Dungeon Planet - Tobias O. Meißner - E-Book

Dungeon Planet E-Book

Tobias O. Meißner

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Beschreibung

In einem kaum zu überwindenden Verlieslabyrinth warten hinterlistige Fallen, gefährliche Ungeheuer und unheimliche Monster auf die Teilnehmer von »Dungeoncrawler«! Die brutale Gameshow auf dem Planeten Laurel führt sie hinab in finstere Ebenen, denn nur dort wartet eine lohnende Beute. Um sie zu bekommen, muss man vor allem eins: überleben. Zumindest letzteres ist Jephron vor zwanzig Jahren gelungen. Als eine junge Teilnehmerin der neuen Staffel ihn bittet, ihr zu helfen, ist Jephron plötzlich wieder Teil der Show. Und die ist gefährlicher denn je! Wird es ihm auch diesmal gelingen, »Dungeoncrawler« lebend zu verlassen und seine Begleiterin vor dem sicheren Tod zu bewahren? Und vor allem: Schafft er es endlich, die Show zu gewinnen?

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ISBN 978-3-492-99236-7

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Anke Koopmann

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

DUNGEON PLANET

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NACHWORT

DUNGEON PLANET

 

Jephron liebte das Draußensein am allermeisten dort, wo das All nicht nur aus weißen Lichtern auf schwarzem Grund bestand.

Ganz früher, von der alten Erde aus, mit bloßem Auge, hatte man kaum etwas anderes wahrnehmen können als Punkte auf Schwarz. Aber wenn man vor Ort war, mittendrin in der Entfernung, stellte man fest, dass der Raum in sämtlichen Farben leuchtete.

Es gab Planeten und Gasriesen in Grün und Gelb und Violett, Sternennebel, die dunkelrot und hellblau glosten wie Schmetterlinge oder Korallenriffe. Darüber hinaus gab es die Möglichkeit, das All in Falschfarben zu betrachten wie die frühen Weltraumteleskope, die – stetig leistungsfähiger werdend – die Sehnsucht der Menschheit bis zur Unerträglichkeit gesteigert hatten. Die Falschfarbendarstellung wurde auf die Innenseite seines Cockpits projiziert, sodass Wärme sichtbar wurde oder chemische Zusammensetzungen oder Strahlung. Jephron konnte dann Wasserstoff grün sehen, Schwefel rot und Sauerstoff blau, es spielte keine Rolle. Denn eigentlich war nichts »falsch« an diesen Farben. Aus wessen Perspektive war eine Wahrnehmung mit Sicherheit »falsch«? War der Mensch etwa der einzige Maßstab des Alls? Warum sollten ausgerechnet Menschenaugen definieren, in welche Gewänder sich die Ewigkeit hüllte? Jedes Insekt hätte die Farben anders wahrgenommen, jeder Hund ebenfalls.

Dies war das Erste, was die Menschen hier draußen gelernt hatten: Es gab gar kein Falsch mehr und auch kein Richtig. Es gab einfach alles und von allem unendlich viel. Alles war möglich. Und alles war relativ.

Der Traumraum der Menschheit war begeh- und bestaunbar geworden.

 

Besonders schön war es hier, vor den Säulen der Schöpfung. Fast siebentausend Lichtjahre von der alten Erde entfernt, im Adlernebel.

Diese aus Staub und Protosternen bestehenden und an drei finstere Schamanengottheiten erinnernden »Säulen« waren so unfassbar gigantisch, sie waren bis zu vier Lichtjahre lang, das Licht musste vier Jahre rasen, um von der Basis bis zur Spitze zu gelangen. Ein Mensch, der dies betrachtete, spürte regelrecht, dass er nur ein Atom war, weniger noch als ein Atom, ein zerteiltes Atom vielleicht, mit derselben mulmigen Unruhe einer Kernspaltung. Ein Mensch saß da in seinem andruckabsorbierenden Pilotensitz und schnaufte, und Tränen liefen ihm über das Gesicht.

Der Hintergrund der Säulen leuchtete in Kobaltblau. Darin rötliche Schlieren mit gelblichen Rändern im erstarrten Wabern. Die Säulen selbst, gefrorene Protuberanzen, sahen aus, als seien sie lila oder getrocknetes Blut. Jephron schaute, und er konnte rundum schauen im kleinen Kuppelcockpit seines Einmannseglers MAYFIELD.

Auf seinen blinkenden Instrumenten und den auf den unteren Bereich der Kompriglasscheiben projizierten Monitoranzeigen bemerkte er einmal mehr, dass er nicht allein war. Hier, wo man so dicht vor den Säulen schwebte wie auf dem berühmten, nun über eintausend Jahre alten Hubble-Foto, trieben noch zwei weitere Schiffe. Eins war ein wie ein Oldtimer aussehendes hellrotes, fast wie ein Schuh geformt, wahrscheinlich drei Mann Besatzung. Jephron mochte, dass die Menschen nach rund zweihundert Jahren zweckmäßig designter Raumschiffe angefangen hatten, Schiffe zu bauen, die eigenwillig waren, die Stil und Aussage wagten, die an Tiere angelehnt waren oder einfach nur besonders farbenprächtig lackiert.

Das andere Schiff war ein dickbauchiger gelber Passagierkreuzer, der Touristen viele Credits abknöpfte für diesen imposanten Anblick. Wahrscheinlich wurde da drinnen jetzt klassische Musik gespielt und man stieß mit dünnwandigen Gläsern an und lachte nervös, eingeschüchtert vom Dreifaltigkeitsantlitz des Universums. Die Säulen der Schöpfung waren, als könnte man Zeit und Raum dabei zusehen, wie sie sich Hand in Hand zu etwas Großartigem, aber noch Rätselhaftem aufrichteten. Als Mensch versuchte man, in die Spitzen der drei Säulen Gesichter hineinzuinterpretieren, so wie man früher in der raumfahrtlosen Zeit die Umrisse von Tieren in den Wolken über der alten Erde erkannt zu haben glaubte.

 

Früher. Wie lange das jetzt her war!

Inzwischen schrieb man das Erdenjahr 3014.

Seit fünfhundert Jahren kolonisierten die Menschen das All. Seit der Erfindung des FTL-Antriebs. Faster Than Light. Vorher war gar nichts möglich gewesen, waren die Menschen an die Erdanziehungskraft geschmiedet gewesen wie Kettensträflinge. Die Entfernungen waren einfach zu groß. Sechshundert Tage Flug alleine bis zum Jupiter, etwa neunzehn Jahre bis zum Pluto – wer außer Verhaltensgestörten mit Todeswunsch hätte sich dem aussetzen wollen? Das Verlassen des Sonnensystems: ein unerfüllbarer Traum.

Dann war es mitten im von Freak Weather, den durch den Anstieg des Meeresspiegels verursachten Flüchtlingsbewegungen sowie resistenten Viren heimgesuchten 25. Jahrhundert zwei jugendlichen Forscherinnen aus der kalifornischen Kleinstadt Santa Ana gelungen, denAntrieb zu entwickeln. Er basierte auf einer komplizierten Kettenreaktion, an deren Anfang maritimes Flüssigerdgas stand, das war das Verschrobenste daran. Vor den Augen der fassungslosen Weltöffentlichkeit beschleunigten sie zuerst – aus nostalgischen Gründen – eine Untertasse aus handbemaltem Porzellan, dann eine kleine Raumkapsel auf Überlicht. Es knallte nicht wie bei der Schallmauer. Es sah nur so aus, als würde sich die Materie dehnen. Als hätte Salvador Dalí schon immer recht gehabt. Der Jamison-Hedge-Antrieb war geboren, die epochalste Erfindung, die die Menschheit je gemacht hatte (einige sagen: mit Ausnahme von Rad und Brot). Plötzlich gab es keine Grenzen mehr.

Selbstverständlich war der Antrieb zu Beginn noch nicht ausgereift, aber da die finanzstärksten Konzerne des Planeten sich auf dieses Patent stürzten, wurde innerhalb von nur vierzig Jahren eine bemannbare Angelegenheit daraus. Der Rest: Geschichte. War die sogenannte Lichtmauer erst einmal überwunden, schien die jenseitige Geschwindigkeit mit dem Jamison-Hedge-Antrieb geradezu stufenlos steigerbar zu sein. Es war, als sei man in eine Welt hinter den Spiegeln getreten. War es noch unfassbar kompliziert gewesen, an die Lichtgeschwindigkeit heranzukommen, schien jenseits der Lichtgeschwindigkeit das Beschleunigen immer einfacher zu werden, je mehr man beschleunigte. Nachdem das Problem mit der tachyonischen Elektrodynamik ausgeräumt war, ermöglichte es der Jamison-Hedge-Antrieb, das 100 000-Fache der Lichtgeschwindigkeit zu erreichen und mehr. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Zellstruktur des menschlichen Körpers bei Geschwindigkeiten jenseits von 90 Parsec pro 24 Erdenstunden zerfiel. In der experimentellen Anfangsphase gab es diesbezüglich schauerliche Unfälle. Ein Schiffsrumpf, in dem sich die Moleküle eines menschlichen Körpers dermaßen gleichmäßig verteilt hatten, dass sich in jedem Kubikzentimeter dieselbe Konzentration an Organischem befand, war ein Anblick, den man seinem schlimmsten Feind nicht hätte zumuten wollen. Dem Menschen war also ein natürlicher Grenzpunkt gesetzt. Frachten, Maschinen und Funksignalkomprimierungen allerdings konnten sogar noch schneller befördert werden. Und 90 Parsec in 24 Stunden waren bereits bahnbrechend genug, denn das entsprach 300 Lichtjahren an nur einem einzigen Tag. Der Mensch überholte das Licht lachend wie ein Rennwagen einen Ochsenkarren. Siebentausend Lichtjahre entfernte Phänomene wie die Säulen der Schöpfungwurden plötzlich in einem nur dreiundzwanzigtägigen Trip erreichbar.

Infolgedessen begann im Jahre 2514 die Große Expansion. In klapprigen Raumschiffen, die aufgrund von Materialermüdung oftmals sogar noch auseinanderbrachen, machte sich die Menschheit auf wie in der Frühgeschichte der alten Erde die ersten Fische, die das Wasser verließen. Nur dass sie diesmal ins Meer zurückkehrten: ins Sternenmeer.

Seitdem gab es geschätzt 6000 Planeten, auf denen Menschen mit irdischem Migrationshintergrund anzutreffen waren, weitere etwa 100 000 Planeten waren zumindest besucht, begutachtet und kartografiert oder sogar bereits um ihre Rohstoffe erleichtert worden.

Die Menschen besiedelten die Planeten, von denen sie schon immer geträumt hatten, und besiedelten sie so, dass diese Träume wahr wurden. Sie schlossen sich zu Interessengemeinschaften zusammen, statteten gigantische Exodusflotten aus und verwirklichten – einmal angekommen – die ihnen vorschwebende Lebensweise. Es gab nun einen Planeten namens Africa und einen nur für weiße, paranoide Separatisten mit Herrenmenschenambitionen. Es gab einen Planeten, auf dem wieder Samurai das Sagen hatten, und einen, auf dem der Wilde Westen für alle Zeiten Gegenwart war, inklusive selbstauferlegter technologischer Beschränkungen. Viele Planeten hatten einen solchen Themenparkcharakter, denn wenn sich die Menschen in der Unendlichkeit des Raums alles aussuchen konnten, wonach ihnen der Sinn stand – warum dann nicht etwas, das endloses Vergnügen verhieß? Es gab Bordellplaneten, Wassersportplaneten, Wüstenplaneten, Bergsteigerplaneten, Planeten mit so geringer Schwerkraft, dass man beinahe schweben konnte, Planeten für die Riesenechsenjagd, Planeten für Nudisten, Planeten für Fashion, Planeten für die jeweiligen Angehörigen der verschiedensten Konfessionen, Planeten für Fruktarier, einen garantiert pollenfreien Planeten für Allergiker, es gab einen Jazz-Planeten, einen Gothic-Planeten, einen Fußballturnier-Planeten, einen, den seine Bewohner den »Todesstern« nannten, einen, auf dem nur Frauen lebten und den kein Mann jemals betreten und verpesten durfte, einen, auf dem es überwiegend Transsexuelle gab und auf dem man als geschlechtlich Festgelegter beargwöhnt und schikaniert wurde, einen, auf dem man sich unter mehreren Sonnen bräunen konnte, einen, der wie ein Kuschelzoo war, einen, auf dem es einen Badesee gab, der nach Champagner schmeckte, einen, auf dem sich Musiker trafen, um in Echohöhlen Aufnahmen zu machen, einen, auf dem man zahme Flugechsen reiten konnte, einen mit geringerer Schwerkraft für Übergewichtige, die den vergeblichen Kampf gegen ihre Pfunde aufgegeben hatten, einen, auf dem die Sonnenuntergänge tagelang dauerten, einen, auf dem Goldsucherfestivals veranstaltet wurden und man sich gegenseitig mit harmlosen Laserpistolen aus dem Wettbewerb schießen konnte, einen namens Alexandria II, auf dem man die größte Bibliothek des Universums errichtete, einen, auf dem auf der alten Erde Verbotenes nicht nur erlaubt, sondern erwünscht war, einen, der eine Kopie der alten Erde darstellte und sogar einen Planeten namens Bavarius, auf dem das ganze Jahr über Oktoberfest gefeiert wurde und man im trunkenen Ringkampf gegen Lebewesen antreten konnte, die als Octobear bezeichnet wurden.

Wahrscheinlich waren mittlerweile eintausend der sechstausend besiedelten Planeten solche Themenwelten, niemand vermochte mehr darüber Buch zu führen, obwohl es viele Blogger gab, die schreibend umherreisten. Fünftausend Planeten waren einfach nur Kolonien, schlossen sich zu Commonwealths zusammen und begannen schon wieder kleinliche Kriege um Rohstoffe oder Rechthabereien oder einfach deswegen, weil das Kriegerische den nun plötzlich raumfahrenden Steinzeitmenschen nichtsdestotrotz im Blut lag.

 

Jephron ließ die MAYFIELD sich um die eigene Achse drehen, um alles, wirklich alles sehen zu können. Er brauchte nur die Daumen beider Hände zu bewegen, dermaßen leichtgängig und komprimiert waren die Sticks seiner Steuerung.

Auch er machte jetzt Musik an wie der dicke Pott ein paar zehntausend Meilen backbord von ihm, die Musik des großen Komponisten, nach dem er sein Schiff benannt hatte. Der Song hieß »Keep on pushin’« und enthielt in einem schwungvollen, fast walzerartigen Rhythmus die Textzeilen: Now look-a look a-look-a yonder, what’s that I see, a great big stone wall, stands there ahead of me, but I’ve got my pride, and I’ll move on aside, and keep on pushin’.

Für Jephron sah es so aus, als würden die Säulen der Schöpfung im Takt des sich bewegenden Schiffes zu tanzen beginnen.

Er lächelte, während er sich vorstellte, dass genau hier, an diesem mysteriösen Ort, der Urknall seinen Anfang genommen hatte. Wenn man sich diese Säulen als eine Art Geburtskammer der Sterne vorstellte, passte der Titel des Songs doppeldeutig perfekt.

 

Als gravierendstes Problem bei der Großen Expansion hatte sich das Kollidieren mit Materie während des Überlichtflugs herausgestellt. Etliche Pionierschiffe waren nicht nur zerborsten, sondern buchstäblich in Planetoiden geklatscht. Daraus ergab sich die nächste Marktlücke neben der Konstruktion von Raumschiffen und dem Bereitstellen von Emigrationsbedarf: die sogenannten Korridore. Korridore waren die Autobahnen des Universums. Auf ihnen wurden Schnellflugstrecken kontinuierlich von Materie frei geräumt, sodass die vollen 90 Parsec/Tag, die ein Mensch verkraften konnte, sorglos ausgeflogen werden konnten. Seitdem es die Korridore gab (erst seit etwa dreihundert Jahren), hatte sich die Aufbruchsbewegung der Menschheit nochmals vervielfacht. Die Reise durchs Weltall war nun nicht mehr nur noch Forschern und Waghalsigen vorbehalten, sondern wurde zum Vergnügen für die ganze Familie. Die Korridore führten natürlich nicht überall hin, aber zu den interessantesten und beliebtesten Nebeln, und von dort aus konnte man sich dann selbstständig weiter verzweigen. Es gab keine Limits mehr. Alles wurde immer einfacher. Und interessanterweise löste die Große Expansion sogar die meisten Probleme auf der alten Erde. Die vielen halsstarrig ineinander verbissenen Gruppierungen konnten sich nun einfach in der Unübersichtlichkeit des Weltalls aus dem Weg gehen, und auch der sich anbahnende Überbevölkerungskollaps auf dem Mutterplaneten der Menschheit wurde abgewendet, denn vierhundert Jahre nach Beginn der Großen Expansion lebten plötzlich nur noch halb so viele Menschen auf der Erde wie zuvor. Die andere Hälfte war aufgebrochen ins größte aller Abenteuer, und mit einem Mal gab es auf der alten Erde genügend Platz und Nahrung und Energie für alle, sodass die Daheimgebliebenen jene, die fortgezogen waren, beinahe bemitleideten.

 

Auf hunderttausend Planeten und ihren Zwischenräumen suchte die Menschheit außerirdisches Leben, wie man es aus Science-Fiction-Filmen kannte.

Wo waren sie, die Klingonen, die Ewoks, die säuremäuligen Aliens, die Daleks, die kleinen grünen oder grauen Männchen, der niedliche E. T. oder die großköpfig sabbernden Invasoren aus dem All?

Planeten mit Leben gab es unzählige. Aber bei den meisten hatte dieses Leben den Charakter von Bakterien, Pilzen, Flora oder Fauna. Im weitesten Sinne humanoide Zivilisationen waren bis zum Jahre 3014 erst ein halbes Dutzend gefunden worden, jede einzelne von diesen wurde als große Sensation behandelt. Jedoch befanden sich vier auf einer Entwicklungsstufe weit unterhalb von Raumfahrttechnologie. Eigentlich gab es nur die Yucconae mit ihren bleistiftdünnen Raumschiffen aus Grafitlegierungen sowie die tentakelbewehrten, von vielen Siedlern etwas despektierlich so bezeichneten »Cthulhuiden« als ernst zu nehmende außerirdische Konkurrenten – aber beide Fremdrassen verhielten sich ausgesprochen scheu und misstrauisch, genau wie die Menschen.

Zuerst war die Nachricht mit Begeisterung aufgenommen worden, in den Tiefen des Weltraums nicht alleine zu sein.

Dann hatten sich die Skeptiker zu Wort gemeldet: War das Nicht-Alleinsein eigentlich eine gute oder eine schlechte Neuigkeit? Die Sache war doch nämlich so: Wenn sich auf der Erde zwei Menschenstämme begegneten, konnten sie damit beginnen, beiderseitig nutzbringende Handelsbeziehungen zu etablieren, sie konnten aber auch miteinander in Konflikt geraten. Über Nichtigkeiten. Oder über Territorien. Der Gedanke, dass es im grenzenlosen Universum nun Bereiche gab, die anderen Lebewesen gehören mochten, war neu für die Menschheit. Für die Yucconae und die Cthulhuiden möglicherweise auch. Also beschlossen alle, einander so gut wie möglich zu ignorieren.

Schließlich hatte es nie Probleme bereitet, »den anderen« in den fassungslosen Weiten der Galaxis aus dem Weg zu gehen. Eher schon war es schwierig, überhaupt mit »den anderen« in Kontakt zu treten. Wie die Yucconae aussahen, wusste man bis heute nicht, aber man stellte sie sich als eine Art technisch hochversierter Stabheuschrecken vor. Die »Cthulhuiden« flogen in Klapperkisten, deren technischer Standard in etwa den störungsanfälligen Menschenschiffen zu Beginn der Großen Expansion entsprach.

Die Philosophen hatten bald eine Formulierung dafür parat gehabt, dass es im All so wenig reisende Völker gab und dass diese sich zueinander argwöhnisch verhielten: »Offensichtlich besteht der Hauptzweck des Universums nicht darin, Menschen oder Raumfahrer hervorzubringen. Es gibt weitaus mehr Blumen und Meere da draußen als solche, die Sträuße binden und fischen sollen.« Was natürlich wiederum vielen etwas weniger komplex denkenden Erdlingen bestätigt hatte, wie verhältnismäßig einzigartig und auserwählt sie mit ihrer schönen, blau leuchtenden Herkunft doch waren.

 

Jephron behielt seine Instrumente stets im Blick. Der größte Teil der Energieversorgung der MAYFIELD lief über Fotovoltaik, er konnte jederzeit in der Nähe einer Sonne parken und das Schiff binnen zweier Stunden vollständig aufladen. Es war bald wieder Zeit für ein solches Manöver, das die Piloten als Sonnenbad bezeichneten.

Das war schon faszinierend, wie heiß und glühend und partikelstürmisch es hier überall sein konnte, wenn man nur nahe genug heranflog an die Punkte inmitten der Kälte. Der Weltraum war wie eine nächtliche Wüste, in der überall Schätze vergraben lagen.

Jephron sah, wie das Dreimannschiff abdrehte. Ein ehemaliger Schlepper, umgebaut zu einem Frachttransporter. Hatte wahrscheinlich schon hundert Jahre auf dem Buckel, anders als die MAYFIELD, die eine Werft in einem Cluster aus fünf Monden vor sechzehn Jahren nagelneu ausgespien hatte.

Vor sechzehn Jahren, als Jephron gerade zweiundzwanzig gewesen war und verrückt genug für das größte Wagnis jenseits der Raumfahrt selbst. Das Wagnis, das auch jetzt wieder seine Schlingen auswarf wie jedes Jahr.

Dungeoncrawler.

Die größte Show des Universums.

Jephron seufzte. Er würde auch dieses Jahr wieder hinfliegen. Vorher brachte er noch die vereinbarte Fracht termingerecht nach Xocotl IX, dann zog es ihn wieder nach Laurel.

 

Die MAYFIELD hatte nicht so viel Stauraum wie das Dreimannschiff, das gemütlich davonflog, aber es reichte für gekühlte Lieferungen von Früchten, die es nur auf bestimmten Planeten gab, handgeschöpfte Schokolade nach irdischem Rezept, Musikinstrumente aus Familientraditionsmeisterhand, Weine, Morastplanetentrüffel, ethnische Traditionsgegenstände wie Kolonistentrachtenkleidung oder Schmuck, originale Steine von einer Welt mit zwanzig Meilen hohen Bergen oder Strandsand vom Champagnersee, beglaubigte Dokumente, extraterrestrische archäologische Mitbringsel und Ähnliches. Alles, was nicht lebte, was wenigstens zwei Wochen haltbar war und nicht allzu viel Platz einnahm. Schon bei einer zu befördernden Person haperte es, Jephron wollte niemanden auf seinem Schiff haben, er hatte auch gar keine zweite Kabine. Piloten wie er bedienten die Sehnsüchte der Kolonisten. Schiffe von der alten Erde versorgten französischstämmige Siedler in den Untiefen des Kokonnebels mit Camemberts, die tatsächlich aus der Normandie stammten. Jephron dagegen verband eher die Kolonien miteinander, auf der alten Erde war er noch nie gewesen. Je mehr sich die Menschheit in der Galaxis verstreut hatte, desto mehr war die alte Erde zu einem Sehnsuchtsort geworden wie das Haus, in dem man als Kind gelebt hat, aber in dieser Hinsicht hielt Jephron es mit dem russischen Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski, der einmal gesagt hatte: »Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben.« Jephron faszinierte es eher, was die Menschen auf den unterschiedlichen Planeten einander zu bieten hatten, als dass er modischer Erdnostalgie nachhing.

 

Vor der heutigen, etwas weinerlichen Verklärung der alten Erde hatten die meisten der Siedler es gar nicht erwarten können, die irdischen Konventionen abzustreifen. Sie hatten sich losgesagt von Gesetzen, Verboten, Steuern, Terrorismus, hartnäckigen Reklame-K. I.s und Datenerfassung und sich ein Dasein nach ihren eigenen Regeln eingerichtet. Anfangs hatte die irdische Weltraumverwaltung noch versucht, den Daumen draufzuhalten, hatte sogar Truppen geschickt, um politische Abspaltungen und Steueroasen zu ahnden. Doch mehr und mehr Planeten waren besiedelt worden, und spätestens, als es über tausend waren, gab die Erde den Versuch auf, alles kontrollieren zu wollen. Sie hatte einen eigenen Planeten terraformt, der Militär und Behörden beherbergte, aber auch die waren irgendwann hoffnungslos überlastet gewesen und nach mehreren heftigen Scharmützeln schließlich auch deutlich dezimiert.

Am respekteinflößendsten war heutzutage die IPF, die Interstellar Police Force, die mit ihren rot-silberblauen Kanonenbooten überall anzutreffen war, aber die IPF war genau genommen längst keine staatliche Einrichtung mehr, sondern ein privatisierter Player. Im Grunde genommen eine Söldnerarmee, die sich aufführte wie ein Pausenhoftyrann und die man jederzeit mieten/schmieren konnte, um die eigenen Interessen zu vertreten.

Dann gab es noch die Päpstlich-Missionarische Flotte, der es um den Erhalt und die Verbreitung des Katholizismus ging, sowie die diplomatischen Schiffe der ebenfalls inzwischen im irdischen Rom residierenden Interplanetaren Regierung, die allerdings nur noch zuständig war für die etwa zweitausend der sechstausend besiedelten Planeten, die sich weiterhin ausdrücklich als der irdischen Hoheit unterstellt betrachteten. Weder der Papst noch die Interplanetare Regierung mischten sich in Angelegenheiten, die sie nichts angingen, also herrschte zwischen den Sternen überwiegend Gesetzlosigkeit. Vergleichbar den Zeiten, in denen die Menschen noch die Weltmeere auf salzkrustigen Segelschiffen befuhren und beständig auf der Hut zu sein hatten vor Piraten.

Jephron und seine MAYFIELD hatten auch schon mehrmals mit Piraten zu tun bekommen, aber die MAYFIELD hatte vier Vorteile: Sie war schnell, winzig klein, wendig und wehrhaft. Float like a butterfly, sting like a bee, zitierte Jephron gerne, bevor er allzu vorwitzigen Möchtegernplünderern mit seiner doppelläufigen Bordimpulskanone den Bug wegschmorte. Bislang hatte es noch niemand fertiggebracht, ihm auch nur einen einzigen Morastplanetentrüffel zu stehlen. Zumindest nicht im All. Auf den Planeten selbst war er natürlich schon übers Ohr gehauen worden wie wohl jeder, der zwischen den Sternen verkehrte. Windige Geschäftemacher würde es immer geben, auch dann, wenn die Menschheit eines Tages Wurmlöcher entdeckte, die Milchstraße verließ oder sich in andere Dimensionen aufmachte.

 

Er steuerte zurück in die Nähe eines Hellen Riesen der Leuchtkraftklasse II. Umso schneller würde das Aufladen im Sonnenbad vonstattengehen.

Es gefiel ihm, die überwältigenden Datenmengen des SpaceNets zu konsultieren, um zu erfahren, ob dieser Stern einen Namen trug. Das tat er durchaus, aber er klang nicht besonders lyrisch: BI657/JHI-2444.

Jephron fuhr die Solaraggregate aus, legte die MAYFIELD mit dem Partikelschutzschirm voran in den Sonnenwind, zog sich nach hinten durch den schlanken Leib seines Schiffes, saugte ein bisschen aufbereitetes Wasser und schnallte sich für ein paar Stunden in seinen Schlafbeutel, während die Annäherungssensorik der MAYFIELD für ihn Wache hielt. Sein Schiff war bei Weitem nicht groß genug, um eine eigene Zentrifugalschwerkraft erzeugen zu können, geschweige denn sich einen diesbezüglichen Feldgenerator leisten zu können, aber das störte ihn nicht. Gegen den Muskelschwund unternahm Jephron regelmäßig Landungen auf Planeten mit höherer Schwerkraft als der Erde und hielt sich dort mit Laufeinheiten und Gewichtstemmen in Form. Auch im Schiff hatte er Geräte. In der Schwerelosigkeit konnte man mit Gewichten nichts anfangen, aber mit einer Federstange, zwei Handtrainern und einem schwergängigen Ergometer konnte man der Atrophie entgegenarbeiten. Für einen 38-Jährigen war Jephron hervorragend in Schuss, und er tat einiges dafür, nicht so aufzudunsen und zu erschlaffen wie etliche andere Einmannsegler, die ihre Pilotensitze kaum noch verlassen konnten oder wollten.

Er schlief höchstens eine irdische Dreiviertelstunde, in der er von einem Schiffsrennen durch ein Asteroidenfeld träumte, bei dem fast jeder zweite Teilnehmer explodierte, dann weckte ihn das durchdringende Piepen eines Anrufs. Er tastete sich schwebend zur Konsole vor, ließ die Bildübertragung aber weg. Reichte doch, dass er Violaine sehen konnte, seine fast achtzigjährige Verbindungsfrau zu seinem Heimatplaneten Tonatiuh IV, 317 Lichtjahre von der alten Erde entfernt. Er sah Violaines schockrote Perücke leuchten, ihr alterslos schönes Gesicht mit den riesigen Augen. Die knallgrüne enge Latexhose, die sie am liebsten trug, um Männer zu verführen, die halb so alt waren wie Jephron und somit ihre Urenkel sein konnten, war in dieser Cam-Perspektive nicht zu sehen. Er hatte einmal Bilder gesehen von Violaine in ihrer Jugend. Sie musste eines der hübschesten Geschöpfe gewesen sein, die das Universum je hervorgebracht hatte. Heute konnte er sie unbedrängt bewundern, denn er war zu alt, um in ihr Beuteschema zu passen.

»Bildübertragung kaputt oder Bad Hair Day, Jeph?«

Er knurrte: »Hab grad geschlafen.«

»Du bist doch nicht etwa nackt, Schamloser?« Sie machte ein geschauspielertes Schockiertgesicht.

»Bin ich nie«, sagte er so unbetont wie möglich. »Was gibt es denn?«

»Hör mal, ich hab hier was für dich. Einer der Kontraktoren von Tau Gelb hat diesmal richtig Mist gebaut und ist endlich gefeuert worden. Hundertfünfzig Kilo Guanodünger von Deneb Dulfim III passen doch gut rein in dein Schiff.«

»Aach, das stinkt mir doch schon wieder die ganze Hülle voll …«

»Diesmal nicht, versprochen. Ist alles gut vertütet und verschweißt. Fünfzig Säcke.«

»Deneb Dulfim, was ist das noch mal?«

»Epsilon Delphini. Ist genauso weit von der Erde weg wie ich jetzt, aber in anderer Richtung.«

»Stimmt. Okay, klingt machbar, aber ich …«

»Du musst erst noch nach Xocotl IX und dann wieder nach Laurel, du Junkie, weiß ich doch, kenn ich doch schon alles. Es ist die Zeit des Jahres, wo es die Lachse die Stromschnellen hochtreibt. Die Sache eilt nicht allzu sehr, vertüteter Dünger hält sich ja. Hier kriegt diesen Auftrag erst einmal keiner, denn ich habe ihn geblockt, weil ich immer an dich denke.«

»Und wo soll das dann hin?«

»Fast so weit draußen, wie du jetzt gerade bist. Deshalb will ich es nicht selbst machen.« Violaine hatte einen eigenen Einmannsegler, die MISBEHAVE, aber sie hasste es, in ihrem Alter allzu lange ohne männliche Gesellschaft unterwegs sein zu müssen. Und mit männlicher Gesellschaft wurden ausgedehnte Reisen schnell zur Nerverei.

»Das heißt, ich muss erst rein und dann wieder raus?« Rein bedeutete: in Richtung alte Erde, die der Einfachheit halber nach wie vor den Mittelpunkt sämtlicher Sternenkarten bildete. Raus bedeutete: in Richtung Galaxisrand. Jephron legte so viel Unbegeistertheit wie möglich in seine Stimme.

»Es liegt auf einer Strecke, ich hab’s ausgerechnet. Du fliegst doch jetzt ohnehin erst mal über Laurel. Von dort aus dann weiter rein nach Deneb Dulfim und dann in fast gerader Linie wieder raus. Leichter geht’s kaum.«

»Verfliegen kann man sich ja ohnehin nicht. Aber ich werde fast zwei Monate brauchen für das alles.«

»Ist doch gut! Zwei Monate unter festem Vertrag, was willst du mehr?« Bei einem jüngeren Kerl hätte sie jetzt spielerisch angeboten: Soll ich dich begleiten kommen, Honigmund?

»Also schön. Sag ihnen, ich bin unterwegs, aber ich werde eine Woche auf Laurel bleiben.«

»Was willst du denn dort so lange? Den Dummköpfen beim Sterben zusehen?«

»Man muss da nicht sterben. Ich bin auch nicht gestorben.«

Sie lächelte mitleidig. Er verwendete die seit einigen Jahren unter Unangepassten übliche Abschiedsformel »Rioght!«, schaltete die Verbindung ab und rieb sich das Gesicht.

Zwei Monate unter Vertrag waren wirklich nicht übel. Auch wenn er Vogelscheiße transportieren musste. Die Vögel von Deneb Dulfim waren sicherlich immerhin sogar noch schöner als die auf der alten Erde. Er hatte mal gelesen von welchen auf einem Fremdplaneten, die Flügelspannweiten von dreißig Metern hatten und singen konnten wie Meerjungfrauen. Das Universum war der Ort, an dem sämtliche Märchen Entsprechungen fanden.

Die Verbindung piepste schon wieder. Es war noch einmal Violaine. »Nur aus Neugier«, sagte sie. »Hast du gebetet an den Säulen?«

Jephron dachte kurz nach, dann sagte er: »Mit dem Beten hat meine Familie aufgehört, als sie als Sklaven nach Amerika verschleppt wurden.«

»Einleuchtend. Man hätte aber dennoch wieder damit anfangen können, als die Menschheit ihr Sonnensystem und damit die Sklaverei für immer hinter sich ließ. Rioght!«

»Rioght!«

Dann war es wieder still um ihn, aber er war nicht mehr müde genug, um nicht fliegen zu wollen.

 

Sechzehn Jahre war das jetzt her.

Der von labyrinthischen Tunneln durchzogene Planet namens Laurel.

Dungeoncrawler.

Damals und seitdem und vielleicht auch für immer Quotenbringer Nummer eins unter den SpaceNet-Livestream-Events. Fünfzig Kandidaten gehen rein in die Dungeons und versuchen, so viele Schätze wie möglich rauszubringen und nicht dabei draufzugehen. Der Tod war kein Muss in dieser Show. Wer sich bescheidete, konnte jederzeit aufgeben, aussteigen oder sich eben nur in den ungefährlichen Levels tummeln und ein besseres Taschengeld finden. Aber kaum jemand nahm teil, um sich zu bescheiden. Die Show wurde auf über 4000 Planeten übertragen, und auch vor Ort gab es Zuschauertribünen, einige der Dungeons waren so groß wie Raumschiffswerften. Wer dort teilnahm, wollte gesehen werden und glänzen, nicht sich wegducken.

Es gab verschiedene Typen von Kandidaten. Diese Typen kristallisierten sich bereits während der ausführlichen Vorberichterstattung heraus. Die Adventurer waren die, die sich umgehend in die tieferen Levels vorwagten, wo die Schätze größer wurden, aber ebenso größer auch die von den bizarrsten Planeten handverlesenen Kreaturen. Etliche Adventurer bezahlten ihren Wagemut mit dem Leben. Die wenigsten trauten sich ins tiefste und dunkelste aller Levels, wo der unüberwindbare Minosaurus lauerte, den noch nie jemand bezwungen hatte, wie denn auch? Die Ausrüstung, die man gestellt bekam, war bestenfalls mittelalterlich: Fackeln, Schwerter, Speere und lederbezogene Holzschilde. Das im Alltagsleben hoch technisierte Publikum war verrückt nach diesem anti-elektronischen Ansatz, so wie es auch verrückt war nach dem Fetischaspekt der Lederkleidung, die die Teilnehmer tragen mussten. Einige trugen dieses Leder so knapp wie möglich, obschon es eigentlich schlauer war, sich gegen die Krallen von Ungeheuern so dick wie möglich einzuhüllen, anstatt offenherzig herumzustolzieren. Man musste volljährig sein, um an Dungeoncrawler teilnehmen zu können. Bei anderen Sportarten mit potenziell tödlichem Ausgang, wie Raumschiffrallyes, Fremdplaneten-Großwildjagd, Atmosphärensturz-Brennen, Apnoe-Eistauchen oder Vulkansurfen, tummelten sich durchaus auch schon Vierzehnjährige; halt jeder, dessen Knochenstruktur den Belastungen gewachsen war. Dungeoncrawler jedoch war für Minderjährige zu aufreizend. Minderjährige durften es schauen, weil sie ohnehin im SpaceNet alles finden konnten, aber sie sollten vor einer Teilnahme geschützt bleiben. Etliche Kandidaten hatten in den Labyrinthen Sex miteinander. Das lag an der zehntägigen Todesangst, aber auch am Buhlen um die Zuschauergunst.

Außer den Adventurers gab es bei Dungeoncrawler die Collectors, die sich auf das Durchforsten der ungefährlicheren Level konzentrierten, die Bushwhacker, die sich darauf spezialisierten, mit Schätzen beladenen Adventurers kurz vorm Ausgang aufzulauern und ihnen die mühsam erarbeiteten Schätze einfach abzunehmen, sowie die Scavengers, die das aufhoben, was nach Kämpfen zwischen anderen liegen geblieben war.

Jephron war seinerzeit ein Collector gewesen, der sich sogar mit anderen Collectors zusammengetan hatte. Als seine Gruppe dann auf dem Weg nach draußen von achtbeinigen Zosma-Wimmlern angegriffen worden war, war er zum Scavenger mutiert. Er kümmerte sich um die Schwerverwundeten, sammelte aber ein, was diese nicht mehr tragen konnten.

Kurz vorm Ausgang hatte er dann jedoch etwas getan, was ihn in den Popularitätsrankings ganz nach oben befördert hatte und ihm dadurch für alle weiteren Staffeln dieser Show eine Wildcard einbrachte: Er hatte seine Beute abgelegt, war umgekehrt und in eines der beiden blauen Level eingedrungen. Die Blauen waren die tiefsten, wobei er nur nach Himmelblau gegangen war, nicht nach Nachtblau, aber den Zuschauern hatte dennoch der Atem gestockt. Dort hatte er sich mit einem fast vier Meter hohen Krötenaffen aus dem Hatsya-System angelegt und war siegreich geblieben. Er hatte aus dem Schlafplatz dieses Wesens zwei Minchir-Rubine erbeutet und war dann wieder nach oben geflüchtet mit den Worten: »Jetzt habe ich es mir redlich verdient.« Zusammen mit seiner Scavenger-Beute hatte dieser Schatz ausgereicht, die niegelnagelneue MAYFIELD zu 72 Prozent anzuzahlen, und sein Gesicht beim Wiederhochkommen aus Level Himmelblau hatte zu den am häufigsten in Zusammenfassungsmontagen verwendeten Szenen seit Bestehen der Show gehört.

Dungeoncrawler hatte Jephrons Glück gemacht.

Deshalb zog es ihn nun immer wieder wie magisch dorthin.

Seit über zehn Jahren war die MAYFIELD endgültig abbezahlt und sein Schiff, aber jedes Jahr, wenn die neuen Kandidatenbewerber sich auf Laurel einfanden und dort der Weizen aus der Spreu gelesen wurde, flog er dorthin und genoss die Zeit. Er ließ sich einfach nur sehen und wurde von vielen wegen der alten Ausschnitte wiedererkannt. Er gehörte dazu, und das nicht als Versager oder einer, der einfach nur hinter den Kulissen dieses titanischen Hundert-Manegen-Zirkus mitarbeitete, sondern als früherer Held. Einen Survivor nannte man solche wie ihn ehrfurchtsvoll.

Das ganze Jahr über war Jephron gerne allein. Er hatte das All um sich. Supernovas und schwarze Löcher, Spiralnebel, Rote Riesen und Raumschiffe, die wie exotische Fische aussahen oder wie abstrakte Kunst mit tausend Auswüchsen. Was brauchte man mehr? Aber einmal im Jahr wollte er unter Menschen sein, und dafür gab es im ganzen Universum keinen besseren Ort für ihn als Laurel.

Nach Tonatiuh IV, auf dem er geboren worden war, zog es ihn kaum noch. Eine seiner Schwestern lebte dort noch, aber zu seinen Eltern hatte er nie einen besonders guten Draht gehabt. Sie waren allen Ernstes immer der Meinung gewesen, die Menschen hätten im Weltraum nichts zu suchen, und hatten dabei vollkommen verdrängt, wie ihre Vorfahren eigentlich nach Tonatiuh IV gelangt waren.

Zur alten Erde hatte es Jephron nie gezogen. Die Erde war für Menschen seiner Hautfarbe auf ewig untrennbar verbunden mit Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Stupidität. Auf Planeten wie Tonatiuh IV oder Africa war das selbstverständlich nicht mehr so, aber Africa war ihm immer zu radikal gewesen, zu verbissen in einem nun wiederum gegen die Weißen gewandten Pflegen von Ressentiments.

Violaine war eine Weiße, na und? Jephrons bester Kumpel unter den Piloten stammte aus Asien. Die einzige Frau, in die Jephron sich jemals wirklich verliebt hatte, Vimalaa, stammte von indischen Vorfahren ab. Sie war nicht wirklich schwarz, aber auch kein bisschen weiß. Wen scherte das? Vor den finstersten Abgründen des Weltraums wirkte alles andere einfach nur fahl. Und seit man auf anderen Planeten Leben entdeckt hatte, waren die Menschen ungeachtet ihrer Pigmentunterschiede eigentlich nur noch umso mehr zusammengerückt. Indem sie sich aber paradoxerweise auf sechstausend Welten zerstreut hatten.

Jephron musste schmunzeln.

Jetzt hatte er schon wieder an Vimalaa denken müssen. Er wollte das doch nicht immer tun. Wo sie jetzt wohl war? Sie arbeitete als Leitende Offizierin auf einem der sehr großen Schiffe, der MODIGLIANI, die an der Grenze zum Gebiet der Yucconae patrouillierten. Eine rein hypothetische Bedrohung bislang, aber die Menschheit wollte nicht blauäugig sein. Diesen Argwohn hatten sich die Menschen in endlos vielen Kriegen und Konflikten antrainiert, seitdem sie als Affen von den Bäumen gestiegen waren.

Jephron hatte Vimalaa auf Lukida Anseris Prime kennengelernt. Ihn hatte ein Lieferauftrag dorthin geführt, sie einer ihrer wenigen Urlaube. Auf Lukida Anseris Prime hatten die Meere die Farbe von Smaragd, und man konnte auf beigefarbenen Katamaranen über sie hingleiten wie über flüssiges Glas.

Alleine schon Vimalaas Stimme hatte Jephron mehr beeindruckt als alles zuvor in seinem Leben. Und dann das, was sie sagte und wie sie es sagte. Dabei hatte sie mit seinem vergangenen Dungeoncrawler-Ruhm überhaupt nichts anzufangen gewusst, sie hatte die Show noch nie gesehen, weil sie viel lieber Bücher las.

Zwei Jahre später hatte sie geheiratet. Einen anderen Offizier der MODIGLIANI. Das war schon seit Langem eine irgendwie arrangierte Sache gewesen. Aber Jephron hatte immer noch Kontakt zu ihr. Etwa zweimal im Jahr schrieben sie sich altmodische Briefe über die Neuigkeiten ihres Lebens, die dann eingescannt und übers SpaceNet versendet wurden. Bald würde es wieder so weit sein, einen Monat vielleicht noch. Jephron hoffte, bis dahin etwas Erzählenswerteres vorweisen zu können als Ladungen mit Vogelkot und einen einsamen Tanz unter den Säulen.

 

Curtis Mayfield und seine Impressions sangen jetzt You ought to be in Heaven.

Curtis war immer bei Jephron wie ein Schutzengel.

Jetzt holte ihn Curtis heraus aus dem Trübsinn und infusionierte Rhythmus und Schub.

Ja, er war wirklich im Himmel.

Im Himmel seiner Vorväter.

Mittendrin.

Danach hörte er I gotta keep a-moving, das von Flucht und Verfolgung handelte, und erinnerte sich wie jedes Mal daran, wie weit der Weg gewesen war, den seine Vorväter und er bis zu diesem Hellen Riesen mit der Sternkartenbezeichnung BI657/JHI-2444 hatten zurücklegen müssen.

Mit seinem eigenen Schiff.

Seinem eigenen, ungebundenen Schiff.

 

Um in absehbarer Zeit nach Xocotl IX und dann nach Laurel zu kommen, musste er den Korridor nehmen, der zu den Säulen der Schöpfung und von dort auch wieder weg führte. Nur innerhalb der Korridore konnte man auf 100 000-fache Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, außerhalb schleuderte einen so eine Geschwindigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit mitten in eine Sonne.

Die Korridore waren überlebenswichtig, ohne sie wären weit draußen befindliche Schiffe abgeschnitten von jeglicher Möglichkeit zur Rückkehr. Von hier, wo er sich gerade befand, bis nach Xocotl IX würde die MAYFIELD gut 6000 Jahre benötigen, wenn sie auf sichere, annähernde Lichtgeschwindigkeit zurückgreifen musste. Die MAYFIELD würde diese Strecke vielleicht aufgrund ihrer auf Autopilot programmierbaren Fotovoltaik sogar bewältigen können, aber Jephron wäre dann seit Jahrtausenden nur noch ein Skelett in T-Shirt und Funktionshose. Nicht jeder Pilot konnte mit dem Bewusstsein solcher Entfernungen gut umgehen.

Aufgrund ihrer Überlebenswichtigkeit waren die Korridore hervorragend gesichert.

Die InstruMentality, Marktführer auf dem Raumerschließungssektor, verfügte über eine eigene Flotte, um ihre Korridore regelmäßig warten zu können. Ihre gelb-schwarzen Schiffe traf man im All noch häufiger an als die bulligen, in Rot, Silber und Blau lackierten Panzerkreuzer der Interstellar Police Force. Letzten Endes mussten solche eminenten Hauptverkehrsadern auch gegen Unruhestifter beschützt werden. Denn nur weil der Menschheit seit fünfhundert Jahren schier unbegrenzter Raum zur Verfügung stand, bedeutete das noch nicht, dass es keine neuen Kriege und Konflikte gab. Jephrons Großmutter hatte einmal zu ihm gesagt: »Was nützt den Menschen die hunderttausendfache Lichtgeschwindigkeit, wenn sie doch sich selbst und ihre Unreife mitnehmen müssen?«

Auf einem Planeten namens Franklin hatten sich die Siedler in den einzigen beiden Städten dermaßen miteinander verfeindet, dass sie sich gegenseitig in einem altmodischen Atomkrieg ausgelöscht hatten. In einem System namens Gallonigher hatte es sogar eine gewaltige Raumschlacht gegeben, bei der beide Flotten sich unter noch ungeklärten Umständen gegenseitig vernichteten. Es gab islamistische Fundamentalisten, die mit ihren Sprengschiffen immer wieder die Schiffe des Papstes angriffen, sowie päpstliche Vergeltungsfeldzüge, denen nicht selten auch unbescholtene Zivilisten zum Opfer fielen. Es gab skrupellose Piratenbanden, die sich romantisch anmutende Namen gaben wie Die Bukaniere des Sternenozeans oder Wolfsmilchstraße oder Captain Bloodmoon. Es gab auch Marc-Osiriz Jonquière, der mit seinem gigantischen und innen wie der Spiegelsaal von Versailles eingerichteten Schiff POETE MAUDIT nach dem Vorbild des fiktiven Captain Harlock das All unsicher machte, dabei begleitet von berüchtigten Verfemten wie Ancient Olaf und Rephraser. Die POETE MAUDIT war eines der wenigen Schiffe, die sich auch außerhalb von Korridoren auf Überlicht wagten, ihre gesamte technische Ausrüstung schien auf diesen Zweck spezialisiert zu sein. Und es gab immer wieder Terroristen, denen es einfach nur darum ging, Aufmerksamkeit zu erzeugen, indem sie Schaden zufügten. Denn wem es an der Fähigkeit mangelt, etwas aufzubauen, dem bleibt nur noch, etwas, das andere aufgebaut haben, kaputt zu machen. Die InstruMentality tat gut daran, ihre Korridore gegen Störenfriede abzuschirmen.

Deshalb musste Jephron am Eintrittspunkt sowohl einen Personencheck, eine detaillierte Schiffsregistrierung als auch einen Ladungsscan über sich ergehen lassen, was insgesamt eine Stunde dauerte. Manchmal bildeten sich an besonders frequentierten Kreuzungspunkten sogar Staus, dann reihten sich die Schiffe wie an einer Flussschleuse hintereinander auf, und es konnte Tage dauern, bis die sorgfältig arbeitenden und kaum aus der Ruhe zu bringenden InstruMentality-Beamten den Rückstau abgearbeitet hatten.

Heute jedoch war er der Einzige; weder das schuhförmige Schiff noch der große Passagierkreuzer waren gleichzeitig mit ihm hier angekommen. Er beantwortete geduldig alle Fragen, tippte seinen gewünschten Austrittspunkt ein und betrachtete dann den FTL-Countdown, der ihm in seine Bordsysteme gespeist wurde.

Das Überlicht drang in ihn ein, als würde man in all seine Blutgefäße und auch in seinen Gaumen Quecksilber injizieren. Ein andruckabsorbierender Sitz half enorm, in seinen Anfängerjahren hatte Jephron beim Überschreiten der Lichtmauer oftmals Nasenbluten, Zahnfleischbluten, ja sogar Durchfall bekommen. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, bis auf diesen bittersauren Geschmack im Mund. Die Optik ringsum verzog sich, sämtliche Sterne wurden zu über die Cockpitscheiben rinnenden Regentropfen. Jephron selbst zu einem hohlen Gespenst. Er konnte an sich herab und durch sich hindurch sehen. Er sah durch sich hindurch surrealistisch geschmolzenen Weltraum. Dann verlor er wie jeder Mensch, der in einer Reihe von Zündstufen auf 100 000-fache Lichtgeschwindigkeit hochkatapultiert wurde, das Bewusstsein und wurde eins mit der Unfassbarkeit des Superluminalen.

Als er wieder zu sich kam, war er mittendrin im Korridor. Von den Säulen der Schöpfung bis nach Xocotl IX musste er beinahe 20 Tage auf Überlicht bleiben. Verrückterweise war dies für das Schiff verhältnismäßig entspannend, denn die Korridore waren material- und sogar strahlungsfreie Zonen. Nichts konnte dem Schiff hier etwas anhaben. Nur für die Piloten war eine solche Zeit strapaziös. Man verbrachte drei Wochen als Geist, war stets müde, schlief viel, litt unter anstrengenden Träumen, fraß und onanierte wie besessen, um die eigene Körperlichkeit zu bestätigen. Fragilere Naturen hinterfragten ihr Dasein und ihre Berechtigung und wurden suizidal. In den Anfangsjahren der Korridore waren so viele Geisterschiffe entstanden: Schiffe, die verwaist am Austrittspunkt ankamen, weil ihre Piloten sich unterwegs das Leben genommen hatten.

Jephron machte Überlicht verhältnismäßig wenig aus. Er hatte den Ausflug zu den Säulen der Schöpfung rein aus Vergnügen unternommen und sich dort mit positiven Eindrücken aufgetankt, ähnlich wie seine MAYFIELD sich in der Nähe einer Sonne mit Wärme und Licht auflud.

In den Phasen sexueller Überspanntheit, die in der Überlichteinsamkeit unvermeidlich waren, dachte er an Vimalaa und die warmen Wasser von Lukida Anseris Prime, aber auch an eine besonders hemmungslose junge Frau, der er einmal auf einem der Monde des Benetnasch-Systems begegnet war, er wusste schon gar nicht mehr, auf welchem. Die Erinnerung an diese Frau, deren Namen er nie erfahren hatte, löste manchmal Wahnsinn in ihm aus, aber immer nur für ein oder zwei Tage.

Erst in den letzten einhundert Jahren hatte die InstruMentality es technisch fertiggebracht, während des FTL-Fluges das SpaceNet bereitzustellen, sodass man Mails schreiben und schicken und lesen konnte und Zugriff hatte auf Datenbanken. Jephron schaute alte Filme aus dem 25. Jahrhundert, als kurz vor der Großen Expansion sämtliche Künste schier zu explodieren schienen. Filmisch war dies sein Lieblingsjahrhundert. Was Musik anging, konnte dagegen nichts das 20. Jahrhundert toppen, und was Literatur betraf, kam höchstens das 28. Jahrhundert noch einmal einigermaßen an das 19. heran. Er schaute auch zeitgenössische Zeichentrickserien, nach denen er ein wenig süchtig war, besonders nach denen aus Indien, die die großen Epen der Götter folgerichtig in den Weltraum transportierten, und begann seinen nächsten Brief an Vimalaa vorzuformulieren. Darin erzählte er vor allem von den Säulen der Schöpfung, wobei ihm erst jetzt, während er nach Worten suchte, auffiel, dass der Falschfarbeneindruck dieses Ortes an die Muster auf einem Boulderopal erinnerte. Oder auch an einen Bänderachat. Selbstverständlich enthielten die Edelsteine der alten Erde das Wissen über das Universum, denn sie stammten schließlich von dort. Alles stammte von dort. Jeder klägliche und peinliche Idiot war fantastischster Sternenstaub, verrührt mit reichlich Wasser.

Er sprach auch noch einmal mit Violaine und ließ sich die genauen Koordinaten seines Guano-Auftrags geben. Und mit seinem besten Freund Choi, der gerade mit seinem Einmannsegler durch den Katzenpfotennebel kreuzte, auf der Suche nach noch unentdeckten Pflanzensorten, die er in einem niemals endenden Wettrennen der Wissenschaftsfakultäten mehrerer miteinander konkurrierender Planeten katalogisierte. Choi war zehn Jahre jünger als Jephron, aber sie teilten beide die Liebe zu Curtis Mayfield sowie eine herzliche Abneigung gegenüber allzu großen und allzu wohlhabenden Schiffen, die sie Protzpötte nannten.

Einen solchen Protzpott hatte Jephron im Korridor vor sich. Ab und zu konnte er ihn irisieren sehen wie einen Geist. Es war nicht das Passagierschiff von den Säulen, sondern wahrscheinlich die Privatjacht eines Angebers aus dem an Treibgasvorkommen reichen Schwanennebel im Sternbild Schütze. Groß wie ein Asteroid und genauso unnütz. Dieses Schiff blieb zwei Wochen lang vor der MAYFIELD – im Korridor gab es kein Überholen, sämtliche in ihm befindlichen Schiffe und Warenträgerobjekte wurden auf genau dieselbe Geschwindigkeit eingepegelt –, dann scherte es endlich aus. Verlassen konnte man die Korridore überall, Austrittskontrollen erübrigten sich, weil nach dem Eintritt ohnehin keine Interaktion mit anderen Objekten mehr möglich war. Man gab beim Eintritt seinen gewünschten Austrittspunkt an und wurde an diesem vom Korridor aus der Spur gezogen und eine Stunde lang kontinuierlich und somit so sanft und körperschonend wie möglich auf Unterlicht heruntergebremst.

Jephron flog noch fast eine Woche ohne den Protzpott vor der Nase weiter, dann erfasste ihn wie geplant der Rand und drosselte. Auch dies war für Anfänger eine körperliche Strapaze. Man gewann an Masse, man hatte das Gefühl, dass Knochen in einem wucherten und ekliges Gedärm, man spürte, dass man alterte. Viele fühlten sich in Überlicht unbesiegbar und beim Herunterbremsen hinfällig und unzulänglich. Im Anfangsjahrhundert der FTL-Raumfahrt war die sogenannte Postsuperluminale Depression ein schwerwiegendes Problem gewesen. Heute gab es Tabletten dagegen und Selbsthilfemanuals im SpaceNet, oder man gewöhnte sich halt daran, wie Jephron und Choi das getan hatten.

 

Xocotl IX.

Ein Planet, der fast nur aus feucht rauschendem Regenwald, Wasserfällen und fruchtbaren Ackerlandplateaus bestand, Traumhafen der Nachfahren der Azteken. Im Gegensatz zur alten Erde, die in ganz antiken Science-Fiction-Storys oft als »grüner Planet« bezeichnet wurde, weil man sich noch gar nicht hatte vorstellen können, wie blau sie aus dem All gesehen leuchtete, sah Xocotl IX wirklich wie eine schwebende Jadekugel aus.

Als Jephron in die Atmosphäre eintauchte, fiel auch die Anziehungskraft dieses Planeten über ihn her und ließ sämtliche Gegenstände in der MAYFIELD, die nicht irgendwie arretiert waren, zu Boden plumpsen. Er stöhnte unter der für ihn nun ungewohnten Belastung. Seinen Besuch wollte er so kurz wie möglich halten.

Er landete auf der Decksebene einer für Schiffe vorgesehenen Stufenpyramide, wuchtete die Cockpitkanzel auf und lüftete dadurch nach zwei Monaten Flug ohne Zwischenlandung sein miefiges Schiffsinneres. Die Luft auf Xocotl IX roch so frisch und würzig, dass Jephron beinahe schwindelig wurde. Glücklicherweise konnte er einfach sitzen bleiben, es war längst alles arrangiert. Er entsicherte seine Ladeluke, und halb nackte Aztekenarbeiter entnahmen die Lieferung: Schneckenhäuser, die auf Xocotl IX ein sehr beliebtes, weil eigentlich dort kaum vorkommendes Zahlungsmittel waren. Andere Arbeiter – vielleicht sogar Sklaven – rollten eine pyramidenförmige Gangway an Jephrons Cockpit heran, sodass er einem wie ein Vogel geschmückten und geschminkten Priester, der sich zu ihm hineinbeugte, die erforderlichen Dokumente mit einem vorsintflutlichen Federkiel gegenzeichnen konnte. Jephron schlug sämtliche Einladungen, an einem Opferfest teilzunehmen, dankend aus, erstens, weil er so schnell wie möglich aus der Schwerkraft raus wollte, zweitens, weil er nicht wusste, was oder wer da eigentlich geopfert werden sollte, und drittens, weil er bereits seit Tagen gespannt die Livefeeds von Laurel verfolgte, wo die Kandidatenauswahl in vollem Gange war.

Der Priester half ihm nicht beim Schließen der Cockpitkanzel. Fluchend musste Jephron selbst alles wieder elektrisch verklammern.

Als er abhob von der Pyramide, sah er über dem Urwald eine gefiederte Riesenschlange sich ebenfalls in die Lüfte erheben und sein Schiff mit dem strengen Auge eines geübten Jägers betrachten. Auf diesem Planeten gab es die Aztekengötter wirklich, und Jephron machte, dass er in die Stratosphäre und von hier wegkam.

Die Schwerelosigkeit tat ihm wohl, wie in ein warmes Bad zu gleiten.

 

Zurück zum Korridor.

Neue Registrierung.

Dann noch einmal zwei Tage als Gespenst. Einunddreißig der fünfzig diesjährigen Crawler standen bereits fest. Die wenigsten wollten sich als Bushwhacker beim Publikum unbeliebt machen, aber ein paar Hinterlistige fanden sich immer. Die meisten kündigten sich als Adventurer an und prahlten damit, wie sie dem Minosaurus den Garaus machen wollten. Eine junge Frau erzählte lachend in die Cam, dass der Minosaurus doch inzwischen schon steinalt und zahnlos sein müsse, und bedachte dabei überhaupt nicht die Möglichkeit, dass Laurel sich alle paar Jahre mit einem jungen und frischen Exemplar ausstattete.

Und dann: Jephrons Ausstiegspunkt.

Endlich.

Seine Hände zitterten ein wenig, so heftig war er diesem Zirkus verhaftet.

 

Da lag Laurel.

Ein brauner Ball ganz ohne Meere, zernarbt von Schluchten. »Wie die zusammengerollte Kugel eines eifersüchtigen Mistkäfers«, hatte ein Blogger mal formuliert.

Dungeon Planet nannten ihn die Fans. Auf seiner Oberfläche saß glitzernd und kauernd und vielarmig Laureline, die einzige nennenswerte Stadt. Hier war der Einstieg zu den Dungeons. Von diesem Ort abgesehen gab es auf dem ganzen Planeten nichts zu sehen oder zu holen.

Die Sonne, die Laureline beschien, war gerade im Sinken begriffen und ohnehin leuchtschwächer als die Referenzsonne der alten Erde, was sämtlichen Konturen auf Laurel tagsüber etwas Diesiges und Verwaschenes verlieh. Jephron tauchte in die Atmosphäre, die so dünn war und übel riechend, dass man Migräne bekam, wenn man sich länger als einen Monat hier aufhielt. Hunderttausende von Menschen lebten dauerhaft auf Laurel und hielten den Merchandise- und Verwaltungsapparat der Dungeoncrawler-Show am Leben, aber Jephron wusste, dass diese Leute sich regelmäßigen Sauerstoffkuren unterzogen. Die entsprechenden Läden waren überall zu finden.

Er steuerte den Raumhafen an.

Schon von weit oben konnte jeder erkennen, dass die neue Staffel der Show unmittelbar bevorstand. Der Raumhafen platzte so sehr aus sämtlichen Nähten, dass man sogar die angrenzenden Areale für Liegeplätze hatte öffnen müssen. Schiffe sämtlicher Größenordnungen – sogar zwei Touristenraumer mit einer Kapazität von jeweils 5000 Passagieren waren darunter, einer davon war die berühmte bauchig-dunkelblaue 21 STAR der zur Erde gehörenden Ophiuchi-Linie – drängelten sich so dicht, dass ihre Ausleger sich beinahe berührten. Nur mit modernster Luftkissenlandetechnik war ein dermaßen enges Parken überhaupt möglich, im Anfangsjahrhundert der Raumfahrt hätten die Schiffe sich mit ihren Landedüsen gegenseitig zerschmolzen.

Wie jedes Jahr bestaunte Jephron die vielfältigen Formen und Farben. Es gab Schiffe, die wie Seepferdchen geformt waren oder wie Paradiesvögel, einige waren Zylinder, Pyramiden, Kugeln, Kegel, Würfel, Speichenräder, einige waren abstrakt und unregelmäßig wie Wucherungen, andere formschön und schnittig, als wäre Luftwiderstand für sie relevant. Einige schienen nur aus riesigen Treibdüsen zu bestehen, andere waren Montgolfière-Ballons nachempfunden (eine Modeerscheinung des 30. Jahrhunderts), weitere sahen aus wie Raketen oder wie Hanteln oder wie eine aufgeklappte Schere, einige wie Eisenbahnwaggons, eins war gekrümmt wie eine Banane, ein anderes hatte allen Ernstes die ungefähren Umrisse einer Kuh, komplett mit Hörnern.

Jephron genoss diesen Anblick – auch weil er nicht die Stellplatzprobleme der meisten dort unten hatte. Er war Wildcardinhaber. Wildcardinhaber durften – sofern ihr Schiff eine bestimmte Größe nicht überschritt, und die MAYFIELD war schließlich nur ein Einmannsegler – im für die Showteilnehmer und -moderatoren abgesperrten Sonderbereich festmachen.

Jephron meldete sich an und nannte seine Wildcardnummer. Er kannte diese auswendig. Wie jedes Jahr bildete er sich ein, dass das »Willkommen auf Laurel!« des größtenteils computerisierten Registrierungspersonals für ihn herzlicher klang als für die anonymen Zuschauer.

Er spürte dieses Kribbeln im Bauch, als er die MAYFIELD über den ihm mit Blinklichtern zugewiesenen Stellplatz manövrierte. Dieses Kribbeln, das nur Dungeoncrawler hervorzurufen verstand, jenes kreischende, scheppernde, von Werbeunterbrechungen durchlöcherte Ungeheuer, dem er seine Existenz als Raumpilot zu verdanken hatte.

Seufzend setzte er auf.

Als Erstes öffnete er das Cockpitdach und ließ Luft herein, die natürlich ein Hohn war im Vergleich zu der an Sauerstoff geradezu übersättigten von Xocotl IX. Die Atmosphäre des Dungeon Planet roch wie ein großer Haufen gärender Salate, was an ungefährlichen Gasen lag, die durch seine Kavernen zischten. Aber das war nun einmal dieser ganz spezifische Laurel-Geruch: schwer und dräuend, fast ein bisschen zu Kopf steigend. Für Dungeoncrawler-Jünger hatte das beinahe etwas Erotisches. Kein anderer Planet roch so.

Jephron saß erst einmal eine Weile und versuchte, mit der Schwerkraft klarzukommen. Auf Xocotl IX war er nur eine Viertelstunde geblieben und hatte bis auf das Öffnen und Schließen des Cockpits sitzen bleiben können, das bekam man mit Selbstüberwindung hin, ähnlich wie bei einem Endspurt, wenn man wusste, dass die Ziellinie schon nahe war. Aber auf Laurel wollte er aussteigen, herumlaufen, mehrere Tage bleiben, hier musste er sich richtig umgewöhnen.

Anderthalb Monate ohne Schwerkraft mit zwischenzeitlichem Überlichtflug stellten jedes Mal eine Belastungsprobe dar, wenn man sich dann wieder 1 G aussetzte. 1 G – die Schwerkraft der alten Erde – war das, was die Menschheit beim Erobern des Weltalls am sehnlichsten gesucht hatte. Einige der schönsten Planeten, die jemals ein Menschenauge erblickt hatte, waren buchstäblich links liegen gelassen worden, weil auf ihnen eine Gravitation von 2 oder auch nur 1,5 G herrschte. Wenn ein 60 Kilogramm schwerer Mensch plötzlich 90 oder sogar 120 Kilogramm mit sich herumschleppen musste, machte das jeden einzelnen Schritt zur Qual für Muskeln, Sehnen und Gelenke. Man konnte sich daran anpassen, brauchte aber viel Zeit und Training dafür – und wurde dann dennoch das Gefühl nie los, gegenüber »leichteren« Planeten benachteiligt zu sein. Sehr beliebt waren dagegen anfangs Planeten mit weniger als 1 G gewesen. Verwöhnt vom Erdmond mit seinem Sechstel der Erdanziehungskraft und dem Mars mit seinem Drittel hatten sich zu Beginn der Großen Expansion viele Siedler auf Planeten mit weniger als 1 G niedergelassen, nur um jedoch im Verlaufe bereits weniger Jahre physische Degenerationserscheinungen auszubilden. Gesünder für den Körper war tatsächlich eine Schwerkraft, die ihn mehr belastete, also etwas über 1 G. Am wohlsten jedoch fühlte sich ein Mensch bei genau 1 G, denn dafür war er evolutionär konstruiert. Für eine gewisse Zeit genoss er auch leichtere oder sogar schwerelose Bedingungen. Nach fünfhundert Jahren Expansion konnte man inzwischen schon auf den ersten Blick die lang- und feingliedrigen Siedler leichterer Planeten von den gedrungeneren, bulligen Kolonisten schwererer unterscheiden. Erstere waren meistens heitere Leute, die auf einem Planeten wie Laurel unter 1 G plötzlich zu ächzen hatten, zweitere hatten festgefurchte Zornesfalten auf der Stirn, grinsten aber nun über die »kindischen« 1 G.

Jephron vereinigte gerade dies alles in sich. Er fühlte sich heiter, weil er wieder auf Laurel war, schwitzte angesichts der Schwerkraft, hatte eine gefurchte Stirn, weil er sich nach so langer Schwerelosigkeit wie ein Hundertzwanzigjähriger fühlte, der sich aus seinem Rollstuhl hochzustemmen versuchte, und grinste, weil dies jedes Jahr dasselbe Malheur war.

Er kletterte aus dem Sitz, kroch dann nach hinten, kramte seine Siebensachen zusammen und stopfte sie in eine Umhängetasche, wühlte sich dann wieder nach vorne durch – in der Schwerelosigkeit konnte er den engen Flur entlang »schwimmen«, jetzt kroch er wirklich auf allen vieren wie ein Maulwurf – und blieb dann noch mal zehn Minuten schnaufend in seinem Pilotenliegesitz kleben. Er hörte bereits, wie sich draußen Bodenpersonal an seiner MAYFIELD zu schaffen machte, das Landegestell verklammerte, den Rumpf nach Strahlung abscannte, den Unterboden nach lecken Stellen absuchte und alles Sonstige, was ein Raumhafen in seinem eigenen Interesse und dem der Stellplatznachbarn so tat. Sie verständigten sich untereinander auf Laurelianisch, einem Englisch, das eine bestimmte höhlenbewohnerische Dialektfärbung aufwies, die aus jedem weichen »th« ein peitschendes »t« machte.

Jephron zog sich hoch, grüßte die Leute, sie grüßten zurück. Er klappte die Lukenleiter aus, verließ das Cockpit, verriegelte es und kletterte an seinem Schiff hinab. Einer der in rostrote Overalls gehüllten Laurelianer stützte ihn sogar dabei auf den letzten zwei Metern.

»Länger als einen Erdmonat draußen gewesen, Syre?«, fragte er freundlich. In der Raumfahrt war es gebräuchlich, die Zeiteinheiten der alten Erde zu verwenden, damit man sich überhaupt angesichts Tausender unterschiedlicher Planeten auf einen gemeinsamen Standard verständigen konnte.

»Fünfundvierzig Tage«, antwortete Jephron nickend. Er nahm die Lukenleiter, verstaute sie in einer kleinen Kammer am Bauch des Schiffes, und versiegelte auch diese mit seinem elektronischen Code samt kurzem Daumenabdruck.

Ein Bediensteter hielt eine kleine Rollplattform mit einem weichen Sitz darauf bereit, auf diese stakste Jephron zu und ließ sich ächzend auf dem Sitz nieder. Als der Bedienstete anfuhr, blickte Jephron zu seinem Schiff zurück. Er war selbstverständlich nicht objektiv, aber immer wieder fand er, dass seine MAYFIELD eines der attraktivsten Schiffe überhaupt war. Der Rumpf ganz schlank und mattschwarz, nur mit einigen Herkunfts- und Zwecksymbolen sowie technischen Beschriftungen verziert. Die Tragflächen – eigentlich im Weltall irrelevant, aber bei Atmosphärenflügen sehr praktisch, und außerdem fand Jephron, dass sie ein toller Blickfang waren – waren schräg schwarz und rot gestreift, vorne in der Nähe des Cockpits zwei waagerechte, am Heck dann zwei waagerechte und eine senkrechte, die drei hinteren deutlich größer als die vorderen, sodass die MAYFIELD wie eine Kreuzung aus einem Dartpfeil und einem Zierfisch aussah. Das Landegestell war ausgeklappt, sodass der Zierfisch nun auf dünnen Stelzenbeinen ruhte. Nur eine Wäsche konnte das Schiff mal wieder vertragen, Jephron war durch Staubfelder geflogen, in denen sich nicht wenige Partikel magnetisch an die Schiffshülle geheftet hatten. Darum konnte er sich vom Terminal aus kümmern. Jetzt tuckerte die Rollplattform mit ihm dorthin, und Jephron betrachtete abermals vielfältige Schiffe, diesmal nicht von oben, sondern von unten.

Im überwiegend aus transparenten Kunststoffen gefertigten Terminal checkte Jephron erst einmal richtig auf diesem Planeten ein, wobei seine Biodaten gescannt und mit seinen gespeicherten Daten abgeglichen wurden. Es gab inzwischen so viel implantativen Cyborg-Unfug da draußen, mit Gliedmaßen, die in Wirklichkeit Bomben waren, man konnte nirgendwo vorsichtig genug sein. Auch hier kam seine Wildcardnummer wieder zum Einsatz, sie war mit weiteren Privilegien verbunden, unter anderem konnte er eine Schiffswäsche mit neunzehn Prozent Rabatt anordnen sowie bereits am Raumhafen die Schlüsselkarte für ein Hotelzimmer ausgehändigt bekommen. Laureline war wie immer zu dieser Saison hoffnungslos überbucht, aber ein Wildcardinhaber – in jedem Jahr bekam nur der Sieger und zwei weitere, vom Publikum ausgewählte Teilnehmer eine, also waren in den insgesamt siebenundsechzig Staffeln knapp über zweihundert Wildcards verteilt worden – konnte jederzeit auf ein reserviertes Kontingent zurückgreifen. Sein Hotel war dabei fast jedes Jahr ein anderes, diesmal würde es das The Dungeon Experience sein, ein Themenpark-Resort, das das Erlebnis der Show nachäffte und für einen echten ehemaligen Teilnehmer wie ihn eigentlich eher peinlich war, weil ihm überall die Ungenauigkeiten und bewussten Verfälschungen in der Reproduktion der Showbedingungen auffielen. Aber Jephron hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Er würde das Zimmer ohnehin nur zum Schlafen brauchen und sich ansonsten in der Stadt und bei der Show herumtreiben.

Als er aus dem abendlichen Terminalkomplex trat, die Zwillingsmonde bereits blassblau am Himmel, erschlug ihn Laureline beinahe, wie jedes Jahr, mit seiner wummernden Grellheit.

Tagsüber wirkte Laureline diesig.

Nachts bestand sie aus Farben und Licht.

Aus Hunderten von Klanganlagen zuckten stroboskopische Installationen und Elektrobeats. In diesem Jahr war zufallsgeneriert verzerrter Tango der angesagteste Trend, überall schwappten Tangoakkorde über ihn herein, mit rasend schnellen Perkussionen unterlegt. Die Touristen trugen glänzende Materialien, die das allgegenwärtige Flackern zusätzlich vervielfachten. Entertainment-Etablissements spien einem ihre Neonschilder entgegen. Hotels. Badehäuser. Massagesalons (sehr beliebt unter Schwerkraftleidenden wie Jephron gerade), Kinos, auf Klassiker spezialisiert, Kinos, auf interaktive Pornos spezialisiert. Auf Laurel war man irgendwann auf die Idee gekommen, dass Freudenjungs und Freudenmädchen blinkende Plaketten am Gürtel trügen, damit man sie leicht identifizieren konnte und Missverständnisse vermieden wurden. Dieses Gewerbe boomte natürlich in Zeiten der neuen Showsaison, Freudenjungs und Freudenmädchen aus allen Teilen der Galaxis reisten an, um sich hier feilzubieten. Aber auch Musiker, Bands, Performancekünstler, Händler, Tanzkompanien, Blogger, Soziologen, Taschendiebe, Trickbetrüger, Missionare, Urlauber, Fans – Laureline stand kurz vor dem Kollaps, das war jedes Jahr so, das war ein Teil des Reizes wie der Tanz auf einem Vulkan.

Jephron verlief sich, weil die Straßenführung sich seit dem letzten Jahr geändert hatte. Selbstverständlich hatte er eine Navi-Funktion dabei, aber deren Daten waren nicht auf dem allerneuesten Stand, sondern auf dem des Vormonats. Das hing damit zusammen, dass Jephron sich nur einen der billigeren Datendienste leisten konnte. Er versuchte, es mit Humor zu nehmen, obwohl jeder Schritt ihn anstrengte. Als er kurz stehen blieb, um zu verschnaufen, fiel ihm auf, dass er angestarrt wurde. Auf der anderen Straßenseite standen zwei Mädchen, womöglich Schwestern, beide sehr hellhäutig und blond, beinahe ausgebleicht, beinahe Albinos. Die eine war noch ein Kind, vielleicht zehn Jahre alt, die andere vielleicht gerade volljährig. Jephron war nicht gut darin, das Alter von Menschen zu schätzen. Es hing nämlich sehr von dem Planeten ab, von dem man stammte, wie jung oder wie alt man aussah. Die beiden Mädchen jedenfalls bestaunten ihn, dann wandten sie sich wie ertappt ab, als er zu ihnen hinsah.

Er lächelte. Manchmal kam so etwas noch immer vor. Sechzehn Jahre war es jetzt her, dass er berühmt gewesen war auf diesem Planeten, aber es gab Best-of-Shows und Verwertungssendungen und Vorbereitungsmagazine auf die jeweils nächste Saison. Das Problem dabei war nur, dass er in diesen Shows nicht alterte. Deshalb erkannten ihn nicht mehr viele. Aber manchmal kam es immer noch vor, und es waren meistens ältere Menschen, die ihn erkannten, weil sie sich noch an ihn erinnern konnten, oder sehr junge, die enthusiastisch die Geschichte von Dungeoncrawler studierten und in sich aufsogen.

Als er wieder hinschaute, waren die beiden verschwunden. Er fand es schade, denn er hatte nichts dagegen, Autogramme zu geben. Jedes Jahr erhielt er zehn bis zwanzig diesbezügliche Anfragen, man konnte wirklich nicht behaupten, dass es überhandnahm und ihm zur Last wurde.

Zur Last wie sein eigenes verfluchtes Idealgewicht.