stritten!

Er ernannte Unteroffiziere, die zum Teil anschließend zusammengeschlagen wurden, weil sie versuchten, andere Dämonen herumzukommandieren. Er versuchte es mit flehentlichen Argumenten, scheiterte aber daran, dass die meisten seiner Untergebenen noch niemals zuvor selbstständig gedacht hatten. Bis vor Kurzem waren sie als Teil eines Ganzen in einem Strudel herumgewirbelt – was konnte man da erwarten!

Er benutzte geflügelte Dämonen als Boten und ließ diese Befehle auf das Feld hinunterbrüllen, die im Schlachtenlärm einfach untergingen. Was für ein Schlachtenlärm war das überhaupt? Gekämpft wurde ja fast nirgends mehr. Das war kein Kampfgetöse. Das war einfach nur das unablässige Schreien, Heulen, Krähen, Trillern, Singen und Grölen der außer Rand und Band geratenen Dämonen. Es war zum Kotzen!

Kein einziges strategisches Ziel wurde erfüllt. Der Baron wurde nicht lebend gefangen genommen. Überhaupt niemand von der Familie des Barons konnte als Geisel festgesetzt werden. Ein besonders unverschämter Offizier behauptete sogar, der Baron hätte überhaupt keine Familie gehabt. Keinerlei wertvolle Pläne, Bücher, Urkunden oder Heeresberichte konnten erbeutet werden. Alles ging in Flammen auf, wenn es nicht vorher schon zerkaut, bepisst, zum Arschabwischen benutzt oder als Bestandteil einer Kissen- oder Tortenschlacht verwendet worden war.

Die Dämonen gebärdeten sich wie ausgelassene Kinder. Es war zum Kotzen!

Culcah fühlte die Verantwortung, einen Feldzug mit einer unüberschaubaren Horde feiernder Kinder durchführen zu müssen, wie ein tonnenschweres Beil auf seinem Gemüt liegen. Im Kopf ging er wieder und wieder die Zahlen durch:

Es gab neun mal drei, also 27 Schlösser. Jedes dieser Schlösser war im Frieden mit allenfalls fünfzig Soldaten besetzt, im Ernstfall konnten aus der Umgebung, aus Dörfern und sonstigen Ansiedlungen allerhöchstens eintausend Mann rekrutiert werden, unmöglich mehr. So kam man auf 27 000 wehrfähige Menschen in den Schlössern, plus nochmal an die 10 000 hoch motivierte Verteidiger der Krone in Orison-Stadt.

37 000 insgesamt.

Dann kamen noch die Hafenstädte hinzu, zwanzig an der Zahl. In höchster Not würden auch diese Städte allenfalls auf je eintausend Verteidiger kommen, obwohl das schon eher unwahrscheinlich war. Realistischer war eigentlich, dass mindestens die Hälfte der Hafenstädter ihr Heil in der Flucht suchen würde, entweder auf dem offenen Meer oder nordwärts Richtung Coldrin. Aber wenn man ganz pessimistisch sein wollte – und Culcah war lieber pessimistisch als hinterher der Dumme –, rechnete man mit zwanzig mal eintausend Verteidigern an den Küsten, also nochmal 20 000.

Das ergab insgesamt 57 000 Menschen, mit denen als Gegnern zu rechnen war. Diesen 57 000 Wehrhaften standen rund 122 000 Dämonen entgegen, deren Zahl aufgrund des Regens, der Unbeherrschtheit, der Rivalitäten untereinander, der scharfkantigen Felsformationen in den Brüchigen Bergen, der Kälte der Nacht oder der direkten Sonneneinstrahlung, vereinzelter menschlicher Gegenwehr oder auch bloß hirnrissiger Unachtsamkeit beim Landeanflug zum Beispiel auf Gebäude oder beim Wasserschöpfen aus tiefen Brunnen inzwischen auf 120 000 geschrumpft war.

Selbst dem am pessimistischsten rechnenden Feldherren musste bei einem Kräfteverhältnis von 120 000 zu 57 000 klar sein: Das konnte und durfte eigentlich nicht schiefgehen!

Zumal die Menschen bereits zwei Schlösser und drei Hafenstädte verloren hatten, also fünftausend Soldaten aus der Rechnung gestrichen werden konnten. 120 000 zu 52 000.

Zumal etliche der Dämonen viel größer und stärker waren als ein Mensch. Es gab welche, die konnten es mit zehn Menschen, ja gleich mit einem ganzen Regiment Berittener aufnehmen und würden am Ende dennoch siegreich sein. Es gab Flugbegabte. Es gab Giftige. Es gab Säuredämonen und Feuerdämonen und Klingendämonen und Projektildämonen.

Zumal die Menschen am Flüchten waren, kopflos und zerstreut, von abergläubischer Panik erfüllt, in der Defensive, um ihr Hab und ihr Gut und ihre gesamte als Bewaffnung verwendbare Ausrüstung gebracht.

Zumal sie Hunger leiden würden auf der Flucht und als Hungerleider die nördlicheren Baronate zusätzlich belasten anstatt verstärken würden.

Zumal sie von inzwischen noch acht unterschiedlichen Baronen befehligt wurden und dazu noch einer Königin, also neun verschiedenen Zungen, die nur schwerlich in eine einzige Richtung redeten, während die Dämonen unter Orisons und seiner, Culcahs, Knute zusammengezwungen wurden zu einem wohlgestalten Tross.

Zumindest in der Theorie.

Denn genau dies war der Schwachpunkt in all diesen Berechnungen.

Die Menschen waren in der Defensive, standen also mit dem Rücken zur Wand, hatten nichts mehr zu verlieren, konnten also zu allem entschlossen sein.

Die Menschen hatten eine Königin, zu der sie aufschauten und an deren Urteil sie glauben konnten. Auch die Barone waren der Königin untergeordnet. Die Menschen hatten also eine eindeutige Machtpyramide über sich, die ihnen Ordnung gewährte.

Den Menschen war der Ernst der Lage bewusst.

Für die Dämonen dagegen war das alles nur ein Spiel, ein Herumtoben nach viel zu langer Kerkerhaft. Orogontorogon, dieser impertinente Köter, hatte zehntausend von ihnen nach Süden zu den Hafenstädten geführt, die immer noch nicht zurück waren, obwohl Orogontorogon selbst hier am Hauptschloss des Sechsten Baronats bereits wieder aufgetaucht war, vermutlich, um für weitere Unannehmlichkeiten zu sorgen. Gut, 110 000 Kämpfer waren immer noch mehr als genug, um ein einziges Schloss einzunehmen, aber dennoch spürte Culcah das Fehlen dieser zehntausend, als hätte eines seiner Gesichter Zahnschmerzen.

Sie waren alle eins gewesen bis vor wenigen Tagen. Wie konnte man das jemals vergessen? Wie konnte man nicht den Verlust jedes Einzelnen als Schwächung des eigenen Leibes begreifen?

Culcah blickte über die Ebene mit dem brennenden Schloss in der Mitte.

Die Verlierer waren alle im Tod vereint. Die Sieger jedoch gebärdeten sich als ein von niederen Trieben und Gelüsten beherrschter Wirrwarr. Als eine Zumutung. Ein Flickenteppich, bei dem jede einzelne Faser Amok gelaufen war und nur noch an sich selbst dachte. Es war zum Kotzen!

Da ihm ohnehin die Handhabe fehlte, in den Tumult seines Heeres irgendeine Form von Struktur zu zwingen, wandte sich Culcah von dieser Ebene ab, griff sich einen geistlos unterwürfigen Flügeldämon und flatterte auf diesem in die Brüchigen Berge zurück, um dort Zwiesprache mit seinem König zu halten.

Der Schlund war leer und strudelte nicht mehr. Nichts bewegte sich. Die Tiefe war unauslotbar und schwärzer als eine Neumondnacht. Und dennoch roch es immer noch nach warmem Eiklar. Orison war noch irgendwo dort unten. Der Größte und Unfassbarste von allen.

»Orison, mein HERRSCHER – kannst du mich hören? ICH bin es: Culcah!« Die Stimmen des Dreigesichtigen brachen sich abwärts in Spiralen.

Die Antwort kam als tiefes Brummen, mehr im Magen als in den Ohren. »Was gibt es schon jetzt?«

»Das Hauptschloss und das Äußere Schloss des Sechsten Baronats sind GEFALLEN. An das Erwerben von Geiseln und ANDERER taktischer Beute ist jedoch nicht zu denken. Das Heer gebärdet sich ZU wild.«

»Vernachlässigbar.«

»VERNACHLÄSSIGBAR? Ich mache mir ERNSTLICHE Sorgen! Der dumme Hund Orogontorogon hat einen Teil des Heeres zur KÜSTE mitgerissen. Es wird dort sicherlich ÜBERLEBENDE gegeben haben, die sich auf Booten absetzen konnten. Vermutlich sind schon jetzt berittene MELDER Richtung Norden unterwegs und verständigen die Königin über unseren Ausbruch.«

»Vernachlässigbar. Ein Feldzug wie dieser lässt sich nicht geheim halten.«

»Aber mein Plan war so SCHÖN! Wir lassen einfach nie jemanden entkommen und rollen das Land langsam nach Norden hin auf, bis wir direkt vorm Schloss der KÖNIGIN stehen und niemand weiß, wie ihm geschieht!«

»Es macht keinen Unterschied. Lass sie sich sammeln und flüchten. Nimm dir die Hauptstadt. Treib die Menschen vor dir her wie Schafe. Treib sie den Coldrinern in die Arme, die besorgen dann den Rest.«

»Ich ERINNERE mich nicht mehr an Coldrin. Wie war das damals, als wir DÄMONEN im Lande herrschten und überall Frieden und Pracht war? Gab es DAMALS schon Coldrin?«

»Es gab Coldrin, und sein König war damals derselbe wie heute: Turer. Ein Wesen, so alt und unbarmherzig, dass selbst ein Dämon es fürchten muss.«

»Selbst IHR, mein Herrscher?«

»Selbst ich. Denn ohne Furcht wäre ich kein Ganzes. Turer von Coldrin ist meine Furcht.«

Culcah spürte, wie es ihm unter dem Käferpanzer schauderte. »Auch ICH verspüre Furcht, mein Herrscher. Furcht, dass ich diesen Feldzug nicht zu Eurer ZUFRIEDENHEIT werde durchführen können. Das HEER hört nicht auf mich. Es LACHT, wenn ich Befehle gebe. Genau genommen IST es gar kein Heer. Ich habe sogar schon Dämonen gesehen, die sich PAARTEN, einfach nur aus Übermut. Es ist zum KOTZEN!«

»Es sind keine Menschen, Culcah. Gewähre ihnen ihre Natur. Aber weise ihnen eine Richtung, denn ohne dich haben sie keine.«

»Doch was ist mit EUCH, mein Herrscher? Weshalb führt ihr uns nicht SELBST an? Vor Euch würden sie ERZITTERN! Euch würden sie FOLGEN, wohin auch immer!«

»Ich bin noch nicht so weit. Der Mahlstrom der Dämonen ist zerborsten. Die Magie, die ich selbst schuf, in hunderttausend Stücke zersplittert durch den Druck aus Zeit und Bewegung. Aber noch ist vieles davon hier. Nur das Lebendige ist hinausgesprungen und tummelt sich nun unter deinem Kommando. Das Übrige jedoch muss von mir noch eingesammelt werden. Wenn ich hinaufsteige, dann in meiner vollen Größe. Am Ende, wenn das Land, das noch immer meinen Namen trägt, längst uns gehören wird, muss ich auch Turer von Coldrin entgegentreten. Für diesen Tag muss ich mich wappnen, schon jetzt.«

»Ich bin NEUGIERIG, mein Herrscher. Ist das, was Ihr dort unten einsammelt, die LEBENSKRAFT?«

»Nein. Die brauchen wir nun nicht mehr. Wir sind frei. Frei, uns Fleisch und Blut und – wer möchte – auch Gras oder Salzwasser zur Nahrung zu wählen. Als vor einundzwanzig Jahren Gäus und Irathindur flohen, konnten sie ohne Lebenskraft in der Welt der Menschen nicht überdauern, denn der Dämonenschlund bestand noch, und ihre Flucht stand meinen Regeln entgegen. Nun jedoch ist der Schlund aufgelöst. Die Zeit war reif. Meine Geduld trug Früchte. Alle Dämonen gehören sich nun selbst. Die Lebenskraft ist für uns vernachlässigbar geworden. Nein, was ich hier unten sammeln und neu zusammenfügen muss, bevor ich endlich zu euch nach oben kommen kann, ist meine eigene Magie, mit der ich die Dämonen zu einem Strudel formte, damit sie überdauern konnten.«