Brücke der brennenden Blumen - Tobias O. Meißner - E-Book

Brücke der brennenden Blumen E-Book

Tobias O. Meißner

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Beschreibung

Der Geheimbund des Mammuts hat sich dem Kampf gegen das Böse in einer Welt verschrieben, die immer feindlicher und grausamer wird. Ein unheimlicher Verfolger bedroht die Gefährten um Rodraeg, Bestar und Naenn. Und ein neuer Auftrag führt die Verschwörer in den bizarren Thostwald. Dort geraten sie in die Fänge des Experimentators, eines skrupellosen Wissenschaftlers, der die letzte Grenze des Schmerzes aufzuspüren sucht. Doch was hat es mit der geheimnisumwitterten Brücke der brennenden Blumen auf sich, die er erschaffen will? Als sie die Wahrheit erkennen, geraten Bestar und die anderen Kämpfer des Mammuts in tödliche Gefahr …

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ISBN 978-3-492-98081-4 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014 © Piper Verlag GmbH, München 2006 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Angela Harburn / shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2006

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Prolog

Rot barg der Schnee den schwarzen Wald.

Die junge Frau, die von ihren Eltern Tiraato genannt wurde, war auf dem Weg zur Weisen Zetaete. Tief im Summenden Wald hatten ihr die jungen Männer des Geweihwasserdorfes aus alten, unbeschriebenen Büchern eine Hütte errichtet. Tief reichten die schneebeschwerten Zweige zu Tiraato hinab, tief sanken ihre Schritte in den schneeverborgenen Weg. Auf ihrem Rücken trug sie, von zwei gewobenen Decken gehalten und gewärmt, ihr dreijähriges Töchterchen, das krank war und nicht schlucken konnte. Zetaete würde weiterwissen. Zetaete verstand sich auf Heilkunst.

Ein Rauschen umgab Tiraato, umkreiste sie näher, und sie beschleunigte ihre Schritte. Etwas war im Wind und im rötlichen Glitzern der Eiskristalle, etwas, das sich näherte und hechelte. Sie konnte niemanden sehen, aber die Bartvögel waren geflüchtet, der schwarze Wald lag still und schattig. Nur Tiraatos Stiefel knirschten und hinterließen eine Spur, die weit zu lesen war.

Mit einem Mal trat ihr das Tier in den Weg. Tiraato erschrak, vergaß aber nicht die Gesetze der Höflichkeit.

»Verzeiht, daß ich Euren Wald betrete«, sagte sie zu dem Tier. »Aber ich muß zur Weisen Zetaete. Das Töchterchen ist krank.«

»Die Weise ist tot«, sprach das Tier unumwunden. »Die Tiere des Waldes fanden im Schnee keine Nahrung. Die Kaninchen mußten die Weise fressen.«

»Das kann nicht sein!« widersprach Tiraato. »Die Kaninchen würden niemals einen Menschen angreifen. Ihr wart das, oder einer von eurer Art!«

»Es gibt keinen zweiten von meiner Art. Ich bin einsam, schönes Kind.«

Tiraato schaute zu Boden. Der Schnee war violett, wo der Schatten des Tieres auf ihn fiel. »Das Töchterchen ist krank«, wiederholte sie leise. »Was soll ich denn jetzt tun?«

»Gib mir das Kind. Ich kann es heilen.«

»Niemals! Ihr seid doch nur ein Tier!«

»Aber du weißt, daß es meine Tochter ist, nicht wahr, das weißt du doch?«

Tiraato blickte immer noch nicht auf. »Ihr wart sehr schön, im Traum, und ich sehr schwach. So weit würde es niemals noch einmal kommen.« Dann wandte sie sich um und rannte. Sie wußte, daß alles Rennen zwecklos war, doch sie wußte auch, daß Flüchten das war, was die Menschen des Geweihwasserdorfes von ihr erwarteten.

Das Tier war über ihr, kaum daß sie zehn Schritte zurückgelegt hatte. Es zerfetzte die gewobenen Decken mit seinen Klauen und riß ihr mit den Zähnen die Kleider vom Leib. Tiraato kämpfte und spürte Krallen in ihrem Fleisch.

Die Tochter rollte in den Schnee und begann zu weinen.

Der rote Schnee verriet nichts von dem Blut.

1

Ohnmacht

Es war nicht mehr zu verhindern gewesen: Fremde gingen ein und aus im Haus des Mammuts.

Es waren zwar lediglich zwei, aber Naenn, die nun hochschwanger war und in einem Mond niederkommen würde, kam das vor wie eine sorgfältige Abfolge von Einbrüchen. Zwei von außerhalb, die das unberechenbare Warchaim mit hineinschleppten in das einzige sichere Versteck, welches das Mammut auf dem Kontinent besaß.

Aber es ließ sich nicht vermeiden nach dem ersten Schrecken, zwei trügerischen Tagen der Hoffnung und der Hilflosigkeit, die daraus erwuchs.

Bestar – der jetzt wie ein Riese aussah, langhaarig, vollbärtig, mit einer Segmentrüstung bekleidet und ein schorfiges Erzschwert tragend – und Eljazokad – der seine Magie verloren hatte in der Höhle des Alten Königs und noch bleicher und zweifelnder wirkte als sonst ohnehin schon – waren mitsamt dem verwundeten Rodraeg mitten im Versammlungszimmer aufgetaucht. Cajin, der jugendliche Hüter dieses Hauses, hatte bezeugt, wie sich aus dem Nichts heraus wabernder Rauch und ein goldenes Leuchten bildeten, bis schließlich drei Gestalten wie durch tiefgründig loderndes Rauchglas traten. Sie folgten zuerst den Weisungen, die die Riesen ihnen gegeben hatten. Sie trugen Rodraeg nach oben und weckten Naenn, die sich in Rodraegs Kammer aufgehalten hatte, um, wie sie sagte, für ihrer aller sichere Rückkehr zu beten. Naenn wusch und salbte den Bewußtlosen, dann öffnete sie mit einem Lied aus siebzehn Strophen das von den Riesen zu einem Bernsteinball zusammengefügte Licht in Rodraegs Inneren, faltete es auseinander wie die zwei Flügel eines Schmetterlingsmenschen, und in dieses Licht, das ihr eigenes Gesicht enthielt gleich einem Spiegel aus Honig und Blattgold, hüllte sie Rodraeg wie in eine warm pulsierende Decke. In dieser vom Zepter der Riesen magisch gewobenen Decke wurde Rodraeg umstrahlt von seinen Erinnerungen an Naenn, wie sie die Kapuze zurückgestreift hatte in seiner Schreibstube in Kuellen, wie sie mit ihm unter der Wachsplane gesessen hatte auf dem Wagen des Händlers Hinnis im strömenden Regen, wie sie und er allein unter dem Sternenzelt geschlafen hatten auf dem Weg nach Aldava, in der letzten Nacht, in der sie noch unberührt gewesen war, wie sie ihm ihren Garten gezeigt hatte, verwirrt und gereizt von dem bevorstehenden Geständnis ihrer Schwangerschaft, und – ganz zuletzt – wie sie ihm im Badehaus, erhitzt und eigentümlich erregt, ihren Rücken entblößt hatte mit den viel zu kleinen Schwingen, rötlich mit hellblauen Rändern. Aus einem matten, todesähnlichen Zustand ging Rodraeg über in einen regelmäßig durchatmeten Schlaf, der tiefer war als ein gewöhnlicher. Aber ihnen allen war klar, daß die vielen Bewußtlosigkeiten, die erst die Schwarzwachsvergiftung und nun auch die Pfeilwunde Rodraegs Leib aufgenötigt hatten, auf Dauer nicht gut sein konnten für ihn. Deshalb schafften Bestar und Cajin eins der Betten aus dem noch nie benutzten Gästezimmer in Naenns hellen Wohnraum und legten Rodraeg dort hinein. Und nachdem zwei Tage lang keine Besserung und kein Erwachen eingetreten waren, und das Licht der Erinnerungen verloschen und vergangen war zu einem milden Nachhall von Wildrosenwärme, holte Cajin die beiden Fremden zu Hilfe.

Zuerst war da Hebezie, eine junge Heleleschwester aus dem Haus der Siechen. Sie war die naheliegendste Wahl, weil die Heleleschwestern sich mit Heilung auskannten und das Betreuen von Kranken tagtäglich mit Sorgfalt betrieben. Hebezie war eine noch junge Frau mit Haaren, die einen leicht silbernen Schimmer aufwiesen, genau wie ihr Gewand. Sie untersuchte Rodraeg von Kopf bis Fuß und stellte dann fest, daß Rodraegs Körper »ganz seltsam« sei, »wie der eines Neugeborenen so zart und unversehrt«. Bis auf die schreckliche Pfeilwunde natürlich. Naenn und Eljazokad drucksten herum, ja, mit Magie sei der Verwundete in letzter Zeit mehrmals in Berührung gekommen, und möglicherweise sei sein Körper dadurch verändert worden. Hebezie versuchte darauf zu drängen, daß Rodraeg in das Helelehaus im Nordosten der Stadt verbracht würde, weil man ihn dort besser umsorgen und beobachten könne. Doch Naenn, die schon beunruhigt genug war über das, was Rodraegs Leib über seine bisherigen Abenteuer beim Mammut verriet, entschied sich dagegen. Statt dessen sollte Hebezie zweimal täglich vorbeikommen und nach dem Rechten sehen.

Einen Tag ging das gut so. Hebezie schäkerte mit Eljazokad. Naenn hielt während der Untersuchungen Rodraegs Hand. Bestar und Cajin standen sich gegenseitig eifrig im Weg herum. Dann bestand Hebezie darauf, einen Spezialisten heranzuziehen, zu dessen Fähigkeiten die Heleleschwestern vollstes Vertrauen hatten: Samistien Breklaris. So kam der zweite Fremde ins Haus des Mammuts.

Samistien Breklaris, der unweit des Marktes einen Laden für Kräuter & Drogen führte, erkannte Rodraeg sofort wieder. Vor wenigen Monden war Rodraeg bei ihm gewesen, um Pastillen gegen seinen schrecklichen Reizhusten zu erstehen. Schon damals war Rodraeg dem Kräuterfachmann etwas zerstreut und verrätselt vorgekommen. Nun lag er vor ihm, alle Anzeichen eines Hustens waren verschwunden, dafür hatte er einen Herzschuß erlitten, der für jeden normalen Menschen tödlich gewesen wäre, lebte aber weiter in der magischen Obhut eines hochschwangeren, menschenscheuen Schmetterlingsmädchens. Breklaris, ein hagerer, vollbärtiger Südländer mit mürrischem Gesichtsausdruck und einem federgeschmückten hohen Hut, empfahl Rodraegs geschwächtem Leib reichlich Flüssigkeitszufuhr, Schachtelhalmsuppe sowie Einreibungen mit einer Essenz aus Rosmarinnadeln, Minzeblättern und Lavendelblüten, welche die tiefreichende Ohnmacht langsam angehen und auflösen sollten. Dann sagte er aber: »Ansonsten habe ich den Eindruck, daß es in erster Linie unterschiedliche Formen von Magie waren, die den Körper dieses Mannes aufgeladen haben, bis er einen Pfeil anzog wie ein magnetischer Stein oder ein Licht in der Nacht einen verirrten Wanderer. Versucht doch einmal, die Dreimagier zu konsultieren. Sie können euch mehr sagen als ich und Heleles Schwestern gemeinsam. Ich kann ja nächste Woche noch mal vorbeischauen, ob die Einreibungen anschlagen.«

Die Dreimagier. Eljazokad, der immerhin bis vor kurzem ein Magier gewesen war und es in Bälde wieder zu sein hoffte, wenn erst seine magische Energie sich regeneriert hatte, wurde auserkoren, einen Kontakt zu den rätselhaften drei Gebrüdern Dulf herzustellen, die in der Nähe des Hafens in einer einsam stehenden Hütte hausten. Naenn, die dort schon einmal eine beunruhigende Ausstrahlung gespürt hatte, wollte nicht gehen, denn sie befürchtete einen Schaden für ihr ungeborenes Kind.

Also schlenderte Eljazokad in der Abenddämmerung los. Er durchmaß Warchaim in südlicher Richtung, vorüber an Rigurds Stall, am Ausrüstungshaus von Bep Immergrün und der gegenüberliegenden Kaschemme Würfelbecher, am Gasthaus Der eherne Habicht und der Ruine des Alten Tempels. Hinter dem Ruinenfeld bog er nach rechts ab, dann wieder nach links und geriet so auf eine zweite nach Süden führende Straße, die nicht nach Chlayst hinauswies aus der Stadt, sondern im östlichen Hafenbereich endete. Hier fand er die kleine, abseits stehende Hütte, die Cajin ihm so eindringlich beschrieben hatte. Mit erhobenen Händen – denn Cajin hatte ihm auch erzählt, daß die Dulfs mißtrauisch gegenüber Fremden waren – näherte er sich dem kleinen Gebäude, dessen Fenster alle mit Läden verschlossen waren. Dennoch schimmerte in Streifen zerlegtes Licht durch die hölzernen Läden.

Eljazokad wollte mit dem Knöchel seines rechten Zeigefingers an der Tür klopfen, doch sein Finger fuhr durch das Holz und zerriß es wie Spinnweben. Die ganze Tür flatterte wie feinster Stoff in sich zusammen und blieb in Teilen an Eljazokad kleben. Als er sich die Fetzen von Haut und Hosenbeinen klaubte, trat ein junger Mann in den Flur hinter der zerstörten Tür.

»Macht nichts … die Tür … ein albernes Spiel … Ihr seid auch … einer wie wir?«

»Ähmmm, ja, ein Magier, wenn Ihr das meint. Obwohl ich zur Zeit des Zauberns nicht mächtig bin.« Eljazokad versuchte, das Gesicht seines Gegenübers zu erkennen, aber der junge Mann stand in einem merkwürdigen Gegenlicht, so daß sein Kopf ganz verschwommen und mehrdeutig aussah.

»Ein Stab … golden Erz und alter Glanz«, sagte das Gegenüber langsam. »Ein Stab aus Steinblut … trank verdurstet Eure Kraft.«

Eljazokad hatte das deutliche Gefühl, daß er nicht hätte hierherkommen dürfen. Er hatte gehofft, durch Ehrlichkeit voranzugelangen, und nun wurden seine Erlebnisse wie eine Schriftrolle geöffnet und gelesen. Da die Handlungen des Mammuts geheimgehalten werden sollten vor Königin, Garde und Stadtrat, war dies alles andere als förderlich.

Andererseits: Je mehr die Dreimagier über das Geschehen in Erfahrung bringen konnten, um so eher konnten sie Rodraeg helfen.

Der junge Mann schien zu schwanken, aber das konnte auch ein Effekt der eigentümlich gleichmäßigen und dennoch sehr hellen Beleuchtung sein.

»Ich komme zu Euch mit einem Anliegen«, begann Eljazokad von vorne. »Oder besser noch: mit einer Frage. Wir haben einen Verwundeten bei uns zu Hause. Ein Pfeil traf ihn ins Herz. Er war tot, doch es gelang … magisch begabten Wesen, ein Licht in seinem Inneren zu erhalten. Dieses Licht wurde geöffnet. Er lebt, aber in einem tiefen Schlaf. Die Frage ist: Kennt Ihr Euch mit so etwas aus, könnt Ihr uns Rat erteilen oder vielleicht sogar Hilfe leisten? Wir wären bereit, Euch für Eure Dienste zu entlohnen.«

»Träumt er?«

»Hm?«

»Träumt er, der im Herzen Wunde?«

»Das weiß ich nicht. Da er schläft, kann er sich nicht äußern.«

»Findet dies heraus. Bis dahin kann ich … können wir Euch leider nicht behilflich sein. Wir haben selbst ein … mein Vater … mein Bruder ist erkrankt. ErgingverlorenindenHeiligtümerneinerlängstvergangenenZeit. Wenn es Euch nichts ausmacht … zu sterben … dann sterbt. Doch was rede ich? Ich vergesse die Gesetze der Gastlichkeit. Ich habe sie vergessen. Was waren die Gesetze der Gastlichkeit und wer hat sie erlassen? Ein Licht, sagtet Ihr? Das ist doch Euer eigenes Feld, weshalb dann zu uns kommen? Ich sehe: Weil das Licht Euch floh. Dabei immerhin könnten meine Brüder Euch beraten. Doch nicht heute, nicht, nicht jetzt. Ein andermal. Ein andermal.«

»Verzeiht meine Aufdringlichkeit«, konnte Eljazokad noch verwirrt hervorstoßen, dann wucherte die Tür zu wie ein Dornengestrüpp und drängte ihn nach draußen, zerkratzt und mit angerissener Kleidung. Er fühlte sich vergiftet, wie vom Speichel der Spinnenbrut auf der Reise nach Tyrngan. Er stützte sich ab an der dunklen Wand der Hütte, die wie Watte war. Dann setzte er sich keuchend hin in schweres Wasser, verlor kurz das Bewußtsein, schlug nach zwei oder drei Sandstrichen die Augen wieder auf und wußte, warum die Warchaimer die Dreimagier mieden und weshalb Magier so oft den Ruf hatten, verschroben, willkürlich und gefährlich zu sein.

Er tastete sich durchs nächtliche Warchaim zurück zum Haus des Mammuts, und das Gelächter von Betrunkenen gellte in seinen Ohren wie der Hammer eines Schmiedes.

In dieser Nacht, als sie bei Landwein und Fladenbrot Ratschlag hielten über ihre Lage und wie Rodraeg am besten zu helfen war, fiel zum ersten Mal wieder der Name, den sie bislang vermieden hatten.

Hellas Borgondi.

Mammutdeserteur.

Verräter.

Bestar und Eljazokad hatten keine Ahnung, was eigentlich genau vorgefallen war, aus welchem Grund Hellas, der ihnen allen ein treuer und wertvoller Kampfgefährte gewesen war in Terrek, in Wandry und auch auf der gesamten Zeptermission, Rodraeg mit einem tödlichen Pfeil niedergestreckt hatte. Keiner von ihnen war dabeigewesen. Bestar hatte nur Rodraeg am Boden liegen sehen mit dem Pfeil in der Brust. Eljazokad war erst dazugekommen, nachdem Hellas auch Bestar mit Pfeilen zu Fall gebracht hatte.

»Er hätte dich ebenfalls erschießen können«, verteidigte Eljazokad den Bogenschützen gegenüber dem immer noch aufgebrachten Klippenwälder. »Aber er hat es nicht getan. Irgend etwas muß vorgefallen sein zwischen ihm und Rodraeg. Etwas Schreckliches.«

»Unsinn!« schrie Bestar, der dem Wein schon kräftig zugesprochen hatte. »Als ob Rodraeg jemanden so reizen könnte, daß man ihn dafür erschießen muß! Wir reden hier über Rodraeg, Mann. Rodraeg!«

»Vielleicht war es die Kopfwunde«, versuchte Cajin zu vermitteln. »Ihr habt erzählt, daß Hellas vom Hieb eines Schemenreiters schwer am Kopf getroffen wurde. So etwas kann einen Menschen verändern.«

»Er war schon immer ein Arschloch«, grollte Bestar. »Die weißen Haare – unheimlich wie der leibhaftige Tod. Und nichts konnte ihn jemals rühren. Die Wale haben ihn kaltgelassen. Migals Weggehen. Naenns Schwangerschaft. Ins Theater ist er auch nicht mitgekommen. Immer für sich. Immer kalt.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Eljazokad erneut. »Wir haben ihn toben gesehen. In der Höhle des Alten Königs, nachdem er mit seinen Erinnerungen konfrontiert worden war.«

»Schmerzen und Leid«, sagte Naenn. Sie trank mit Minze versetztes Wasser, wegen ihres Kindes. »Manche Menschen … können ihr Leid nur mitteilen, indem sie es anderen zufügen. Vielleicht hätte Rodraeg sich gerne erschießen lassen, wenn er damit nur Hellas hätte helfen können.«

Später, in ihrem Bett neben seinem liegend, dachte Naenn wieder nach über Rodraeg. Sie wußte jetzt, daß er sie liebte. Sie wußte das besser, als es ihm selbst klar war, denn er hatte das Licht in seinem Inneren ja nie sehen können. Dieses Licht hatte Naenn gezeigt. Nicht seine Mutter oder seinen Vater, nicht Bestar oder Eljazokad, die Seite an Seite mit ihm gefochten hatten, nicht Hellas, der ihn ermordete, nicht eine andere Frau, die ihm einst viel bedeutete, Kiara aus Aldava zum Beispiel, die Naenn auch kurz kennengelernt hatte. Nein, das Licht hatte Naenn gezeigt.

Zwar sagte dies einiges darüber aus, wie einsam Rodraeg sein ganzes Leben lang gewesen war. Ein eigenbrötlerischer, nachdenklicher Mann, der auch in Kuellen keine engen Freunde fand, obwohl er über fünf Jahre dort gearbeitet hatte. Der der ersten Chance nachfolgte, die ihm geboten wurde, noch einmal von vorne mit etwas Großem zu beginnen. Naenn war diese Chance.

Aber da war noch mehr als die verzweifelte Hingabe von einem, der zu lange Junggeselle geblieben war. Da war ein magischer Kontakt entstanden, gleich bei ihrer allerersten Begegnung. Auf der Suche nach ihm war sie in seinen Traum geraten und hatte ein Mammut sehen können, das es schon längst nicht mehr gab. Für einen kurzen Augenblick hatten sie beide einen Traum geteilt: von etwas Ausgestorbenem, das dennoch überdauert hatte, gejagt von Feinden und zu jung und schwach noch, um ohne Hilfe überleben zu können.

Vielleicht war Liebe immer dies: ein unbegreiflicher magischer Kontakt zwischen zwei Wesen, die sich eigentlich fremd sein müßten. Vielleicht erlebten alle glücklich Verliebten dieselbe seltsame Geschichte.

Vielleicht aber waren das Mammut, das Licht, ja selbst Naenns Hinfinden in Rodraegs Kuellener Abgeschiedenheit nur Zeugnisse eines größeren, übergeordneten Planes der Götter, in dem alle Menschen und Schmetterlingsmenschen nur vergängliche Wolken waren an einem bewegten frühherbstlichen Himmel.

2

Drohungen

Mitten in der Nacht raschelte es an der Tür. Cajin, der als einziger im Erdgeschoß schlief, bemerkte es, schlich sich hin und öffnete vorsichtig. Er erwartete halb, einen Wolf vorzufinden, und halb einen Fremden, der sich in Nebel hüllte, aber es war niemand zu sehen. Jedoch lag ein Brief auf der Türschwelle. Cajin nahm ihn auf und öffnete ihn mit einem Küchenmesser.

In einer merkwürdigen, sperrigen Handschrift stand dort zu lesen:

Das Mammut wird fallen noch vorm Nebelmond,

und keiner, der’s hegte, wird von mir verschont.

DMDNGW

Die Episode mit den beiden Steinewerfern fiel Cajin wieder ein, aber die Anfangsbuchstaben der beiden jugendlichen Unruhestifter waren CB und VE, und keiner dieser Buchstaben tauchte in dieser Unterschrift auf.

Mit gerunzelter Stirn legte er sich wieder hin. Die anderen brauchten allen Schlaf, den sie bekommen konnten, deshalb beschloß er, ihnen erst am Morgen von dem Brief zu erzählen.

Er vermißte Rodraegs Gehuste, das auch in der Nacht immer für Zeichen des Lebens gesorgt hatte.

Beim Frühstück legte er Naenn, Eljazokad und Bestar das nächtliche Schreiben vor sowie auch bei dieser Gelegenheit noch Rodraegs Brief, den Naenn und er vor einer Woche durch einen fahrenden Besenbinder überbracht bekommen hatten:

Meine jungen Mammuts!

Wir haben heute auf unserer Reise nach Osten Warchaim südlich der Stadt passiert. Bislang ist alles glattgegangen, ja mehr noch: Ich bin von meiner Krankheit vollständig genesen!

In spätestens zwei Wochen werden wir bei Euch eintreffen, dann können wir Euch alle Einzelheiten erzählen.

Paßt bis dahin gut auf Euch drei auf

R.T.D.

Um hierher zurückzukehren, hatten die Reisenden zwar deutlich weniger Zeit gebraucht als vorgesehen, aber der in diesem Schreiben noch so zuversichtliche Rodraeg war nun kränker als vorher. Keiner, auch nicht Bestar, konnte sich einem gewissen Zurücksehnen nach dieser Zeit vor knapp einer Woche erwehren. Wie fern dies nun schien.

Der neue Brief jedoch war allen schleierhaft. Die Handschrift sagte niemandem etwas. Auch nicht das Pergament oder der Umschlag. Die Unterschrift schon gar nicht.

»DMDNGW. Was könnte das bedeuten?« fragte Eljazokad in die Runde. Dem Mammut darf nichts Gutes widerfahren?«

»Oder Das Mammut darf nicht größer werden«, variierte Cajin.

»Oder Dem Mammut dürstetnach gefährlichem Wissen«, ergänzte Naenn düster.

»Nein«, widersprach Bestar. »Das wäre doch keine richtige Unterschrift. Ich meine, wenn ich schreiben könnte, würde ich doch nicht mit dem Namen meines Gegners unterschreiben. Mammut. Wer immer das geschrieben hat, will uns doch ans Leder.«

»Da hast du nicht unrecht«, pflichtete Eljazokad ihm bei. »Es könnte etwas ganz anderes bedeuten. DM: Dämmerung, zum Beispiel. Wir haben jetzt mit dieser geheimen Organisation zu tun bekommen und zwei ihrer Handlanger getötet. DM steht für Dämmerung. DN für Dunkelheit. GW für Gewalt.«

»Ja, die hätten immerhin ein Motiv.« Naenn nickte bedächtig. Im Laufe der letzten beiden Tage hatten Eljazokad und Bestar immer wieder von ihren Erlebnissen während der Zeptermission berichten müssen, so daß auch Naenn und Cajin nun über die Ritterin, die Fleischfliegen, die Könige der Riesen, die umhertorkelnden Toten, den Abschied der Schemenreiter und die beiden kindlichen Diebe der Dämmerung unterrichtet waren. »Ich denke, daß es mittlerweile schon eine ganze Menge Leute gibt, die ein Motiv hätten, das Mammut zu hassen. Die letzten überlebenden Kruhnskrieger zum Beispiel. Männer aus Wandry, die dem Stadtkapitän treu ergeben waren. Diese Bittsteller, die euch vor der Höhle des Alten Königs angegriffen haben. Der Händler, dessen Wagen ihr entwendet habt. Selbst die Königin höchstpersönlich, weil wir ihr Schwarzwachsschürfen in Terrek unterbunden haben.«

»Ich glaube aber«, sagte Bestar, »daß die Königin mit Königin unterschreiben würde und nicht mit so einem albernen Buchstabenmischmasch. Die Dämmerung genauso. Da würde Dämmerung drunterstehen, nicht DMGDwasweißich.«

»Das bringt so nichts«, versuchte Cajin alle lose hängenden Schnüre zusammenzuzurren. »Ich werde heute mal ein paar Stunden in der Bibliothek verbringen. Vielleicht ist dort etwas über diese Buchstabenkombination zu erfahren. Wir müssen nämlich erst einmal herausfinden, ob es sich bei diesem Brief um eine ernstzunehmende Bedrohung handelt oder lediglich um einen weiteren Dummenjungenstreich.«

»Ich würde dich gerne begleiten«, sagte Eljazokad.

»Naenn und ich passen auf Rodraeg auf«, griente Bestar. »Daß die knusprige Heleleschwester nicht irgendwas mit ihm anstellt, wo er sich doch überhaupt nicht wehren kann.«

Naenn und Bestar waren keine Stunde mit Rodraeg allein zu Hause, als es zaghaft an der Tür klopfte. Naenn kam herab und öffnete. Vor der Tür stand Mirilo von Heyden, der Patriarch der Stoffhändlerfamilie von Heyden, die sowohl ihr Geschäft als auch ihr Zuhause direkt gegenüber vom Haus des Mammuts hatten. Mirilo von Heyden war ein ausgemergelter, weißbärtiger Mann mit tiefen Furchen der Strenge im Gesicht, aber wie er jetzt vor Naenn stand und herumdruckste, wirkte er eher wie ein Bittsteller als wie ein befehlsgewohntes Sippenoberhaupt.

»Verzeiht bitte die Störung«, sagte er zaghaft. »Mich über das Haus des Mammuts kundig machend, sagte man mir, daß Ihr Naturereignisse erforscht und ausgestorbene Tierarten. Ich habe mich aber in den vergangenen Monden des Eindrucks nicht erwehren können, daß … nun ja, daß auch Krieger zu Eurem Hausstand gehören.«

»Das kann schon sein«, bestätigte Naenn abwartend.

»Der mit dem Vollbart und der Rüstung – ist der zu sprechen? Und der Weißhaarige mit dem Langbogen?«

»Der Bogenschütze ist zur Zeit nicht in Warchaim. Worum geht es denn?«

»Nun, geradeheraus: Ich werde bedroht, und ich habe mir gedacht, da Ihr genau gegenüber wohnt, könntet Ihr eine im wahrsten Sinne des Wortes naheliegendere Unterstützung darstellen als, sagen wir, die Stadtgarde. Selbstverständlich bin ich bereit und in der Lage, Euch für diese Unterstützung zu entlohnen.«

Naenn betrachtete ihn forschend. DMDNGW ging ihr durch den Kopf. Bedrohte DMDNGWetwa alle Häuser, die entlang dieser Straße lagen?

Finanziell stand das Mammut im Augenblick recht gut da. 200 Taler befanden sich selbst nach einer ersten großzügigen Spende an Helele in der Haushaltskasse, 100 Taler Strafe standen noch aus von den beiden Steinewerfern, und Eljazokad und Bestar hatten drei Bernsteine von den Riesen mitgebracht, die zusammengerechnet etwa 300 Taler wert waren. Das ergab ein Plus von 600 Talern, auch ohne weitere Unterstützung durch den Kreis. Das Mammut war also nicht darauf angewiesen, für von Heyden zu arbeiten. Aber dennoch wollte Naenn die Sache nicht so einfach abwiegeln.

»Könntet Ihr heute abend in der sechsten Stunde zu uns zum Essen kommen?« schlug sie vor. »Bis dahin sind auch unsere übrigen Mitbewohner wieder da, und wir können die Sachlage in aller Ruhe erörtern. Vorausgesetzt, Euer Problem hat bis heute abend Zeit?«

»Es hat Zeit, ja. Ich wollte nur … eine Gelegenheit abpassen, wo möglichst viele von Euch zu Hause sind. Es herrscht ja immer ein reges Kommen und Gehen im Haus des Mammuts.«

Naenn hatte noch nie so richtig darüber nachgedacht, wie das Mammut wohl auf die Nachbarn wirkte. Meistens war die Einsatzgruppe ja gar nicht in der Stadt, und es war nur Cajin, der regelmäßig kam und ging. Aber irgend jemand lugte wohl immer hinter einem Fenstervorhang der Gutbürgerlichkeit nach draußen, und auffällige, kriegerische Gestalten wie Bestar, Migal oder auch der verstohlene Hellas machten doch mehr Eindruck auf unbescholtene und besitzanhäufende Bürger, als sie bislang angenommen hatten.

Sicherlich steckte aber auch noch etwas anderes dahinter. Von Heyden fühlte sich bedroht, und da in unmittelbarer Nachbarschaft merkwürdige bewaffnete Fremde ein und aus gingen, war das Haus des Mammuts ein Teil dieser Bedrohung. Lange mußte er darüber nachgedacht haben, diesen Vorstoß zu wagen. Ob es ein Zufall war, daß er ihn ausgerechnet an dem Tag wagte, an dem auch das Mammut einen Drohbrief erhalten hatte, galt es beim bevorstehenden Abendmahl herauszufinden.

Die beiden Bibliothekenforscher kamen in der vierten Stunde bereits zurück. Cajins Wangen glühten vor Eifer. »Wir haben eine ganze Menge herausgefunden. Kommt ins große Zimmer, wir machen Konferenz.«

Folgsam kamen Bestar und Naenn an. Zu viert setzten sie sich wieder um den großen Tisch.

»Also«, begann Cajin, »wir haben verschiedene historische Abhandlungen durchgeblättert, mehrere Schriften über Warchaim und selbstverständlich auch die Encyclica. Die ganze Zeit über hatte ich aber etwas im Hinterkopf, etwas aus dem jazatischen Raum oder aus Siberig, und tatsächlich: Vor etwa zweihundert Jahren gab es eine Frau, die aus Jazat stammte – vor dem Bürgerkrieg gab es ja noch kein Nord- und Südjazat – und die in den Sonnenfeldern als Wasserfinderin arbeitete. Sie spürte Quellen auf, verborgene Brunnen, aber auch unterirdische Wasseradern, die einigen Leuten zufolge den nächtlichen Schlaf unheilvoll beeinflussen können. Der wirkliche Name dieser Frau ist nicht überliefert, aber sie nannte sich oder wurde genannt: Die Mittlerin des niemals gefundenen Wassers oder auch Die Mutter des noch geheimen Weges oder auch Die Melodie des nicht getrunkenen Wissens. Wahnsinn, oder? Alle drei Namen bestehen aus den Anfangsbuchstaben DMDNGW!«

»Nicht schlecht«, sagte Naenn anerkennend.

»Die Frage ist nur«, fuhr jetzt Eljazokad fort, »was hat das Mammut mit einer seit wahrscheinlich einhundertundfünfzig Jahren verstorbenen Wasserfinderin aus dem Süden zu schaffen?«

»Rodraeg stammt aus dem Süden, Cajin auch«, antwortete das Schmetterlingsmädchen. »Außerdem erinnert diese Wasserfinderin ein wenig an die Gezeitenfrau, die ihr in Wandry kennengelernt habt.«

»Ja, es scheint, als ob Frauen schon immer einen besonderen Zugang zur Magie des Elements Wasser besaßen«, nickte Eljazokad. »Dennoch war auch die Gezeitenfrau nicht zweihundert Jahre alt, obwohl sie so aussah. Sie war siebzig und nicht unsterblich. Die Mutter des noch geheimen Weges wird mit Sicherheit nicht mehr am Leben sein. Aber das bedeutet ja nicht, daß es nicht trotzdem Leute gibt, die ihren Namen auch heute noch in Ehren halten – zumal sie gleich drei Namen hatte, also ganz besonders verehrt wurde. Das ist aber nur eine Theorie von mir, und in der Bibliothek kamen wir damit nicht weiter. Ich würde gerne die Dreimagier dazu befragen, zumal sie mir ja ihre Hilfe angeboten haben, was meine zur Neige gegangene Magie betrifft.«

»Du willst wirklich nochmal dorthin gehen, nachdem du gestern abend schon beinahe aus den Latschen gekippt bist?« fragte Bestar wenig begeistert.

»Nun, sie sind sicherlich verstandessprengend, wenn nicht sogar rundheraus lebensgefährlich«, gab der Lichtmagier zu. »Aber sie scheinen mir eine gute Quelle für viele unterschiedliche Fragestellungen zu sein: meine Magie, das Erbe der Wasserfinderin, Warchaims magische Geschichte, vielleicht auch die Dämmerung, die Zehn, die Mammutjäger, was weiß ich was noch alles?«

»Geh morgen, geh in der vollen Mittagssonne«, schlug Naenn vor. »Dann sind die Schatten nicht so umfassend, die Worte nicht so trügerisch und die Türschwellen keine Fallstricke. Für heute abend haben wir eine anderweitige Verabredung.«

Hebezie kam und ging. Rodraeg rührte sich nicht. Eljazokad konnte von der Heleleschwester nicht erfahren, ob Rodraeg träumte. Es ging nicht vor und nicht zurück.

»Die Frage«, brachte Naenn es auf den Punkt, »ist nicht, ob Rodraeg überleben wird. Die Frage ist, ob er jemals wieder in der Lage sein wird, das Mammut anzuführen, und wenn ja, wann. Als ich ihn aus Kuellen herausholte, war er ein gesunder Mann von sechsunddreißig Jahren. In den seitdem vergangenen sieben Monden mußte er eine Gefangenschaft mit Zwangsarbeit, eine Schwarzwachsvergiftung, mehrere Kämpfe auf Leben und Tod und einen Herzschuß ertragen. Sag mir, daß ich nicht schuld bin an seinem Los, und ich werde dir nicht glauben können.«

Eljazokad lächelte. »Du hast die Strapazen in der Höhle des Alten Königs vergessen. Aber all dies ist gelöscht worden, Naenn. Die Höhle gab ihm einen neuen Körper, und der war gesunder, selbstbewußter und stärker noch als der von Kuellen. Auch das ist deiner Verantwortung zuzuschreiben. Was ihn dann erneut niedergestreckt hat, warst nicht du, das war Hellas. Was ihn am Leben hält, bist du.«

So ließ er sie wieder mit Rodraeg allein, und sie hielt Rodraegs Hand und summte ihm ein Kinderlied vor aus dem Schmetterlingshain.

Das Mammut bereitete ein Gastmahl: von Cajin hergestellter Nudelteig wurde von Eljazokad ausgerollt, ausgestochen und kunstvoll gefaltet, Naenn reichte gehackte grüne Kräuter in Öl dazu, und Bestar holte Hartkäse und ein Fäßchen Met vom Markt. Als die Glocke des Bachmutempels die sechste Andachtsstunde und den Beginn des Abends einläutete, klopfte Mirilo von Heyden erneut an der Haustür des Mammuts. Er war nicht übermäßig festlich, aber dennoch recht förmlich gekleidet und begrüßte jeden der Bewohner mit Handschlag. Als kleinen Beitrag zum Abendessen hatte er einen in der Stadt gekauften Südfruchtkuchen mitgebracht. Falls das Haus des Mammuts für ihn die Höhle des Löwen war, ließ er sich immerhin nichts anmerken und schlug sich tapfer.

Nach dem Essen, als Bestars Gesicht vom Met schon leicht gerötet war und sein Bart vor lauter Kuchenkrümel ganz gelb, erzählte der Stoffhändler seine Geschichte.

»Mit allen Details will ich Euch nicht langweilen.« Hauptsächlich sah er beim Reden weiterhin Naenn an, aber auch Eljazokad schien auf ihn einen sachlichen, kompetenten Eindruck zu machen. Cajin war zu jung und Bestar viel zu urtümlich. »Ich habe im Feuermond ein gutes Geschäft gemacht. Ein sehr gutes Geschäft. Mein Mitgestalter bei dieser Unternehmung war ein anderer Stoffhändler aus Endailon. Um es kurz zu machen: Wir haben unsere finanziellen Möglichkeiten zusammengelegt, um einen großen Posten vornehmer Stoffe zu erstehen, die für Chlayst gedacht waren, dort aber nicht benötigt werden, weil die südliche Ostküste sich im Aufruhr befindet. Das gesamte Kontingent der Stoffe konnten wir anschließend zu einem deutlich höheren Preis in Brissen verkaufen, wo aufgrund des Aufruhrs weiter südlich eine gewisse Lieferknappheit herrscht. Mein Geschäftsfreund und ich gelangten dadurch beide in Besitz einer selbst für unsere Verhältnisse ungewöhnlich hohen Summe Geldes. Und … vor einer Woche wurde mein Geschäftsfreund in Endailon ermordet, und sein Gewinn wurde gestohlen. Das ist aber noch nicht alles. So traurig und entsetzlich dergleichen ist – in meinem Gewerbe muß man ja immer mit so etwas rechnen. Aber vor drei Tagen – vor drei Nächten, um genau zu sein – tauchte in meinem Geschäft ein Fremder auf, ein klippenwälder Krieger, der sich Cruath Airoc Arevaun nannte. Und dieser Mann drohte mir ziemlich unverhohlen dasselbe Schicksal an, das meinen Geschäftsfreund in Endailon ereilte.«

»Wie genau hat er das in Worte gefaßt?« fragte Eljazokad.

»Er sagte, er würde jetzt hier in Warchaim absteigen, und sobald seine beiden Kumpane hier einträfen, würden sie mir einen zweiten und endgültigen Besuch abstatten.«

»Mehr hat er nicht gesagt?« fragte Bestar.

»Das ist doch wohl deutlich genug«, blieb der Stoffhändler unbeirrt.

»Na, ich weiß nicht«, widersprach ihm Bestar. »Wenn das wirklich ein Klippenwälder war und er würde Euch töten und berauben wollen, würde er sagen: ›Ich werde Euch töten und berauben!‹, und nichts anderes. Vielleicht würde er den genauen Tag noch angeben. Nichts davon hat er getan.«

»Ich möchte ja auch nicht, daß Ihr ihn nur aufgrund meines Verdachtes hinter Gitter bringt oder etwas in der Art«, erläuterte von Heyden. »Ich habe herausfinden lassen, daß er hier um die Ecke in der Kaschemme Leer das! abgestiegen ist. Ein lauter, ungehobelter und unangenehmer Ort zum Nächtigen, wenn Ihr mich fragt, aber eben nicht weit von meinem Geschäft und Lager entfernt. Ich würde es begrüßen, wenn Ihr mit ihm reden und mehr über die Sache in Erfahrung bringen könntet. Von mir aus von Klippenwälder zu Klippenwälder. Ich möchte wissen, woran ich bin. Und ich möchte es wissen, bevor es zu spät ist.«

»Warum schaltet Ihr nicht einfach die Garde ein?« fragte Naenn.

»Das kann ich nicht. Ich … weiß nicht, wieviel dieser Barbar über das Chlayster Geschäft weiß und wie sehr er mich damit belasten könnte. Derartige Geschäfte sind nicht ungesetzlich, aber die Krone erwartet im allgemeinen, steuerlich beteiligt zu werden, wenn Ihr versteht, was ich meine. Ich habe meine Einnahmen für mich behalten und gedenke, das auch so zu lassen.«

»Aber Ihr habt Euer Geld schon in Sicherheit gebracht?« fragte Eljazokad.

»Nein. Eben aus dem Grund noch nicht, daß mein Haus möglicherweise von dem Barbaren beobachtet wird. Es kann gut sein, daß ein Transport des Geldes genau jene Zugriffsmöglichkeit darstellt, auf die der Klippenwälder und seine Kumpane warten.«

»Daß er Euch also absichtlich von seinem Vorhaben erzählt hat, um Euch zu einer Unvorsichtigkeit zu veranlassen. Scheint denkbar.« Eljazokad dachte nach und goß sich weiteren Met ein. »Ich sehe kein Problem darin, daß wir mit diesem Arevaun sprechen. Oder?« Er sah Naenn fragend an. Sie zuckte die Schultern. »Zumal wir im Moment keinen anderen Arbeitsauftrag haben. Es wäre aber von Vorteil, wenn wir von Euch den Namen Eures ermordeten Geschäftsfreundes erfahren würden. Nur so können wir in Erfahrung bringen, ob Arevaun etwas darüber weiß oder sogar daran beteiligt war.«

»Ich verstehe. Er hieß Hegiel Schimmens. Er wurde … erstochen. Hinterrücks.«

»Und gibt es jemanden, den Ihr kennt und dem Ihr zutrauen würdet, bei der ganzen Sache die Fäden zu ziehen?«

»Das kann ich unmöglich beantworten. Erstens gibt es unter Händlern immer eine gewisse Konkurrenz, die natürlich auch mal über die Stränge schlagen kann, zweitens weiß ich aber nichts darüber, ob Hegiel Schimmens Feinde hatte oder wem er von dem Geschäft erzählt hat. Ich bin mir ziemlich sicher, daß die ganze Angelegenheit seinetwegen so in Schieflage geriet.«

»Ihr seid sicher, daß er tot ist und das nicht nur vortäuscht?« fragte Cajin argwöhnisch.

»Nun, ich habe seinen Leichnam nicht gesehen, wenn Ihr das meint. Aber ich habe mir einen offiziellen Bericht der Endailoner Garde verschafft. An der Identität des Toten kann kein Zweifel bestehen.«

»Gut«, sagte Eljazokad. »Wir werden uns der Sache annehmen, aber erst mal nur soweit, daß wir morgen mit Cruath Airoc Arevaun in Kontakt treten. Falls wir nichts herausfinden können, seid Ihr uns auch nichts schuldig.«

Nachdem der Händler gegangen war, nahm Naenn Eljazokad beiseite. »Versteh meine Frage bitte nicht falsch, aber hat Rodraeg dich zu seinem Stellvertreter ernannt?«

»Das hat er tatsächlich, in Wandry schon. Aber ich reiße mich nicht darum. Wenn du alle Entscheidungen selber treffen willst, nur zu.«

»Nein, es ist gut, wie es ist. Ich behalte mir lediglich vor, Entscheidungen mitzutreffen, die den Kreis und seine Aufträge angehen, aber mit so etwas wie dieser von-Heyden-Sache kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich bin dir dankbar, wenn du das übernimmst.«

»Ich habe nicht vor, aufs Ganze zu gehen, Naenn. Wir leisten etwas nachbarschaftliche Hilfe, um uns auch selbst gut zu stellen mit den Leuten hier. Sobald es aber gefährlich wird, sollten wir schnell zu einem weit entfernten Auftrag aufbrechen – oder zumindest so tun.«

»Ich verstehe. Halte mich und Cajin bitte auf dem laufenden.«

»Selbstverständlich.«

In der Nacht saß Eljazokad noch lange wach. Er mühte sich, einen schriftlichen Bericht von der Zeptermission anzufertigen, und da er Rodraegs Arbeitszimmer nicht entweihen wollte, tat er dies am offenen, von einer Öllampe beschienenen Fenster seiner Schlafkammer. Bislang hatte immer Rodraeg diese Aufgabe erledigt und die Berichte dann dem Kreis zugeschickt, aber Rodraeg war schließlich auch jahrelang Rathausschreiber gewesen. Eljazokad hatte keinerlei Erfahrung mit dergleichen. Am meisten schlug er sich mit den Gleichzeitigkeiten herum: Bestar war von den anderen getrennt worden und hatte gleichzeitig andere Abenteuer erlebt als sie. Das alles sinnvoll zusammenzufassen würde länger dauern als nur eine Nacht.

Kurz nachdem Eljazokad mit schmerzenden Augen und pochendem Kopf das Licht gelöscht und sich aufs Bett fallengelassen hatte, pirschte im Erdgeschoß Cajin zur Haustür und kauerte sich mit seiner Decke neben den Türrahmen. Falls es noch einmal raschelte, falls noch eine Drohbotschaft das Mammut erreichen sollte, wollte er diesmal schneller sein und den geheimnisvollen Zusteller auf frischer Tat ertappen.

Aber nichts geschah. Am Morgen wachte Cajin wie immer als erster auf, überzeugte sich, daß nichts vor der Tür lag, und bereitete das Frühstück für die anderen vor.

3

Zwischen den Gräbern

Man schrieb jetzt den 19. Rauchmond.

Eljazokad hatte eigentlich mitgehen wollen zum Leer das!, aber er saß immer noch über dem Bericht. Also schärfte er Bestar die Verhaltensregeln ein.

»Keine Rauferei. Kein Wettsaufen. Kein Kampf auf Leben und Tod. Einfach nur reden.«

»Ist klar.«

»Und merke dir den Namen des Ermordeten. Damit kannst du den Klippenwälder vielleicht aus der Reserve locken.«

»Welcher Ermordete?«

»Hegiel Schimmens aus Endailon. Von Heydens Geschäftsfreund.«

»Ach, der. Schon klar.«

»Vielleicht will Arevaun dich anheuern für die Sache, dann laß dich zum Schein drauf ein. Das hätten wir in Wandry auch schon so machen sollen.«

»Ja, klar. Sonst noch was?«

»Erwähne das Mammut nicht.«

»Das Mammut klebt draußen an unserer Tür, und jeder kann es sehen.«

»Auch wieder wahr. Komm zügig zurück und erstatte Bericht.«

»Ja, ja, ja. Warum schickst du nicht Cajin mit, damit der mich an einer kurzen Halsleine führen kann?«

»Keine schlechte Idee. Vielleicht wirklich keine schlechte Idee …«

»Ich bin längst weg. Bis später!«

Bestar ging in vollem Ornat. Segmentrüstung, Wallehaare, gekämmter Bart, das unverkleidete, düster glänzende Erzschwert in einem improvisierten Gehenk, denn es gab keine passende Scheide für eine dermaßen ausgefranste und unregelmäßig gewachsene Klinge. Er wollte Eindruck machen auf sein Gegenüber. In den Klippenwäldern war dies die einfachste Form des Ärgervermeidens.

Das Leer das! war um diese Tageszeit nur ein fahles, verkatertes Gespenst seiner nächtlichen Ausschweifungen. Das Sonnenlicht ließ jeden Fleck, jeden Kratzer, jede Pfütze, jedes verschmierte Fenster und jede Staubschicht überdeutlich hervortreten und machte aus dieser Kaschemme so ziemlich den häßlichsten Ort auf dem Kontinent. Abgesehen von Taggaran, Bestars Heimatdorf.

»Ich suche jemanden«, erklärte Bestar dem speckigen Wirt, der momentan Aufsicht hatte über zwei dösende Dauergäste. »Ein Klippenwälder mit einem komplizierten Namen.«

»Cruath? Der ist oben, Zimmer zwei. Ich will aber keinen Ärger haben.« Zaghaft deutete der Speckige auf Bestars Schwert.

»Du wirst keinen Ärger haben«, grinste Bestar und ging die knarzende Stiege nach oben. Zimmer zwei. Es gab nur zwei. Bestar klopfte.

»Nur herein«, sagte eine Stimme von drinnen. Bestar schob langsam die Tür ganz auf. »Und wen haben wir hier?« fragte Cruath Airoc Arevaun. Er lag bei offenem Fenster angezogen auf seinem Bett und las ein Buch. Bestar konnte den Titel nicht erkennen, weil er des Lesens nicht mächtig war. Er konnte aber sofort spüren, daß er es hier mit dem besten und gefährlichsten Kämpfer zu tun hatte, dem er je in seinem Leben begegnet war. Kein Kruhnskrieger, kein Schemenreiter, kein blauhaariger Hüne, kein Riese, sondern ein einfacher Mann aus der Heimat.

Arevaun war etwa zehn Jahre älter als Bestar, also um die dreißig, einen halben Kopf kleiner, aber noch kräftiger und kantiger gebaut. Auch er trug einen Vollbart, in den nach Art der Klippenwälder kleine Zöpfe geflochten waren. Bestar zählte etwa ein Dutzend. Jeder stand für einen besiegten Gegner. Für einen Augenblick ärgerte sich Bestar darüber, daß er sich die Zöpfchen aus seinen Haaren bei den Riesen ausgekämmt hatte, denn nun mußte ihn Arevaun für jemanden halten, der noch nie einen Gegner bezwungen hatte, aber der Ärger verging rasch. Um wieviel wuchtiger war die hochaufragende Ehrenhaftigkeit der Riesen, verglichen mit den kleinen Zöpfchen der Klippenwälder.

»Ich bin Bestar Meckin aus Taggaran«, stellte Bestar sich vor und blieb in der Tür stehen. Das Schwert des Liegenden – es sah ganz gewöhnlich aus, war nicht überlang wie das von Rodraeg oder besonders wuchtig – lehnte neben dem Bett an der Wand. In Griffnähe der rechten Hand. Eine einzige falsche Bewegung Arevauns konnte für einen Unvorsichtigen oder Unerfahrenen ein rasches Ende bedeuten.

»Taggaran«, wiederholte Arevaun und legte sich lächelnd das Buch in den Schoß. »Ist das nicht diese kleine Pestgrube in der Nähe von Kimk? Dort wurde Silber gefunden, vor zwei Generationen?«

»Stimmt genau. Ist jetzt alle, das Silber. Woher kommst du?«

»Bicklors Tann.«

»Ah. So ein Schweinekoben in der Nähe von Hoeken.«

»Stimmt genau.«

»Hör zu. Ich will nicht lange um den heißen Brei herumquatschen.« Bestar machte einen Schritt in den Raum und schloß die Tür hinter sich, so daß sie beide ungestörter waren. »Ich und meine Freunde, wir wohnen gegenüber von dem Stoffhändler. Du weißt genau, wovon ich spreche. Wir wollen keinen Ärger, auch nicht in unserer Nähe. Keine herumschnüffelnden Gardisten. Keine aufgebrachten Bürgerchen, die uns verdächtigen oder uns um Hilfe anwinseln. Tu, was immer du mit deinen Kumpels abziehen willst, aber tu es nicht hier in Warchaim. Der Kontinent ist groß genug.«

Cruath Airoc Arevaun lachte. Seine Heiterkeit war beinahe ansteckend. »Leider ist das nicht ganz so einfach. Ich habe das nicht zu entscheiden. Mein bester Freund, der das alles leitet, ist noch nicht hier. Sobald er eintrifft, kann ich ihm gerne die aufregende Neuigkeit unterbreiten, daß der Kontinent groß genug ist. Ich fürchte nur, das wird ihn überhaupt nicht interessieren.«

»Vielleicht habe ich mich auch nicht klar genug ausgedrückt. Blast den Scheiß ab, und ihr bekommt keinen Ärger mit uns. Zieht es durch, und ihr legt euch mit uns an. Ich garantiere dir: Was immer ihr euch von eurem Beutezug versprecht – wenn wir dazukommen, wird es für euch ein Verlustgeschäft.«

»Oh. Das klingt, als wärt ihr ganz ausgesucht harte Burschen.«

»Du hast ja nicht die leiseste Ahnung.«

»Ich sehe schon. Beeindruckendes Schwert, das du da spazierenträgst. Sieht aber ein bißchen spröde aus, oder?«

»Niemandem wird es gelingen, es zu zerbrechen«, zitierte Bestar den Riesen Attanturik wortwörtlich.

»So, so. Na ja. Nur so aus Interesse: Hast du eigentlich eine Ahnung, was dein sauberer von Heyden, für den du dich so stark machst, auf dem Kerbholz hat?«

»Nein.«

»Die Stoffe, die er und sein Duzfreund aus Endailon so günstig erworben haben, waren eine königliche Hilfslieferung an die Siechen und Erkrankten von Chlayst. Herbstkleidung. Winterkleidung, die demnächst bitter vonnöten sein wird in den giftdurchwehten Gassen, in denen immer noch Menschen hausen. Von Heyden und Schimmens sind Katastrophengewinnler. Abschaum der scheußlichsten Art.«

»Das ist mir egal. Ich habe dir erklärt, daß wir keinen Ärger in unserer Nähe wollen. Dabei bleibt es. Töte von Heyden von mir aus in Endailon, wie den anderen. Laß Warchaim aus dem Spiel.«

Arevaun lächelte. »Schimmens wurde hinterrücks erdolcht. Sehe ich aus wie ein hinterlistiger Meuchelmörder?«

»Du vielleicht nicht, aber einer deiner Kumpane. Ich sagte schon: Es ist mir egal. Hauptsache, du und ich gehen uns aus dem Weg. Du weißt, wie wir Klippenwälder sind.«

»Ich weiß, wie Klippenwälder sind. Aber du bist keiner mehr, habe ich recht? Was ist mit dir passiert, Bestar Meckin aus Taggaran?«

Es lag Bestar auf der Zunge, stolz zu antworten: »Ich wurde im Wildbart ausgebildet. Ich war ein Krieger der Riesen, Bezwinger von Schemenreitern.« Doch das ging natürlich nicht. Er konnte nicht herumlaufen und mit seinen Mammutabenteuern prahlen. Das Mammut war ein Geheimbund.

»Ich? Ich bin erwachsen geworden, Handlanger aus Bicklors Tann.«

Den ganzen Weg die Stiege hinunter bis aus dem Leer das! hinaus feixte und gluckste Bestar über das Gelingen dieser Schlußbemerkung.

Eljazokad nahm die Neuigkeiten über von Heydens krumme Geschäfte mit einem überforderten Reiben seines Gesichtes auf. Er saß immer noch am offenen Fenster über dem Bericht. Auf der Seite, die Bestar einsehen konnte, fand sich ebensoviel Durchgestrichenes wie Schöngeschriebenes.

»Laßt uns den ganzen Mist abblasen«, sagte der Magier wenige Sandstriche später zu Naenn und Cajin. »Diese von-Heyden-Sache ist kein Kreis-Auftrag. Geld brauchen wir im Moment auch nicht dringend. Also was soll das? Wir wollen Ärger vermeiden, halsen uns aber nur Ärger auf. Wenn von Heyden wirklich die Königin hinters Licht geführt hat und wir für ihn arbeiten, dann bekommen wir wegen dieser Angelegenheit eines Tages viel mehr Ärger mit der Garde, als durch alles, was wir jemals als Mammut unternommen haben.«

»Es ist erschreckend, was in so einer Stadt geschieht«, sagte Naenn nur. »Wohin man auch mit einer Fackel leuchtet, es krabbeln Asseln hervor.«

»Das stimmt nicht«, beharrte Cajin. Eljazokad wurde klar, daß solche Diskussionen während der Abwesenheit der Mammut-Einsatzgruppe wohl täglich zwischen Naenn und Cajin geführt wurden. »In Warchaim wohnen überwiegend anständige Leute. In Siberig und Gagezenath ebenfalls. Wir wissen auch nicht mit Sicherheit, ob von Heydens Geschäft wirklich unehrenhaft war. Möglicherweise ist einer, der für die Königin Hilfslieferungen zusammenstellt, korrupt und hat von Heyden das Ganze als Restposten verkauft. Wir sollten nicht vorschnell urteilen.«

Rodraeg würde nicht vorschnell urteilen, stand unausgesprochen im Raum. Alle dachten dasselbe. Rodraeg, wir geraten ins Schwimmen!

»Jedenfalls hat Eljazokad recht: Wir sollten die Angelegenheiten des Herren von Heyden ihm selbst überlassen«, faßte Naenn zusammen. »Mit etwas Glück zieht das alles an uns vorbei wie ein Sommergewitter. Wir konzentrieren uns auf Rodraeg und auf den nächsten Auftrag, der jeden Tag eintreffen kann.«

»Und auf DMDNGW«, beharrte Cajin. »Ich habe diesbezüglich eine Idee, aber ich müßte vorher noch kurz Mirilo von Heyden befragen. Kann ich es übernehmen, ihm mitzuteilen, daß wir mit Arevaun gesprochen haben und versucht haben, ihn von dem Überfall abzubringen, daß wir es aber für besser halten, uns nicht weiter einzumischen?«

»Was für Gründe willst du nennen für unsere Zurückhaltung?« fragte Eljazokad.

Cajin dachte kurz nach. »Daß wir feste Kunden haben, denen gegenüber wir verantwortlich sind. Scherereien mit Banditen sind für niemanden gewinnbringend.«

»Sag ihm«, schlug Naenn vor, »daß Cruath Airoc Arevaun jedem, der sich mit ihm befaßt, ungebeten erzählt, was er über von Heyden und seine Geschäfte zu wissen glaubt, und daß wir an diesem Wissen nicht interessiert sind.«

»Das ist gut«, lachte Cajin und ging los.

Eine Drittelstunde später kehrte er wieder zurück. Er strahlte über das ganze Gesicht. Sein erster kleiner Außenauftrag für das Mammut, der nicht mit Einkaufen, Handwerksarbeiten, Mobiliarbeschaffung, Post, Mitfahrgelegenheiten oder dem Verkauf von Bernsteinen zu tun hatte. »Er war natürlich nicht begeistert, sah es dann aber ein, als ich Naenns Satz aufgesagt habe. Danach schien er beinahe erleichtert zu sein, daß wir uns nicht weiter mit der Angelegenheit befassen.«

Naenn nickte. »Er hat also doch einiges zu verbergen. Deshalb will er ja auch nicht zur Garde gehen.«

»Der eigentliche Grund aber, weshalb ich noch mal mit ihm reden wollte, war«, erzählte Cajin weiter, »daß ich ihn fragen konnte, woher er seine Informationen bezog. Ihr erinnert euch doch noch: Er hat gesagt, daß er herausgefunden hatte, wo Arevaun abgestiegen war, und daß er sich auch über uns ein wenig kundig gemacht hatte. Bei wem kundig gemacht? Nun, es gibt jemanden in Warchaim, der genau so etwas beruflich macht, und ich wollte wissen, ob meine Vermutung stimmt. Sie stimmte. Vetz Brendo, der sogenannte Landspurenführer, hat eine Art Schreibstube auf der Miurastraße, bearbeitet die Fragen seiner zahlenden Kundschaft und findet Sachen heraus, für die die Garde oft nicht zuständig ist.«

»Du meinst: Dieser Brendo weiß Genaueres über uns?« fragte Naenn mit banger Stimme.

»Woher denn?« fragte Cajin ruhig zurück. »Er kann nicht mehr über uns wissen, als was Rodraeg dem Bürgermeister angegeben hat und was du dem Gardehauptmann gesagt hast, und genau diese paar Halbwahrheiten wird Brendo zusammengetragen und an von Heyden weitergeleitet haben. Sonst wäre von Heyden mit seinem Anliegen auch nicht zu uns gekommen. Er wußte, daß wir einen Krieger beschäftigen und ein Schmetterlingsmädchen in der Gruppe haben, weil jeder das sehen kann. Mehr wußte er nicht.«

Naenn atmete auf.

»Spannender ist aber«, fuhr Cajin fort, der gar nicht mehr zu bremsen war, »ob Brendo auch für uns nützlich werden könnte. Er könnte zum Beispiel etwas über DMDNGWherausfinden.«

»Die Idee ist nicht schlecht«, bemerkte Eljazokad. »Sag ihm aber, daß wir in der Bibliothek schon waren.«

»Ich nenne ihm die Bücher, die wir überflogen haben, vielleicht kennt er ja noch bessere. Wieviel Geld kann ich ihm denn anbieten?«

Naenn schaute fragend in die Runde. »Ich weiß nicht. Zehn? Zwanzig Taler?«

»Fünfzig, wenn er uns zu DMDNGWführen kann«, brummte Bestar.

»Abgemacht?« fragte Cajin abschließend das Schmetterlingsmädchen.

»Abgemacht«, nickte sie. »Auf dem Weg kannst du ja gleich die drei Bernsteine verkaufen gehen, die Eljazokad und Bestar mitgebracht haben.«

Wieder sauste Cajin los.

Eljazokad schrieb weiter und verhedderte sich immer mehr.

Bestar ging in die Stadt, versprach Naenn aber vorher, sich von Arevaun fernzuhalten. Tatsächlich ging er in die andere Richtung, nach Süden, weil er hoffte, die schöne Dienerin Meldrid am Tor zum ummauerten Figelius-Anwesen oder irgendwo auf dem Markt wiedersehen zu können.

Hebezie schaute vorbei, wusch Rodraeg und spendete Naenn Zuspruch.

Eljazokad nutzte schließlich die Gelegenheit und versuchte, in Hebezies Beisein etwas darüber herauszufinden, ob Rodraeg träumte oder nicht. Die Dreimagier hatten das zu wissen begehrt, also schien es von Bedeutung zu sein.

Eljazokad setzte sich neben Rodraegs Kopf und ließ sich auf ihn ein. Nichts. Er nahm eine Hand Rodraegs und versuchte, sich über diese Berührung in den Ohnmächtigen einzufinden. Nichts. Eljazokad legte seine Stirn gegen Rodraegs Stirn und schloß die Augen. Er wußte nicht, ob der Kopf der Sitz der Träume war. Bei Rodraeg konnte es genausogut das Herz sein. Immerhin hatte auch das Mammut seinen Namen von einem Traum Rodraegs erhalten.

Nichts.

Eljazokad konzentrierte sich sehr, versuchte sogar, die Leere, die durch die Abwesenheit magischer Energie in ihm selbst erzeugt worden war, zu einem Gefäß umzudeuten, mit dem man Strömungen eines anderen auffangen konnte. Nichts. Er war nicht die Art von Magier, die anderer Leute Träume sehen konnte. Er konnte nur Dinge zum Leuchten bringen. Und nicht mal das konnte er noch.

Aber Naenn war einmal in Rodraegs Traum gewesen. Also bat er sie, ihm zu helfen. »Er träumt«, sagte Naenn nach beinahe einer halben Stunde. »Aber ich kann nicht sehen, was er träumt. Er ist wie eine in sich geschlossene Kugel. Würde ich die Haut dieser Kugel durchstechen, um in sie hineinsehen zu können, würde ich ihm schon wieder eine Wunde zufügen.«

»Immerhin wissen wir nun, daß er träumt. Vielleicht reicht das den Dreimagiern schon, um uns einen Rat geben zu können.«

Während Naenn und Hebezie sich weiterhin um Rodraeg kümmerten, ging Eljazokad diesmal im vollen Licht des Tages zur Behausung der Gebrüder Dulf.

Seltsamerweise wirkte die Hütte auch tagsüber unscheinbar und verschattet, als erzeugte sie fortwährend ihre eigene Dämmerstunde. Als träumte sie, kam es Eljazokad in den Sinn.

Die Eingangstür öffnete sich von selbst, bevor Eljazokad sie berühren konnte. Sie öffnete sich aber nicht, indem sie aufschwang wie eine gewöhnliche Tür. Sie brach in der Mitte auseinander und klaffte zackig auf wie das fauchende Maul eines Drachen.

Eljazokad überwand seine Furcht und trat vorsichtig einen Schritt durch die splitterigen Zahnreihen ins Innere. Sofort war er wieder von diesem unwirklich gleichmäßigen Licht umgeben, und wieder trat eine Gestalt vor ihn, älter zuerst als die gestrige, dann aber doch dieselbe.

»Du gehst jetzt öfters hier ein und aus. Das ist nicht ohne Gefahr«, sagte die Gestalt mit müder Stimme.

»Ich weiß. Aber ich habe immer noch das Gefühl, daß Ihr mir helfen könnt. Ihr wolltet wissen, ob der im Herzen Verwundete träumt. Das ist der Fall, ich weiß jedoch nichts über die Natur seiner Träume.«

Ende der Leseprobe