Der Mann, der nicht geboren wurde - Tobias O. Meißner - E-Book

Der Mann, der nicht geboren wurde E-Book

Tobias O. Meißner

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Beschreibung

Der Kampf um die Rettung der sterbenden Welt geht weiter: Die Verschwörer des Mammuts werden von einem unsichtbaren Gegner verfolgt. Auch im heimatlichen Warchaim finden Rodraeg und seine Gefährten keine Ruhe. Ein Emblem, das neben einem ermordeten Stadtratssohn gefunden wird, weist auf das Mammut hin. Bei dem Versuch, den wahren Täter ausfindig zu machen, stoßen die Verschwörer immer wieder auf die Botschaft eines geheimnisvollen Geschöpfs. Wer ist dieser übermächtige Feind, der das Mammut offenbar mit allen Mitteln vernichten will?

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Sei blutig, kühn und frech; lach aller Toren, Dir schadet keiner, den ein Weib geboren. (William Shakespeare: Macbeth)

      ISBN 978-3-492-98094-4 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014 © Piper Verlag GmbH, München 2009 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © isoga, Eugene Sergeev / shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2009

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Prolog

Am letzten Morgen seines Lebens fühlte Eljazokad sich so gut wie schon lange nicht mehr.

Man schrieb den 22. Blättermond, und der Herbst zeigte sich in seiner buntesten Pracht. Der Bauernjunge Taulle aus Anfest schlief noch auf einem Lager aus Herbstlaub.

Eljazokad setzte sich auf, streckte die Arme von sich, um den Schlaf aus den Gliedern zu drängen, und dachte zurück an das Bachmufest, das er in dem Dorf verbracht hatte. Da war er erst wenige Tage in Anfest gewesen, hatte die Fürsorglichkeit der hübschen Heilerin Maeredi genossen und sich überwiegend seinem zerstörten Bein gewidmet. Seine neuen heilmagischen Fähigkeiten, die er im Geweihwasserdorf von der Weisen Zetaete beigebracht bekommen hatte, unterstützen den Genesungsprozess ganz entscheidend. Ohne Magie wäre das Bein nicht mehr zu retten gewesen, aber indem er aus seinen eigenen Händen Energie in die Wunden flutete, aus seinem Leib einen sich selbst versorgenden Kreislauf machte, trieb er die Heilung voran. Und als draußen die Flöten zu spielen begannen, die laubbekränzten Mädchen in goldfarbenen Gewändern tanzten und Bratenduft sich mit Kartoffelschalenrauch und würzigem Schaumbier zu einer unwiderstehlichen Mischung vereinte, da hatte es Eljazokad nicht mehr ausgehalten auf seinem Krankenlager und sich zumindest bis zum Fenster geschleppt. Maeredi hatte zuerst ein empörtes Gesicht gemacht, doch dann hatte sie ihn untergehakt und ihm ins Freie geholfen, zu einer Bank, die dort stand, nicht viel mehr als ein der Länge nach halbierter Baumstamm, und dennoch ein Nistplatz der Sonnenstrahlen.

Eljazokad hatte gebadet in diesem Licht.

Die Sonne des Kontinents konnte seine magische Energie nicht so auftanken, wie die künstlich erzeugte Sonne Melronias das vermocht hatte, aber dennoch hatte Eljazokad das Gefühl, dass seine Lichtmagie nun überwiegend darin bestand, Licht aufzunehmen und dann in heilende Wärme zu überführen. Es war schwer zu beschreiben, also bereute er nicht, dass er all sein Schreibzeug Bestar und Tjarka mitgegeben hatte.

Maeredi hatte ihm ein winziges Bier, eine köstlich dampfende Backkartoffel mit Kräuterquark und einen Ast voller Stockbrot besorgt, die Jungen hatten aufgespielt, die Mädchen waren im Ringelreihen durchs Dorf getanzt und hatten überall goldenes Laub gestreut. Gebetet hatte niemand. Auf dem Kontinent waren die Götter eher durch ihre Festlichkeiten geläufig geblieben, außerhalb von Tempeln spielte der Glaube nur noch eine kleine Rolle.

Auf dem Bachmufest wie heute auch hatte Eljazokad nachgedacht über seine vier Jahre unter den mandeläugigen, freundlichen Menschen des Geweihwasserdorfes. Wie seltsam es eigentlich gewesen war, dass er sich in diesen vier Jahren nicht eine einzige Frau erwählt hatte. Die Frauen waren ausgesprochen hübsch mit ihren langen, mattschwarzen Haaren und der Haut, deren Farbe ein wenig dunkler war als seine. Aber er hatte den Großteil seiner Zeit mit der Weisen Zetaete verbracht, einer runzligen Großmutter mit einem ganz kleinen, niedlichen Gesicht. Sie war seine Lehrerin gewesen. Seine Mutter, bei seiner neuen Geburt als Heilmagier. Seine Vertraute, denn mit ihr konnte er über alles sprechen, was ihn bedrückte.

Sie lebte nicht mehr. Der Wolf hatte sie gerissen.

Damals auf dem Bachmufest wie heute Morgen auch faltete Eljazokad seine Hände ineinander und sprach ein kurzes Gebet für Zetaete. Wenn ein Tag so sonnenreich und mild war wie dieser, sollte ihre jäh aus dem Leben gerissene, gute, alte Seele daran teilhaben.

Schon am fünften Tag seines Aufenthaltes in Anfest konnte Eljazokad aus eigener Kraft erste Gehversuche machen. Maeredi hatte sich gleichzeitig erfreut und besorgt gezeigt über die schnellen Fortschritte. »Bestar und Tjarka sind jetzt wahrscheinlich in Brissen angekommen«, hatte Eljazokad sich immer wieder vorgerechnet. »Sie haben fünf Tage Vorsprung. Aber wenn ich ihnen jetzt schon hinterherreisen könnte, würde ich vielleicht noch rechtzeitig zu Naenns Niederkunft in Warchaim sein. Mit meinen neuen Fähigkeiten kann ich ihr beistehen, falls es schwierig wird. Sie ist ja noch so jung, und es ist ihr erstes Kind.« Darüber hinaus hatte er das Gefühl, dass es ein bedeutsamer Moment wäre, wenn ein Wolfsschmetterling das Licht der Welt erblickte. Zu gerne hätte er das miterlebt.

Maeredi hatte ihn gebremst. Dem Bein ging es immer besser, aber Eljazokads ebenfalls verwundeter Unterleib erlitt einen leichten Rückschlag. Maeredi wusch und pflegte ihn mit großer Geduld, aber zwei weitere Tage strengster Bettruhe waren ihre Bedingung für all ihre zusätzlichen Mühen. Zähneknirschend fügte Eljazokad sich drein. Bestar und Tjarka fahren jetzt den Larnus hinauf, den Larnus hinauf, den Larnus hinauf …

Am achten Tag hatte er begonnen, eine Fahrgelegenheit zu organisieren. Niemand in Anfest fuhr in den nächsten Tagen mit einem Wagen weiter als bis nach Stoerig. Aber ein fünfzehnjähriger Junge namens Taulle hatte sich bereiterklärt, ihn für zehn glänzende Rinwetaler auf seinem Maulesel nach Clellach zu bringen. Von Clellach aus kam man gut nach Miura. Von dort aus nach Brissen. Oder durch den Wildbart zu den Riesen, damit sie dasselbe Wunder noch einmal vollbrachten, mit dem sie ihn, Bestar und den ohnmächtigen Rodraeg schon einmal direkt ins Haus des Mammuts verpflanzt hatten, ohne jeglichen Zeitverlust. Wenn alles glückte, konnte Eljazokad es immer noch schaffen. Er würde Bestar und Tjarka nicht mehr einholen, aber – wenn das Kind sich ein wenig Zeit ließ – immer noch rechtzeitig zur Geburt in Warchaim ankommen.

Maeredi war dagegen gewesen.

»Lass dein sinnloses Geld stecken und hör mir zu«, hatte sie gesagt. »Was du als Heilung wahrnimmst, ist nichts weiter als ein Spuk. Du gibst deinem Körper keine Gelegenheit, sich tatsächlich zu erneuern. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, und deshalb wird er immer wieder überfordert reagieren.«

Mein Körper. Eljazokad hatte gar nicht die Zeit, ihr ausführlich auseinanderzusetzen, wie unbeträchtlich so ein Körper eigentlich war. Sein ursprünglicher Leib war in der Höhle des Alten Königs gestorben, ermordet von einem magischen Doppelgänger. Diesen zweiten Spiegelkörper hatte Eljazokad dann übernommen, und er hatte sich besser angefühlt als der alte, denn der alte war im Laufe der Strapazen der Höhlendurchquerung zuschanden gegangen. Kurze Zeit später hatte ein Wahnsinniger namens Rugerion Siusan Eljazokads Leib in seinen Besitz gebracht. Er hatte ihn gebunden, betäubt und gefoltert, und Eljazokad hatte all dies genutzt, um die weiteste, phantastischste und längste Reise seines Lebens zu machen. Ein Körper ist gar nicht so wichtig, wie alle Menschen glauben. Ein Körper kann enden, und die Geschichte geht dennoch weiter. Maeredi glaubte an das gute alte Heilen aus Fleisch und Blut. Eljazokad jedoch glaubte inzwischen an etwas ganz anderes.

Die Tage der Bettruhe hatten ihm reichlich Gelegenheit zum Nachdenken gegeben. Nachdem er im Geweihwasserdorf seinen Traum von der Heilung eines Kindes vollendet hatte, nachdem er auf den Kontinent zurückgekehrt und ihm sogar ein rotes Schneekaninchen in diesen von Kaninchen entvölkerten Wald gefolgt war, hatte er die sichere Empfindung gehabt, all seine Lebenskreise geschlossen und vollendet zu haben.

Doch inzwischen waren ihm schon wieder ein paar Zweifel gekommen. Die uralte Prophezeiung seines Vaters – Unser Sohn ist für das Stadtschiff von Tengan bestimmt – hatte sich im Schreienden Meer erfüllt. Mithilfe der Tsekoh war es Eljazokad sogar gelungen, das Stadtschiff zu versenken.

Aber der andere Traum, der, der ihn so zielstrebig zu dem vom Wolf verwundeten Mädchen geführt hatte, war keine Erinnerung aus fernster Kindheit gewesen. Diesen Traum hatte er erst vor wenigen Monden gehabt, in Skerb. Er war ihm gefolgt, zum Mammut nach Warchaim, mit dem Mammut nach Wandry und in die Höhle des Alten Königs, und schließlich in den Thost und jene andere Welt, die keinen Namen kannte und keine Kartografie, und die dennoch kein Traum war und keine Schmerzensillusion, weil blauhaarige Krieger und rote Kaninchen aus ihr hervorgingen und ihre Echtheit bezeugten. Dieser Traum war neu gewesen.

War es möglich, dass jemand ihm diesen Traum geschickt hatte? Sein leiblicher Vater vielleicht, Zarvuer? Oder der Wolf, der womöglich der Vater seiner Magie war und zu dem der nach dem Traum befolgte Weg ihn zweimal hingeführt hatte?

War es möglich, dass der große, übergeordnete Kreis für ihn erst dann vollendet war, wenn er den Traumbringer gefunden und ihn nach seinen Motiven befragt hatte?

Neuer Eifer hatte Eljazokad erfasst. Die Lethargie des Abgeschlossenhabens war einer neuen Sehnsucht gewichen.

So war er mit Taulle aufgebrochen. Er hatte auch Maeredi zehn Taler gegeben. Das ließ ihm nur noch neun, die konnten aber knapp genügen, um sich von Clellach aus bis zu den Riesen durchzuschlagen. Taulle hatte ihm auf den Esel geholfen, den Taulles Eltern, die in Anfest einen kleinen Hof führten, dem Jungen als Fohlen geschenkt hatten, als er zehn Jahre alt wurde. Der Esel hieß Yawak und war eher anhänglich als störrisch.

Eljazokad ritt und Taulle ging nebenher und führte. Yawaks Gangart war ruhiger und gleichmäßiger als die eines Pferdes, dennoch schmerzte Eljazokads Unterleib schon nach wenigen Sandstrichen. Nach einer Stunde musste Taulle ihm zum ersten Mal hinunterhelfen, damit Eljazokad sich kurz hinlegen und ausstrecken konnte. Zum Laufen waren beide Beine noch zu wackelig, aber die Entlastung des Hinlegens half, den Schmerz wieder abebben zu lassen.

So mühten sie sich voran, viel, viel langsamer als gedacht.

Immerhin hatte Taulle erfreuliche Neuigkeiten verlauten lassen. »Ich kann Euch ruhig zum selben Preis auch bis Miura bringen, nicht nur bis Clellach. Aber meine Eltern sollten davon nichts wissen. Clellach ist Thostrand und in Ordnung, Miura ist voller Fremder und ohne Bäume, das gilt als gefährlich. Ich war aber schon öfters dort und kenne mich ganz gut aus.«

»Was führt dich immer wieder nach Miura?«

Taulle hatte breit gegrinst. »Die vielen tollen angemalten Mädchen und die Süßigkeiten, die man überall kaufen kann.«

Früh hatten sie sich dann ein Lager bereitet. Taulle hatte Laub zusammengetragen, und dann hatten sie sich beide in die Decken, die Taulles Eltern ihnen mitgegeben hatten, gerollt und geschlafen. Wachehalten, wie wenn das Mammut sich im Einsatz befand, hielt Eljazokad für überflüssig.

Früh war er erwacht. Dies war der Morgen. Eljazokad fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Nach mehrtägigem Krankenlager – und davor mehrtägiger Folterhaft in einem stinkenden Loch – hatte diese erste Nacht im Freien seit Langem seinen Leib durchgepustet und erfrischt. Er dachte an Bachmu und betete für Zetaete. Er beobachtete einen Igel, der sich am Rande des Lagers schnaufend durchs Laub wühlte, und hoffte im Stillen auf Kaninchen. Dass sie wieder Fuß fassen würden. Aber es gab deutliche Zeichen, dass der gemarterte Wald wieder zu sich selbst zurückfand. Zumindest hier flatterten schwarze Vögel durchs Geäst. Zumindest hier streichelte der Wind das Leben. Die vier wahnsinnigen Männer, die den Thost mit ihrer Gewalt beherrscht hatten, gab es nicht mehr.

Voller Zuneigung dachte Eljazokad auch an Bestar, Tjarka und Rodraeg. Dann, als auch Taulle endlich erwacht war, schwang er sich aus eigener Kraft auf den Rücken Yawaks und ritt mehrere Stunden, ohne eine Pause einlegen zu müssen.

Das Unglück begann kurz vor Mittag. Yawak wurde von einem Insekt gestochen, das völlig lautlos von hinten herangeflogen sein musste, und kickte aus, so dass Eljazokad ungelenk auf den weichen Waldboden aufschlug. Die Schmerzen waren auszuhalten, aber die Beine versagten dem Magier dennoch den Dienst. Er wälzte sich ächzend auf den Rücken und konnte noch einen kurzen Blick auf das Insekt erhaschen, das trudelnd wieder davonflog: Es besaß mehrere Stachel und überhaupt keine Beine.

Taulle mühte sich, den sonst so genügsamen Yawak wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch der Esel kickte und biss, hatte panisch verdrehte Augen und wollte sich nicht mehr beruhigen. Eljazokad benutzte seine Arme, um sich auf dem Gesäß weiter wegzuschleppen, um nicht von den umhertanzenden Hufen getroffen zu werden.

Plötzlich stand hinter Taulle ein entsetzlicher Mann. Eljazokad hatte ihn gar nicht sich nähern gesehen. Unter einem breitkrempigen Hut hatte er ein Gesicht wie schmelzendes, triefendes Wachs, und seine Körperhaltung war die eines mehrfach Verkrüppelten. Bevor Eljazokad noch ein »Vorsicht!« ausstoßen konnte, hob der Fremde mit einer schlierigen, nebelhaften Bewegung einen großen Hammer und drosch ihn Taulle auf den Hinterkopf. Knochen knackten matschig. Der Junge fiel zu Boden, und Eljazokad brauchte ihn nicht zu berühren, um zu wissen, dass er tot war.

Nun machte das Ungeheuer auch Anstalten, den Esel mit dem Hammer zu erschlagen. Eljazokad riss beide Arme nach vorne und feuerte alles, was er an magischer Energie nicht für seinen eigenen Genesungsprozess verpulvert hatte, auf den Fremden ab. Das Licht entstand auch und löste sich, kam aber nie bei dem Mörder an. Ein Schwarm von Insekten fing es ab und fraß es. Es waren keine Fliegen. Eher Spinnen mit Flügeln.

Ein zweiter Mann war hinter Eljazokad aufgetaucht. Er stank nach Honig, Harn und Ameisensäure. Eljazokad wandte den Kopf und konnte bernsteinfarbene Haare sehen, die wirr ein möglicherweise ebenmäßiges Gesicht verdeckten. Immerhin ging schreiend der Esel durch, die Insekten trieben ihn in die Flucht. Ziellos brach er in den Wald ein.

»Der hier ist es, Raukar«, sagte der zweite Mann. »Nicht der Junge.«

»Das weiß ich doch«, antwortete der Mörder. Eljazokad blickte zurück. Die Insekten lagen alle am Boden und verendeten auf dem Rücken wie Eintagsfliegen. Der Mörder sah jetzt seltsamerweise gar nicht mehr deformiert und entstellt aus, sondern war groß, dünn und mit ausgemergelt fanatischen Zügen. Er schüttelte seinen Unterarm aus, gegen den der Esel wohl getreten war. »Aber ich habe noch so viele Nägel übrig, warum soll ich die immer nutzlos mit mir herumschleppen?«

Eljazokad wollte irgendetwas sagen oder tun. Er war zwar waffenlos, hatte aber das Gefühl, in den Beinen nun wieder ausreichend Gefühl zu haben, um um sich treten und schlagen zu können. War Taulle gerade eben seinetwegen umgebracht worden?

Der Magier kam aber nicht mehr dazu, etwas zu unternehmen. Er wurde in die auf dem Boden aufgestützte rechte Hand gebissen. Er wollte sie wegziehen und hielt sich plötzlich seinen eigenen blutpulsenden Stumpf vors Gesicht. Seine Hand lag immer noch, sauber abgetrennt, auf dem Boden, umwimmelt von blinden, asymmetrischen Termiten.

Eljazokad kreischte hoch und schrill, wie einer, der den Verstand verloren hat, bis der Honigmann ihn sanft anhauchte und klebrige Flügel ihm durch Nase und Mund hoch ins Bewusstsein schlüpften.

Er kam wieder zu sich, als er irgendwo hart aufschlug. Für einen Moment glaubte er, vom Kontinent heruntergefallen zu sein wie ein Schlafender von seinem Bett, doch dann gelang es ihm, das Oben vom Unten zu unterscheiden. Er lag in einem trockenen Brunnenschacht. Nicht besonders tief. Alt und dreckig. Er glaubte diese Gegend sogar zu kennen. Dies war einer der Blindbrunnen, die die Menschen in den Boden des Thost getrieben hatten, um die Einzigartigkeit des Niemalsbrunnens nachzuäffen.

Eljazokad konnte zwei Stimmen hören. Die beiden Mörder unterhielten sich, oben am Brunnenrand, knapp außer Sicht.

»Meinst du, dass eine einzelne Hand ausreicht?«

»Aber sicher doch.« Eljazokad erkannte die knarzige Stimme des Mannes wieder, den der andere Raukar genannt hatte. Raukar klang guter Dinge und bestimmt. Die zweite Stimme, die dem Bernsteinblonden gehörte, klang entrückter und weniger zielgerichtet. »Die haben ein Schmetterlingsmädchen in ihrer Gruppe«, fuhr Raukar fort. »Wahrscheinlich würde ein Haar ihr schon genügen, den Magier darin zu lesen wie in einer Erinnerung. Sehr heikle Wesen, diese Schmetterlinge. Flittflatt, flittflatt, immer um die Flamm’ herum. Aber eine Hand ist weit, weit tiefer drunten als ein Haar.«

»Und der Kurier? Wird er nicht einen Blick werfen auf die Hand?«

»Was machst du dir so viel Gedanken wegen einer Hand? Bei einem Kopf vielleicht. Nicht bei einer Hand. Ich werde noch einen netten kleinen Brief dazulegen, mit den wahrhaftigen Buchstaben des Meisters. Lass mich nachdenken, mein Freund. Wie wäre es mit:

Dieser Magier dachte, niemand ginge weg.

Doch mittels dieser Nachricht gewinnt Wirklichkeit.

Denn Magier dürften niemals getrennt werden!

Was hältst du davon?«

»Das halte ich für zu verwirrend. Dreimal die Buchstaben? Dreimal sechs. Achtzehn ergibt keinen Sinn. Nimm sie nur einmal. Mach es kurz und eindeutig.«

»Na schön. Wie wäre es damit:

Der Magier darf nun Geisel winseln?«

»Beinahe.«

»Beinahe! Hast du denn eine bessere Idee?«

Ich würde vorschlagen:

Der Magier duldet. Nun gewinnen wir.«

»He, das ist nicht schlecht. Gar nicht schlecht! Das macht bange und setzt unter Druck das hochfahrende Gemüt. Du hast Talent, Bienenmann! Das ist gut! Dabei ist dies dein erstes Mal unter den Flügeln des Meisters. Gut, also dies. Der Eilkurier soll in vier Tagen dort sein, das ist zu schaffen für einen von diesen herrlich gewandeten königlichen Postreitern. Ich könnte unser Geschenk zwar rascher liefern, aber um Warchaim soll ich mich nicht kümmern. Für diese Stadt hat der Meister sich eine andere rechte Hand erkoren, einen Gaukler und Taschendieb. Wir werden ja sehen, wie weit der Meister ihn zu führen versteht. Am 26. wird unser auf dem Bachmufest begonnenes Warchaimer Gaukelspiel um diese Hand bereichert. Am 30. wird es dann pünktlich enden.«

»Fünfzehn Tage für den Fall eines einzigen Mammuts.«

»Mehr als ausreichend, das finde ich auch, mein Freund. Mehr als ausreichend.«

»Und was machen wir beide in diesen Tagen?«

»Du bleibst hier, bewachst die Geisel und trinkst Nektar, oder was ihr Bienenmänner sonst so tut, um euch die lange Zeit in kurze Stückchen zu zerhacken. Ich gehe unterdessen: in die Hauptstadt, um etwas Rundes zu zerbrechen.«

»Und dann?«

»Kehre ich zurück und hole dich ab. Zwölf Jahre Ruhe. Zwölf Jahre Frieden. Keine Bäume. Kein Gewimmel. Nur die sanfte Ehrlichkeit der Nägel.«

Die Stimmen schienen sich entfernt zu haben. Vielleicht war es auch Eljazokad, der weggedriftet war. Dann aber tauchte Raukar noch einmal auf. Spähte als zotteliger Umriss in das Loch hinab.

»Heil dich selber, Magier. Uns war nicht danach. Deine Freunde sind so gute Menschen, die werden dich nicht einfach hier verrotten lassen. Also halte durch. Hoffe. Beiße. Friss Sand. Trink Regen und ledrigen Tau. Wenn man dich herausholt, willst du doch sicher erzählen können von Ungerechtigkeit und hoher Wut.«

Lachte der Mörder ihn aus? Eljazokad konnte es nicht deuten.

Aus seinem Unterarm pulste träge das Blut. Nicht abgebunden. Das Fleisch nicht ausgebrannt. Er würde mehr Energie brauchen, als er überhaupt aufbauen konnte, um gegen Blutverlust und Wundentzündung anzaubern zu können.

Zuerst glaubte er noch, dies den beiden Wahnsinnigen mitteilen zu müssen, bevor sie sich außer Rufweite entfernten. Aber dann winkte er innerlich ab.

Was sollte es?

Sie wollten ihn als Geisel benutzen, um das Mammut in die Knie zu zwingen. Eljazokad kannte den Drohbrief von DMDNGW.

Genau genommen gab es für ihn jetzt nur noch eine einzige Möglichkeit, den Plan der Mörder zu durchkreuzen.

Es war seltsam.

Er hatte eigentlich schon abgeschlossen gehabt mit seinem Leben, im Geweihwasserdorf, und auch hinterher, in Anfest, als er Bestar all seine Papiere mitgab.

Er hatte gewusst und akzeptiert, dass sein Kreis geschlossen war.

Doch dann hatten ein paar Tage der Ruhe genügt, um Zweifel aufkeimen zu lassen. Nach neuen Kreisen zu suchen. Sie zu öffnen, damit es weiterhin etwas zu tun und zu sehnen gab.

War so sein Charakter? So einfach zu beschreiben? Niemals vollendet? Selbst wenn vollendet – dann niemals zufrieden? Konnte dies jemals zu etwas anderem führen als zu Unruhe und Verwundung?

Das Abschneiden heilender Hände.

Eine Warnung.

Und ein Hilferuf zugleich.

Eljazokad betrachtete sein ausströmendes Blut. Es machte ihn schläfrig. Geduldiger. Er erinnerte sich an das, was der Dreimagier ihm in Warchaim erzählt hatte: Ein jeder trägt ein Licht in sich. Es ist das Licht, das man auch Leben nennt. Du kannst die Energie dieses Lichtes nutzen, um deine Magie daraus hervorzuholen, aber vergiss nicht: Es ist nur logisch, dass dies dein Leben kostet.

Einzuschlafen war zu langsam. Vielleicht warfen die beiden ab und zu einen Blick hinab. Vielleicht unterbanden sie dann seine Flucht, indem sie ihn doch versorgten.

Würde er die andere Welt wiedersehen? Das rote Himmelsschloss, das Geweihwasserdorf, die Felder, auf denen Schädel blühten?

Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich litt er zu wenig Schmerzen, um die Brücke der brennenden Blumen ein weiteres Mal zu überqueren. Er war ganz ruhig, beinahe im Reinen mit sich selbst.

Er fühlte hinein in sein Licht. Dachte nach über das Mammut. Wie kurz die Zeit seines Lebens gewesen war, die durch das Mammut geprägt wurde, und wie wenig angenehm eigentlich. Nur in Wandry hatte es ab und zu Spaß gemacht. Ronith und das Zusammentragen von Spuren. In der Höhle des Alten Königs war es auch stellenweise sehr interessant gewesen. Das Riesenwerden. Der grauenerregende Weg der Tsekoh. Aber ansonsten: die andauernde Gewalt, das Ertragen von Strapazen und sogar Folter. Das Mammut war kein schönes Leben. Eljazokad fragte sich ernsthaft, wer so ein Leben lange aushalten sollte.

Ob die schöne Frau mit den silbernen Augen, der er bereits dreimal begegnet war, nun wieder auftauchte? Sie war die schönste von allen. Überirdisch. Göttlich geradezu.

Ob sie der Tod war? Sein Tod?

Mit der einen ihm verbliebenen Hand fasste er sein Licht und holte es nach draußen. Der Magier begann zu leuchten, fast wie der Kopf der Schicksalskarte zwölf: der Gehängte.

Oben rief der Bienenmann seinem Kumpanen eine Warnung zu.

Doch es war zu spät.

Das Herz der Geisel hörte auf zu schlagen.

Das Licht erlosch.

1

Zusammensetzen

Fünfzehn Tage vorher. Der 7. Blättermond.

Glutpunkte lagen auf seinem Gesicht. Zehn. Dann zwanzig.

Die Glutpunkte bewirkten Eigenartiges. Wie Sonnen erhellten sie ein ansonsten dunkles Firmament. Leuchteten zu ihm her. Strahlten ihn an wie zwanzigmal wohlmeinendes Lächeln.

Er setzte sich zusammen in diesem Lächellicht.

La.  Del.  Sa.  Ba.  Ta.  Ne.  Draeg.  Ro.  Ves.

Ro. Draeg. Ta. La. Ves. Sa. Del. Ba. Ne.

Es klang fast wie ein Kinderlied. Die Melodie dazu überreichte ihm eine längst vergangene Zeit.

Rodraeg schlug die Augen auf. Sah vier Hände, die symmetrisch auf seinem Gesicht lagen. Vier Hände mit zwanzig warmen Fingerkuppen. Zwei der Hände waren jung und zart, zwei waren alt, aber alle vier waren schmal und feingliedrig.

»Sieh ihn an«, raunte die Stimme eines alten Mannes. »Hat er die Augen aufgeschlagen?«

»Ja. Oh, ihr Götter. Das hat er!«, bebte die Stimme von Naenn.

»Naenn«, hauchte Rodraeg, so leise, dass er glaubte, niemand würde es hören können, doch er irrte sich.

»Rodraeg«, sagte Naenn eindringlich. »Lass dir Zeit. Du bist zu Hause. Dies ist Estéron vom Kreis. Sicherheit umgibt dich.«

Rodraeg ließ diese sehr beruhigenden Worte auf sich einwirken. Die zwanzig Sonnen waren von seinem Gesicht genommen, die zehn Naenns glaubte er immer noch warm spüren zu können. Rodraeg dachte nach über die Worte Sicherheit umgibt dich. Wem sagte man so etwas, wenn nicht einem, der gewöhnlicherweise nicht von Sicherheit umgeben war? Dann fiel es ihm wieder ein: Hellas! Der Pfeil! Der Pfeil!

Ein Ruck durchlief ihn wie am Ende eines Albtraums. »Schhhhhhhhh«, machte Naenn. Ihre zehn Sonnen schienen wieder auf, an seinen Schultern, seinen Schläfen, seiner Stirn. Er verspürte eine Sehnsucht nach Schlaf und Vergessen, nach einem Verbleiben in der Wärme, nach einer Zukunft mit den Sonnen. Aber dann siegte seine Neugier. Er wollte Estéron sehen und kennenlernen, das einzige Mitglied vom Kreis, dem er noch nie begegnet war.

Rodraeg schlug dauerhaft die Augen auf. Naenn war noch schöner, noch sinnlicher, als er sie in Erinnerung hatte. Ihr Bauch wölbte ihr einfaches Kleid unübersehbar. Estéron dagegen war sehr schmal, sehr pergamenten. Er schien hundert Jahre alt zu sein und hatte dennoch ein glattes Gesicht mit tief eingegrabenen Charakterkerben, sehr fein geschnitten, beinahe weiblich. Er hatte dunkelgraue Haare, die in einem rasierpinselartigen Zopf mündeten. Gekleidet war er in ein taubengraues Gewand mit kurzen, breiten Ärmeln. Seine Pupillen hatten die Farbe von leichtem Nebel.

»Es ist mir eine Ehre«, brachte Rodraeg mühsam hervor. Die Art, wie Estéron leicht an ihm vorbeisah, um ihm eher ein Ohr als den Blick zuzuwenden, bestätigte ihm, dass der alte Schmetterlingsmann blind war.

»Mir ebenfalls«, lächelte Estéron. »Es freut mich, dass unsere Bemühungen erfolgreich waren.«

»Wie lange … war ich … weg?«

»Heute ist der 7. Blättermond«, erläuterte Naenn. »Als Eljazokad und Bestar dich hierher brachten, schrieb man den 15.Rauchmond.«

»Ihr Götter! Ich war … fast einen Mond lang … bewusstlos?«

Naenn schüttelte den Kopf. »Nicht bewusstlos. Bewusstlos warst du wohl nur kurz, bei den Riesen. Dann haben sie dich … in einen Zustand versetzt, der ihnen erlaubte, dich und die anderen magisch in unser Haus zu transportieren. Hier konnte ich dann … dein Licht aufschließen und dich in einen Heilschlaf überführen. Du hast bis eben geschlafen, Rodraeg. Die Wunde ist gut verheilt. Es ist ausgestanden.«

»Dein Kind? Wann ist es so weit? Ich kann mich im Moment nicht erinnern.«

»Es ist noch Zeit. Noch anderthalb Wochen.«

»Und die anderen? Wo sind sie?«

»Cajin ist unten und wäscht ab. Eljazokad und Bestar sind aufgebrochen zu einer neuen Mission. Eigentlich erwarten wir sie bald zurück.«

»Eljazokad«, fiel es Rodraeg jetzt wieder ein. »Ich bin ihm begegnet. Auf der Brücke, die aus Blumen war und brannte. Ich hatte … den Weg verloren. Er schickte mich hierher.«

»Es ist, wie ich vermutet hatte«, sagte Estéron zu Naenn. »Unsere Lakritze, unsere Gesänge und unsere Fingerfertigkeiten hätten nicht ausgereicht, um ihn zurückzuholen. Wir sollten ausführlich über alles sprechen und beratschlagen.«

»Ja«, nickte das Schmetterlingsmädchen. »Sobald du wieder bei Kräften bist, Rodraeg.«

»Ich fühle mich erstaunlich gut.« Rodraeg schaute sich um. »Ist das nicht dein Zimmer?«

»Ja.« Sie wurde ein wenig rot.

»Sie hat dich Tag und Nacht gepflegt«, lächelte Estéron. »Warum gehen wir nicht alle zusammen runter, setzen uns an euren schönen Tisch und löffeln diese leckere Kerbelsuppe zu Ende, die Naenn gestern zubereitet hat? Ein wenig Bewegung ist, glaube ich, das Nötigste, was dir jetzt noch fehlt, Rodraeg Delbane.«

Cajin ließ sich nicht überrumpeln. Schon am Geräusch auf der Treppe konnte er hören, dass es nicht Naenn und Estéron alleine waren, die da herabkamen. Er lief hinzu und half mit, den klapperigen Rodraeg die steile Stiege hinunterzuführen und zu stützen.

Dann gab es heiße Suppe und anschließend blaue Weintrauben. Da es draußen schon dunkelte, entzündete Cajin Kerzen und Öllämpchen. Der größte Raum im Haus des Mammuts glühte warm in einem vielfältigen Licht.

Rodraeg erzählte in langsamen, ausgewählten Worten von seinem Traum, der wahrscheinlich kein Traum gewesen war. Wie er auf einer schwelenden Blumenbrücke stand, nackt, umzingelt von Wasserfällen, und älter wurde, älter, bis hin zum Greis, der sich nur noch ängstlich am Geländer festhalten konnte, weil er wusste, eine der beiden Brückenrichtungen bedeutete den Tod. Nach einer Zeit, die Jahrzehnte gewesen sein müssen, an die Rodraeg aber auch nicht mehr Erinnerungen hatte als an eine oder zwei Wochen, war Eljazokad aufgetaucht, ebenfalls vollkommen unbekleidet, und hatte ihn in die richtige Richtung geführt, »nach Hause, wo Naenn auf dich wartet«.

»Und dann«, schloss Rodraeg, »hat er noch etwas sehr Trauriges zu mir gesagt. Er sagte, seine Lage sei ziemlich hoffnungslos, und ihr Auftrag war schon gescheitert, bevor sie überhaupt am Ort des Geschehens ankamen. Und ich soll euch ausrichten, dass es im Thostwald keine Kaninchen mehr gibt. Dass man wohl welche aus dem Larnwald übersiedeln müsse. Und die ganze Zeit wusste ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht, worum es eigentlich geht.«

»Bist du denn überhaupt schon bereit für so etwas?«, fragte Naenn ihn besorgt, doch Estéron schlug vor: »Zeig ihm einfach den Auftragsbrief. Je weniger er erfährt, desto mehr Sorgen macht er sich jetzt.«

Cajin holte den Brief aus Rodraegs Schreibzimmer. Rodraeg las laut vor:

An das Mammuthaus Warchaim

C. Cajumery

Ein gutes Leben allen Teilen des Kontinents!

Möglicherweise ist die Gruppe noch nicht von ihrem Einsatz für die Riesen zurückgekehrt, aber vielleicht könnt Ihr, Cajin und Naenn, von Warchaim aus bereits erste Vorforschungen tätigen in Hinsicht eines sehr eigenartigen Problems, sodass die Gruppe dann nach ihrem Eintreffen unverzüglich in Aktion treten kann.

Im Thostwald ist die Kaninchenpopulation nahezu zu einhundert Prozent verschwunden.

Da, wie es bei einer Seuche der Fall wäre, auch keine Kadaver zu finden sind, scheint uns dies ein Fall für das Mammut zu sein. Welche weitreichenden Folgen für Nahrungskette und lebendiges Gleichgewicht eines Landstriches das Verschwinden einer gesamten, vormals sehr zahlreichen Spezies bedeutet, brauchen wir Euch ja wohl nicht weitschweifig zu erklären. Von Estérons Freunden im Schmetterlingshain erfuhren wir auf Anfrage, dass sich im Larnwald nichts an der Kaninchenpopulation geändert hat. Umso unerklärlicher also das Phänomen im witterungsbedingt sehr ähnlichen Thostwald.

Wir haben in Erfahrung gebracht, dass es in dem Dorf Clellach, eine Tagesreise östlich von Miura, einen Waldführer namens Forker Munsen gibt, der Euch im Wald begleiten und zur Seite stehen kann. Ihr solltet Euch nicht ohne fachkundige Unterstützung dem Thost überantworten.

Viel Erfolg!

Unterzeichnet war der Brief mit dem nicht ganz geschlossenen Kreis, der üblichen Signatur des Kreises.

»Und Eljazokad und Bestar sind nur zu zweit losgegangen?«, fragte Rodraeg mit belegter Stimme.

»Ja«, nickte Naenn betreten. »Zu zweit. Wir wussten nicht, wann du wieder einsatzfähig sein würdest. Ich konnte nicht, in meinem Zustand. Und wir gingen davon aus, dass sie im Thost dann immerhin zu dritt sein würden, mit diesem Waldführer.«

»Oh, Mann. Na ja. Ich hätte wahrscheinlich ebenso gehandelt. Ich hätte auch nicht auf mich gewartet, den alten Trottel, der immer nur schläft. Leider scheinen die zwei oder drei im Thost in die Klemme geraten zu sein.«

»Wann war das, als Eljazokad dir auf der Brücke begegnete?«, fragte Estéron.

Rodraeg musste einen Moment nachdenken. »Ziemlich kurz, bevor ich aufgewacht bin. So kam es mir zumindest vor.«

»Also heute. Wann sind die beiden aufgebrochen?« Diese Frage galt Naenn.

»Vor siebzehn Tagen«, antwortete sie, ohne lange nachrechnen zu müssen.

»In siebzehn Tagen kann sich das Schicksal ganzer Länder entscheiden«, brummte der alte Schmetterlingsmann. Seine Pupillen spiegelten das Kerzenlicht wider, als bestünden sie aus Milch.

»Was tun wir?«, fragte Rodraeg niemanden Bestimmtes. »Sollen wir den beiden hinterherreisen?«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Naenn. »Aus mehreren Gründen. Du kennst dies noch nicht.« Sie schob Rodraeg einen zweiten Brief zu, deutlich kürzer, in eigenartig verkanteten Buchstaben verfasst:

Das Mammut wird fallen noch vorm Nebelmond,

und keiner, der’s hegte, wird von mir verschont.

DMDNGW

»Ist das denn ernst zu nehmen?«, fragte Rodraeg die anderen.

»Laut Riban Leribin auf jeden Fall«, gab Estéron Auskunft. »Genau genommen ist diese Drohung einer von zwei Gründen, weshalb Riban mich hierher geschickt hat. Der zweite Grund ist, dass ich Naenn bei ihrer Niederkunft behilflich sein kann. Trotz meines fehlenden Augenlichts besitze ich Kenntnisse und Fähigkeiten, die eben nur Schmetterlingsmenschen besitzen. Insofern wäre ich hier mehr von Nutzen als – sagen wir – eine Heleleschwester.« Der alte Schmetterlingsmann und das Schmetterlingsmädchen nickten sich zu. »Was allerdings diesen Drohbrief angeht, so hält Riban ihn für echt. Er ist sich ziemlich sicher, von DMDNGW schon früher gehört zu haben, möglicherweise schon sehr viel früher, als Riban selbst noch ein junger Mann war. Das Problem ist, dass Riban zusehends verfällt. Er ist jetzt zwölf oder sogar nur noch elf Jahre alt, und mit jedem Lebensjahr, welches ihm schwindet, scheint er Bestandteile seines Gedächtnisses einzubüßen. Er leidet sehr unter diesem Zustand, und ihr könnt euch vorstellen, dass es für einen alten Wegbegleiter wie mich äußerst schmerzlich ist, ihn so erleben zu müssen. Er kann uns also nicht deutlich sagen, worum es sich bei DMDNGW handelt, aber er rät uns, uns nicht in alle Winde zu zerstreuen. Wenn wenigstens zwei von uns beieinander sind, sagt er, hätten wir eine größere Chance, der Bedrohung zu begegnen.«

»Mit anderen Worten« – Rodraeg massierte sich die Schläfen – »Riban bezieht die Drohung auch auf den Kreis.«

»Ja. Keiner, der’s hegte, wird von mir verschont. Der Kreis hegt das Mammut.«

»Du warst vorher im Larnwald?«

»Zuerst im Larnwald wegen der dortigen Kaninchen. Anschließend wollte ich Richtung Hessely, als Ribans Ruf mich erreichte, doch lieber jetzt schon nach Warchaim zu gehen. Vorgestern traf ich hier ein.«

»Und Ribans Ruf erreichte dich, nachdem Naenn und Cajin den Kreis über den Drohbrief unterrichtet haben?«

»So wird es wohl gewesen sein. Weshalb fragst du?«

»Weil ich wissen wollte, ob der Kreis selbst einen Drohbrief erhalten hat.«

»Ah.« Estéron machte eine anerkennende Geste in Rodraegs Richtung. »Riban hat keinen zweiten Drohbrief erwähnt. Aber ich werde nachher, wenn ich Ruhe finde, noch mal nachfragen. Wir stehen laufend in Kontakt, zumindest theoretisch. In der Praxis kann es sein, dass die Verbindung nicht zustande kommt.«

»Gut zu wissen.«

Als Nächstes begann Cajin mit seinem Referat über DMDNGW. Er berichtete Rodraeg, dass er bereits im vergangenen Mond einige Nachforschungen in der Bibliothek betrieben hatte und dabei auf Berichte über eine Frau gestoßen war, die vor rund zweihundert Jahren in Jazat gelebt hatte. »Sie spürte gegen Bezahlung verborgene Brunnen, Quellen und Wasseradern auf. Der wirkliche Name dieser Frau ist nicht überliefert, aber sie wurde bekannt als: Die Mittlerin des niemals gefundenen Wassers oder auch Die Mutter des noch geheimen Weges oder auch Die Melodie des nicht getrunkenen Wissens. Das schien uns zuerst eine ganz vielversprechende Fährte zu sein. Eljazokad suchte die Dreimagier auf, und sie sagten über DMDNGW: ›Er tötet solche wie uns‹, was wiederum eher auf einen Mann schließen lässt, möglicherweise jemanden, der Magier tötet. Dies wiederum würde zur magiefeindlichen Dämmerung passen. DM könnte für Dämmerung stehen. Schließlich haben wir dem Landspurenführer Vetz Brendo fünfzehn Taler gegeben, damit er für uns nachforscht. Bislang hat er uns noch nichts geliefert, und es ist schon beinahe zwei Wochen her. Er arbeitet aber auch noch an anderen Fällen.« Jetzt erzählte Cajin vom gegenüber wohnenden Mirilo von Heyden, der das Mammut um Hilfe gebeten hatte, weil er sich von drei Banditen bedroht fühlte. Vetz Brendo hatte auch für von Heyden nachgeforscht und dabei einen der drei Banditen aufgespürt, einen gewissen Cruath Airoc Arevaun aus den Klippenwäldern.

Rodraegs Schädel begann nun tatsächlich zu brummen. »Ich fürchte, ich kann mir nicht noch mal eine so lange Auszeit gönnen. Ich habe das Gefühl, völlig den Anschluss verloren zu haben.«

Naenn berührte seine Hand. »Das gibt sich wieder. Wenn erst mal Eljazokad und Bestar wieder hier sind, verteilt sich die Last wieder auf ganz viele Schultern.«

»Ja, aber genau das ist eines der Probleme. Eljazokad. Als er mich von der Brücke leitete, ging er anschließend in der anderen Richtung weiter. In der Richtung also, in der der Tod liegt. Möglicherweise … hat DMDNGW bereits zugeschlagen. Eljazokad ist tot, und wir wissen nicht, was aus Bestar geworden ist. Wenn er nun auch ganz alleine dort draußen …«

Naenn stand auf, um beide Hände Rodraegs einfangen und umfassen zu können. »Rodraeg! Welchen Sinn hat es, das Schlimmste anzunehmen? Solange Eljazokad noch in der Lage war, mit dir zu reden und dir den richtigen Weg zu weisen, solange ist er nicht verloren. Und Bestar ist, denke ich, auch dann nicht hilflos, wenn er ganz alleine ist. Als ihr damals in der Höhle von Terrek gefangen wart, wurdet ihr auch nicht aufgegeben. Erinnerst du dich noch an die Abfolge? Ilde Hagelfels brachte in Erfahrung, dass ihr gefangen wurdet, Estéron schickte euch dann Erdbeben zu Hilfe. Riban koordinierte das Ganze und erwartete euch hier in Warchaim. Niemand ging verloren.«

»Du hast recht. Aber dann müssen wir trotzdem jemanden hinschicken. Steht Erdbeben wieder zur Verfügung?«

»Es sind zehn Tage bis zum Thostwald, Rodraeg Delbane«, sagte Estéron. »Erdbeben zu finden und zu überzeugen braucht mindestens zehn weitere Tage. Meinst du nicht auch, dass sich bis dahin das Schicksal deiner Männer ohnehin entschieden hat? Zum Guten oder zum Schlechten?«

»In Terrek war das nicht so. Wir waren einundvierzig Tage lang gefangen und haben verzweifelt auf Hilfe gehofft.«

Trotz seiner blinden Augen schien der alte Schmetterlingsmann Rodraeg scharf anzusehen. »Bist du denn, im Lichte der letzten Entwicklungen beim Mammut, unumstößlich der Meinung, dass deine Männer es wert sind, sich ihretwegen in große Gefahr zu begeben?«

Rodraegs Blick wurde ebenso hart. »Eljazokad und Bestar sind das Rückgrat des Mammuts. In Wandry und der Riesenhöhle war ich das schwächste Glied. Das … mit Hellas war ein Unfall. Möglicherweise meine eigene Schuld.«

»Dann werde ich selbst gehen, um deine Männer zu suchen«, sagte Estéron überraschend. »Möglicherweise können die Riesen mir helfen. Dank Gerimmir und euch kann ich so schneller zu Erdbeben reisen.«

»Wieso willst du gehen?«, fragte Rodraeg verblüfft.

»Weil du noch nicht kannst. Naenn in ihrem Zustand ohnehin nicht. Cajin alleine wäre genau das, wovor Riban uns gewarnt hat. Ich jedoch bin alt genug, mich gegen DMDNGW zu behaupten, wer immer das auch sein mag.«

»Nein.« Naenns Stimme war leise, aber bestimmt. Das Schmetterlingsmädchen, das die ganze Zeit neben Rodraeg gestanden hatte wie eine Stütze, setzte sich nun wieder auf seinen Stuhl. »Tut mir leid, Rodraeg, aber ich bin Ribans Stellvertreterin im Mammut. Riban wollte verhindern, dass Estéron alleine dort draußen umherwandert, deshalb hat er ihn hierher geschickt. Falls Eljazokad und Bestar ohne uns zurechtkommen, wäre das eine vollkommen sinnlose und unnötig gefährliche Aktion. Außerdem brauche ich Estéron in anderthalb Wochen hier, um das Leben und Überleben meines Sohnes zu gewährleisten. So leid es mir tut, aber wenn uns nichts Besseres einfällt, als einen von uns zu opfern, müssen wir Eljazokad und Bestar sich selbst überlassen. Ich habe sie nicht gezwungen, zu zweit loszuziehen. Es war Eljazokads Idee.«

»Aber ich kann nicht einfach hier rumsitzen und gar nichts tun, während Eljazokad und Bestar im Totenreich umherwandeln. Verstehst du denn nicht? Ich bin verantwortlich dafür, dass sie beim Mammut sind!«

»Das stimmt nicht«, blieb Naenn unnachgiebig. »Eljazokad hat sich selbst eingeladen, weil er einem Traum gefolgt ist. Und Bestar war im Schlepptau Migals, bevor er dich kennenlernte, und ist sicherlich auch im Schlepptau Migals zur Arbeitssuche nach Warchaim gekommen. Du bist nicht verantwortlich für alles, was die beiden tun und lassen. Außerdem …« – sie blickte Cajin und Estéron an – »würde ich gerne kurz mit dir unter vier Augen sprechen. Ich denke, du bist kräftig genug dafür.«

Rodraeg wurde bleich. Das letzte Mal, als Naenn so dringlich mit ihm unter vier Augen hatte sprechen wollen, hatte sie ihm mit dem Eingeständnis ihrer Schwangerschaft einen Schock versetzt, der heute noch nachwirkte. Was hatte sie nun auf dem Herzen? In den mehr als zwei Wochen seiner Ohnmacht konnte alles Mögliche geschehen sein.

»Also entschuldigt uns, bitte«, ächzte Rodraeg, als er sich erhob und sich beinahe auf allen vieren die Stiege hinaufquälte, um Naenn in ihr Zimmer zu folgen.

Sie schloss die Tür hinter ihnen. Unten fing Cajin diskret mit Estéron zu plaudern an. Das Fenster zum Hof versorgte sie mit einem dezenten Mondesschimmer, sodass sie sich ein wenig sehen konnten.

»Rodraeg, du musst mir helfen«, begann sie ohne große Umschweife. »Ich mache mir Sorgen um Cajin, aber ich weiß nicht, wie ich ihm verbieten kann, das Haus zu verlassen. Du musst mich unterstützen.«

»Warum Cajin?«

»Keiner, der’s hegte, wird von mir verschont. Wenn man einen von uns als ›Heger‹ bezeichnen kann, dann Cajin, dessen Aufgabe es ist, das Haus des Mammuts zu hegen und instand zu halten.«

»Verstehe. Dieser Gedanke war mir nicht gekommen.«

»Ich habe auch zwei Wochen länger Zeit gehabt als du, um über alles nachzudenken. Anfangs habe ich das Geschreibsel auch nicht richtig ernst genommen. Eljazokad nahm es ernst. Stimmt es übrigens, dass du ihn in Wandry zu deinem Stellvertreter ernannt hast?«

Rodraeg musste nachdenken, um sich zu erinnern. »Ja. Als das mit meinen Anfällen anfing. Ich musste fürchten, nicht durchzuhalten. Eljazokad schien mir der … Besonnenste von allen zu sein.«

»Das ist er wohl. Obwohl auch Bestar sich sehr zum Guten verändert hat. Jedenfalls habe ich es erst ernst genommen, als Riban Estéron hierher geschickt hat. Und jetzt nehme ich es sehr ernst. Ich fürchte um jeden von uns, selbst um Riban. Und ich fürchte auch … um mein Kind. Eljazokad hatte einen Gedanken in dieser Richtung. Er hat ihn nicht geäußert, aber du weißt, dass ich manchmal in der Lage bin, Stimmungen und Empfindungen zu erkennen. Er fürchtete – und ich denke, dass er recht haben könnte –, dass es kein Zufall ist. Die Drohung zielt auf die Zeit der Geburt.«

»Kann ich mich kurz auf dein Bett setzen?«

»Aber sicher.«

Rodraeg setzte sich. Er konnte jetzt wieder wahrnehmen, wie körperlich Naenn nach Wildrosen duftete. Ein Duft, der ihn selbst auf der Brücke der brennenden Blumen noch umschmeichelt hatte. Schwelende Wildrosenranken. Langsam rieb er sich wieder die Schläfen. »Du bist ein Schmetterlingsmädchen. Oder müsste man nicht jetzt sagen: eine Schmetterlingsfrau? Bald Schmetterlingsmutter. Hm. Ihr seid etwas Besonderes. Besonders mit der Natur verbunden. Aber selbst ihr Schmetterlingsmenschen könnt, wenn ich mich nicht irre, kein kleines Mammut zur Welt bringen, oder?«

»N … nein.«

»Dann gilt die Drohung nicht dem Kind. Dort steht nicht, dasKind wird fallen. Dort steht das Mammut.«

»Stimmt.«

»Vielleicht ist der Zeitpunkt kein Zufall. Vielleicht steckt der Vater des Kindes dahinter. Ich weiß es nicht. Das Mammut ist inzwischen vielen Menschen auf die Füße getreten. Unseretwegen musste die Königin in Terrek eine Schwarzwachsmine schließen. Unseretwegen gibt es keine Kruhnskrieger mehr. Unseretwegen ist der Stadtkapitän von Wandry mitsamt seiner Familie in einer … gewaltigen Stichflamme ums Leben gekommen. Unseretwegen besitzen die Riesen nun wieder mehr magische Macht als in allen Jahrhunderten seit König Rinwes glorreicher Zeit. Wir haben womöglich Feinde ohne Zahl. Aber dein Kind hat noch keine Feinde und ist deshalb nicht unmittelbar bedroht. Wenn du in die Sicherheit des Schmetterlingshaines gehen möchtest, um es dort zur Welt zu bringen, kannst du das gerne tun. Noch ist Zeit genug. Estéron könnte dich begleiten, dann seid ihr zu zweit.«

Naenn setzte sich neben ihn. Ihre Beine berührten sich beinahe. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber ich habe es verworfen. Riban will, dass das Kind unter Menschen zur Welt kommt. Mein Sohn wird ein Halb-Mensch sein.«

»Riban! Riban! Du solltest nicht alles tun, was dieser Riban von dir verlangt. Hast du Estéron nicht gehört? Riban wird immer kindischer und vergisst, was er einst wusste. Mich hat er mit dem Schwarzwachs voll ins offene Messer laufen lassen. Die ganze Zeit über in der Höhle des Alten Königs habe ich geglaubt, dass meine Vergiftung zu etwas nütze sein würde, dass sie vielleicht eine Bedingung sei, um in der Höhle irgendetwas Erdverbundenes aufschließen zu können. Aber dem war gar nicht so. Die Vergiftung war nichts als eine Belastung. Wenn die Riesen – und die Höhle – nicht gewesen wären, hätte Hellas gar nicht auf mich zu schießen brauchen. Ich wäre schon vorher verreckt.«

»Du bist wütend auf Riban?«

»Ich … bin viel zu kaputt, um wütend zu sein. Mir gefällt nur nicht, wie er uns alle manipuliert. Jetzt darf plötzlich keiner mehr das Haus verlassen. Wie lange denn? Bis wir mit Sicherheit wissen, dass Bestar und Eljazokad nicht mehr am Leben sind?«

»Nein. Sondern bis sie wohlbehalten zu uns zurückgekehrt sind und wir wieder eine vollständige, einsatzfähige Gruppe haben. Rodraeg! Als die Riesen euch drei aus dem Wildbart hierher gesandt haben und ihr auf magische Art und Weise unten im großen Zimmer einfach aus der Luft getreten seid – da war ich gerade oben in deiner Kammer und habe für eure baldige und erfolgreiche Rückkehr gebetet! In den letzten Tagen habe ich an deinem Bett gesessen und für dein Erwachen gebetet. Beides hat gewirkt! Nun kann ich mit ganzer Kraft für Eljazokad und Bestar beten, und glaube mir, es wird helfen!«

»Mein … Glauben … ist nicht … stark genug.«

»Das ist nicht wahr. Ohne Glauben hättest du deine Pfeilwunde nicht überleben können. Der Pfeil war mitten im Herzen, Rodraeg. Mitten im Herzen. Aber du hast an das Leben geglaubt. Und an mich. Nichts weiter verlange ich nun von dir.« Sie stieß ein tiefes Seufzen aus. »Ich möchte über noch etwas mit dir sprechen. Ich … habe dein Licht gesehen. Die Rolle, die ich in deinem Herzen und deiner Seele spiele. Nein, lass mich ausreden, ich bitte dich! Mir ist vollkommen bewusst, dass man einen Menschen nicht danach beurteilen kann, was er empfindet, sondern nur danach, wie er sich verhält. Du hast dich mir gegenüber immer untadelig verhalten, dafür bin ich dir mehr als dankbar. Ich wusste nicht, dass ich dir dermaßen wichtig bin. Vielleicht ahnte ich es, aber vielleicht wollte ich es auch nicht wahrhaben. Ich hatte in deinem Inneren Bilder erwartet … von deinen Eltern vielleicht, von deiner großen Jugendliebe, die deinen besten Freund geheiratet hat, von diesem besten Freund, vielleicht sogar von Bestar oder Eljazokad. Aber da war nur ich. Das hat mich erstaunt und … erschreckt. Du hast lange in der Hauptstadt gelebt, Tausende von Menschen getroffen. Und dennoch bin da nur ich? Aber ich habe nicht das Recht, dich dazu zu befragen. Dieses Wissen war nicht für mich bestimmt, es gab nur keinen anderen Weg, dich am Leben zu erhalten. Und nun, wo ich es weiß, habe ich das Gefühl, dass für mich eine große Verantwortung damit einhergeht, in deinem Leben eine dermaßen große Rolle zu spielen …«

»Ich könnte dir vielleicht alles erklären … wenn ich nur nicht so erschöpft wäre …«

»Du brauchst mir nichts zu erklären, das will ich dir nur sagen. Du sollst wissen, dass ich weiß. Alles andere wäre nicht gerecht. Und du darfst auch ruhig wissen, dass ich noch keine Entscheidung getroffen habe in meinem Herzen. Weder für noch gegen dich. Ich kann mich zurzeit gar nicht mit solchen Entscheidungen befassen, weil ich schwanger bin, in einem Alter, als ich eigentlich noch nicht einmal bereit war, mich küssen zu lassen. Alles rollt über mich hinweg und reißt mich mit sich fort. Meine Flügel schmerzen, als stünden sie in hellen Flammen! Aber … wenn irgendwann ein wenig Ruhe einkehrt … für mich und meinen Sohn … dann kann ich endlich nachdenken und in mein Herz schauen und sehen, wem es gehören möchte.«

»Nichts lag mir ferner, als dich unter Druck zu setzen. Götter, das ist alles so peinlich, Naenn! Uns ist Verantwortung übertragen worden für den gesamten Kontinent, und wir sitzen hier und schwatzen über uns. Ich bin doch kein … alter Geck auf Freiersfüßen! Vielleicht füllst du ja auch nur deshalb mein ganzes Herz aus, weil du mich zum Mammut hingeführt hast. Du bist wie dieses mandeläugige Kind in Eljazokads Traum. Du bist kein Mensch. Du bist schön. Du bist mehr als selten, denn du bist einzigartig. Und ich bin nur ein in seiner Schreibstube langsam närrisch gewordener Romantiker, der Einzigartigkeit zu lange entbehrt hatte.«

Erstmals lächelte sie jetzt. Das Mondlicht malte ihre Lippen dunkel, als wäre sie zu lange in kaltem Wasser geschwommen. »Ich weiß. Deshalb habe ich dich ja ausgesucht. Niemand anders hätte ein Mammut zurückbringen können in diese Welt der Menschen.«

Sie schwiegen, nebeneinandersitzend wie zwei Kinder auf Schaukeln.

Schließlich räusperte sich Rodraeg. »Darf ich dir noch … zwei Fragen stellen, die nichts mit dir, meinem Licht und meinen Narreteien zu tun haben?«

»Selbstverständlich.«

»Erstens: Was hat es mit der Lakritze auf sich?«

»Mit der Lakritze?«

»Ja – als ich erwachte, sagte Estéron, eure Lakritze hätte nicht ausgereicht, um mich zurückzuholen. Was meinte er damit?«

»Ach so. Na ja, als Estéron vorgestern hier ankam, fragte er mich, ob es irgendetwas gibt, was du besonders gerne isst. Er sagte, das könne helfen, dich ins Leben zurückzuholen. Also sind wir gestern alle drei auf den Markt gegangen, haben eine Handvoll Lakritze gekauft und haben sie dir abwechselnd lange auf einem Tellerchen unter die Nase gehalten. Wer weiß? Vielleicht hat das ja tatsächlich etwas bewirkt.«

»Habt ihr die Lakritze aufgegessen?«

»Nein, es gibt sie noch. Ich habe sie in deinem Zimmer auf dein Bett gelegt.«

»Dann werde ich mich unverzüglich dorthin auf den Weg machen. Aber noch zweitens: Was … ist eigentlich aus Hellas geworden?«

Naenn seufzte wieder. »Wir wissen es nicht. Bestar gegenüber hat er geäußert, er wolle nach Endailon gehen, um eintausend königliche Heeressoldaten zu erschießen. Aber in Endailon gibt es gar keine eintausend Soldaten mehr, nicht nach dem Affenmenschenfeldzug. Wir wissen nicht, wohin Hellas tatsächlich gegangen ist. Cajin hatte die Idee, dass man sich im Gasthaus Alte Kutsche, das an der Straße nach Endailon liegt, herumtreiben könnte und die Reisenden von dort befragen, ob es in Endailon eine wahnwitzige Schießerei gegeben habe. Aber bislang habe ich ihn immer davon abgehalten, weil ich eben um ihn fürchte und nicht möchte, dass er alleine draußen herumläuft.«

»Verstehe.«

»Ich finde, es ist keine gute Idee, dass du in deine fensterlose Kammer zurückgehst. Du brauchst Licht, um wieder zu Kräften zu kommen. Kannst du dich nicht in Bestars oder Eljazokads Zimmer legen?«

»Nein, das ist nicht gut. Wir können nicht andauernd die Zimmer hin- und herschieben, wie es uns passt. Wir wollen doch unseren Leuten ein Zuhause bieten.«

»Dann gehe ich in deine Kammer, und du bleibst hier.«

»Das geht doch nicht! Du bist schwanger. Du bist Schmetterling. Du brauchst ein Fenster, um …«

»Für zwei oder drei Nächte macht mir das nichts aus. Sieh es als eine raffinierte List an, dich möglichst schnell wieder auf die Beine zu bringen. Und mach dir keine Sorgen wegen der Lakritze. Ich bringe sie dir.«

Ächzend rollte Rodraeg sich auf dem Bett zusammen und war schon eingeschlafen, als sie das Tellerchen lautlos neben sein Kopfende stellte.

2

Die Straßen von Warchaim

Am 8. und 9. Blättermond lernte Rodraeg die unsichtbaren Helfer kennen, die ihn durch die lange Zeit seines Schlafes begleitet hatten: Hebezie aus dem Siechenhaus mit ihren silbern schimmernden Haaren, die täglich gekommen war, um ihn gegen das Wundliegen zu bewegen, die seinen Körper sauber gehalten hatte und die Heilung seiner Herzwunde mit Verbänden und Kenntnis unterstützte. Und Samistien Breklaris, der hoch aufgeschossene Kräuterhändler, der einmal die Woche vorbeigeschaut hatte, um mit Tinkturen auszuhelfen, mit Tee und der einen oder anderen Salbe.

Als Rodraeg Breklaris wiedersah, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, wie großartig es eigentlich war, den Husten los zu sein. Auf der gesamten Rückreise von der Höhle des Alten Königs war keine Zeit gewesen, pausenlos hatte sich Bizarres und Furchterregendes ereignet, und außerdem hatten sie der Bande der Ritterin gegenüber mannhaft und unsentimental wirken müssen, um überhaupt respektiert zu werden. Rodraeg hatte sich über das Geschenk seines erneuerten Körpers nicht gebührend freuen können. Aber nun war es so weit. Die Schwarzwachsvergiftung war Vergangenheit. Der Herzschuss ebenfalls – so unglaublich das auch klang – ausgeheilt.

Ein Neuanfang. Eine neue Geburt. Nichts weniger als das war es.

Und mit dem Neuanfang kamen die Sorgen. Um Bestar und Eljazokad vor allem. Aber auch um Hebezie und Breklaris.

»Keiner, der’s hegte, wird von mir verschont«, zitierte Rodraeg Naenn gegenüber. »Das trifft für diese beiden ganz besonders zu. Sie haben mich gehegt und gepflegt, mehrere Wochen lang. Ich fürchte um ihre Sicherheit.«

»Wir brauchen sie jetzt nicht mehr.«

»Ja. Wir können sie nach Hause schicken und sich selbst überlassen. Aber möglicherweise hat DMDNGW sie bereits ausgespäht und zu Mitgehangenen erklärt.«

»Mitgehangenen?«

»Mitgefangen, mitgehangen. Das ist ein alter, skrupelloser Menschenspruch. Ich möchte gerne mit den beiden sprechen.«

Naenn arrangierte, dass die Heleleschwester und der Kräuterhändler sich mit Rodraeg im Versammlungszimmer trafen. Der Kräuterhändler nahm sogar seinen federbehangenen hohen Hut ab und stellte ihn vor sich auf den Tisch.

»Zuerst einmal«, begann Rodraeg, »möchte ich Euch beiden für Eure Hilfe danken. Was ohne Euch aus mir geworden wäre, möchte ich mir lieber gar nicht erst vor Augen führen. Es ist jedoch ein kleines Problem aufgetaucht. Unser Haus hat einen Drohbrief erhalten, in dem auch jene, die uns unterstützen, ausdrücklich als gefährdet bezeichnet werden. Der Urheber dieses Briefes ist uns unbekannt; es handelt sich entweder um eine Verwechslung, eine falsche Anschuldigung oder um irgendjemanden, dem wir im Verlauf unserer Tätigkeiten auf die Zehen getreten sind. Wie jeder Besitzer eines kleinen Geschäftes verstehen wird, begegnet man Neidern und Missgünstigen, selbst wenn man sich selbst der Rechtschaffenheit verpflichtet sieht. Meine Sorge gilt nun Eurem und unserem Wohlergehen. Ich will, dass Ihr Euch darüber im Klaren seid, dass möglicherweise ein oder mehrere unbekannte Attentäter hinter Euch her sein könnten. Von heute an bis zum Beginn des Nebelmondes, denn bis dahin soll laut Drohbrief alles vorüber sein. Ich will auch, dass Ihr wisst, dass wir unser Bestes tun werden, Euch zu schützen. Wir würden Euch für die kommenden zwei Wochen gern kostenlose Unterkunft in unserem Gästezimmer anbieten, allerdings fürchte ich, dass Euch dies nur umso mehr in die Blickrichtung unserer Bedroher rücken würde. Wir werden nämlich auf jeden Fall bedroht, unser Haus ist also nicht vollständig sicher. Ob Ihr bedroht werdet, steht gar nicht fest, es steht lediglich zu befürchten. Mögen die Götter es verhüten.«

Hebezie war ein wenig bleich geworden und wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Samistien Breklaris betrachtete völlig ungerührt seinen Hut.

Ende der Leseprobe