Hiobs Spiel 4: Weltmeister - Tobias O. Meißner - E-Book

Hiobs Spiel 4: Weltmeister E-Book

Tobias O. Meißner

1,0

Beschreibung

Auf in den rasenden Kampf des faustischen Antihelden Hiob Montag gegen die Allgegenwart des Schaurigen. HIOBS SPIEL ist die Geschichte eines Mannes, der sich auf eine unglaubliche Geschichte eingelassen hat − eine Wette um das Schicksal der Welt. Gewinnt er, kann er die Welt retten. Verliert er, fällt sie dem Bösen anheim. Beinahe zehn Jahre sind vergangen. Hiob Montag kämpft mit seinem Körpergewicht und versucht, seine verbitterte Weltsicht als Stand-up-Comedian an den Mann zu bringen. Nach längerer Pause wendet er sich wieder seinem Spiel zu, bekommt den Terror zu spüren, muss den Krebs anderer bekämpfen und hinterfragt seine eigene sexuelle Orientierung. Obendrein muss er erstmals mit der Polizei zusammenarbeiten und wird zu so einer Art verschrobenem Sonderermittler für Unerklärliches. Mit "Hiobs Spiel 4: Weltmeister" setzt Autor Tobias O. Meißner seine Chronik des Entsetzlichen, des Unsagbaren und des Nicht-Hinnehmbaren nach guten sechs Jahren weiter fort.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 531

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
1,0 (1 Bewertung)
0
0
0
0
1
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Tobias O. Meißner

Hiobs Spiel 4 – Weltmeister

Originalausgabe

© 2018 by Tobias O. Meißner

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2018 by

Golkonda Verlag GmbH, München · Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Anne-Marie Wachs

Gestaltung: s.BENeš [benswerk.wordpress.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

www.golkonda-verlag.de

ISBN Buchausgabe: 978-3-946503-24-8

ISBN E-Book: 978-3-946503-25-5

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorspiel

Prognosticon 18: Nageljungchen

Prognosticon 19: Blei in die Heide

Prognosticon 20: Die neue Reise zum Mittelpunkt der Erde

Prognosticon 21: Metastasis

Prognosticon 22: Pareidolie

Intermission

Prognosticon 23: Signed and numbered

Prognosticon 24: Adonis

Prognosticon 25: kinderleicht

Nachspiel

Vorspiel

DJ Roulade gibt alles.

Das heißt, eigentlich tut er nichts anderes, als von seinem Laptop Musik abzuspielen, die andere Leute gemacht haben, aber die Leute lieben ihn dafür und kennen seinen Namen, während sie nie erfahren, von wem eigentlich stammt, wozu sie ekstatisch abtanzen.

Mitten auf der Fläche, umgeben von zuckenden Leibern: Coriscal.

Sie tanzt. Ihre Hände gleiten über ihr enges Kleid. Sie reizt auf. Verführt. Tanzt an. Junge Männer mit verschwitzten Augenringen lächeln ihr entgegen. Legen nochmal extra Schwung in ihre Bewegungen. Schlottern im Takt.

Sie beachtet sie nicht und wendet sich stattdessen an uns. Laut muss sie sprechen, um die Musik zu übertönen, aber dennoch kann niemand sie hören, außer uns.

»Ich bin jetzt eine Frau«, sagt sie, als wäre das noch nötig. Wir können es doch sehen. »Die Zeit vergeht. Nur Hiob Montag wird nicht älter.«

Sie tanzt jetzt ein bisschen, wie die Mädchen in den Sixties tanzten: beide Arme abwechselnd erhoben, den Kopf heftig nickend.

»Er hat den Weltrekord im Spiel eingestellt. Es steht 17:12. Den unausstehlichen Mogens Remmert hat er umgebracht, in einem Husarenstreich. Seine Beisitzerin ist die gestrenge Sasikisia Hjernhöls. NuNdUuN hat sich schon ewig nicht mehr blicken lassen. Der Sukkubus Aries hat ihm bei der Sache mit den zwei Manifestationen das Leben gerettet und ist immer noch bei ihm, um ihm alle Frauen dieser Welt zu er­setzen … Und es wird langsam Zeit, dass ich auf den Plan trete, findet ihr nicht auch?

Gerne würde ich ihn verführen.

Dann würde sein Spiel nämlich enden.

Zu Fall will ich ihn bringen.

Aber nicht, um ihn zu vernichten.

Sondern um ihn und uns alle zu retten.

Doch dazu später mehr.«

Mit einem vieldeutigen Blick wendet sie sich ab und tanzt sich tiefer

in die Menge hinein, bis sie nicht mehr unterscheidbar ist.

Prognosticon 18: Nageljungchen

In diesem Moment

fiel mein Blick auf einen Gegenstand,

den ich bisher nicht bemerkt hatte,

eine etwa fünfzig Zentimeter hohe Statue

auf dem oberen Brett des Regals links neben uns,

und ihre Ausstrahlung beherrschte den ganzen Raum.

Die weißen Kaurimuschel-Augen glotzten

aus dem grob geschnitzten, geschwärzten Gesicht auf uns nieder,

der Mund,

mit menschlichen Zähnen besetzt,

war weit geöffnet

wie zu einem langen, stummen Schrei:

Der Leib der Figur,

Rücken, Brust und Bauch,

war mit Hunderten von Nägeln gespickt.

»Was ist das?«,

fragte ich, als ich das Geld hinüberreichte.

»Ich nenne ihn den heiligen Sebastian«,

sagte der Mönch mit einem seltsamen Lächeln.

»Er ist ein kongolesischer Fetisch,

ein nkisi,

ein Nagelfetisch.

Wenn Sie Angst vor einer Reise haben

oder sich etwas sehr wünschen,

etwas Gutes oder Böses,

zeigt Ihnen der Zauberer den Fetisch,

lässt sich einen Nagel geben

und schlägt ihn ein.«

Redmond O’Hanlon: Kongofieber

1. ohne Navi

Im Laufe der Zeit kratzten sie alle ab.

Zuerst Hiobs Großvater, Terach Montag, in seinem Frohnauer Seniorenheim.

Das war keine große Sache für Hiob, er war nicht anwesend, als sein Opa das Zeitliche segnete. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wie viele Monate es her war, dass er ihn das letzte Mal besucht hatte. Ihr Verhältnis war nie besonders herzlich gewesen. Von Hiobs Seite aus eher höflich/dem Ahnen das gesellschaftlich zugebilligte Mindestmaß an Respekt erweisend. Von Terachs Seite aus durchtränkt vom steten Vorwurf, das Spiel vor dem Erreichen irgendeiner Art von auch nur mittlerer Reife begonnen zu haben.

Man informierte Hiob schriftlich, dass sein Großvater verstorben sei, vielleicht, weil man ihn telefonisch nicht hatte erreichen können. Eine Beerdigung wurde organisiert, alles lief automatisch ab, das Seniorenheim kümmerte sich um alles. Hiob ging nicht hin zur Beerdigung. Er wusste nicht, wen er dort treffen würde. Vielleicht andere Altmagier, die ihn missbilligen würden aufgrund seiner Art und Weise, das Spiel zu spielen. Hiob war jetzt – gemeinsam mit einem lange verstorbenen chinesischen Mädchen – Weltrekordler, aber das schien keinen von diesen astralkonservativen Säcken auch nur im Mindesten beeindrucken zu können. Er wollte nicht hingehen. Vielleicht hatte er sogar die mildere Unterform eines schlechten Gewissens.

Dann, nur wenige Monate später, so, als hätte es eine unsichtbare Lebensliniennabelschnur zwischen den beiden gegeben, starb Moritz Wagsal, der Antiquitätenhändler, seines Großvaters alter Weggefährte. Erneut ging Hiob nicht hin. Er erwartete auf der Beerdigung dieselben gesichtslosen Esoterikverschwörer, denen er auch schon bei der Grablegung seines Opas aus dem Weg gegangen war. In Gedanken und auch halb laut führte er Streitgespräche mit ihnen. »Ich WEISS, was ich tue. Ich habe mehr Punkte als mit nur einer einzigen Ausnahme JEMALS ein Spieler vor mir, oder etwa nicht, ihr Hosenscheißer? Wie viele Punkte habt IHR denn? Was tut ihr eigentlich den ganzen Tag lang, außer zu KLUGSCHEISSERN?«

Seltsamerweise starb nur ein halbes Jahr später auch Backspace Blunt, wohl der Jüngste in Hiobs äußerst übersichtlichem Freundeskreis. Backspace, übergewichtiger Computernerd, hatte irgendwas am Herzen und sackte eines Tages über einem extrem schnellen Online-Game mit immer noch offenen Augen und halboffenem Mund tot in sich zusammen. Nur knapp wurde aus seinem Ableben keine neue Kampagne gegen gefährliche Videospiele gezimmert. Aber immerhin war er nicht nur aufgrund seines Verwesungsgestanks aufgefunden worden. In den letzten zwei Jahren seines Lebens hatte Blunty nämlich eine Freundin gehabt. Ja, tatsächlich. Im Internet kennengelernt, wie man das heute halt so machte.

Hiob hatte die beiden ganz rührend gefunden. Zwei hässliche Menschen, die sich gegen die Unwägbarkeiten der Welt zusammenschlossen und zusammen symbiontische Marotten entwickeln. Aber besuchen gegangen war er die beiden nicht mehr gerne. Die symbiontischen Marotten waren für Außenstehende schwer zu ertragen.

Hiob ging auch zu Backspaces Beerdigung nicht hin, aber das hatte einen anderen Grund als bei seinem Großvater oder bei Wagsal.

Er wollte die flennende Freundin nicht trösten müssen, die in ihrer luziden Unansehnlichkeit nun wieder der gesamten Welt allein begegnen musste.

Außerdem fühlte Hiob sich für diese Beerdigung deutlich zu jung.

Gern hätte er geglaubt, all die Todesfälle in seinem Umfeld seien das Resultat einer neuen wiedenfließischen Verschwörung, seien auf die inzwischen auch schon nicht mehr taufrische Kopfgeldjägerin Cezanne zurückzuführen. Aber nichts da. Es war einfach nur der Zahn der Zeit, die trostloseste, undynamischste und kümmerlichste aller denkbaren Versagensformen.

Die Zeit verflog, und Hiob vertrieb sie sich noch zusätzlich.

Mit Widder, zumeist.

Er wollte seinen Erfolg feiern, wollte saufen und huren, aber das Huren war ihm verboten, also blieb ihm nur das Saufen. Er schluckte mehr Sprit als ein Kleinflugzeug.

Er kaufte sich oder klaute sich Hochglanz-Modemagazine und wies Widder an, die hübschesten und eigenwilligsten der Models nachzugestalten. Er vögelte sie alle in sämtlichen denkbaren Positionen und arbeitete sich an der Attraktivität der Gegenwart ab, aber sie vermochte ihn nicht zu sättigen.

Danach kaprizierte er sich wieder mehr auf Stummfilmdarstellerinnen. Widder wurde selbst zur Schauspielerin, gestaltete diese langverstorbenen Frauen nach, bis hin zu den Nuancen der Ausdünstungen ihrer Achselhöhlen beim Orgasmus eines Mannes in ihnen. Aber auch wenn er Louise Brooks aus Respekt weiterhin ausklammerte, auch wenn sie in Farbe kamen und vor Wonne schrien – diese Frauen blieben unerklärlich fern, als begattete er sie durch etwas Stabileres als Latex hindurch, durch Milchglas oder eine Milchstraße.

Hiob arbeitete sich in der Filmgeschichte ruckweise aufwärts und verliebte sich in zwei Frauen, die in den 20ern und 30ern für Tod Browning gedreht hatten: Carroll Borland, die ihm minderjährig erschien, aber deren 60er-Jahre-Frisur und Vorwegnahme sämtlicher Gothic-Chic-Klischees ihm schon in seinen Teenagerjahren schlaflose Nächte bereitet hatten, und Edna Tichenor, die nicht minder auratisch war. Mit diesen beiden blieb er jeweils mehrere Monate zusammen, Widder musste sie pausenlos verkörpern, nicht nur während des Liebesspiels, sondern auch im Alltag, beim Staubsaugen, Abwaschen und auf dem Klo. Widder riss das alles sehr routiniert herunter, aber Hiob wurde das Gefühl nicht los, dass sie tief unter ihrer lüstern-sukkubischen Fassade meistenteils melancholisch war. Was wiederum sehr gut mit Carroll und Edna harmonierte.

»Wat’n los?«, fragte er sie ab und an, so einfühlsam, wie es ihm eben möglich war.

»Nüscht«, antwortete sie berlinerisch, sie war jetzt lange genug in der Stadt, um sich Idiome draufzuschaffen.

Hiob hatte keine Lust mehr auf das Spiel.

Remmert war zwar abgehakt, aber dennoch: zu aufwendig, zu mühsam das Ganze. All die Plackerei. Wofür? Er hatte schon genügend Schwierigkeiten damit, sich seinen Lebensunterhalt durch magisch unterstützte Trickbetrügereien zusammenzustückeln.

Am liebsten hätte er sich auf einer Fernsehcouch festgeschwitzt wie Homer Simpson, als der sich freies Cable-TV ergaunert hatte.

Er versuchte, einfach mal gar nichts zu tun.

War konsumbereit.

Aber das deutsche Mittelmaß brachte ihn gegen sich auf.

Es gab hierzulande keinen einzigen wirklich hochbegabten Film- oder Fernsehregisseur. Keinen einzigen wirklich tollen Musiker. Mehrere Schauspieler, die gar nicht schlecht waren, aber unter diesen keinen einzigen, dem man wirklich gebannt von Film zu Film folgen wollte. Ein paar Schriftsteller, die sich ertragen ließen oder einem das eine oder andere trockene Auflachen entlockten. Aber niemanden, der einen wirklich vom Hocker haute. Dem man gebannt von Buch zu Buch folgen wollte.

Alles war so eigenartig folgenlos, redundant, monoton, repetitiv.

Dabei tobten draußen immer mehr handgemachte Kriege und bewaffnete Konflikte. Deutschland marschierte schon wieder, mit maroder Ausrüstung zwar und unter der Flagge der Nächstenliebe, die womöglich die verlogenste von allen war, aber es marschierte. Die Völker im Hindukusch würden wahrscheinlich nie begreifen, warum Deutschlands Freiheit oder Sicherheit oder was auch immer dort verteidigt werden musste. Hiob begriff es ebenfalls nicht. Er hätte Deutschland lieber auf Hawaii verteidigt, am Strand, unbewaffnet, vielleicht mit einer Tischtenniskelle in der Hand – aber auch dafür fehlten ihm die Geldmittel.

Die Zeit verging.

Manchmal hatte Hiob das Gefühl, abends zu Bett zu gehen, und wenn er am nächsten Morgen die Augen öffnete, war draußen ein ganzes Jahr vergangen.

Ein Vorteil dieser rasch vergehenden Außenzeit schien zu sein, dass Hiob auch von dem Polizeikommissar, der es auf ihn abgesehen gehabt hatte, Seelot, nie wieder etwas hörte. Vielleicht war Seelot ebenfalls verstorben oder bereits in Pension gegangen. Oder er hatte die Lust am Fall Montag einfach verloren. Wenn einer abends zu Bett ging und morgens, wenn er die Augen aufschlug, war ein Jahr vergangen, dann war er in diesem Jahr nicht strafauffällig geworden. Ergo verjährte irgendwann das Interesse von Staatsanwaltschaft und Polizeiapparat.

Ein Nachteil der rasch vergehenden Außenzeit schien allerdings zu sein, dass Hiob langsam fett wurde.

Gegen den peinlichen Haarausfall seiner Generationsgenossen war er gefeit, weil er nicht alterte. Das bequeme Leben jedoch setzte ihm zu, indem er zulegte. Außer beim Rammeln bewegte er sich kaum, fraß viele Kartoffelchips, so eine Lappalie wie Acrylamid konnte ihm doch egal sein.

Er wurde weichlich, geradezu schwabbelig. Ja, auch weinerlich. Nörgelte und greinte, konnte sich zu nichts mehr aufraffen.

Draußen marodierten Tsunamis, Erdbeben, isländische Vulkane. Im Internet fanden sich unglaubliche Bilder von ganzen japanischen Dörfern, die innerhalb von zehn unbewegten Minuten von einer unerbittlichen Flut hinweggeschwemmt wurden.

Einmal regte sich in Hiob noch etwas, das sich ähnlich anfühlte wie Hoffnung.

Einmal ging er zu einer Occupy-Veranstaltung. Occupy, dachte er, das sind junge Leute, die sich zusammenschließen, um etwas zu bewegen. Lauter Hiob Montags. Dachte er. Gibt sogar einige hübsche Frauen dort. Das macht immer gleich alles annehmbarer.

Dann begriff er, dass die Leute bei Occupy Politik betrieben, wie sie sich zu einem Flashmob trafen: einfach nur, um Spaß zu haben. Sinnlosen Spaß. »Die Piraten« waren auch so ein Schwachsinn. Wenn denn nur das Internet einwandfrei funktionierte, damit man für Musik und Filme auch weiterhin nichts mehr zu bezahlen brauchte. Aufgrund dieser Billigheimer-Mentalität verflachte schließlich alles. Hiob bezahlte ebenfalls nicht gern, aber im Laufe seines Spiels war er immerhin mehrmals bereit gewesen, den höchstmöglichen Preis zu entrichten. War er nicht in diesem brennenden Zug herumgekrochen? Hatte er nicht, ganz allein und der Inkompetenz der gesamten Polizei zuwiderhandelnd, das massenmörderische Rudel aus dem Verkehr gezogen? Hatte er sich nicht sogar in Tokio mit einem echten Samurai angelegt, in den USA mit ausbrechenden Hochsicherheitsgefangenen und in Kolumbien mit einem widerwärtigen Monstrum?

Natürlich gab es Ausnahmen. Am Rande eines politischen Forums lernte er eine attraktive 27-Jährige namens Sally kennen, die sich in sogenannten »Brigaden« in Caracas und Nairobi engagierte und die den ganzen lieben Tag lang wirklich nichts anderes betrieb als Politik und Netzwerken. Aber schon nach kurzer Zeit gewann Hiob den Eindruck, dass Sally außer Politik nichts von der Welt mitbekam, sie las nur Sachbücher und sah nur Dokumentarfilme und lebte letzten Endes auch in einer zwar immerhin nicht rosafarbenen, aber dennoch den Blick auf alles andere verwehrenden Blase. Er verlor sie im Getümmel des Forums aus den Augen, und nach ein paar Tagen hatte er sie wieder vergessen, weil er sich über zu viele unbedeutende andere Dinge aufgeregt hatte.

Er fühlte sich eingekeilt zwischen Angela Merkel und Helene Fischer, die ein und dieselbe Frau waren, einmal ungeschminkt, einmal geschminkt.

Er ging ins Berghain, um zu begreifen, um teilzuhaben am Lebensgefühl der wirklich 21-Jährigen.

Lauter Menschen, die sich schön fanden, ohne es zu sein, umspeert von ungesundem Licht.

Und sie feierten. Immer war das Berghain voll. Alle feierten. Viele waren sogar eigens nach Berlin gekommen, um zu feiern.

Aber WAS feierten sie denn?

WAS gibt es zu feiern, ihr hohlen Arschgeigen?

WAS feiert ihr?

WAS DENN?

WAS DENN?

WAS?

»Wir feiern, dass wir jung sind. Dass wir hübsch sind. Dass es tolle Klamotten gibt. Dass wir Zeit und Geld genug haben, um zu feiern. Wir feiern, dass wir am Leben sind. Dass wir keinen Krieg haben. Ist dir das nicht lieber als früher, als die Jugend durch Berlin zog in Braunhemden und jüdische Fensterscheiben einschlug und sich formierte zum absurdesten Irrsinn, den die Menschheit je gesehen hat? Worüber beschwerst du dich? Wir sind unpolitisch und vielleicht ein wenig dämlich, und vielleicht sind wir auch die meiste Zeit über hackedicht. Aber das ist doch in Ordnung so, mensch Alter, entspann dich mal, wirf was ein, wenn’s anders nicht geht, wir sind hübsch und angenehm und unaggressiv und wirklich größtenteils harmlos. Keiner von uns könnte sich jemals einen teuflischen Plan ausdenken.«

»Aber dann können DIE doch mit euch machen, was immer sie wollen! Ihr hängt im Konsumkreislauf völlig unkritisch fest und bestätigt nur immer, ja, ja, ja, Nicken im Technobeat. Ihr seid alle eingemeindet, eingetaktet wie früher von Marschmusik. Das Berghain ist das moderne Biedermeier-Spießbürgertum. Aber müsstet ihr denn nicht mal WIDERSPRECHEN? Habt ihr denn nie den Drang, zu allem auch mal NEIN zu sagen?«

»Aber wozu denn? Es läuft doch alles. Es spielt doch keine Rolle, wer letzten Endes das Sagen hat. Es läuft doch ohnehin alles von ganz alleine ab. Selbst zwischen Bush jr. und Obama ist kaum ein Unterschied auszumachen. Oder kannst du in deren Kriegsgebaren etwa einen Unterschied entdecken? Wir nicht. Glaubst du denn, zwischen Merkel und irgendwem anderen etwa? Bist DU denn so naiv?«

»Zwischen Merkel und irgendwem anderen vielleicht nicht, weil Merkel ja selbst … weil Merkel ja selbst schon so ein Brei ist, dass sie alles in sich vereinigt. Aber zwischen MIR und NuNdUuN wird es einen Unterschied geben! Verlasst euch drauf!«

»Zwischen dir und wem? Wer bist du nochmal? Bist du auf Facebook?«

»Ach, scheißt drauf.«

»Hier. Willst du bisschen Keta? Ich teil’s mit dir, warte, ey!«

»Leck mich. Fick dich. Verreckt doch alle.«

Leckt doch!

Fickt doch!

Verreckt mich!

Er wünschte sich nach draußen, wühlte sich nach draußen. Einer der Waffenkontrolleure vom Eingang grinste ihn an. »War wohl nüscht«, sagte der und klang dabei fast wie Widder neuerdings.

Hiob spürte den Wunsch, etwas Radikales zu tun. Etwas noch Radikaleres als das Spiel.

Das Berghain in die Luft zu sprengen zum Beispiel. Der Spaßkultur den Todesstich zu versetzen, wie weiland die Tate/LaBianca-Morde das mit der Hippie-Ära geschafft hatten.

Allerdings würde das nur wieder Wasser auf die Mühlen jener bigotten Rückwärtsgewandten gießen, die sich auch schon angesichts von Totgequetschten auf der Love Parade freudig erregt die Hände gerieben hatten. Aber es musste VORWÄRTS gehen, nicht zurück. Vorwärts. Und nicht auf und ab im Gleichklangtakt.

Hiob stand inmitten der anderen und schwelte vor Hass.

Wenn man ganz genau hinschaute, konnte man das tatsächlich sehen. Wie auf einigen schwarzweißen Jazzvideos sah das aus, wo Männer in eleganten dunklen Anzügen auf einer offensichtlich kühlen Bühne stehen, ihre Instrumente spielen und dabei qualmen, als würden sie in Flammen stehen. Es sind keine Zigaretten, die da rauchen, es ist die Kleidung, die Körperhitze, die Energie.

Hass ist Jazz. Sogar die beiden Wörter ähneln sich sehr, zumindest im Deutschen.

Alle Mädchen hatten Bumsgesichter und Nuttenfrisuren. Die meisten von ihnen wollten tatsächlich nur flachgelegt werden, von einem möglichst attraktiven Jungen, aber wenn das nicht klappte, schluckte man einfach noch zwei Drinks mehr und ließ dann einen ran, der ein paar Sprüche machen konnte, auch wenn er dabei aus dem Maul stank.

Alle Jungs hatten nichts zu sagen und nichts Vernünftiges zu tun. Sie hätten genauso gut tot sein können, niemand hätte sie vermisst.

Chris Whitley war tot. Die Smashing Pumpkins waren eine träge Reunionstruppe geworden. Dafür hatte es für eine Weile Lady Gaga gegeben. Ihre Musik war Abschaum, aber als Frau war sie immerhin nicht langweilig. Sie erinnerte Hiob sogar ein wenig an Widder: in immer neuen Fleischkostümen.

Immer Widder.

Immer wieder Widder.

Aber mittlerweile war alles noch schlimmer geworden. Im Allgemeinen regierte aufgepeppte Schlagermusik. Discofox die ganze Nacht. Hiob hatte manchmal das Gefühl, das Wiedenfließ hätte die Macht übernommen, während er mal gerade eben nicht aufgepasst hatte.

Dann diese Vollbärte! Wie die sieben Zwerge sahen alle aus! Sie wollten damit Individualität verkörpern, und ihnen fiel gar nicht auf, dass sie gerade dadurch uniform waren.

Die Mädchen rebellierten nicht dagegen, obwohl sie sich bei jedem Kuss wie mit Drahtwolle die Fresse wegscheuerten. Mädchen waren inzwischen so anpassungsfähig geworden, dass Männer sich auch aus ihren Arschhaaren einen Bart hätten zwirbeln können, mit Hose hinten immer offen, damit man schön vergleichen kann, und alle würden es okay finden, niemand würde sagen: »Ist doch irgendwie albern, so ein Arschbart.« Niemand wagte mehr, was zu sagen. Man konnte ja nicht wissen, ob man sich damit nicht gegen den Trend stellte, oder gegen den Trend von morgen, und das wollte natürlich keiner. Denn dann wurde man nicht mehr »geliked« und war »draußen«. Alle lebten auf Facebook ein tolles, ereignisreiches Leben, auch wenn es in echt dumpf und öde war.

Jeder hatte ein Handy. Das war eine gewaltige Revolution. Man musste nicht mehr smart sein, sondern lediglich ein Smartphone besitzen. Jeder Vollidiot hatte dadurch jederzeit und von jedem Ort aus Zugang zum gesamten Weltwissen. Man brauchte nichts mehr in der Birne haben, Hauptsache, der Akku war nicht leer. Jeder war theoretisch plötzlich ein Genie, wie es das vorher noch niemals in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte. Aber was machten die Leute damit? Jeder unterhielt sich mit jedem in dümmlicher Verknappungssprache, und die aufregendste Neuigkeit war immer, dass man gerade nicht zu Hause war, sondern woanders und unterwegs. Das Telefonierenkönnen an sich wurde zum Selbstzweck des Telefonierens. Das hatte etwas Primitives, wie Steinzeitmenschen, die das Feuer anbeten, um das sie kauern.

Fettmops Hiob verstand das alles nicht, er schwelte vor Hass und machte nichts mehr, verweigerte einfach jegliche Leistung, was wollte man denn von ihm, er hatte doch schon 17 Punkte, außer einer einzigen Person hatte das noch niemand geschafft, das konnte er gar nicht oft genug betonen, das sollten die anderen doch erst einmal fertigbringen.

Irgendwann, ein paar Jährchen war das nun auch schon wieder her, feierte man in Berlin ein Fußball-Sommermärchen. Das fand Hiob ganz sympathisch, weil man sich friedfertig mit einem dritten Platz zufriedengab. Es gab ja auch wirklich Wichtigeres. Aber das war es dann auch schon.

Irgendwann wurde Deutschland dann überfallartig tatsächlich Fußballweltmeister, und das nicht einmal unverdient. Das verblüffte ihn nun doch, schreckte ihn förmlich hoch aus seiner Verweigerungshaltung und Lethargie. Aber da waren sie wieder: die Merkel und die Fischer, beide omnipräsent, beide auffällig nie gleichzeitig am selben Ort, wie ein unersättlicher Jekyll und ein phlegmatischer Hyde, und dann, auf der Jubelfeier mitten in Berlin, passierte es doch: die gute alte teutonische SCHADENFREUDE brach durch. Aus den Helden wurden überhebliche Schwachköpfe. Was sie eigentlich natürlich schon immer gewesen waren, aber im Blendglanz der Taten hatte man das nicht so deutlich sehen wollen.

Hiob hatte keinerlei Ahnung, wie er eigentlich in dieses Jahr 2014, in dieses zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts geraten war. Hatte denn nicht bei seinem grandiosen Sieg über Mogens Remmert das Millennium gerade erst angefangen? Wo waren nur die ganzen Jahre hin?

Hiobs Spiel lief jetzt seit genau zweiundzwanzig Jahren. Er selbst war aufgrund seines Wiedenpaktes in diesen zweiundzwanzig Jahren keinen einzigen Tag gealtert und sah auch mit unvorteilhaftest zurechtgekämmter Frisur, Hipsterbrille und angeklebtem Scherzartikelvollbart immer noch keinen Deut älter aus als 21. Alle, die er noch aus Schulzeiten kannte, hatten mittlerweile die 40 überschritten. Selbst Myriem, Kambers hübsche junge Schwester, ging inzwischen stramm auf die 40 zu und hatte bereits nach unten zeigende Frustrationsfalten in den Mundwinkeln. Hiob traf sie zwei- oder dreimal zufällig in diesen Jahren, während Kamber sich vollkommen abgeschottet hatte und weiterhin daran arbeitete, die einzige Berliner Unterweltgröße ohne Großfamilie zu werden.

Es war unglaublich, aber Hiob konnte sich wirklich nicht entsinnen, wo die ganzen Jahre hingegangen waren.

Zweiundzwanzig Jahre?

Was hatte er in diesen zweiundzwanzig Jahren denn erreicht? 17 Prognostica und 4 Manifestationen? 17 Punkte insgesamt? Von 78? Wenn er das also hochrechnete, hatte er dann noch weitere 60 Jahre vor sich, bis er endlich gewonnen hatte? Sechzig Jahre, in denen alle anderen Menschen an ihm vorüberwelkten wie Papierfunken bei einer Bücherverbrennung? Er fühlte sich müde und ausgelaugt, wenn er nur darüber nachdachte.

Ernsthaft: Zwei-und-zwan-zig Jahre?

Das war sein ganzes Leben vor dem Spiel nochmal in voller Länge und dann noch ein Jahr drauf! Das bedeutete, dass er mehr als die Hälfte seines Lebens nun schon gegen NuNdUuN kämpfte (den er auch schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte), und in ein paar Jahren würden es zwei Drittel seines Lebens sein, und von dort aus immer mehr, unaufhaltsam, unaushaltbar. Als wollte er nicht irgendwann in seinem Leben auch mal etwas anderes tun als gegen Gott/den Teufel um die Seele der abgehalfterten Welt ringen.

Er fühlte sich müde und ausgelaugt, wenn er nur darüber nachdachte. War dies der Weg, wie NuNdUuN ihn letzten Endes kleinzukriegen suchte? Durch Müdigkeit und auslaugen? Durch darüber nachdenken? Durch Überdruss? Die Wiederkehr des ewig Gleichen? Die Banalität des Wohinimmermansichauchwandte?

Die Uhrzeit 21:17 erinnerte ihn an Nietzsche. Er wusste auch nicht, weshalb. Es hatte nichts mit der Zeit an sich zu tun, eher mit der digitalen Form der Zahlen, aber er konnte sich auch das nicht erklären.

Seine Beziehung mit Widder war genauso beschissen und trostlos und wortkarg und aneinander vorbei und ineinander hinweg wie die meisten anderen normalen Beziehungen auch. Ihm fiel Sally von der linken Front wieder ein, und ein paar Tage lang sehnte er sich nach ihr. Nicht so sehr nach ihrem Körper, den hätte Widder ohne Weiteres entlang seiner Angaben modellieren können. Nein, nach ihren inneren Werten. Nach dem, was sie von allen Gleichaltrigen unterschied. Aber das ging vorbei. Er ging in zwei Museen, weil man dort hübsche, kluge Frauen treffen konnte. Aber alles führte zu nichts. Cherchez la femme war ihm ohnehin laut Spielregel untersagt. Er hätte wieder saufen mögen, konnte aber nicht einmal mehr genügend Durst aufmustern.

Ein Albtraum suchte ihn heim, in drei Nächten hintereinander: Alle trugen jetzt diese It-Bags aus lebenden Hummern, alle. Die Hummer zappelten noch und versuchten, geöffnet und von Tragekettchen durchbohrt, in Sicherheit zu krauchen, aber sie waren so praktisch und so schick, und alle sahen ein kleines bisschen anders aus. Wer etwas auf sich hielt, kaufte sehr, sehr große und alte und gab dann damit an, was alles Tolles in die reinpasste.

Und ein Lied. Ein Lied rotierte in seinem Schädel. Zur Melodie von »Tulpen aus Amsterdam«: »Tausend rote, tausend weiße, alle riechen sie nach Scheiße …« Und das steigerte sich dann und wurde lauter und lauter, jubilierender und jubilierender, glamouröser und glamouröser.

Einmal musste er auf der Straße spontan kotzen, ging verschmiert weiter, ohne sich auch nur den Mund mit dem Handrücken abzuwischen, und ein Angetrunkener sagte zu ihm: »He, du bist ja voll der Typ, ey.«

Ja, das stimmte wohl. Hiob Montag war voll der Typ.

2. plötzlich mit GPS, aber Akku fast leer

Da stand er nun und stierte umher.

Begriff, dass er wieder spielen wollte, spielen musste, aber er hatte ganz vergessen, wie. Vage erinnerte er sich noch daran, wie er immer mit Eidry Gevicius Kontakt aufgenommen hatte, aber die gab es nun auch schon lange nicht mehr. Seine Prognostica waren ihm zuletzt immer von Mogens Remmert überbracht worden, aber auch den gab es nicht mehr.

Er wandte sich an Widder. Ob sie sich nicht mal umhören könne.

»Umhören wonach?«

»Ob sich was tut. Im Fließ.«

»Im Fließ tut sich andauernd etwas. Man kann es überall auf dem Planeten sehen. Es kocht doch geradezu über. Wer, glaubst du, steckt hinter ISIS und PEGIDA, wenn nicht NuNdUuN?«

»Hinter beidem?«

»Selbstverständlich. Beide werden doch von derselben Engstirnigkeit und Rechthaberei angetrieben. Er liebt es, diese Eigenschaft der Menschen bis zum Konflikt hochzureizen. Er liebt Religionen.«

»Meinst du, ich könnte ihn mal sprechen?«

»So, wie du zur Zeit aussiehst? Willst du, dass er sich kaputtlacht?«

Es war ihr also nicht entgangen. Das tat weh.

»Vergiss es. Ich brauche ihn nicht. Aber so ein Prognosticon als Fingerübung nur für zwischendurch, das wäre doch mal wieder nicht übel.«

Sie starrte ihn ungläubig an. Auffallend ansehnlich war sie, wie stets. Heute sah sie einfach nur aus Eigeninitiative Lina van de Mars ähnlich, nur weniger tätowiert.

»Seit wann ist ein Prognosticon etwas für zwischendurch?«, fragte sie ihn. »Bist du dir sicher, dass du dir nicht lieber ein Sudoku-Rätselheft kaufen willst?«

»Sudoku?« Hiob dachte allen Ernstes darüber nach. Es fiel ihm in letzter Zeit so schwer, sich zu konzentrieren. Dass er den Weltrekord eingestellt hatte, dessen war er sich aber sicher. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, ich will lieber ein Prognosticon.«

Widder musterte ihn noch einmal. Dann sagte sie: »Mal sehen, ob ich eins auftreiben kann, bei dem man sich nicht bewegen muss.« Ihr war wohl auch nicht entgangen, dass der Sex in letzter Zeit überwiegend in der stabilen Seitenlage stattfand.

»Aber nicht schon wieder was mit Schreiben!«, rief er ihr noch hinterher.

»Das ist über fünfzehn Jahre her, Hiob!«

Fünfzehn? Fünfzehn Jahre? Wie war das denn nur möglich?

Er redete noch mit ihr, aber sie war schon raus, vielleicht ins Wiedenfließ, vielleicht auch nur eine Flasche Grapefruitlimonade kaufen. Sie beide liebten Grapefruitlimonade, es gab so unglaublich viele verschiedene Sorten davon, gelb und rosé, bitter und non-bitter, pur und vermischt.

Hiob betrachtete sich im Spiegel. Es gab nur einen einzigen großen in seiner Wohnung. Widder benutzte ihn, um sich ihr jeweiliges Fleisch über den Knochen straffzuziehen.

Er rollte sein T-Shirt hoch. Mann, was für eine Wampe. Er sah aus wie ein Mittvierziger, dessen Bindegewebe langsam vor dem kontinuierlichen Hefeweizenkonsum kapitulierte.

Scheiße, er sah aus wie Weizenhefe!

Aber er war dennoch erst 21. Für immer 21. Was die Werbung einem verspricht, aber nur das Spiel zu halten imstande ist.

Das war doch immerhin etwas. Mit ein bisschen Fitnesstraining würde er in ein paar Monaten aussehen können wie Brad Pitt in »Fight Club« oder in »Snatch«, nur jünger.

Aber wenn Widder wirklich etwas ohne Bewegung auftreiben konnte, war das natürlich ideal.

Dann bekam er plötzlich Schiss.

Es war schon alles so lange her. Aber war es nicht immer auch ganz entsetzlich gewesen? Die verzerrten Gesichter der anderen, die litten und krepierten. Selbst Remmert hatte erbärmlich ausgesehen, ein hundertprozentig unliebenswertes Häufchen Elend am Ende. Und die eigenen Schmerzen. Immer. Auf dem elektrischen Stuhl. Wie damals das Glühen bis in alle Haarspitzen geschossen war und wie ein Reibeisen durch seine Harnröhre. Dieses schreckliche Gebalge mit dem Doppelgänger. Jeder Schlag auf die eigene Schnauze hatte das Zweifache an Weh getan. Die Schuppenflechte! Wie hatte er die Schuppenflechte vergessen können? Er auf dem Teppich gekrümmt und langsam verrottend, verjaucht bei lebendigem Leibe. Die Pelzmärtel zur Weihnacht. Diese unsichtbaren Dinger, die hinter den beiden Straßenkids her gewesen waren. Immer Schürfen, Krallen, Hiebe, Tritte. Hiob fühlte sich zu müde für solche Selbstausbeutung, als wäre er daraus herausgewachsen, dem noch irgendetwas abgewinnen zu können.

Aber er war immer noch 21.

Wahrscheinlich war das der Trick dabei.

Solange man immer 21 blieb, konnte man sich nie darauf herausreden, langsam zu alt für diese Scheiße zu sein.

Aber innerlich? Innerlich war er jetzt 43. Was machten andere Menschen mit 43? Hatten geheiratet. Anderthalb Kinder angesetzt. Sich ein Häuschen ausgesucht, das zwar noch abbezahlt werden musste, aber das würde schon klappen, immerhin hatte man sich inzwischen Qualifikationen erworben, die einem auch im Falle eines Jobverlusts wieder auf die Beine helfen würden.

Was hatte Hiob für Qualifikationen?

Umbringen. Ans Bein pinkeln. Frechheiten absondern. Sich nicht unterkriegen lassen. Und immer wieder aufstehen, immer wieder, Tyson kam an, rumms, klatsch, zu Boden und wieder hoch, eine mechanische Schildvortriebsdampframme kam an, rumms, rattattapeng, zu Boden und wieder hoch, ein Dämonenstier mit vergifteten Atombombenhörnern kam an, rumms, zack, zermalm, zu Boden und wieder hoch.

Niemand auf der Welt wollte freiwillig so leben.

Das war der alleinige Grund, weshalb Hiob und ein armes, wahrscheinlich geistig minderbemitteltes chinesisches Bauernmädchen aus dem Mittelalter den Weltrekord innehatten.

Hiob hörte auf, vorm Spiegel den Bauch einzuziehen, und die Wampe schwappte nach vorne wie eine ungeplante Schwangerschaft.

Widder kam erst einmal nicht wieder. So ging es schon mal los.

Also soff Hiob ein bisschen.

Seine Lieblingsgehirnzellenabtöter in den letzten Jahren waren Blume Wodka und Stroh Rum gewesen, weil einigermaßen erschwinglich und regelmäßig unter den Top Ten der alkoholhaltigsten Getränke. Absinth war ihm einfach zu teuer. Der hatte noch mehr Prozente und hätte natürlich am besten zu Hiobs Lifestyle als artiste maudit samt Baudelairegedichten und rattenscharfer Dämonengespielin gepasst, aber seine kleinen Trickbetrügereien warfen einfach nicht genug ab. Niemand hatte in den letzten zehn, fünfzehn Jahren auch nur ein einziges Bild von Hiob gekauft. Lebte Feininger eigentlich überhaupt noch? Die beiden hatten sich schon ewig nicht mehr gesehen, wirklich ewig nicht.

Da ging aber bestimmt noch etwas.

Wenn er jetzt so in sein bauchiges Selbst hineinlauschte, kam Hiob zu dem Schluss, dass er eigentlich viel mehr Lust hatte, wie ein Besessener zu malen oder sich sogar auch mal an abstrakten Skulpturen mit Materialien von der Müllhalde zu versuchen. Aber das würde stinken, oder? Den Gestank von Farbe und Lösungsmitteln waren sie gewöhnt in Hiobs Wohnung mit den schon seit Jahren nicht mehr geputzten und deshalb ganz mattierten Fenstern. Chemikalien und Sex, das hatte schon was. Aber Müll von der Halde? Pfui Deibel.

Darauf einen Stroh, und danach einen Blume. Dann einen Blume, und dann einen Stroh. Erstmal abwarten, was Widder so anschleppte.

Als Widder zurückkehrte, war Hiob so breit, dass er nicht aufnahmefähig war. Sie deckte ihn einfach mit einer schon fadenscheinigen und speichelfleckigen Kuscheldecke zu und ging ohne ihn zu Bett.

Sie schliefen getrennt. Was in letzter Zeit häufiger vorkam, weil sie beide sich dann ein bisschen mehr gehen lassen konnten. Hiob konnte im Schlaf furzen, Widder ihre Haut lockerer lassen.

Spätvormittagsfrühstück. Widder nahm Hiob den Stroh weg, er schnippte ihr dafür die stinkende Kippe aus dem Mundwinkel.

»Erinnerst du dich eigentlich überhaupt noch daran, dass du mich um etwas gebeten hattest?«

Hiob hob den Kopf, sah sie an wie jemand, den man gerade aus einer tagelangen Verschüttung gezogen hatte. Er versuchte, sich daran zu erinnern, um welche Sauerei er sie zuletzt gebeten hatte. Das war schon etwas länger her.

»Prognosticon?«, half sie ihm auf die Sprünge.

»Ahh ja, daaaas.« Er spürte, dass er immer noch Schiss bekam, wenn er nur daran dachte. Was hatte ihn nur geritten, sich nach so etwas Üblem zu erkundigen?

»Es tut sich etwas. Gar nicht weit von hier. Berlin. Das heißt: keine Reisekosten, keine Reisemühen. Hörst du mir überhaupt zu?«

»Na klar. Jedes Wort, Liebling. Remmert hat mir übrigens auch immer die Sachen schmackhaft zu machen versucht, indem er mir keine Kosten und keine Mühen versprach.«

»Mich wirst du aber nicht in eine Falle locken und abstechen, oder?«

»Aber wo denkst du denn hin?«

»Ich frag’ ja nur. Also, bist du interessiert?«

Er sammelte sich kurz. Das fühlte sich an, wie staubige Scherben auf einem sonnendurchglühten Kasernenhof zusammenzukehren. Mit gegen diese Sonne zusammengekniffenen Augen fragte er sie: »Ist es was Schlimmes?«

»Es ist ein Prognosticon, Hiob, es bringt einen Punkt im Spiel. Hat es schon mal ein Prognosticon gegeben, das aus Blumenpflücken oder Kleintierstreicheln bestand?«

»Ümmm, wahrscheinlich nur indirekt. Irgendwann habe ich mal ein Kleintier gestreichelt. Ach ja, das war diese Katze, die mir …«

»Hiob?«

»Ja?«

»Das war mehr eine rhetorische Frage.«

»Schon klar.« Er gab sich einen deutlich sichtbaren Ruck, seine Wampe schwabbelte dabei. »Also, worum geht es?«

»Es gibt an einem Ort in der Nähe des Kreuzberger Oranienplatzes eine große Anzahl kongolesischer Flüchtlinge. Die haben irgendwas getan, was die metaphysische Sphäre zum Klingeln bringt. Was genau, weiß ich nicht. Das herauszufinden, ist wohl Teil des Prognosticons. Da du mit Remmert deinen Mittelsmann ausgeschaltet hast, bekommst du jetzt wohl nicht mehr saubere Informationen frei Haus geliefert.«

»Ach, die waren bei Remmert doch auch immer schon nur die halbe Wahrheit, das Wichtigste hat er mir immer vorenthalten. Die dumme Sau. Aber das mit den Flüchtlingen schmeckt mir gar nicht. Das bringt mich politisch doch nur in Teufels Küche. Ich soll gegen Flüchtlinge vorgehen?«

»Seit wann kandidierst du für ein öffentliches Amt?«

»Nein, ich meine: Das bringt mich in Konflikt mit meinen eigenen politischen Überzeugungen. Mit mir selbst.«

»Du hast Schiss.«

»Gar nicht!« Diese Abwehr kam verräterisch schnell, als hätte sie nur zusammengekauert hinter Hiobs unteren Vorderzähnen gelauert.

»Meinetwegen lass es doch geschehen. In den letzten Jahren haben sich ohnehin Hunderte von Prognostica ereignet, ohne dass du den kleinsten Finger krumm gemacht hast.«

Das saß. Obwohl Widder eigentlich nicht nörgelig veranlagt war, konnte sie sticheln wie eine italienische mehrfache Mutter.

»Das Fließ hat sich nicht bei mir gemeldet«, brachte Hiob schmollend als Rechtfertigung vor.

»Warum sollte es auch?«, entgegnete sie nur spöttisch. »Solange du nichts unternimmst, bleibt alles beim Alten und NuNdUuN regiert in alle Ewigkeit.«

»Aber manchmal kamen mir doch trotzdem Aufträge ins Haus geflattert!«

»Ja, das war, als die Gevicius noch Beisitzerin war. Die fühlte sich äußerst unwohl hier auf Erden, ihr Körper konnte die Atemluft nicht verarbeiten oder irgend so etwas. Deshalb sorgte sie dafür, dass das Spiel einigermaßen voranschritt. Der Hjernhöls ist das aber herzlich egal. Soviel ich hörte, vergnügt sie sich gerade mit einem ehemaligen Premierminister.«

»Was? Aber sie ist doch kein Sukkubus! Sie ist Beisitzerin!« Hiob spürte eigentümlicherweise einen eifersüchtigen Stich. Weil Sasikisia Hjernhöls eine ausgesprochen aparte Erscheinung war. Und als Beisitzerin eigentlich in erster Linie für ihn zuständig.

»Na und? Sie hat doch nichts Besseres zu tun, solange du dich vollkommen passiv verhältst. Vielleicht habe ich das mit dem Premierminister aber auch falsch verstanden und gemeint war ein Prämienmonster.«

»Ja, macht denn hier jeder einfach nur noch seins?«, fragte Hiob, und die Empörung brachte ihn tatsächlich dazu, sich zu erheben. Dass er selbst der Urheber des ganzen laissez faire war, wurde ihm erst mit Verzögerung bewusst. Dann runzelte er aber gehörig sein ganzes Gesicht. »Also Schluss jetzt damit!«, schrie er geradezu. »Wo ist dieses Haus?«

»Welches Haus?«

»Das mit den Flüchtlingen!«

»Weiß ich nicht genau.«

»Was sind denn das für Angaben? Irgendwelche Flüchtlinge haben irgendwo am Oranienplatz irgendwas getan! Wie soll man so arbeiten, sich vorbereiten und gewinnen?«

»Vielleicht recherchierst du selber mal. Das ist alles überhaupt nicht meine Aufgabe.«

»Da!« Hiob deutete vor einem imaginären Publikum mit beiden Händen auf sie. »Jeder ist sich nur noch selbst der Nächste. Kein Wunder, dass unser Globus langsam in die Binsen geht.«

Sie schaute ihn schon gar nicht mehr an, sondern blätterte in einer Fernsehprogrammzeitschrift.

Hiob blieb also gar nichts anderes übrig, als selbst die Ärmel hochzukrempeln.

Dass seine Motivation kam und ging, war wirklich neu.

Alle paar Minuten kam er ins Grübeln, verlor er die Lust, seine zumindest relative Komfortzone aufzugeben. Immerhin: Welchem Mann war es schon vergönnt, einen Sukkubus zur Triebabfuhr zur Verfügung zu haben und dennoch immer 21 zu bleiben? Manchmal wollte er sich alleine aufgrund dessen schon wie ein Sieger fühlen dürfen.

Dann wieder fiel ihm auf, dass sich wahrscheinlich viel mehr Kerle, als man so gemeinhin annahm, mit Sukkubi und ähnlichem vergnügten. Ehemalige Premierminister zum Beispiel. Das machte aus diesem Privileg allenfalls einen recht exklusiven Club, aber nichts Einzigartiges mehr.

Hiob wollte mehr.

Er wollte jetzt endlich den alleinigen Weltrekord. Die noch niemals zuvor erreichte 18.

Recherchieren.

Wie recherchiert man etwas, das sich im Wiedenfließ abspielt oder zumindest vom Wiedenfließ ausgeht?

Ganz einfach: magisch. So lange hatte er das nicht mehr gemacht.

Aber es musste ganz einfach sein, oder? Wie Fahrradfahren. Früher war ihm das zweite Natur gewesen.

Warum war nur so viel Zeit vergangen? Warum hatte er den Sieg über Remmert, das ledigliche Einstellen des Weltrekords so lange mit Urlaub gefeiert, anstatt wenigstens abzuwarten, bis er alleiniger Weltmeister war?

Vage erinnerte er sich noch daran, dass er sämtliche Punkte davor verloren hatte. Der Sieg über Remmert war ein Befreiungsschlag gewesen. So, als würde dadurch fortan alles leichter werden. Deshalb hatte Hiob sich nicht mehr so zusammengerissen. Sich gehen lassen. Das mit den vielen Jahren war dann halt einfach so passiert. War ja eigentlich auch nicht weiter schlimm, wenn man für immer 21 blieb.

Recherchieren. Also gut, recherchieren.

Hiob räumte den Kleiderschrank aus, warf alles übereinander auf den Boden und zog sich dann in diesen Schrank zurück, Widder durfte ihn dort nicht stören.

»Holst du dir da drinnen einen runter?«, fragte sie spöttisch durch die Schranktür.

»Schnauze!«

Er versuchte sich einzufühlen. Wie Fahrradfahren. Das Gleichgewicht finden. Das Gleichgewicht halten. Mit geschlossenen Augen. Und wackeligem Lenker. Über Kopfsteinpflaster.

Köpfe. Steine. Pflaster. Eine logische Kette.

Zuerst war es wie ein Brei.

Dann wie ein großer Bottich voller lauwarmer Spaghetti. Hiob wühlte mit beiden Armen darin herum und suchte etwas, musste dabei aber aufpassen, nicht selbst in den Bottich zu fallen. Die Nudeln schmatzten um seine Arme herum. Soße blubberte dazwischen empor. Dann dunkle Brocken, die dort eigentlich gar nicht hingehörten. Es wurde immer ekliger.

Mit einem Aufschrei zog Hiob sich zurück. Er hatte das Gefühl, von der falschen Seite aus vorgegangen zu sein.

Zwei Tage lang versuchte er es immer wieder. Im Schrank. Der spöttelnden Widder zum Trotz, die dauernd Sprüche klopfte wie: »Wenn jemand im Schrank lebt, ist er uneingestanden homosexuell, oder?«

Es roch nach Schweiß, Kampfer und Zitronensäure in dem winzigen Gelass. Es war eine erbärmliche Plackerei.

Aber er fuchste sich wieder rein.

Der alte Hiob.

Der ewigjunge Hiob.

Bald erhielt er so etwas wie einen Überblick. Die Welt war eine dicke Orangenschale. Dann wurde sie unter seinem Tasten fragiler, bis sie einer Eierschale ähnelte. Widder hatte recht gehabt: Überall blühten Prognostica wie in einem Garten, dessen Gärtner jahrelang abwesend geblieben war. In Berlin gab es nur zwei. Beide hatten mit einem gewissen Unterirdischsein zu tun. Einmal nördlich des Oranienplatzes unter der Dresdener Straße, das musste jenes sein, wovon Widder ihm erzählt hatte. Und einmal noch tiefer, Richtung Stadtmitte, so tief, dass es unmöglich scharfzustellen war. Hiobs Fahrradfahrkünste hatten ihre Grenzen, vielleicht neue, vielleicht hatte es die aber auch schon immer gegeben. Ohne beide Hände am Lenker ging gar nichts.

Er versuchte, mehr herauszufinden über das unter der Dresdener Straße. Versuchte, den Begriff »Kongo« mit einzuflechten. Aber der Kongo war ihm so fremd wie der Mars. Noch nie in seinem nicht gerade unbewegten Leben war Hiob in Afrika gewesen. Ohne auch nur im Mindesten Rassist zu sein, wäre es ihm wohl nicht möglich gewesen, einen Kongolesen von einem Sudanesen oder Ruandaner zu unterscheiden.

»Was machst du denn so lange da drinnen? Es stinkt irgendwie«, fragte Widder ihn eines Abends beim gemeinsamen Essen. Solange sie Fleisch trug, hatte Widder auch Hunger auf Fleisch. Manchmal blätterte sie sogar lüstern in Beef- und Grill-Magazinen und schaute sich solchen Irrsinn im Fernsehen an.

»Ich recherchiere.«

»Tatsächlich?« Sie rückte ein paar Zentimeter von ihm ab, um ihn betrachten zu können wie eine schillernde Seifenblase. »Du meinst es wirklich ernst, oder?«

»Sieht so aus.«

»Früher hast du dich nicht so lange mit Feldforschung aufgehalten. Du bist losmarschiert und hast alles kurz und klein geschlagen, bis dir nichts mehr den Überblick verstellte.«

»Ja. Aber war ich damit erfolgreich genug? Ich habe ziemlich viele Punkte unnötig an das Fließ abgegeben.«

»Durchaus. Zuletzt wurde es richtig knapp. Hättest du gegen Remmert verloren, wäre es vorbei gewesen.«

Hiob lachte durch die Nase. »Gegen Remmert verloren! Der wusste doch gar nicht, was auf ihn zukam.«

»Und jetzt? Meinst du, dieses Prognosticon rechnet mit dir? Nach so vielen Jahren der Untätigkeit?«

»Nein. Ich könnte einen gewissen Überraschungseffekt durchaus auf meiner Seite haben. Aber vielleicht auch nicht mehr, nachdem du dich erkundigen gegangen bist.«

»Na toll, jetzt ist es meine Schuld!«

»Ich mache dir keinen Vorwurf. Du hast es doch auf meinen Wunsch hin getan. Ich meine ja nur. Es steht immer noch nur 17:11 …«

»17:12.«

»Sag ich ja. Ich hab mich nur versprochen. Umso schlimmer. Ich will niemandem ins Messer laufen. Dass dieses Prognosticon so friedlich in Berlin vor sich hin glüht, mag bedeuten, dass es eigens für mich dorthin gepflanzt wurde.«

»Als Falle.«

»Ist doch möglich, oder?«

»Und was hast du herausfinden können?«

»Noch so gut wie nichts. Aber ich bleibe dran.«

Er hatte sich wirklich verändert.

War das eine gewisse Reife, die man sich erwarb, wenn man nun immerhin schon 43 Jahre auf dieser Erde weilte – oder hatte er ganz einfach nur Schiss?

Er verhedderte sich.

Verplemperte zwei weitere volle Tage in dem stinkenden Kabuff, das ihm mehr und mehr wie ein Tank zur sensorischen Deprivation vorkam. Er bekam das Phänomen nicht zu fassen, irgendetwas blinkte und glitzerte dort unten wie ein Bodenschatz, von Hiob getrennt aufgrund seiner Unkenntnis sämtlicher näheren Umstände. Auch das andere, noch weiter unten liegende Prognosticon Berlins lenkte ihn ab, verführte ihn immer wieder, als würde etwas Tieferes mehr bringen können als ebenfalls nur einen einzigen Punkt.

Aber was für einen Punkt! Der entscheidende Punkt zur unumschränkten Weltbestleistung!

»Ich muss da hin«, murmelte Hiob schließlich eines Nachts.

»Jetzt? Mitten in der Nacht?«

Diese einfache Nachfrage brachte ihn schon wieder völlig aus dem Konzept.

Widder bohrte noch zusätzlich. »Worum handelt es sich? Was hast du in Erfahrung bringen können? Nimmst du Ausrüstung mit? Welche?«

»Es… hat… etwas mit Angst zu tun.«

»Was hat etwas mit Angst zu tun? Dein Verhalten angesichts dieses Prognosticons?«

»Nein!«, antwortete er abermals zu hastig. »Nein, das Prognosticon an sich. Es geht um Furcht.«

»Das ist nicht allzu verwunderlich, wenn es um Flüchtlinge geht, oder?«

»Flüchtlinge heißen doch nicht Fürchtlinge …«, sagte er etwas hilflos.

»Sie fürchten sich vor der Zukunft, vor den Fährnissen, die die deutsche Bürokratie ihnen in den Weg legt, aber auch davor, abgeschoben zu werden und wieder zurück zu müssen in die Hölle, der sie unter Einsatz ihres Lebens knapp entronnen sind.«

Hiob sah sie an, als wäre sie ein pinkfarbener Pudel, der ihm in akzentfreiem Spanisch die Welt erklärte. »Ja. Vielleicht. Dann eben morgen. Morgen gehe ich hin und schaue mich dort um.«

»Wirst du dann gleich etwas dagegen unternehmen?«

»Weiß ich noch nicht. Erstmal nur umschauen.«

Er ging ins Bett. Todmüde war er und schlecht riechend.

Widder schaute noch Shoppingkanäle im Fernsehen. Abgesehen von Barbecuesendungen interessierte sie nichts noch stärker. Schließlich musste sie als Sukkubus immer auf dem Laufenden sein, welche Begehrlichkeiten die Herzen der Menschen schneller schlagen ließen.

Hiob fand lange keinen Schlaf.

Eine ganz neue Sorge hielt ihn wach: dass er mit seinen Rechercheversuchen zu viel Zeit vertrödelt hatte und das Prognosticon, welches Widder ihm bereits vor Tagen aufgetrieben hatte, nun eventuell schon gar nicht mehr aufzudröseln war – oder dass es mittlerweile die Intensität einer Manifestation angenommen hatte und er morgen in es hineinlaufen würde wie in ein offenes Messer.

Er konnte nicht abschätzen, wie sehr NuNdUuN daran lag, keinen neuen Weltrekord zuzulassen.

Vielleicht war so etwas dem Wiedenfürsten vollkommen egal. Vielleicht aber fürchtete selbst dieser einen gewissen symbolischen Gehalt, das Festschreiben das Namens Hiob Montag für voraussichtlich weitere Jahrhunderte.

Hiob durfte sich von solchen Sorgen nicht verrückt machen lassen. Schließlich wollte er nicht einfach nur einen Rekord aufstellen und dann verglühen. Er wollte das gesamte Spiel gewinnen. Erstmals und für alle Zeiten.

Der folgende Tag fand ihn, wie er sich am Oranienplatz herumdrückte, und von dort aus, ungleich pittoresker, am Engelbecken.

Dunkle Regenwolken verdüsterten die Szenerie. Hätte man Hiob spontan ein Interviewmikro unter die Nase gehalten und ihn gefragt, welche Jahreszeit gerade herrschte, er hätte es nicht zu beantworten gewusst. Zwischen einem global erwärmten Spätwinter, einem schafskalten oder eisheiligen Frühling oder einem schlappen, wetterwendischen Sommer konnte das alles sein.

Vom Oranienplatz aus die Dresdener betretend, scheint der Fernsehturm prominent über allem zu thronen, fast als sei man in Paris mit Eiffels eiserner Allgegenwart. Hiob hielt Ausschau nach dunkelhäutigen Menschen und fand keinen einzigen. Auch die Sitzbänke auf dem Oranienplatz selbst waren ausschließlich von Säuferwracks und Familien aus dem arabischen Großraum belegt, Anzeichen dafür, dass die Völker immer am Wandern waren. Vielleicht war hier vor Kurzem noch ein Treffpunkt der Kongolesen gewesen, jetzt aber schon nicht mehr. Zumindest nicht oberirdisch. Ein einziges Indiz konnte Hiob entdecken: Eine Buchhandlung hatte den prototypischen Flüchtling als überlebensgroße Wandmalerei verewigt: afrikanisch, auf einem winzigen Floß stehend, ein Shell-T-Shirt an, eine gigantische blaue Brille auf, den Anker in der einen Hand und in der anderen einen »Passport« der Dritten Welt. »St. Cargo« stand unter dem Bild. Hiob schaute sich um. Kein lebendiges Äquivalent, nirgends.

Er schlurfte herum unter dem regenbereiten Himmel.

Ein abgesenkter Zugang zwischen riesigen Steinbrocken führte ihn unter einer außergewöhnlich niedrigen Brücke (unter der sich ein Obdachloser eine Art Hütte gebastelt hatte, komplett mit vor den Sperrholz- und Plastikplanenwänden hingestelltem Entspannungssessel) und vorbei an einem indischen Brunnen, der eine nackte Meditierende mit klaffend geöffneter Wirbelsäule zeigte, zum Engelbecken, das umrahmt war von duftenden Büschen und blühenden Laubengängen. Hiob hätte die Pflanzen nie und nimmer benennen können, aber er schritt unter Glyzinien und Bougainvilleen dahin und wurde leicht eingelullt vom Rauschen der Wasserspiele. Direkt am Engelbecken war der Wolkenhimmel weitläufig, die ringsum stehenden Häuser in den Hintergrund drapiert wie Filmkulissen. Im Norden die wuchtige Kirche St. Michael, seit dem 2. Weltkrieg ohne Dach. Ein dem Beten angemessener Ort, fand Hiob, da man in ihr den Himmel nicht nur glauben, sondern sogar sehen konnte, aber natürlich als Ruine geschlossen, die hemdsärmelige Stadt Berlin hat wenig Sinn für lyrische Engführungen.

Hiob verlor sich hier ein wenig, schlenderte umher wie ein Tourist, leistete sich beinahe eine Kugel Eis, aber die war ihm am Engelbecken zu teuer. Überall, wo Berlin sich hübsch gemacht hat, wird es auch gleich raffzähnig, wenn es ans Bezahlen geht.

Weshalb war er nochmal hier? Ach ja. Das Untergrundgrauen vom Oranienplatz. Es begann beinahe zaghaft zu regnen. Der Wind wurde zu kalt zum Eisessen.

Auf dem Rückweg begegnete ihm endlich ein Schwarzer, der in sein Handy französisch sprach. Also wohl eher kein Kongolese, dachte Hiob. Erst in einem Internetcafé ärgerte er sich dann, als er recherchierte, welche Sprachen im Kongo gesprochen wurde, nämlich 214 verschiedene, darunter vier offizielle Nationalsprachen: Lingála, Kikongo, Cilubà und eine kongolesische Suaheli-Variante. Hauptsächliche Schrift- und Bildungssprache war jedoch nach wie vor Französisch, aufgrund des kolonialistischen Hintergrunds als Französisch-Äquatorialafrika, Französisch-Kongo und Belgisch-Kongo. Ganz vage erinnerte sich Hiob an das entsprechende, von ihm bereits in seiner Kindheit als geradezu haarsträubend diffamierend empfundene »Tim & Struppi«-Album.

Komischerweise musste er auch an seine elsassstämmige Mutter denken, deren Mädchenname Izambleau lautete. Die hätte ihm mit ihren französischen Sprachkenntnissen jetzt weiterhelfen können. Aber schon seit mehreren Jahrzehnten hatte er keinen Kontakt mehr zu ihr, wusste nicht, wo sie steckte und ob sie überhaupt noch am Leben war. Mit Sicherheit wusste er nur, dass er ihre Hilfe nicht wollte, im Grunde genommen schon als Kind nicht gewollt hatte.

Er steckte fest.

Draußen regnete es jetzt entschlossener.

Ihm war das egal, also kehrte er in die Dresdener Straße zurück und suchte irgendeinen Weg nach unten, einen auffälligen Gullydeckel zum Beispiel. Es gab sehr viele davon in allen erdenklichen Formen, noch nie zuvor waren Hiob in Berlin so viele aufgefallen, aber wie er auch nur einen von denen aufstemmen sollte, war ihm ein Rätsel. Sie alle sahen aus, als seien sie bereits seit Jahrhunderten fest verfugt.

Er spähte in die Abflussgitter vor den Hausfassaden, aber nirgendwo ging es tiefer runter als einen Meter. Womöglich führte zum Prognosticon nur ein der Allgemeinheit nicht zugänglicher Kellerzugang.

Er stellte sich in einen vergatterten Markthallen-Hofdurchgang, lehnte sich an die kühle Backsteinwand, versuchte sich zu konzentrieren, das Prognosticon da unten zu erspüren, zu erfassen.

Prooooooooooo-gnossssssssss-tiiiiiiiiiiiiiiiiiii-connnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn.

Prooooooooooo-gnossssssssss-tiiiiiiiiiiiiiiiiiii-connnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn.

Als das wenig brachte, variierte er subtil die Lautlänge und begann dabei, klagemauerig den Oberkörper zu schaukeln.

Proooooooo-gnosssssssssssss-tiiiiiiiiiiiiiiii-connnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn.

Proooooooooooooo-gnosssssss-tiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii-connnnnnnnnnnnnnnnnnnn.

Und immer so weiter. Durch diese mantraartige Rasterfahndung gelang es ihm, den Austragungsort des Prognosticons im übertragenen Sinne zu triangulieren.

Plötzlich erfasste er etwas. Umrisse von Räumen. Groß. Unter ihm. Er begriff. Dort befand sich ein Luftschutzbunker. Nein, mehr noch: einer von Berlins legendären ungenutzten U-Bahnhöfen!

Er rasterte noch weiter, justierte fein, stellte besonders die Ränder deutlich, er suchte einen Eingang.

Dann fand er ihn.

Er stand beinahe genau davor.

Natürlich kein Gullydeckel, ein Bahnsteig wurde schließlich nicht durch die Kanalisation betreten. Sondern ein Gitterrost im Boden, nur zehn Meter von ihm entfernt auf der anderen Straßenseite, sogar durch drei rot-weiße Leitpfosten markiert, aber vielleicht gerade durch diese Straßenmarkierungsmaßnahme vollkommen unauffällig. Lüftungsgitter wie dieses gab es über jedem U-Bahn-Schacht – aber ja, richtig: hier drunter verlief – zumindest offiziell – überhaupt keine U-Bahn-Linie.

Hiob näherte sich dem Zugang, langsam und argwöhnisch wie ein Abergläubischer einem Götzenstandbild, und versuchte, durch das Gitter in die Tiefe zu spähen.

Ihm war, als roch es von dort unten nach sehr altem Urin und etwas, das ihn an den Brodem erhitzten Metalls erinnerte. Wie in einer Gießerei? Oder einer stillgelegten Gießerei? Konnte aber auch ein Umspannwerk sein. Ein stillgelegtes.

Was auch immer. Das Gitter war durch zwei auffallend massive Vorhängeschlösser gesichert. Hiob ging in die Hocke und versuchte sich als magischer Schlösserknacker.

Wäre dies das erste Mal seit sehr langer Zeit gewesen, dass er sich an praktischer (also nicht nur aus Meditationen und arkanem Lesen bestehenden) Magie versuchte, wäre es sicherlich in die Hose gegangen. Was ihn jedoch in dieser Hinsicht einigermaßen fit hielt, waren seine Trickbetrügereien zum Geldverdienen.

Diese bestanden im Allgemeinen darin, dass er vor Bankfilialen herumlungerte und Leute, die gerade Geld abgehoben hatten, ansprach mit den Worten: »Entschuldigen Sie bitte vielmals, aber hätten Sie vielleicht einen Hunderter für mich, den Sie hinterher nicht vermissen werden?«, wobei die Formulierung »Entschuldigen Sie bitte vielmals« Silbe für Silbe und besonders über ihre i-Laute eine Art Probebohrung darstellte, die die Empfänglichkeit des Angesprochenen sondierte und Hiob bei außergewöhnlicher mentaler Resistenz in die Lage versetzte, auf das in Berlin alltägliche »… aber hätten Sie vielleicht ein bisschen Kleingeld für mich, damit ich mir etwas zu Essen oder einen Kaffee kaufen kann?« umschwenken konnte. War der Angesprochene jedoch nicht allzu widerständig, händigte er oder sie Hiob einen Hundert-Euro-Schein aus und vermisste diesen anschließend selbst dann nicht, wenn ein das Haushaltsgeld überwachender Lebenspartner sich mehrmals und aufgebracht bei ihm danach erkundigen sollte.

Manchmal begegnete Hiob im Supermarkt auch diesen leicht schmierigen Typen, die ihr Geld nicht in einem Portemonnaie aufbewahrten, sondern in überwiegend aus Hundertern und sogar noch größeren Scheinen bestehenden Geldrollen, die sie aus einer ihrer Hosentaschen zogen. Bei solchen bat Hiob gleich um einen nicht vermisst werdenden Tausender, und die Lebenshaltungskosten waren durch einen einzigen Fischzug für einen ganzen Monat gedeckt.

Infolgedessen war Hiob recht gut in Übung darin, vermittels Magie handfeste Resultate zu erzielen – aber dennoch widerstanden ihm die Schlösser. Vielleicht, weil es zwei waren. Vielleicht waren sie mit einem antimagischen Bann imprägniert. Vielleicht waren sie oder Hiob auch einfach nur zu eingerostet. Es muss durchaus seltsam ausgesehen haben, wie dieser durchnässte bierbäuchige Langhaarige minutenlang auf der Stelle kauerte und brabbelnd den metallischen Gitterboden anstarrte, aber gerade in dieser Gegend wimmelte es von Obdachlosen, die Einkaufswagen voller Krempel vor sich herschoben, die Anwohner waren also in ihren eigenen verworrenen Welten lebende Spinner durchaus gewöhnt.

Als Hiob sich wieder erhob, taten ihm die Knie und die Beinmuskeln weh wie einem doppelt so alten Mann.

»Ja Scheiße«, sagte er halblaut als Resultat all seiner Bemühungen. Mit einem massiven Stahlschneider müsste man den Schlössern eigentlich zu Leibe rücken können. Das aber natürlich nicht am helllichten Tage. In einer Ausnüchterungszelle tobend konnte er dem Prognosticon gewiss nicht beikommen.

Er wollte sich schon abwenden und einmal mehr in seinem Spielerleben ein Baumarktshopping planen, als sein Blick auf etwas anderes fiel: zwei weitere dieser rot-weißen Pfosten, auf demselben Gehweg, am nördlicheren Ende des kleinen Platzes, der hier angelegt war.

Er schlurfte hin. Es regnete noch immer.

Ein weiterer Gitterrost, viel kleiner als der andere jedoch. Schmaler als einen Quadratmeter. Jemand mit Hiobs Bauchumfang würde sich schon fast ein wenig quetschen müssen. Senkrecht führte unter dem Gitter eine Leiter in die Tiefe. Hiob schnupperte. Hier roch es nach nichts. Aber was ihm wichtiger schien: Hier fehlten die Vorhängeschlösser. Dieser Zugang war vollkommen ungesichert. Weshalb? Weil er benutzt wurde, selbstverständlich. Gerade heute und genau jetzt in Gebrauch war.

»Na toll, dass ich mich da hinten verausgabt habe, und hier kommt jeder Löffel rein«, brummte Hiob, seiner Darstellung eines gesellschaftlich Ausgegliederten durch das Selbstgespräch noch zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihend. Er schaute sich um. Es sah gerade niemand zu ihm her. Ohnehin war in der Dresdener, die als Einbahnstraße angelegt war, nur sehr wenig los.

Er klappte das Gitter am einen Ende hoch. Es war so gut in Schuss, dass es noch nicht einmal quietschte oder knirschte. Dann schlüpfte er mühsam in die schmale Enge darunter, das Gitter hinter sich wieder zuziehend.

Warum jetzt, völlig unvorbereitet, tagsüber, so spontan? Weil es ging. Weil es gerade offen war und schon in einer Stunde wieder nachhaltig verschlossen sein mochte. Klappe auf, Affe drin. So einfach.

Jetzt steckte er wie in einem Kamin. Tastete sich Sprosse für Sprosse abwärts.

Es wurde zunehmend dunkler. Stickiger. Irgendein Geräusch rollte durch die Tiefe. Gesang? Aber weit entfernt. Dann wieder gar nicht mehr zu hören.

Hiobs nach unten erkundender Fuß glitt in Wasser.

»Das wird ja heiter.« Wie tief denn? Der Schuh und die Socke ohnehin schon vom Regen vollgesogen, also was soll’s? Er fand Grund, das Wasser stand nur etwa knöchelhoch, aber das reichte natürlich, um es richtig schön ungemütlich zu machen.

Das Tageslicht, das von hier aus noch durchs Gitter fiel, wirkte sterbend.

Eine halb geöffnete rostige Tür, über der »Eingang« stand? Wie ein U-Bahnhof sah das eigentlich nicht aus.

Egal. Hindurch.

Dahinter steingraue Gänge. Vereinzelt altmodische Wandleuchten, die tatsächlich an waren. Wieder der Gesang, ganz kurz nur. Er kam und ging.

Eine Beschriftung. »Gasschleuse«. Wie ausgesprochen beunruhigend das klang. Und wie typisch deutsch.

Nummerierte Räume. Frauen und Männer durch Hinweisschilder voneinander abgetrennt. Nie und nimmer war das eine U-Bahnstation. Dies war doch eher ein Luftschutzbunker. Eine mindestens siebzig Jahre alte und ebenso lange nicht mehr genutzte Zufluchtstätte.

Raum 1a — 44 Pers.

Raum 5 — 44 Pers.

Raum 13 — 32 Pers.

Das Wasser um Hiobs Knöchel hatte die Farbe von Pisse, war jedoch geruchlos. Wahrscheinlich durch Rost verunreinigt. Etwas rumorte wie eine Verdauung, ein erdbebenartiges Übelsein. Wahrscheinlich die echte U-Bahn, die nur wenige Hundert Meter entfernt den Moritzplatz passierte. Ganz Berlin war von diesem Maschinengebrodel durchzogen.

Hiob watete weiter, jeder Schritt ein Tasten, weil er den Grund nur überspiegelt sehen konnte. Die Farben ringsum ein blässliches Gelb und grauer Beton, aber auch ausgebleichtes Blau und Braun. Die Leuchtelemente summten kläglich. Keinerlei Insekten klatschten gegen sie.

Nach links ging es zu »Notausgang« und »Aborte«, nach rechts zu »Ausgang« und »Aufsicht«.

Hiob blieb stehen, lauschte. Seine Füße hatten sich schon längst ans Stehen im Wasser gewöhnt, es war wenigstens nicht eisig kalt, sondern abgestandene Lauheit.

Der Gesang war nicht mehr zu hören. Der Gesang war sein Anhaltspunkt. Er wollte hier unten nicht in die Irre gehen wie eine Labormaus.

Er wartete.

Auch das war womöglich ein neuer Hiob. Der alte Hiob wäre Richtung »Aborte« gestürmt, einfach schon aus Neugier, wie die wohl aussahen. Der neue wartete.

Aber auch den neuen zog es dann Richtung Aborte, denn der kurz aufgewallte Gesang schien aus dieser Richtung gekommen zu sein. Vielleicht auch nicht, aber er konnte ohnehin nichts anderes tun, als einen Weg zu erraten. Wegweisende Magie war ihm hier unten zu riskant, er wollte das Prognosticon nicht nach seinem Eindringen auf sich aufmerksam machen, bevor er nicht wenigstens eine Ahnung hatte, worum es sich dabei überhaupt handeln mochte.

Er passierte die Aborte. Enthülste Kabinen, beinahe abstrakte Kunst aus Verrottung in Rost.

Die Gänge schienen schmaler zu werden. An einigen Stellen entblößten die Betonwände ihr Gedärm aus verrostetem Gitterwerk. Hiob fand einen schmalen Durchgang, in dem mehrere Kabel und Leitungen sich spreizten wie die Finger einer sehr spinnenhaften Hand. Dahinter erreichte er eine einen Drittelmeter höher liegende Ebene und konnte dadurch das Wasser verlassen. Er wrang seine Hosenbeine aus, dann sogar noch seine Schuhe und Socken. Er wollte nicht bei jedem Schritt triefende, quietschende oder suppende Geräusche von sich geben.

Das Licht veränderte sich. Wurde weniger funzelig, sondern gleichbleibend klar. Neonröhren, alle an. Das jetzt konnte der alte U-Bahnhof sein. Hiob näherte sich augenscheinlich dem für ihn wichtigen Bereich.

Der Gesang wieder, klarer als jemals zuvor. Das nur einigermaßen melodische Brummen einer Menschenmenge, vielleicht zwanzig, dreißig Stimmen. Eine Gemeinde? Eine schwarze Messe?

Nicht ganz.

Nach der gelben Brühe befand Hiob sich nun in einer anderen Welt. Hier unten war es beinahe taghell. Im ersten Raum sahen die Wände rußig aus, als hätte es hier einmal gebrannt. Im Raum dahinter war etwas an den Wänden, das wie Einschusslöcher aussah. Vielleicht waren es aber auch nur die Überbleibsel einer deinstallierten Vorrichtung. Der Gesang blieb jetzt aus. Wallte kurz auf. Blieb wieder aus. Fast wie der asthmatische Atem eines tief im Labyrinth verborgenen Ungeheuers.

Eine große Metalltafel an der Wand. Buchstäblich:

Diese Inschrift ließ Hiob kurz nachgrübeln über die Fähigkeit der Eigner, Abkürzungen zu bilden, aber sicherlich war alles irgendwie historisch gewachsen und herleitbar.

Lagepläne. Ein Verein für Begehungen von unterirdischen Anlagen organisierte hier Führungen, deshalb die intakte Beleuchtung und das ganze Informationsmaterial an den Wänden. Hiob konnte sich aber nicht vorstellen, dass dieser Verein hier unten Gesangsstunden durchführte. Oder ein Prognosticon erzeugte. Nein, das hier war etwas anderes. Etwas, das sich ebenfalls hier unten eingenistet hatte, jenseits der sicherlich ohnehin nur selten, vielleicht nur einmal im Monat stattfindenden Führungen, außerhalb der Öffnungszeiten also. Eine unlautere Zweitnutzung, wie die des Berliner Bestattungsunternehmers, der seine Leichen kurzerhand im Kühlraum eines benachbarten Supermarkts lagerte.

Die Wände jetzt hell und seltsam, von quadratischen Löchern durchbrochen, neben denen jeweils Ein Ein und AusAus stand. An einer anderen Wand stand Kondensatoren Batterie Gruppe 1. An einer weiteren Entqualmung. An wieder einer anderen rätselhafterweise Die Würde des Menschen ist unantastbar. Was war das nur für ein eigenartiges Sammelsurium industriell gefertigter Graffitis?

Dann änderten sich die Lichtverhältnisse.

Voraus befand sich ein Raum, in dem kein Neon brannte, sondern nur das zugluftbewegte Flackern etlicher Kerzen. Es musste ein großer Raum sein, eine Halle. Der Bahnsteig womöglich.

Das war natürlich nicht dumm ausgeheckt. Wenn Hiob sich durch das Neonlicht näherte, musste er sich von der dunkleren Halle aus deutlich als Umriss abzeichnen. Niemand konnte sich also unbemerkt anschleichen. Er zögerte. Der Gesang wogte wieder, nichts Christliches war in ihm erkennbar. Aber ob das Kongolesisch war? Hiob fehlten die Vergleichsmöglichkeiten. Französisch klang es jedenfalls nicht. Aber es gab 214 Sprachen im Kongo.

Half alles nichts. Wenn er nicht hinging, konnte er nichts dagegen unternehmen.

Aber fühlte er sich denn bereit, jetzt schon etwas dagegen zu unternehmen? Hatte er seine Schuldigkeit denn für heute nicht schon dadurch getan, so viel ausgekundschaftet, herausgefunden und sogar besichtigt zu haben? Waren seine Schuhe denn heute nicht schon zweimal nass geworden, einmal im Regen, einmal im Rostwasser?

Der neue Hiob zögerte schon wieder.

Plötzlich jedoch fürchtete er, dass, wenn er jetzt so herumstand, wieder ein ganzes Jahr verging, ohne dass er das mitbekam.