Hiobs Spiel 3 - Verlierer - Tobias O. Meißner - E-Book

Hiobs Spiel 3 - Verlierer E-Book

Tobias O. Meißner

1,0

Beschreibung

Hiob Montag gegen den Rest der Welt der Kampf um das Schicksal der Menschheit geht in die dritte Runde. Und noch nie hatte Hiob so sehr das Gefühl, dass sich alles gegen ihn verschworen hat. Wird er es schaffen, den Weltrekord im "Spiel" einzustellen? Oder droht im das endgültige Aus mit fatalen Konsequenzen nicht nur für ihn ...?

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Seitenzahl: 524

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Titel

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Impressum

Tobias O. Meißner

Hiobs Spiel 3 – Verlierer

© 2012 by Tobias O. Meißner

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2012 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Catherine Beck

Technische Unterstützung: Robert Schröder

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36 | 12683 Berlin

[email protected] | www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-20-2 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-942396-60-8 (E-Book)

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Inhalt

Inhalt

Titel

Impressum

Inhalt

Vorspiel

Manifestationen 2 und 3: DäMonTage

erstes kapitel – in welchem Hiob drei verschiedene Geister ruft auf vier verschiedene Weisen

zweites kapitel – in welchem die übrigen protagonisten der komödie endlich in erscheinung treten

Wo die Wände nicht nur Ohren haben.

drittes kapitel – in welchem Hilflosigkeiten körperlich erfahrbar werden

Isolationshaft

viertes kapitel – in welchem die Beschwerlichkeit von Wegen verhandelt wird

fünftes kapitel – in welchem drei Geschichten enden und zwei weitere beginnen

Prognosticon 14: Die Erschießung des Benjamin Blümchen

Beruf

Leben

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Sonnabend

Sonntag

Montag

Prognosticon 15: Willkür und Pflicht

Sturm und Drang.

Das Eis beginnt zu brechen.

Prognosticon 16: Nichtsländer

a) Kinder

b) Erwachsene

c) weder noch

Im Vorübergehen

Prognosticon 17: Feuerschrei

Manifestation 4: Nebel, dann erst Blut

1. eine einleitung durch ein tor

2. der spieler montag, eindringend

3. der remmert mogens, sich noch umschauend

4. ein zweikampf wie viele

Nachspiel

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Phantastik im Golkonda Verlag

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Vorspiel

Berlin

hat sich etwas jejönnt.

Das alte Panoptikum

ist abgerissen worden.

Vorbei die

eiserne Jungfrau,

der stöhnende Leib

auf der Streckbank,

die Hungergrube.

Vorbei die langen Kerls

und der unter uns

stehende Haarmann.

Stattdessen jetzt etwas ganz Neues:

ein Wachsfigurenkabinett mit Stars,

zum Anfassen

und Mitmachen.

Und hierin

abgebildet:

Anne Franks

ewiges Fegefeuer.

Da sitzt sie nun, ihrem Versteck entrissen im Offenen, begafft und bestaunt, über einer Seite ihres Tagebuchs, die sich niemals füllt.

Nur wenige Meter von ihr entfernt

sitzt Hitler, vor Attentätern

geschützt in einem kleinen Bunker,

und denkt

darüber nach,

wie er –

auch Jahrzehnte noch nach seinemEnde –

möglichst viele Menschen

töten kann

mit seiner

Autobahn.

Sie kann ihn

spüren.

Er ist nahe.

Sie weiß, wofür

er verantwortlich ist.

Und jeder kann sie befummeln.

Ihn nicht.

Das hat Berlin noch jeder anderen Stadt voraus.

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Das Mädchen Coriscal, einer jungen Frau nun ähnlicher als einem Kind, steht neben Sophie Scholl. In beider Gesichter spiegelt sich eine Dokumentation, die über einen eingelassenen Bildschirm flimmert. Bilder eines früheren, unverblümteren Berlins.

»Was zuletzt geschah«, sagt Coriscal und spricht über die grobkörnigen Bilder hinweg. »Das Spiel steht mittlerweile 14:2 für Hiob Montag. Er steht somit kurz davor, den Weltrekord zu brechen, der seit über drei Jahrhunderten besteht: 17 Punkte. Und was tut er? Um den Weltrekord in einem Husarenstreich stürmen zu können, lässt er sich von NuNdUuN dazu überreden, es mit zwei Manifestationen gleichzeitig aufzunehmen, was ihm sechs Punkte bringen und ihn somit auf 20 Punkte katapultieren würde.

Doch dann – wie bei jemandem wie Hiob nicht anders zu erwarten – eskaliert die Situation.

Aus Abscheu über das Szenario mit den ertrunkenen Kindern tut Hiob das Unvorstellbare: Er ohrfeigt den Fürsten des Wiedenfließes. Zur Vergeltung zerschmettert dieser ihm den Beckenknochen. Als Widder daraufhin erfährt, dass Hiob zwei Manifestationen gleichzeitig erhalten wird, bricht sie den Kontakt zu ihm ab, um nicht in die Schusslinie zu geraten. Sie weiß, dass eine der beiden Manifestationen der Wiedenfließ-Kopfgeldjäger Souldiver Bloodfork sein wird, vor dem sich Widder aus bislang noch ungeklärten Gründen fürchtet.

Hiobs magische Heilfähigkeiten helfen ihm zwar bei der Rekonvaleszenz in einem Krankenhaus, aber mit jedem verstreichenden Tag wird ihm klarer, dass er gegen zwei Manifestationen eigentlich keine Chance hat, zumal er die einzige Manifestation, mit der er es bislang je zu tun bekam, auch nicht selbst besiegen konnte.

Und als ob er nicht schon genug Probleme hätte, bieten sich noch folgende Hintergründe an: Sind tatsächlich die Merowinger und der sogenannteOrder of Onehinter ihm her, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen, so wie die Alten Terach und Wagsal ihm dies prophezeiten? Wird der Polizeiermittler namens Seelot weiterhin ein Auge auf Hiob und seine Tätigkeiten werfen, weil er ihn anhand von Bernadette Jurows Tagebuch mit den Bluttaten des pseudovampirischenRudelsin Zusammenhang bringt? Wer sind diejenigen, die Hiob ebenfalls beobachten undbald in Erscheinung tretenwollen? Welche ist Hiobs Tarot-Karte und welche die des geheimnisvollenSalamanders?

Wann und in welcher Gestalt wird Souldiver Bloodfork aktiv werden? Welcher Art wird die zweite, gleichzeitige Manifestation sein?

Die Komödie geht weiter.

Und alles Lachen stoppt.«

Die Dokumentation endet

und beginnt dann wieder von vorne.

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Manifestationen 2 und 3: DäMonTage

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Die Verwohlfeilerung der Arbeitskraft durch bloßen Missbrauch weiblicher und unreifer Arbeitskräfte, bloßen Raub aller normalen Arbeits- und Lebensbedingungen und bloße Brutalität der Über- und Nachtarbeit, stößt zuletzt auf gewisse nicht weiter überschreitbare Naturschranken [...] Sobald dieser Punkt endlich erreicht ist, und es dauert lange, schlägt die Stunde für Einführung der Maschinerie [ ... ]

(Karl Marx:Das Kapital)

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erstes kapitel – in welchem Hiob drei verschiedene Geister ruft auf vier verschiedene Weisen

Berlin ist eine magische Stadt, aber Berlin kämpft dagegen an.

Ein alter Mann saß mit einem seltsam bemalten Didgeridoo in einem der Tunnel des U-Bahnhofs Kottbusser Tor und erfüllte das ganze System mit mystischem Dröhnen. Hiob blieb stehen und lauschte den Spiralen, die den Gang entlangbrausten. TraumZeit ist außerhalb der RaumZeit. Also überall, auch hier. Selbstverständlich legte Hiob dem Mann eine silbrige Münze auf das Tuch.

Als Hiob seine Comics gekauft hatte und wieder runterging zur Bahn, bekam er nur noch mit, wie der alte Mann gerade von Ordnungshütern vertrieben wurde. Wegen Ruhestörung und Belästigung der Bürger.

Eine kleine kaputte Katze war ihm zugelaufen.

Sie hatte nur noch ein Ohr, und mit ihrem Kiefer stimmte auch was nicht, ein paar Knochenleisten standen da schief und weiß vor und ließen das Tier andauernd so aussehen, als ob es einen zerbissenen Vogel im Maul hätte. Wahrscheinlich war sie mal überfahren worden und hatte das überlebt. Hiob berechnete ihre Lebenserwartung, stellte fest, dass die Kerze schon ziemlich weit runtergebrannt war, und beschloss, dem armen Ding in seinen letzten Tagen Asyl mit Milch und Ölsardinen zu gewähren.

Hiob selbst? Hinkte noch immer. Hatte sich einen geschnitzten Gehstock geholt von Wagsal, der ihm auf der Straße etwas Antiquiert-würdevolles verleihen sollte. Seht mal da, nickten die Leute. Ein antiquiert-würdevoller Krüppel.

Seltsam die Tage. Aus zweierlei Gründen: Nach dem theaterreifen Abhau von Widder hatte Hiob keine Geldquelle mehr, keine Möglichkeit, so glatt zu stehlen. Alles war für die Überführung und das Krankenhaus draufgegangen, es war zum Kotzen. Wovon sollte ein Messias leben, wenn es niemanden gab, der ihn fürs Weltenretten bezahlte?

Der zweite Grund, weshalb die Tage schief lagen wie ein auf einer Sandbank aufgelaufener Schoner, war, dass von den zwei Manifestationen nichts zu sehen war. NuNdUuN ließ sich Zeit, hatte ja auch alle Zeit – nicht nur – der Welt. Hiob hinkte im luftleeren Raum herum, dennoch schwang düsteres Schicksal sein Pendel über ihm. Selbst der Postbote, der etwas für jemand anders bei Hiob abgeben wollte, weil Hiob eben zu Hause war, schaute ihn an wie die Dorfbewohner einen Reisenden, der sich nach dem Weg zu Schloss Dracula erkundigt. Das Wiedenfließ hatte mit zwei angekündigten Manifestationen das Kainsmal des Verhängnisses auf Hiobs Stirn geschlagen, und jeder, der nicht farbenblind war, konnte es lesen.

Hiob konnte die Miete des folgenden Monats nicht mehr bezahlen. Feininger war nie da oder ließ sich verleugnen und rief auch nicht zurück. Hiob selbst war zu stolz, Widder zu beschwören. Oder Kamber zu behelligen.

Da gab es eine Möglichkeit zu Geld zu kommen, die ging Hiob nicht mehr aus dem Kopf. Für nur ein oder zwei Bände aus der Familiengruft würden sich wahrscheinlich gut zehntausend Mark verlangen lassen, das würde dann wieder für sechs oder sieben Monate reichen. Aber die unheiligen Schätze der Familienbibliothek waren nicht sein Eigentum, zumindest nicht, solange sein Großvater noch lebte. Hiob hatte nun doch zu viel Respekt, um seinen eigenen Namen zu bestehlen.

Trotzdem suchte er die Gruft mal wieder auf, zum ersten Mal, seit er mit der schönen Bernadette dort gewesen war. Stöberte in der vertrauten Muffigkeit herum. Verwarf angesichts der Folianten und Handschriftenunikate den Gedanken an den Ausverkauf vollkommen. Außerdem war er ein Outlaw, und er würde auch wie ein Outlaw – und nicht wie ein Krämer – an Geld kommen. Selbst wenn er jemandem dabei eins überbraten musste.

Als er dort unten saß, von drei Teelichtern vergoldet, die er mitgebracht hatte, und in ein paar Karten blätterte, die das Wiedenfließ nach frühchristlicher Prägung darstellten, als Höllenlabyrinth voller Schluchten und Kluften, dachte er über den Kopfgeldjäger nach, den sie von dort schicken würden oder bereits losgeschickt hatten, um ihn zur Strecke zu bringen, und versuchte, sich ein Bild von diesem Wesen zu machen. Souldiver Bloodfork war ja nur ein ziemlich moderner, angelsächsischer Name für eine Kreatur, deren wahrer Ursprung so verborgen war, dass nicht einmal Widder Genaueres darüber gewusst hatte. Wie würde sich Bloodfork manifestieren? Als Lee van Cleef mit wehendem Staubmantel und Facettenaugen? Als Zehn-Meter-Battlemech mit Fledermausflügeln? Als harmlos wirkendes Männchen mit Beamtenglatze und Schweizermesser? Als transparentes Geistwesen, das breitbeinig halb in der Wohnungstür drinstand? Oder vielleicht als Frau? Definitiv musste mit allem gerechnet werden. Und da niemand mit allem rechnen konnte, konnte man sich die Rechnerei eigentlich auch gleich sparen und das Ding einfach kommen lassen.

Eines jedoch hatte Hiob mittlerweile begriffen, die Kalamität mit der Geldbeschaffung hatte ihm das ziemlich unter die Haut gerieben: Alleine war das Leben deutlich karstiger als mit Partner. Und da NuNdUuN diesmal ja gleich beidhändig ziehen und feuern wollte, machte sich Hiob wirklich Gedanken darüber, ob er nicht vielleicht zur Abwechslung mal einen Verbündeten gut gebrauchen könnte. Nur: Welcher Verbündete würde lebensmüde genug sein, Hiob im Kampf gegen den unaufhaltsamsten Kopfgeldjäger der Hölle zu assistieren? Klar: Jeder, der dafür gut bezahlt wurde und mangels magischen Fachwissens keine Ahnung hatte, gegen wen man eigentlich ins Feld zog. Nur dass Hiob erstens niemanden gut bezahlen konnte und zweitens eine unmagische Knallcharge auch überhaupt nicht gebrauchen konnte. Wenn man Bloodfork mit einem Bodyguard oder auch einer ganzen Armee von Bodyguards hätte stoppen können, wäre der Ruf dieses Wesens wohl kaum so ehrfurchtgebietend geworden. Nein, was Hiob wirklich gebrauchen konnte, war ein guter Terminator, der ihm gegen den bösen Terminator beistehen konnte. Und wo sonst konnte man einen Terminator herkriegen als aus dem Wiedenfließ? Dort gab es aber natürlich keine guten Terminatoren, da alles dort vom selben Geist durchdrungen war wie eben Bloodfork selbst. Hiob konnte auch nicht einfach eine Manifestation heraufbeschwören und dann versuchen, diese in seinem Sinne zu läutern. Alles, was er damit erreichen würde, wäre, gegen drei statt nur gemütliche zwei Manifestationen gleichzeitig wrestlen zu müssen.

Nein, im Fließ war niemals wirkliche Hilfe zu erwarten, es sei denn ...

... es sei denn ... es gab in der immateriellen Welt genauso wie in jedem Land der materiellen Welt Dissidenten. Stänkerer und Systemkritiker.

Nein. Jeder Wiedenfließ-Dissident hätte eine Lebenserwartung unterhalb des Fruchtfliegenzyklus. NuNdUuN war mit Sicherheit kein wohlmeinender und großzügiger Herrscher, musste er ja auch nicht sein, das Wiedenfließ war keine Demokratie, sondern eine Militärdiktatur – und eine Generalamnestie anlässlich jedes neuen Herrschaftsmillenniums gab es dort unten/oben/drinnen sicherlich auch nicht. Diese Möglichkeit konnte Hiob sich abschminken. Außerdem wäre er nie an so jemanden rangekommen.

Und dann kam Hiob – eines seiner hervorstechendsten Charaktermerkmale – ein ganz besonders kurioser Gedanke. Ausgehend von der Idee, wie jemand beschaffen sein müsste, der im Wiedenfließ lebt, für Hiob kontaktierbar ist und einen mächtigen Hass auf NuNdUuN hat, ohne jedoch wiederum von NuNdUuN bedroht zu werden.

Nein, noch kurioser als das.

Die Gruft war ein guter Ort, um mit der Ehrwürdigen Beisitzerin Eidry Gevicius Kontakt aufzunehmen.

Hiob zerkaute eine Seite aktiven Pergamentes aus einem leeren Buch der Wandlungen, murmelte dabei eine der geläufigsten assyrischen Formeln, die es gibt, und stopfte sich das nasse Maché dann in die Ohrmuscheln. Wie unverdrahtete Kopfhörer begann das antike Papier in der knurrigen, belfernden Stimme der Gevicius zu summen, und das sogar in Stereo.

»’S’n los?«

»Entschuldigt bitte mein unaufgefordertes Eindringen, ehrwürdige Beisitzerin. Euer freundlichster Besuch an meinem Krankenhausbette war von derart tiefreichender Substanz, dass ich noch heute an den Folgen zu tragen habe.«

»Ich hab dir schon hundertmal erklärt, dass ich ein Problem habe mit eurer Luft, und das wird nicht besser, wenn du dauernd jammerst.«

»Nein, darum geht es doch gar nicht. Es geht um etwas, das Ihr sagtet. Ihr habt mir erzählt, dass in all den Jahrtausenden nur ein einziger Präzedenzfall bekannt geworden ist, wo ein Spieler zwei Manifestationen gleichzeitig überlebt hat.«

»Ja, und?«

»Könnt Ihr mir darüber ein paar genauere Informationen geben?«

»Bin ich jetzt dein beschissenes Auskunftsbüro, oder was?«

»Hören Sie, Sie lassen doch kaum eine Gelegenheit aus, mir klarzumachen, wie sehr es Sie nervt, dass Sie nur aufgrund meines Spieles dazu verdonnert worden sind, hier auf Erden Dienst zu tun. Nun gebe ich Ihnen eine Möglichkeit, nicht einfach nur die Zeit abzusitzen, sondern das eigene Wissen irgendwo einzubringen, und Sie sind schon wieder unzufrieden! Ich geb mir doch nur Mühe, Sie einzubinden, Beisitzerin.«

»Wie altruistisch. Ich bin eine Beisitzerin, du Hänfling. Du wirst mich nirgends einbinden, verstanden?«

»Wovor habt Ihr Angst? Dass Euer Herr und Meister Euch vorwerfen könnte, einen Spieler mit Informationen zu versorgen? Ich könnte mir diese Informationen ja auch anderweitig besorgen, das ist nur etwas komplizierter und zeitaufwändiger, aber keinesfalls unmöglich.«

»Dann tu es doch. Viel Spaß.«

Sie knallte den ätherischen Hörer auf, so heftig, dass Hiob die Papierkugeln aus den Ohren flogen. Das Innere seines Kopfes fühlte sich an, als hätte ein volltrunkener Wilhelm Tell mitten hindurchgeschossen.

»Fuck!«, fluchte Hiob, und immer wieder »Fuck!« Die Beisitzerin hätte ihm wirklich weiterhelfen können, aber sie fürchtete sich genauso wie Widder. NuNdUuN hatte Nachrichten- und Ausgangssperre verhängt – und Verdunkelung, so kam es einem vor. Die Dinge lagen böse.

Welche Informationsquellen konnte Hiob noch nutzen?

Sein Großvater natürlich, der hatte sich sicherlich im Laufe seines langen Lebens ausführlichst mit der Historie des Spieles auseinandergesetzt. Aber Hiob besuchte den alten Magier nicht mehr gern, seit dieser ihm das nahe Ende durch die Merowinger prophezeit hatte. Die tadelnden Voraussagen des Scheiterns waren deprimierend.

Moritz Wagsal? Obwohl Wagsal an den Merowingerwarnungen beteiligt war, hatte Hiob jetzt ungezwungeneren Kontakt mit ihm, über den Gehstock. Aber war Wagsal als alter Sidekick seines Großvaters genügend unterrichtet über Dinge, die sich vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden ereignet hatten?

Dann waren da natürlich noch die Bücher. Sicherlich enthielt diese Gruft, wenn man zwischen den Sätzen zu lesen verstand, alle Informationen, die er suchte. Aber es hatte über ein Jahr fleißigsten Meditationstudiums bedurft, um überhaupt erst einmal die Informationen über die Spiel-Regeln aus den Enzyklopädien zu derivieren, für Details würde man wahrscheinlich mindestens ebenso lange brauchen. Eine magische Suchmaschine müsste man mal entwickeln, damit ließe sich sicherlich sogar Geld machen.

Widder. Widder war natürlich der beste Kontakt, den es gab. Sie, die seit Jahrhunderten im Wiedenfließ und außerhalb existierte, hätte Hiobs Frage mit Leichtigkeit beantworten können. Er hatte vertraglich die Handhabe, sie zu sich zu zwingen. Aber wollte er das? Wollte er ihr nicht beweisen, dass er auch wunderbar ohne sie zurechtkam, jetzt, wo sie sich beim ersten Wetterleuchten echter Gefahr verkrümelt hatte? War er nicht so enttäuscht und auch verletzt von ihrer Treulosigkeit, dass er ihr eine Lektion in bretthartem Machismo erteilen musste?

Also gut. Widder nicht.

Blieb noch die Möglichkeit, das Wiedenfließ selbst um einen Energiekredit zu bitten, um ein bisschen in den dortigen Ländereien und Archiven surfen gehen zu können. Aber NuNdUuNs Zinsen waren immer so blutschwelgerisch, dass Hiob sich abgewöhnt hatte, mehr Magie zu beanspruchen, als ihm genetisch zustand.

Fuck, dachte er sich, dann ramm ich die Karre eben voll gegen den Bus.

Er nahm ein ganz bestimmtes Buch mit, verließ die Gruft und ließ bei Karstadt am Hermannplatz eine Plastikschachtel voller buntköpfiger Stecknadeln mitgehen. Dann ging er rüber in die Hasenheide und versuchte, dort ein Plätzchen zu finden, wo nicht ganz so viele Frisbeewerfer oder Fußballkicker oder Sonnendöser oder illegale Grillpartys rumhingen. Sommer war immer eine fiese Zeit für jemanden, der kein Geld und überhaupt keinen Spaß hatte und zu niemandem richtig dazugehörte. Die Frauen waren schöner und lachten viel, und die jungen Kerle tollten herum und stießen sich die Hörner ab. Hiob verkroch sich, weißgesichtig wie ein Geist, weil nur noch zwischen Krankenhaus und Gruft pendelnd, in ein vollgekacktes Gebüsch, schlug das ledergebundene Buch auf und akupunktierte sich dann die haarlose Unterseite des linken Unterarms samt Handinnenfläche, getreu einer detaillierten Abbildung von Energie- und Sendungsbahnen. Dann scharrte er mit der Rechten ein längliches Loch in ungefährer Nordwest-Südost-Richtung, legte den nadelgespickten linken Unterarm mit der Hand nach Nordwesten hinein, bedeckte ihn mit Erde und drückte die Erde einigermaßen fest. Das war kühl und angenehm, und er legte sich auf den Bauch und konzentrierte sich. Nach fünf Minuten begann er durch das System von Miniaturantennen, die jetzt in seinem unterirdischen Arm steckten, zu senden und zu empfangen.

»Schon wieder du? Langsam wirst du lästig.«

»Entschuldigt bitte vielmals die neuerliche Störung, ehrwürdige Beisitzerin, ich hatte lediglich den Eindruck, dass unser Gespräch vorhin mit einem Missklang endete, den auszuräumen mir wirklich am Herzen liegt.« Hiob spannte die Muskeln im vergrabenen Arm an. Schweiß lief ihm über die Stirn. »Selbstverständlich seid Ihr nicht verpflichtet noch befugt, mir irgendwelche Auskünfte zu erteilen, die den weiteren Fortgang des Spieles in irgendeiner Art und Weise beeinflussen könnten, besonders wenn es sich um Informationen über einen vormaligen Spieler und seine speziellen Taktiken handelt.« Die Schmerzen wurden stärker, die Nadeln wuchsen tiefer, Schweiß biss Hiob in die Augen. »Im Grunde genommen ... im Grunde genommen rufe ich nur noch einmal an, um Sie als Regelkundige zu befragen, inwieweit ich als Spieler eigentlich Zugang erhalten müsste zur vollständigen Geschichte des Spieles, und ob es vielleicht irgendeine Handhabe gibt, mir ein Informationsrecht einzuklagen, besonders, wenn es um herausragende Einzelleistungen von Spielern lange vor meiner Zeit geht und ich als augenblicklicher Letzter einer langen Reihe von Vorgängern eigentlich ein Vertreter einer Tradition bin, die zu kennen ...«

»Moment mal! Was tust du da? Versucht du, in mir rumzuwühlen? Durchsuchst du mich gerade?«

»Davon ... träumt Ihr nur ... Ehrwürdige.«

»Das kann doch wohl nicht wahr sein! Du versuchst mit einem der ältesten Durchdringungstricks der Fließgeschichte einer Beisitzerin ins Bewusstsein zu fassen? Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich? Und wie bescheuert bist du selber?«

»Ich ... weiß nicht ... was Ihr meint, Ehrwürdige.«

Seine Antennen übertrugen gurgelnde, Blasen werfende Geräusche, die unter seiner Haut rissen wie Angelhaken. »Das wird dich teuer zu stehen kommen, Montag. Diesmal bist du wirklich zu weit gegangen. Ich könnte dir deinen verdammten Arm nehmen, weißt du das eigentlich?« Hiob hatte das tatsächlich nicht gewusst, aber er lernte schnell, denn sämtliche Nadeln fingen jetzt an, weiß zu glühen. Kreischend riss Hiob den Arm aus der Erde, versuchte mit der rechten Hand Nadeln zu entfernen, verbrannte sich dabei aber nur die Finger. Tränen liefen ihm aus den Augen, und die geschmolzenen Nadelköpfe tropften bunt auf sein zischendes Fleisch. Den Riemen einer seiner Sandalen zwischen den Fingern, zog sich Hiob die Nadeln eine nach der anderen aus den schwarzgebrannten Wunden. Die Schmerzen waren so unglaublich stark, dass Hiob tatsächlich flennte wie ein kleines Kind, Rotz- und Speichelfäden, die von seinem Kinn troffen, inklusive.

Geduckt und schmutzig machte er sich auf den Weg nach Hause, zu Fuß, rechts schwer auf den Gehstock gelehnt, den linken Arm ins T-Shirt gewickelt, der magere Oberkörper nackt und erdverschmiert: der asoziale Bettlerkrüppelalbtraum all der frühsommerlichen Bürger ringsum, die die beneidenswerte Gabe hatten, sich mit ihrer lebenslangen Rolle als fremdbestimmtes Gesellschaftssegment voll und ganz abfinden zu können. Wenn jemand ihn anstarrte, starrte Hiob durchdringend türkis zurück, und dann wichen die anderen mit Hundeblicken aus.

Zu Hause hielt er Arm und Kopf unters kalte Wasser, rührte sich eine Art Brandsalbe aus verschiedenen Fetten und Ölen und Kräutern nach Rezept seiner Mutter, wickelte sich den linken Arm und die linke Hand in gebrauchte Mullbinden, zog noch mal los, kaufte sich kurz vor Ladenschluss ein paar Tetra-Paks billigsten Rotweins und verbrachte den Rest des Tages damit zu saufen, mit rechts ein paar wütende Schmierer über unschuldige Leinwände zu klatschen, zu saufen, unruhig auf und ab zu gehen, zu saufen, elektromagnetische Grundenergie des vegetativen Nervensystems in den verwundeten Arm zu lenken, um den Heilprozess zu beschleunigen, zu saufen, zu tänzeln, zu saufen, die orientierungslos herumstromernde Katze zu kraulen, den Kopf gegen die Wand zu schlagen und das Gesicht ins milde Lächeln der Verzweiflung entgleisen zu lassen.

Mitten in der Nacht wachte er auf dem Boden liegend zwischen all seinen halbfertigen Gemälden auf, kämpfte sich auf die Beine und schrieb in griechischen Buchstaben das Wort ARIES auf die Rückseite einer blau grundierten Leinwand. »Du musst nicht leibhaftig hier erscheinen. Ich muss dich nur sprechen«, rechtfertigte er sich selbst. »Antworte mir. Ich zwing dich bei unserem Vertrag.« Nichts passierte. Hiob schlug mit der rechten Faust durch das Wort, durch die Leinwand, griff ins Dunkel dahinter, und seine Hand holte wie eine asymmetrische Spinne mit fünf Beinen ein süßlich klebriges Netz ein. Eine Art Echoprojektion von Aries, undeutlich an den Rändern und in der Mitte, erschien wabernd in dem Loch. Die Projektion zappelte wie ein gefangenes Insekt, aber Hiobs Finger verbanden sie mit den Zacken der durchborstenen Leinwand und hängten sie so sicher auf.

Hiob kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Er taumelte rückwärts gegen die Wand, der Alkohol kehrte wieder zurück und schlang sich wie schwere, tropfnasse Kleidung um ihn. Widders Abbild so vor sich zu sehen, als kleines, trauriges Leuchten im dunklen Raum, ließ ihn den Glauben an Feen verstehen. Um den Kopf eines hungernden Poeten schwirrend, musste Widder zu kreativem Wahn befähigen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du mir das antust«, wisperte sie, zwischen Hiobs Gehörknöchelchen herumgestoßen, »ich traue dir zwar vieles zu, aber dass du dich gegen mich wendest, überrascht und enttäuscht mich dann doch.«

»Hör zu, du kannst nichts dafür, niemand kann dir etwas vorwerfen, ich habe dich gezwungen, mit mir zu reden«, lallte Hiob, der versuchte, wieder klar zu werden. Die sich in Erinnerung bringenden Schmerzen im Arm assistierten ihm dabei. »Ich habe ein paar Fragen, das ist alles.«

»Du tust mir weh.«

»Ich lass dich los, sobald alles klar ist, versprochen. Das ... hat nichts mit uns zu tun.«

»Das hat nichts mit uns zu tun? Bist du denn vollkommen weggetreten? Habe ich dir nicht klar genug gemacht, dass er mich auslöschen kann, wenn ich dir helfe?«

»Aber du hilfst mir doch gar nicht freiwillig, ich zwinge dich dazu. Erzähl mir von ihm. Wer ist er? Was ist er? Wie sieht er aus?«

»Wer? Von wem reden wir jetzt?«

»Bloodfork. Souldiver Bloodfork. Den sie auf mich angesetzt haben, könntest du vielleicht die Güte haben, dich zu erinnern! Ich bin es, Hiob! Wieso, von wem sollen wir denn sonst reden? Scheiße, du bringst mich total durcheinander, hör auf so zu summen. Verdammt. Verdammte Scheiße. Widder, du musst mir einen Tipp geben, wie er aussieht. Wie soll ich ihn erwarten, wenn ich ihn nicht erkenne?«

»Wen? Wen erwarten?«

»Den ... Kopfgeldjäger. Souldriver ... Blindfrog. Blackfuck. Bowlfighter Sounddrop. Hole ... Wholesaler ... Sailor ...« Hiob rutschte seitlich an der Wand entlang zu Boden. Die Schwerkraft wurde zu viel für ihn. Seine Blase drückte schmerzhaft auf andere Organe. Er starrte in das neugierige, zerstörte Gesicht seiner Katze.

»Er ist wie ein Licht«, schnurrte die Katze schwärmerisch, »ein warmes und helles Licht am Ende eines rotierenden Tunnels.«

»Eine Near-Death-Experience? Ist es das? Ist er der Tod? Personifiziert? Ist er auf alle angesetzt, die sterben müssen? Haben alle Toten ihn gesehen?«

»Nicht so schnell. Langsamer. Er breitet die Arme aus und lächelt, und du wirst zum Kind und läufst hin.«

»Und dann?«

»Dann nimmt er dich mit, deinen Eltern weg, die um dich weinen.«

»Mein Vater ist tot.«

»Vielleicht ist er dein Vater.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Dann gehe ich jetzt wieder.«

»Nein, da war noch eine zweite Frage, weshalb ich dich unbedingt sprechen musste, ich habe schon versucht, mit der Beisitzerin darüber zu reden ...«

»Davon habe ich gehört.«

»Ich weiß, das war ein Fehler ...«

»Du hast versucht, in ihr zu lesen. Böser Junge. Böser unartiger kleiner Junge. Du bringst es fertig, es dir selbst mit Unparteiischen zu verderben.«

»Ich brauche den Namen des Spielers, der zwei Manifestationen gleichzeitig überstanden hat. Das ist alles.«

»Namen sind Macht.«

»Ich weiß.«

»Warum sollte ich dir helfen? Du hilfst mir ja auch nicht. Du quälst mich und setzt mich der Vernichtung aus.«

»Ich ... liebe dich.«

»Wie war das?«

»Ich liebe dich, Widder. Warum kommst du nicht zu mir zurück? Warum ... können wir die ganze Scheiße nicht einfach gemeinsam durchstehen?«

»Du bist betrunken.«

»Kann ... ich ... nicht ... leugnen.«

»Du bist am Ende, vollkommen fertig, und liegst in deiner eigenen Pisse auf dem Boden.«

Hiob schaute an sich runter. Tatsächlich breitete sich eine warme Lache zwischen seinen Beinen aus. Hatte er gar nicht mitgekriegt.

»Wir hatten doch immer viel Spaß, oder etwa nicht?«, fragte er lächelnd.

»Du sagst, du liebst mich?«

»Das tue ich. Das tue ich wirklich.«

»Ich kann dir etwas erzählen über Liebe. Möchtest du, dass ich dir etwas erzähle über Liebe?«

»Ich ... weiß nicht.«

»Liebe bedeutet überhaupt nichts. Oh, vielleicht für jemanden, der liebt, für den kann Liebe alles bedeuten, aber aus einer objektiven Perspektive betrachtet ist Liebe nichts anderes als eine Funktionsstörung des Selbsterhaltungstriebs. Liebe ist nämlich zum Arterhalt nicht nötig. Um deine Gene weiterzugeben, musst du nur einen Ständer zuwege bringen, es ist absolut nicht vonnöten, romantisch zu werden. Aber weißt du, was das Lustigste an der Liebe ist? Wesen wie ich können sie an- und ausschalten in Männern, so, wie du ein elektrisches Licht an- und ausschalten kannst. Ein paar Pheromone hier, ein Blick dort, ein Lachen über eine nur mittelmäßig amüsante Bemerkung, Wärme, Wohlgeruch und Feuchtigkeit an den richtigen Stellen, bestimmte Körperhaltungen und Kopfwendungen, die Alleingelassenheit symbolisieren und an den männlichen Beschützerinstinkt appellieren. Es ist lächerlich einfach. Eine Schmierenkomödie sozusagen. Und du kannst mir glauben: Wirklich Hunderte von Männern haben mir schon gesagt, dass sie mich lieben, haben es gebrüllt, geflennt, gesabbert, geschmachtet, gedichtet, gesungen oder sich vor meinen Augen eine Steinschlosskugel durch den Kopf geschossen, wenn ich sie nicht erhören wollte. Liebe ist so wenig beeindruckend für mich, dass ich manchmal schon gar nicht erst versuche, sie zu erzeugen. Und sie ist umso weniger beeindruckend, je tiefer und wahrer und aufrichtiger sie ist.«

Hiob gab ein Geräusch von sich wie ein Asthmatiker, der mit geschlossenem Mund hustet.

»Aber das bringt mich zu dir«, fuhr Widder fort, die jetzt nicht mehr durch die Katze sprach, sondern leibhaftig anwesend zu sein schien, nackt, aber dennoch verhüllt von schwarzen Haaren, die bis zum Boden reichten. »Denn du beeindruckst mich schon.«

Hiob würgte ein Grunzen hervor.

»Wenn du sagst, du liebst mich, dann lügst du, und es ist durchaus möglich, dass dir selbst nicht einmal klar ist, dass du lügst. In Jahrhunderten ist mir niemals ein anderer Mann begegnet, der so vollständig in sich selbst verliebt war – und deshalb zu keinerlei darüber hinausgehenden Liebe fähig – wie du.«

»Das ... ist ... nicht ... wahr. Sieh mich doch an. Ich bin ein Wrack. Ein Verlierer. Ich hasse mich.«

»Du lügst. Du fühlst dich wohl in deinem Schlamm, und du bist nur von einem einzigen Gedanken beseelt: dich weiter und noch tiefer in den Schlamm hineinzusuhlen. Das ist dein Geheimnis. Das hat dir vierzehn Punkte eingebracht, während die meisten anderen Spieler spätestens beim siebten oder achten Punkt scheitern. Du hast die Niedrigkeit, die man braucht, um ernsthaft mit dem Wiedenfließ konkurrieren zu können. Ob diese Niedrigkeit in dir gewachsen ist, ob du sie dir hart erarbeitet und antrainiert hast, oder ob dein Großvater sie schon bei deiner Zeugung in dich hineingebastelt hat, damit die Montag-Blutlinie wenigstens einmal einen Weltrekordler hervorbringen kann, weiß ich nicht. Aber die Niedrigkeit behütet dich und leitet dich und macht aus dir, was du bist und sein wirst.«

»Ist das rührend, dass eine ... Scheiß ... Sukkubus ... Schimmelfotze ... sich als Moralapostel aufspielt. Das ist ja wirklich ein Witz.«

»Ja«, sagte Widder traurig, »die Komödie geht weiter, und alles Lachen stoppt.«

»Also verrat mir jetzt den Namen, und dann verzieh dich ins Fließ.«

»Ich werde den Namen nicht sagen.«

»Dann werde ich dich foltern. Bei unserem Vertrag werde ich dich brennen und brechen, bis du ...«

»Ich werde den Namen nicht sagen.«

Eine bedeutungsvolle Pause setzte ein. Als Nächstes hätte Widder wohl ein Holzschild hochhalten müssen mit der Aufschrift ICH WERDE DEN NAMEN NICHT SAGEN, und das Wort sagen wäre kursiv geschrieben und in leuchtroter Farbe und dreimal unterstrichen, und Widder würde mit einer Hand noch auf dieses Wort zeigen und Hiob überdeutlich zuzwinkern und einen knicksenden und posierenden Gestus der Vertraulichkeit annehmen wie Marilyn Monroe, aber Hiobs Gehirn schien noch nicht vollständig in Alklösung ersoffen zu sein und begann langsam zu begreifen.

Er grinste wie ein ganz besonders cleverer Bursche.

»Na gut, Girlie. Wie du willst.«

Er bildete ein ektoplasmisches Glied aus und drang damit rauh in ihre Projektion ein. Dann rieb er das Glied in ihr, das größer und fester wurde, bis eine inverse Ejakulation erfolgte: Durch ein wie ein Fischmaul schnappendes Loch schlürfte das Glied milchigweißen Gallert aus Widders Essenz, milchigweiße Gallert-Buchstaben, ein milchigweißes Gallert-Wort. Das Glied fiel zusammen, Hiob hatte das Wort in sich, es lautete BRAHKUNGAR und stimmte nicht wirklich. Also ließ er Widder ziehen, die sich mit flatternden Rändern davonmachte in ihr buntes Asyl am Rande der schwelenden Müllgebirge des Fließes, und beschäftigte sich eine Zeit lang mit sich selbst. Schließlich hatte er den Buchstabenknoten entwirrt und den Namen erhalten, den zu bekommen all die Mühsal wert gewesen war: Urban Kragh. Hiob hatte den Namen schon einmal gelesen, in irgendeinem der vielen Bücher in der unterirdischen Familienbibliothek, an irgendeinem der 730 Tage seiner Klausur. Er hatte die Information also bereits in Händen gehalten und sie wieder verloren, weil er nicht wissenschaftlich, nicht systematisch genug zu Werke ging. Den ganzen Ärger mit der Gevicius und mit Widder hätte er sich vielleicht sparen können, wenn er sich beim Studium der Schriften ab und zu mal ’ne Notiz gemacht hätte, anstatt alles nur intuitiv in sich hineinzuladen.

Aber zu spät jetzt, zu spät, um sich zu ärgern. Die Pisse zwischen seinen Beinen war kalt, und in unbequemer Haltung schlief Hiob ein.

Am folgenden Tag begab er sich erneut in seine Gruft.

Dort wühlte er sich durch Stapel ledergebundener Pergamente, bis er gefunden hatte, was er suchte. Zeugnisse von Leben und Taten Urban Kraghs, des Ritters zur Vollendung, des Niemals Betenden Reiters.

Geboren wurde Kragh in den Wirren der großen Missionierungsfeldzüge, die der römisch-deutsche Kaiser Otto I., der Große, östlich der Elbe vorantrieb, Mitte des zehnten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Eine Quelle bezeichnete Kragh als Spross des Hauses Krugstein, einer Vorläuferlinie der stendalischen Askanier, aber ein anderes Zeugnis, das Hiob glaubwürdiger fand, gab darüber Auskunft, dass Kragh, unter dem Namen Gengir als Sohn eines aufständischen Redariers geboren, dann im Zuge der slawischen Massenchristianisierungen auf den Papstnamen Urban getauft und von einem fränkischen Ritter namens Anselm Kragh adoptiert und ausgebildet wurde.

Die Waffenfertigkeiten von Urban Kragh müssen derart beachtlich gewesen sein, dass Kaiser Otto II. ihn in sein christliches Heer berief und Kragh 982 an Ottos desaströsem Süditalienfeldzug teilnahm. Als er danach jedoch gegen den Wilzenbund kämpfen sollte – einen Zusammenschluss von Circipanen, Tolensanen, Kessirern und Redariern, der erfolgreich slawische Gebiete vom Christentum der Ottos zurückeroberte –, sagte er sich von der römischen Reichszugehörigkeit los und streifte als fahrender Ritter ohne Wappen, angetan mit einer kupferfarbenen Rüstung und begleitet von einem Knappen namens Derek oder Diragh oder Dierck, durch Europa. Einig waren sich mehrere Quellen darüber, dass Kragh im Jahre 994 einen Lindwurm erschlug, der in den westlichen Alpen sein Unwesen trieb, sowie zwei oder drei Jahre später einen »ledernen Theufel«, der sich vom »Khot der Gehenkten« ernährte. Zur Jahrtausendwende verliert sich die Spur des »Ritters zur Vollendung«, wie Kragh sich dem Volk gegenüber nannte, auch wenn eine leicht hysterisch klingende Handschrift angab, ihn in einem Blitz in den Himmel einfahren gesehen zu haben.

Hiob schnalzte mit der Zunge. Kragh hatte die prototypische Spielerbiographie. Der Lindwurm war sicherlich eine Manifestation, der Ledertheufel je nach Größe vielleicht nur ein Prognosticon, aber immerhin: Auch das mysteriöse Verschwinden Kraghs am Ende eines kampferfüllten Lebens war dermaßen passend, dass Kraghs Geschichte vielleicht sogar eine von jenen gewesen war, die Hiob während seiner zweijährigen Initiationsphase überhaupt erst auf die Spur des Spieles gebracht hatten. Daher war ihm der Name geläufig gewesen.

Jetzt also zum eigentlich Aberwitzigen an Hiobs Idee: Wenn Kragh der bisher einzige Spieler gewesen ist, der mit zwei Manifestationen gleichzeitig fertigzuwerden imstande gewesen war, dann bestand eine gewisse Chance, dass Kragh nicht vollständig verloren war, sondern dass er – oder zumindest Bruchstücke seiner Essenz – in einer kuriosen Trophäensammlung oder vielleicht auch einem speziellen Foltergefängnis NuNdUuNs immer noch existierte, auch tausend Jahre später. Für diese ganze Theorie gab es keinen wirklichen Beweis, keinen beruhigenden Anhaltspunkt außer vielleicht dem Charakter NuNdUuNs selbst, dem ein gewisses persönliches Interesse am Spiel und seinen Vollziehern innewohnte. Der Große Dunkle Alte hatte sich nun schon so oft höchstpersönlich in Hiobs Spiel eingeklinkt, dass durchaus vorstellbar war, dass NuNdUuN geschlagene Ex-Spieler – respektable Leistungen vorausgesetzt – nach ihrem gewalttätigen Ableben zu sich holte, damit sie ihm als spaßiger Zeitvertreib dienen konnten. Wie gesagt, für diese Theorie Hiobs gab es in keiner Quelle einen Beleg. Dass Hiob so viel Schmerzen und Ärger auf sich genommen hatte, um einer reinen Unbewiesenheit hinterherzujagen, war typisch für ihn und auch typisch für das, was das Wiedenfließ mittlerweile von ihm zu halten gelernt hatte.

Die Gruft war der natürliche Ort, um ins Fließ zu gehen.

Der körperliche Zugang war Hiob nach wie vor verwehrt, aber er konnte Teilbereiche und skizzierte Eigenschaften seines Bewusstseins zu einer Art transparentem Papierflugzeug zusammenfalten und ab- und einwärts trudeln lassen.

Zu diesem Zweck versuchte er, es sich in der kleinen Kammer so gemütlich wie möglich zu machen. Er hatte zwei Jahre Zeit gehabt, darin Übung zu bekommen, also verschob er ein paar Bücherstapel, häufte sich aus einigen fettabweisenden Folianten eine Art Nackenstütze, legte sich einen mit einem Geheimcode bestickten Teppich unter, fingerte die drei Hühnereier aus der Sechserbox, die er mitgebracht hatte, schlug sie in eine Plastikschüssel und schlürfte das widerlich dickflüssige Eiklar, um dem Eiweißverlust bei Astralleibprojektionen vorzubeugen.

Dann ging es los. Er legte sich auf den Rücken, die Beine angewinkelt, die Arme abgespreizt, so weit es die Enge zuließ, und summte die Suren, die die Treppe zeichnen, die zum Tor führt, und das Tor, hinter dem das Unterdruck-Nichts liegt, das die Randbereiche des Fließes kennzeichnet.

Er brauchte sich die Treppe nur vorzustellen, schon sauste sein Geist mit wehenden Haaren das Geländer hinab. Die Tür war gesichert wie ein Safe, dessen Kombination dem Geburtsdatum des Besitzers entspricht. Da dies Hiobs persönliche Tür war, kam er mit seinen eigenen Ziffern weiter. Danach das Nichts – wie ein Fallschirmspringer ohne Fallschirm überantwortete sich Hiobs Seele der Tiefe und sauste umher auf der Suche nach Irgendetwas, das anders als Nichts war.

Lange blieb er nicht allein. Sogenannte Pilotmilben hefteten sich an ihn, ernährten sich von den Residuen der Stofflichkeit, die Hiobs Seele wie ein Parfum umgaben, und boten ihm kriecherisch ihre Dienste an, um möglichst lange an ihm dranbleiben zu können. Er erfuhr von ihnen, dass sie auf der Fährte einer lasziven Träumerin gewesen waren, als sein noch intensiveres Aroma ihre Bahn kreuzte. Er erkundigte sich bei ihnen nach der Adresse »Urban Kragh«, und sie lenkten ihn wieder höher hinauf, zu den »tanzenden Hallen«, was ein gutes Zeichen war, denn sie konnten mit der Adresse »Urban Kragh« offenbar etwas anfangen.

Kurz bevor Hiob das Gefühl bekam, dass die Milben ihn kreuz und quer in die Irre führten, nur um ihn möglichst lange melken zu können, blieb das Rudel zurück, weil es die Präsenz von gigantischen Raubnetzgeistern fürchtete. Hiob kraulte oder stürzte oder delirierte alleine weiter, in etwa der Richtung, der die Milben zuletzt gefolgt waren.

Viel bekam er nicht mit von der Reise. Das war gleichzeitig schade und gut so, denn einerseits war Hiob natürlich neugierig auf dieses Reich der Unbegreifbarkeiten, andererseits aber konnte seine Seele auch von einer Überdosis Überrealität zerrissen werden wie ein feines Gespinst. Seine beharrliche Konzentration auf die Melodie »Urban Kragh« – Namen haben Macht, Namen leuchten und sind ihre eigenen Wegweiser zu ihren eigenen Stätten in der Magie – führte ihn durch labyrinthische Verläufe, tiefseeartige Weitenfelder und kosmisch-halluzinatorische Strukturen, die wie sehr schlechter Fernsehempfang an ihm vorüberschneiten.

Schließlich – in der materiellen Welt mochten nur Minuten vergangen sein, aber wie in jedem guten Traumtrip hatte Hiob selbst das Reisezeitempfinden von mehreren Stunden – fand er die Adresse Kragh.

Die Umgebung war nur mangelhaft definiert, aber sie entsprach in etwa dem, was Hiob erwartet hatte: Kasematten, Folterkeller, Gitterwürfel, alcatrazsche Inseln im starkstromgeladenen Raum, ein Kuriositätenzirkus, eine pathologische Sammlung in Einmachgläsern verschiedenster Couleur, eine Gefängnis- und Straflagerkolonie unter zweiundzwanzig sengenden Sonnen, ein Bergwerk, ein Sumpf aus abgestorbenen Moskitoleibern, ein Großraumbüro und eine Fabrikhalle in Schwarzweiß, urogynäkologische Sezierstühle. Die Adresse Kragh war nur ein mattes Flackern unter anderen, Widerschein einer fast vergessenen, tausend Jahre alten Idee.

Hiob war Rosinenbomber und Care-Paket in einem: Er schwebte ein, warf sich ab und ignorierte das beharrliche Gepiesacke der Wächter- und Spitzeleinheiten, die sogleich von überallher über ihn herfielen. Er hatte genügend Eiweißpunkte gespeichert, um das Mandibelgerassel ein paar Minuten lang überstehen zu können.

»Kragh? Urban Kragh? Kann ich kurz mit dir sprechen?«

Hiob erhielt die Ahnung eines Kopfes, der versuchte, sich aus einem jahrhundertedicken Grind aus Eigenschorf und Eiter zu heben.

»Wer ...? Wer ...? Wer ...?«

»Mein Name ist Hiob. Ich bin ein Spieler wie du. Ich bin noch am Leben und nur zu Besuch hier. Ihr kriegt nicht viel Besuch hier unten, nehme ich an.«

»Ein ... Spieler. Du bist ein Spieler?«

»Vierzehn Punkte.«

Kraghs Licht hustete, ging fast ganz aus, fing sich aber wieder.

»Wann? Welches Jahr?«

»Neunzehnhundertneunundneunzig.«

»Neunzehn ... hundert ... hundertneunzehn?«

»Nein. Eintausendneunhundertneunundneunzig. Fast tausend Jahre nach deiner Zeit.«

»Tausend Jahre. So lange. Ich hatte ja ... schon gehofft. Aber dann ... ist dies auch alles wieder nur eine Finte. Deine ist nur eine ... von vielen möglichen Zukünften von hier aus.«

»Nicht von mir aus. Es ist die einzige Gegenwart, die Wirklichkeit wurde. Und du bist Teil unserer Vergangenheit, also liegen wir beide auf derselben Wahrscheinlichkeitsebene. Hör zu, Mann, ich hab nicht viel Zeit, hier alles zu erörtern. Ich will dir einen Handel vorschlagen und dann schnell raus hier, bevor diese Drohnen mich in Stücke hauen.«

»Einen Handel? Was für einen Handel?«

»Ich hab ein kleines Problem. Ich hab mich dummerweise auf zwei Manifestationen gleichzeitig eingelassen, und ich hab nicht allzu viel Erfahrung mit diesen Dingern. Eine dieser Manifestationen ist Souldiver Bloddfork, der ist dir sicher ein Begriff.«

»Souldiver ... Bloodfork?«

»Vielleicht gibt’s ihn noch nicht seit tausend Jahren, ist auch scheißegal. Jedenfalls ... du bist der einzige Typ, der jemals mit zwei Manifestationen gleichzeitig fertig geworden ist. Ich brauche deine Hilfe.«

Das Lichtlein lachte müde und rasselnd.

»Meine Hilfe? Ich kann niemandem helfen. Ich kann nicht mal mir selber helfen.«

»Das ist der Handel, den ich dir vorschlagen wollte. Ich hole dich hier raus. Und als Gegenleistung bist du mein Leibwächter, bis die Sache mit den zwei Manifestationen durchgestanden ist. Danach bist du frei.«

»Das wird niemals klappen. Ich komme hier nicht einfach so raus. Die werden mich jagen und zur Strecke bringen.«

»Ja, und der Typ, der diesen Job normalerweise erledigt, ist Souldiver Bloodfork. Kapierst du das? Wir bringen ihn zusammen um, dann bist du das Fließ los.«

»Ich weiß nicht, ob das möglich ist ...«

»Scheiße, hundertprozentig weiß ich’s natürlich auch nicht. Es ist noch nie versucht worden. Aber was willst du machen? Findest du’s so geil hier, dass du lieber gar nichts versuchen willst? Ich meine, wenn sie dich wieder einfangen und dich noch mal töten – würde es schlimmer werden können als ohnehin schon? Tausend Jahre hier in diesem Pestloch? Was hast du denn zu verlieren?«

»Meine Seele. Sie können sie ... auslöschen.«

Hiob spürte einen Schauder durch seinen in der Gruft liegenden Körper rieseln. Tausend Jahre Folter, und der Mensch hielt immer noch an seiner Seele fest. Lieber ein für alle Mal tot, als so was mitzumachen!

»Heißt das also, sie haben dich gebrochen, Kragh? Früher warst du mal der Ritter zur Vollendung, und jetzt bist du nur noch ein erbärmlicher Schleimklumpen, der um seine Seele zittert? Kommen NuNdUuN und sein Hofstaat wenigstens einmal die Woche bei dir vorbei, um herzhaft abzulachen?«

Das Licht schwieg, aber es zitterte leicht.

»Ich versuch mir das vorzustellen«, ließ Hiob nicht locker. »Der Niemals Betende Reiter. Klar, du wurdest als heidnischer Rediarier geboren und bist dann zum Christentum konvertiert und getauft worden. Sicherlich hast du auch ein paar Jahre lang für Vater, Sohn, den Heiligen Geist und Ihre Unberührbarkeit die Schlampe Maria Fackel und Schwert geschwungen und dabei den Rosenkranz gebetet. Aber irgendwann bist du dann dem Spiel auf die Schliche gekommen, und war das nicht ein ganz und gar erschütternder Moment? Festzustellen, dass die heidnischen Götzen und Dämonen alle echt waren und der barmherzige Allvater im Himmel in Wirklichkeit genau derselbe war, der dich in der Hölle bis in alle Ewigkeit foltern würde, falls du versagtest? Und du hast versagt, sie haben dich drangekriegt, und für jeden deiner Punkte mussten tausend Menschen sterben. Wie haben sie’s gemacht? Wie haben sie den Ritter an der Vollendung gehindert? Wurden die Lindwürmer immer größer und mehrköpfiger? Die Untoten immer zahlreicher und immer schwieriger als Untote zu erkennen?«

Das Licht formte seine Stimme jetzt von ganz tief drinnen. »Es war ... ein Spiel.«

»Selbstverständlich. Das Ganze ist immer nur ein Spiel.«

»Nein, ich meine, wie sie mich gekriegt haben. Ein Wettkampf, ein Turnier. Veranstaltet von Mönchen, die sich der Blumen- und Kräuterkunde verschrieben hatten. Es war so harmlos. Nach all dem Blutvergießen ... den Schlachten gegen entsetzliche Monstren und gegen Albträume in all ihren vielfältigen Gestalten ... ging es diesmal nur um freundschaftlichen Wettstreit. Nicht einmal so gewalttätig wie eine Rittertjoste zu Pferde, nein, es ging nur um Weitspringen und Wettlaufen und Speerwerfen und Bogenschießen und an einem Seil um die Wette pendeln wie die Kinder.«

»Und die Mönche entpuppten sich als Menschenfresser.«

»Nein. Genau gegen so etwas war ich ja gewappnet. Ich meine, mit so etwas habe ich gerechnet: eine blutige, hässliche List. Aber nichts dergleichen. Es war viel simpler.« Das Licht schien sich ein wenig aufzurichten. Je mehr Worte Kragh formte, desto leichter schien es ihm zu fallen. »Vierundzwanzig Teilnehmer aus aller Welt versammelten sich alle vier Jahre bei diesem Turnier und hüpften und rannten in acht verschiedenen Disziplinen um die Wette. Und nach dem, was ich über das Turnier gehört hatte, waren das auch nie vierundzwanzig großartige Athleten, sondern eher vierundzwanzig muntere Blumenfreunde von überallher, die von den Mönchen eingeladen wurden, um dieses heitere viertägige Fest zu Ehren des Heiligen Baumes zu feiern. Der Vorschlag, den das Wiedenfließ mir machte, war der: Wenn es mir gelänge, einen der ersten drei Plätze in diesem Turnier zu belegen, sollte ich dafür drei Punkte bekommen, wie für eine Manifestation. Verstehst du? Ich hatte sogar die Wahl. Ich konnte weiterhin kämpfen und Missgeburten abschlachten, oder ich konnte mich zur Abwechslung einmal ganz unschuldig in Körperkraft und Geschicklichkeit messen. Es klang großartig. Natürlich ging ich darauf ein.«

Mittlerweile hatte das bizarre Wachpersonal es aufgegeben, mit kristallinen Hellebarden und leuchtenden Zimmermannshämmern auf Hiob einzudreschen – sie fügten sich dabei nur selber Schaden zu. Hiob registrierte nicht ohne Genugtuung, dass sein Status als einziger Spieler der Gegenwart ihn offensichtlich auch dann schützte, wenn er in Verbotenen Zonen vom Wege abwich.

»Brot und Spiele statt Klingen und Peitschen«, stellte er fest. »Und was lief schief?«

»Ich habe es einfach nicht geschafft. Ich bin Vierter geworden, mit vier Punkten zu wenig, um auf den dritten Platz zu kommen. Der Trick des Wiedenfließes bestand darin, dass an diesem Turnier mehrere Leute teilnahmen, die man sonst bei dieser Veranstaltung nie angetroffen hätte. Den ersten Platz belegte so eine Art Wunderathlet, der von einem reichen Mäzen angeheuert worden war, um einen neuen Gesamtpunkterekord aufzustellen, und dem das auch gelang. Das allein wäre noch kein Problem für mich gewesen, ich musste ja nicht Erster werden. Zweiter wurde ein verrückter Mönch, der wenige Tage vorher erst von einer schweren Krankheit genesen war und jetzt plötzlich in allen Disziplinen schier übermenschliche Kräfte entwickelte und immer nur sagte: ›Das ist nur Glück, nur Zufall. Morgen werde ich bestimmt ganz schlecht abschneiden.‹ Kein Problem für mich, ich musste ja auch nicht Zweiter werden. Aber dann war da noch eine Bande von vier naturreligiösen Eiferern, die, wenn ich mich richtig erinnere, wegen eines Attentates auf einen Stadtgardekommandanten steckbrieflich gesucht wurden, und die aufgrund irgendeines fadenscheinigen Asylabkommens mit den Mönchen an dem Turnier teilnehmen durften. Diese Attentäter waren alle körperlich dermaßen gut austrainiert, dass drei von ihnen unter die ersten zehn kamen, und der Anführer dieser Bande wurde Dritter. Ich konnte es damals mit jedem herkömmlichen Zeitgenossen aufnehmen, aber dieses Turnier beherbergte wie zufällig drei Gegner, die ich nicht schlagen konnte. Ich wette, das Wiedenfließ hat lange suchen müssen, um diese drei zu finden, und ich wette auch, dass es eine organisatorische Meisterleistung NuNdUuNs war, diese drei auf verschlungenen Pfaden wie natürlich gefügt zu diesem Wettkampf zu führen. Sie waren keine Diener des Fließes, keiner von ihnen. Sie wurden nur gelenkt, ohne ihr Wissen. Das alles galt mir. Und in der Nacht der Abschiedsfeier kamen die Schweinswölfe in einer Wolke und zerrten mich unter Blitz und Donner in den schwefelgelben Himmel, sodass nur geschmolzene Tropfen von meiner Rüstung blieben.«

»Also hat das Fließ dich reingelegt. Dich einfach verarscht. Und wenn ich jetzt komme und dir eine Gelegenheit zur Rache biete, lehnst du ab und willst lieber weiterhin Verlierer sein. Das kann ich nicht verstehen.«

»Es würde nicht funktionieren. Du hast ja keine Ahnung. Du kommst hierher und verhöhnst mich mit großen Worten, aber du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie du es tatsächlich durchführen könntest, mich hier rauszuholen.«

»Richtig, aber du hast tausend Jahre mehr Erfahrung mit dem Fließ als ich. Also wenn du ’ne Idee hast, bin ich derjenige, der sie ausprobieren wird.«

Das Licht arbeitete. Stimme und Leuchtkraft dunkelten ab.

»Es gibt nur einen Weg.«

»Ich höre.«

»Du musst mir das geben, was ich hier nicht mehr habe.«

»Material.«

»Richtig. Einen Körper. Das bedeutet, du musst jemanden umbringen, dessen Körper ich dann übernehmen kann.«

»Was ist mit Unfallopfern? Oder jemandem, der gerade zufällig jetzt in diesem Moment an einem Herzinfarkt verreckt?«

»Nein, du musst es tun, weil du mich rufst, weil du mich bindest und weil ich dir zu Diensten sein werde, bis unser Pakt erfüllt ist oder ich vernichtet bin. Aber das ist noch nicht alles. Das Fließ hat eine zusätzliche Regel, und die lautet: Wenn du willst, dass das Fließ dir zu Willen ist, musst du dem Fließ zu Willen sein. Das bedeutet, dass das Blut, das in meinem neuen Körper fließen wird, das Blut von einem Dutzend verschiedener Menschen sein muss.«

»Versteh ich nicht.«

»Ich könnte es dir nun umständlich und ausführlich erklären, ich kann es aber auch kurz machen und dir einfach sagen, welchen Sinn das Ganze hat: Wenn du dem Wiedenfließ Energie entziehen willst, musst du für diesen Diebstahl bezahlen, indem du andererseits Material in Energie umwandelst.«

»Das insgesamte Gleichgewicht muss erhalten bleiben.«

»Genau. Das heißt, du musst zwölf Menschen töten, eigenhändig, um daraus meinen Körper und mein Blut zu schaffen. Oder ich könnte es tun. Ich würde ein Vampir sein oder ein Werwolf, jedenfalls ein räuberisches Monster. Und du weißt, wie man das nennt, wenn jemand für zwölf Morde verantwortlich ist.«

»Ja. Ein Prognosticon. Wir beide hatten schon mit so was zu tun. Das bedeutet, ich selbst muss ein Prognosticon werden, um dich zu erwecken, oder ich muss ein Prognosticon beschwören, nämlich dich. Beides ist nicht machbar, stimmt’s?«

»Weil du der Spieler bist. Wärst du einfach nur irgendein Nekromant, könntest du tun und lassen, was du willst. Du könntest beschwören, wen und was immer dir einfällt, vorausgesetzt, du begleichst die entstehende Zeche. So haben es die Blutopferkulte aller Zeiten gehalten. Aber du bist der Spieler. Deine Mission ist es, Prognostica zu bekämpfen und zu vernichten, nicht, welche zu wecken oder selbst eins zu werden.«

»Das leuchtet mir ein. So ein Scheißdreck. Damit bin ich von allen tatsächlichen Möglichkeiten, das Fließ zu nutzen, abgeschnitten.«

»Was ja auch im Sinne des Spieles ist. Du sollst das Fließ bekämpfen, nicht mit ihm gemeinsame Sache machen.«

»Und dennoch: Du bist ja nicht aus dem Fließ. Du bist ein Gefangener, den ich gegen den Willen des Fließes hier rausholen würde. Eigentlich muss ich dann keine Zeche bezahlen.«

»Sondern mit Verfolgung und Bestrafung rechnen.«

»Das Thema hatten wir schon: Für die Ahndung von Transgressionen ist Souldiver Bloodfork zuständig, und der ist ja ohnehin mein Problem.«

»Ich verstehe, dass der Fall ungewöhnlich ist. Ich gehe aber davon aus, dass ich die Zeche zahlen muss, wenn du mich hier rausholst. Vielleicht wird es gelingen, und die Sache zieht an dir vorüber, ohne dir das Genick zu brechen, aber wirst du es verantworten können, dass zwölf Menschen sterben, wenn das Fließ mich zur Blutsühne zwingt?«

»Na ja. So etwa ein Dutzend habe ich mittlerweile sowieso schon auf dem Gewissen. Zwar nicht auf einmal, immer mal wieder ein paar, wenn sich’s nicht vermeiden ließ, aber das kommt schon hin. Ich würde den Einsatz verdoppeln, das ist alles.«

Das Licht flackerte irritiert. »Ich stelle fest, dass du das Spiel anders spielst, als ich es in Erinnerung habe.«

»Ja. Ich habe mehr Punkte als du. Und wenn ich dieses Ding hier durchziehen kann, dann bin ich der beste Spieler, den es je gegeben hat.«

»Du bist stolz darauf. Dabei solltest du dich schämen dafür.«

»Was? Häh? Ich soll mich schämen? ... Jedenfalls habe ich nicht versagt und durch mein Ende eine Katastrophe heraufbeschworen. Was war es denn bei dir? Das haben sie dich doch bestimmt wissen lassen. Eine nette kleine Pestepidemie? Ein freundlicher kleiner Krieg zwischen zwei Herzogtümern? Wer sollte sich hier schämen, du Ritter zur Vollendung von NuNdUuNs Plänen!«

Das Licht brachte einen peinlichen, flackernden Schrei hervor, in dem Zorn und Schmerz sich zu Hilflosigkeit mischten. Höhnisch lachend stieß Hiob sich ab, drehte noch ein paar prahlerische Loopings und machte sich dann, zunehmend wütender über seine eigene Wut, auf den Weg zurück, der viel kürzer und geradliniger war als der Weg hinein.

Als er in der Gruft wieder zu sich kam und aufstehen wollte, schubberte er erst mal eine Weile auf dem Boden rum, weil er mit dem Gewicht seines eigenes Körpers nicht mehr klarkam. Dann kämpfte er sich die Stiege hoch und tobte frustriert über den nächtlichen Friedhof, ein hinkender wilder Mann mit wallender Mähne, der sich mit Grabsteinen anlegte und sich von Steinengeln umschubsen ließ.

-

zweites kapitel – in welchem die übrigen protagonisten der komödie endlich in erscheinung treten

Die Deutschen waren seltsame Leute.

Seit sie hier eingefallen waren, hatte sich in Hradistko und Umgebung alles verändert.

Zuerst waren es nur ein paar Kundschafter gewesen, hagere Männer in Regenmänteln und Gummistiefeln, die nachts mit Taschenlampen durch die Wälder geisterten und Planierraupen dirigierten, mit denen unscheinbare Hügelchen abgetragen wurden. Man munkelte von unheimlichen Lichtern unter den Tannen, von bewaffneten Söldnern aus Ländern mit exotischen Namen wie Nordrainwestfalin und Badinwurttinbarg, von funzlig beleuchteten Zelten, in denen Karten auf speckigen Tischen ausgerollt wurden, und von Männern in Tauchanzügen, die in der Frühdämmerung über Stoppeläcker rannten.

Dann wurden Arbeitskräfte aus der Umgegend angeheuert. Die Deutschen hatten ein paar böhmische Dolmetscher dabei, und die schwärmten aus und suchten verschwiegene Leute in den heruntergekommensten Spelunken und stinkendsten Männerschlafstätten zusammen. Bauarbeiter, Packer, Fahrer, Be- und Entlader und welche, die Nahrungsmittel organisieren konnten. So richtig rückten die Dolmetscher nicht damit heraus, was die Deutschen in den Wäldern eigentlich suchten, aber das war so etwa die Zeit, als die alten Leute von Hradistko und Stechovice zu raunen begannen. Ihre ausgemergelten, faltigen Gesichter verhießen ein verborgenes Wissen. Das mystische Wort wurde von einem gesagt und vom raspelnden Chor der anderen aufgegriffen.

Poklad.

Der Schatz.

Arvi war unter denen gewesen, die an einem Waldrand auf ein paar gefällten Bäumen zusammensaßen, zwei Schnapsflaschen herumgehen ließen und rauchten, als einer der Dolmetscher sich zu ihnen setzte und ihnen Bares für harte Arbeit versprach, vorausgesetzt, sie wären in der Lage, ihre Schnauzen zu halten. Die meisten hatten abgelehnt, weil sie keine Lust hatten zu arbeiten, und wenn, dann bestimmt nicht für Deutsche. Aber Arvi hatte zugesagt, er war zu einem Drittel besoffen gewesen, also klar genug, die einzige Chance zu ergreifen, die sich ihm seit längerer Zeit bot. Die hässliche Juschka, mit der er es nur ein einziges Mal getrieben hatte, und auch das nur ganz kurz, lag ihm immer mit den Unterhaltszahlungen für ihre hässliche Tochter in den Ohren, und ihre Brüder waren immer hinter ihm her, um ihm in den Arsch zu treten. Arvi war oft blutverschmiert und grün und blau geprügelt, aber er konnte gut Auto fahren, also kutschierte er bald einen verbeulten Laster durch matschiges, bergiges Gelände und transportierte Ausrüstung und Verpflegung für die verrückten Deutschen, die den größten Schatz der Erde suchten. Nach und nach erfuhr Arvi mehr über diesen Schatz. Die Hilfskräfte tuschelten untereinander, hin und wieder war auch einer der deutschen Vorarbeiter gesprächig. Den Rest erfuhr man von den Alten, die manchmal an den Baustellen auftauchten, um zu gaffen.

Die ganze Geschichte begann wohl schon 1940, kurz nach dem Einmarsch der Deutschen in Mittelböhmen. Im malerischen Stechovice richtete die SS eine Pionierschule mit Schießplatz ein. Die Bewohner ganzer Dörfer wurden brutal aus ihren Häusern vertrieben, und wo früher Tschechen nach Silber gegraben hatten, trieben nun deutsche Pioniere in schweißtreibender Arbeit Stollen in den Fels. Keine drei Jahre später brachten Soldaten in Nacht- und Nebelaktionen die ersten geheimnisvollen Kisten in das gesperrte Gebiet und in die verwinkelten Katakomben. Kurz vor Kriegsende dann erreichten die Lieferungen ihren Höhepunkt: Die Ladung eines ganzen Güterzuges wurde per Lastwagen-Kolonne aus einem Prager Bahnhof herangeschafft und in den Hügeln von Hradistko von Pionieren und Gefangenen unter die Erde gebracht. In einer Neumondnacht sollen sogar zwei Flugzeuge auf einem Acker in der Nähe gelandet sein. Sie wurden entladen und auseinandergenommen und verschwanden ebenfalls auf Nimmerwiedersehen. Inzwischen hatten die Pioniere einen bereits bestehenden Moldau-Damm noch höher aufgeschichtet und den Fluss in einigen Sektoren umgeleitet, sodass das Wasser fünfzehn Meter hoch über den Eingang des Hauptstollens stieg. Anschließend erhielten der Chef der Pioniere, ein SS-Oberst namens Erwin Klein, und seine rechte Hand, der Major Erwin Lange, aus dem Führerhauptquartier in Berlin den letzten Befehl: alle zu töten, die von dem Schatz wussten. Die Bäume flackerten im Lichtgewitter der Mündungsfeuer. Ein Zeltlager detonierte unter dem Bewurf hastig entsicherter Stabgranaten. Hohe Gestalten in schwarzen Ledermänteln gingen umher und drückten wortlos und ohne zu zögern ab. Dennoch gab es Überlebende, unter ihnen – Kardinalsfehler so vieler Vertuschungsaktionen – die beiden Hauptgeheimnisträger selbst: Erwin & Erwin, der Kleine und der Lange.

Beide gerieten in Gefangenschaft, und beide sangen dort seltene Melodien.

In den folgenden Jahren kam die U.S. Army in das Stollengebiet. Sie errichtete dort ein Basiscamp, barg sechsunddreißig hölzerne Kisten und verschwand wieder. Zwanzig Jahre war dann Ruhe. In den sechziger Jahren versuchten ein paar Schatzsucher aus Kalifornien mit neu entwickelten Metalldetektoren ihr Glück, zehn Jahre später waren es weiße Südafrikaner, die zwischen den Klüften herumstrolchten. Sie alle zogen achselzuckend wieder ab. 1989 sperrten tschechische Polizei und Armee einen Hügel im Stollengelände und trugen ihn in monatelanger Kleinstarbeit ab. Ohne Ergebnis.

Jetzt allerdings waren wohl in irgendwelchen verhängten Zirkeln alte Karten neu gedeutet worden. Jetzt waren es Deutsche, die ernst machten und dabei ziemlich generalstabsmäßig vorgingen. Finanziert wurde das Ganze wohl aus den Niederlanden, von wo aus einige wohlhabende Neonazi-Organisationen operierten, was aber nicht unbedingt ein Beweis dafür war, dass das neue Poklad-Bergungsteam in Führers Sinne operierte. Niemand wusste etwas Genaues. Wahrscheinlich hatten die Schatzsucher selbst keine Ahnung, wer sie bezahlte und warum. Sie versuchten einfach nur ihren Job zu machen, und sie taten dies mit all der geheimniskrämerischen Akribie, die man von Dunkelmännern aus Spionage-B-Pictures erwarten konnte.

Witzig an der ganzen Geschichte war auch – und für Arvi ein weiterer Beweis dafür, dass die Deutschen allesamt seltsame Leute waren –, dass niemand genau zu sagen wusste, woraus der Schatz eigentlich bestand. War außer den Kisten, die die Amis vor über fünfzig Jahren geborgen hatten, überhaupt noch etwas von Wert in den Stollen zu finden? Wenn ja, dann was? Zweiunddreißig Tonnen Gold, drei Tonnen Silber, Schmuck und Antiquitäten aus Ungarn, die Bibliotheken von Charkov und Kiew, ein halbes Dutzend Truhen voller deutscher Patente, das sagenhafte Bernsteinzimmer, fein säuberlich in seine Einzelteile zerlegt wie die beiden unter Tage gebrachten Flugzeuge? Kisten über Kisten voller preußisch-genauer Hinweise darüber, wer damals alles mit dem Dritten Reich gemeinsame Sache gemacht hatte – Material also, über das auch heute noch Regierungen ins Straucheln geraten konnten? Wenn nichts von alledem dort unten war, wenn der ganze Poklad nichts weiter als ein durch die Jahrzehnte hinweg immer weiter aufgebauschtes Märchen war, weshalb hatten sich dann in einem kleinen Waldgasthof in der Nähe von Stechovice fünf Agenten des MOSSAD einquartiert, die nachts mit hitzesensorischen Feldstechern versuchten auszumachen, wie weit das Bergungsteam schon vorgedrungen war? Konnten sich die Israelis nur einfach nicht leisten, etwas zu übersehen, oder ahnten sie, was unter Wasser, Stein und Erdreich dem Tüchtigen harrte?

Aus Richtung Stechovice drangen dann auch die unheimlichsten aller Gerüchte an die Ohren der Angeheuerten. 1200 Tonnen Sprengstoff seien von den Nazis damals in den Stollen und bis an den nahen Moldau-Damm heran verteilt worden, um die gesamte Anlage großräumig abzusichern. Außerdem könnte dort unten waffenfähiges Uran lagern, das das »Dritte Reich« zur Konstruktion seiner die ersehnte Wende bringenden Geheimwaffe gehortet hätte. Eine Explosion, ausgelöst durch das Öffnen versiegelter Stollen, könnte demnach ganz Mittelböhmen verstrahlen, und auf dem Marktplatz des nur etwa zwanzig Minuten flussabwärts gelegenen Prag würde die Moldau zwei Meter hoch alles Volk ersäufen. Die Geigerzählermänner jedoch konnten keinerlei erhöhte Strahlungsaktivität feststellen, und dass der Sprengstoff – falls es ihn überhaupt gab – nach über fünfzig Jahren noch funktionsfähig und scharf sein würde, daran wollte trotz der ab und zu angemahnten Geschichten über auch heute noch bei Bauarbeiten detonierende Fliegerbomben keiner so recht glauben. Für alle Fälle hatte man einen Sprengstoffexperten aus Utrecht einfliegen lassen.

Die Bergungsarbeiter selbst machten sich kaum Gedanken über all diese Unwägbarkeiten, so lange sie nur pünktlich und ziemlich anständig bezahlt wurden, und das war der Fall, darauf wurde sorgfältigst geachtet. Jeden Freitag kutschierte einer der stets paramilitärisch gekleideten Vorarbeiter sogar drei ziemlich hübsche siebzehnjährige Nutten durch die Camps, und für Arvi bedeuteten diese Mädchen – obwohl sie, wenn sie bei ihm ankamen, immer schon nach dem Schweiß und dem Sperma der anderen rochen – jede Woche aufs Neue die einfallsreichsten Schweinereien, die er jemals erlebt hatte. Er liebte das Camp, den rauen Umgangston der Kameraden, das bedeutungsschwangere Unter-Sich-Bleiben der wahnhaften Deutschen, die Atmosphäre von Geheimnis und Verheißung, die über allem waberte, und selbst als einer der Taucher ihm mal sagte, falls sie etwas fänden, würden sie wahrscheinlich alle von den Vorarbeitern erschossen und verscharrt werden, tat das Arvis Begeisterung für das ganze Unternehmen keinerlei Abbruch. Er verdiente hier Geld wie seit seiner unglückseligen Zeit in der Bleigießerei nicht mehr, und er hatte jeden Tag aufs Neue das Gefühl, bei einer bedeutenden Sache von historischer Tragweite ganz vorne mit dabei zu sein.

Schließlich stießen sie vor zum Stollen »Frankovka«. Wasser wurde abgepumpt, Stützpfeiler gegossen und Baumstämme mit Kaltblütern herangekarrt. Die Deutschen hatten rote Nasenflügel vor Aufregung. Der Stollen »Frankovka« war der Legende nach in den vierziger Jahren von den Amerikanern schon einmal geöffnet und wieder verschlossen worden, aber die jetzigen Expeditionsleiter verfügten wohl über Informationen, die die U.S.-Geheimdienstler damals nicht gehabt hatten: nämlich von wo aus im Stollen man durch eine getarnte Stichwand weiter vordringen konnte ins eigentliche Geheimlager.

Die Geigerzählermänner gingen wieder voran. Keine ungewöhnlichen Anzeigen. Danach bekam der Sprengstoffexperte seine zehn Stunden Berühmtheit und erklärte den Stollen für sicher. Anschließend rückte die gesamte Expedition unter Tage ein, das Camp wurde direkt in den Stollen hineinverpflanzt, endlich außer Sichtweite der patrouillierenden tschechienischen Polizeihubschrauber und der MOSSADs.