Evil Miss Universe - Tobias O. Meißner - E-Book

Evil Miss Universe E-Book

Tobias O. Meißner

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Beschreibung

Sie ist Superschurkin, unerbittlich, rücksichtslos und betörend schön: Dominique macht es den Männern im Universum wirklich nicht leicht. Es gibt eigentlich nur einen, der ihr annähernd das Wasser reichen kann – Mr Right, ihr geheimnisvoller Rivale, der nichts unversucht lässt, ihre finsteren Pläne zu durchkreuzen. Zum Glück zählt Dominique einen jungen Mann zu ihrem Gefolge, der alles für sie tun würde. Auch wenn das bedeutet, dass er Mr Right für sie töten muss ... Das humorvolle Superheldinnen-Spektakel von Tobias O. Meißner hält unserer Welt den Spiegel vor.

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© Piper Verlag GmbH, München 2019Covergestaltung: Guter Punkt, München Coverabbildung: Marie Sann

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Inhalt

Cover & Impressum

Teil 1

Die Gefeierte

Die Sache mit den Kronjuwelen

Die Sache mit Miss Universe

Die Sache mit dem Terrorismus

Die Sache mit dem Stupid German Money

Die Sache mit dem streitbaren Kleid

Die Sache mit dem Eurovision Song Contest

Die Sache mit der Rallye Monte Carlo

Die Sache mit dem eigenen Land

Die Sache mit dem amerikanischen Präsidenten

Teil 2

Die Gefürchtete

Die Sache mit der Resozialisation

Die Sache mit der RachePhase Eins: Die Rache an Paris

Die Sache mit der RachePhase Zwei: Die Rache an Amerika

Die Sache mit der RachePhase Drei: Die Rache an der ganzen Welt

Nachwort

Teil 1

Die Gefeierte

Ihr erinnert euch sicher noch an Dominique.

Fünf Jahre lang war sie aus den Weltnachrichten nicht wegzudenken, anfangs als kuriose, aber fesselnd attraktive Kunstperson, dann wurde nach und nach ihr verbrecherisches Vorgehen offensichtlich. Schließlich wurde sie nach kurzer Schreckensherrschaft als Superschurkin von ihrem schlimmsten Widersacher, dem Superhelden Mister Right, in die Luft gesprengt. Ihr kennt das Video der Explosion zur Genüge, die Rauchspuren der ins Meer trudelnden Trümmerstücke. Mister Right, der in Wirklichkeit nie etwas anderes war als ein blasierter Aufschneider, erzählt diese Heldentat auch heute noch gerne gegen ein paar Drinks.

Nur dass diese Geschichte gar nicht stimmt. Dominiques opernhaftes Finale im unergründlichen Blau des Mittelmeers durch die Hand Mister Rights ist bloß eine Legende, es ist nicht das, was damals wirklich geschah.

Ich kenne die Wahrheit, und werde diese Wahrheit nun ausführlich berichten. Weil ich der Meinung bin, dass es eine erzählenswerte Legende ist. Dass sie vielleicht sogar nur mit ihrem wahren Ende eine erzählenswerte Legende ist, die eben nicht ausschließlich von Superverbrechen und Supervergeltung handelt. Eine Legende, die vielleicht sogar eine Moral besitzt, aber das kann ich nicht beurteilen, das muss ich euch überlassen.

Wer ich bin?

Nun, ich bin eine Person, die in dieser Legende durchaus eine Rolle spielt. Aber ich möchte noch nicht aufdecken, wer von den Figuren ich bin. Ihr mögt es selbst herausfinden. Vielleicht kläre ich es auch im Laufe meiner Erzählung schon auf, das weiß ich noch gar nicht. Mal sehen.

Jedenfalls habe ich die Teile der Geschichte, die ich nicht persönlich miterlebt habe, sehr gründlich recherchiert. Alle meine Quellen liegen offen: Es sind die Personen, die bei den jeweiligen Begebenheiten dabei waren.

Wo also fange ich an, angesichts eines Geschehens, das den ganzen Globus in Atem hielt?

Am besten dort, wo sich alles erst so richtig zugespitzt hat: in Paris.

Mit Dominiques geheimem Stützpunkt: dem Turm von Montparnasse.

Der Tour Montparnasse steckt mitten in Paris wie ein Monolith aus Kubricks 2001.

Vielleicht war diese fremdkörperartige Hässlichkeit der Hauptgrund dafür, warum Dominique sich dieses Hochhaus für ihren geheimen Stützpunkt ausgesucht hat. Oder es war seine ungefähre Ähnlichkeit mit dem prominenten New Yorker UNO-Hauptquartier. Oder die Tatsache, dass man ihn von überall in Paris aus sehen kann, genau wie den Eiffelturm, der zwar über hundert Meter höher ist, aber bei Weitem nicht so unpassend und finster.

Der Tour Montparnasse steht im 14. Arrondissement im Süden der Stadt und misst zweihundertundzehn Meter bei neunundfünfzig Etagen. Errichtet wurde er Anfang der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts. In der 56. Etage befindet sich das Restaurant Ciel de Paris mit atemberaubendem Panoramablick auf die vielleicht schönste, sicherlich aber romantischste Stadt Europas. Auf dem Dach (der 59. Etage) befand sich früher eine Schlittschuhbahn, die hat Dominique jedoch abschaffen lassen, das Gekufe und Gejauchze über ihrem Kopf ging ihr auf die Nerven. Sie hatte nämlich drei Jahre lang, bis zu ihrer Flucht aus Paris, die obersten beiden Etagen und das Dach gemietet: In der 57. waren sowohl das Großraumbüro ihrer weltumspannenden Verbrecherorganisation EMU untergebracht als auch der separate Tagungssaal ihres geheimen Rates, und in der 58. hatte sie ihre im Luxus schwelgenden Privatgemächer. Zumindest ihre Pariser Privatgemächer, sie verfügte selbstverständlich – wie es sich für die böseste Frau des Universums gehört – über noch weitere Ausweichdomizile woanders.

Statt der Eislaufbahn befand sich auf dem Dach ein Hubschrauberlandeplatz. Genau genommen war es jedoch kein Hubschrauber, den Dominique eigenhändig flog, sondern ein Autogyro, auch genannt Gyrokopter, oder einfach – in Gegensatz zu einem Hubschrauber – Tragschrauber. »Jeder Idiot hat heute einen eigenen Hubschrauber«, lautete Dominiques Meinung dazu. »Ich will etwas Ausgefalleneres.« Und ausgefallen sind Tragschrauber tatsächlich: Weil sie im Gegensatz zu Hubschraubern völlig lautlos landen können. Das ist ideal für Heimlichkeiten.

Zurück zum Turm an sich. Kommt man über die Rue de Rennes geschlendert, mit ihren schönen alten Haussmann-Gebäuden und nicht ganz so alten Bagel-Läden und Modegeschäften links und rechts, die Frühlingssonne schimmernd von den hellen Wänden dieser fast völlig baumbefreiten Straße, kann man den Tour Montparnasse auch heute noch die ganze Zeit vor sich aufragen sehen wie eine Drohung. Oder wie etwas, das einen auf Schritt und Tritt beobachtet. Und das war ja tatsächlich in Dominiques Sinne. Viele Nichtpariser wissen gar nicht, dass die Arrondissements dieser Metropole auch Namen tragen. Das 14. heißt Observatoire. Man sieht: Dominique dachte an alles.

Wie gesagt: der Turm ähnelt dem UNO-Building, dunkelbraun und gläsern, aber schlanker und fitter. Unten sind auch heute noch die Galeries Lafayette, kein Museum, falls einer das nicht kennen sollte, sondern ein Einkaufsparadies, ein Konsumtempel. Dominique hatte sich nicht nehmen lassen, den Schriftzug ihrer eigenen Organisation – EMU, das steht für Evil Miss Universe – mitsamt dem symbolischen Laufvogel-Umriss eines Emus in leuchtenden Lettern auf der braunen Rundummarkise anbringen zu lassen. Dass sie die weltgrößte Superschurkin war, stellte niemals ein Geheimnis dar. Es gab kaum Konkurrenz. In Asien tat zwar Lady Dragon wichtig, aber die herrschte lediglich mit eiserner Hand über den Drogenhandel und war eher heimlichtuerisch als glamourös. Von solchen herkömmlichen und schmutzigen Verbrechensspielarten hielt Dominique überhaupt nichts. In den USA tummelte sich noch eine Handvoll in knallenges Latex gewandeter weiblicher Supervillains, aber keine von denen tanzte länger als einen Sommer, bevor sie zeternd und unvorteilhaft abgelichtet hinter Schloss und Riegel landete. Oder als Centerfold im Playboy, was vielleicht von Anfang an ihr Karriereziel gewesen war. Oder worauf sonst lassen Künstlernamen wie Sexy Sadist, Madam Web, Doominatrix, Stiletta oder Hi Heels Drifter schließen?

Dominique war von Anfang an anders. Ihr Metier waren nicht Brutalität und Schießereien – obwohl sie dem einen oder anderen Bandenkrieg besonders in ihrer Marseiller Zeit keinesfalls aus dem Weg ging –, als vielmehr kreative, fast schon künstlerisch zu nennende Extravaganz. Ihre verrückten, kostspieligen Roben waren ein Teil dieses Konzepts. Sie trug nicht ein Kostüm, sondern deren tausende, an jedem Tag ein anderes, mehr eine Diva als eine herkömmliche Superschurkin.

Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere wusste fast die ganze Welt, wo sich ihr geheimes Hauptquartier befand. Aber gerade deswegen war es so geschickt gewählt. Welcher Geheimdienst wollte es auf sich nehmen, eine Wolkenkratzerspitze von einem Hubschrauber aus mit Lenkraketen zu beschießen – und damit in den Nachrichten Bilder heraufzubeschwören, die an 9/11 erinnerten, während man dabei ja auch noch die Pariser Zivilbevölkerung gefährdete? Nein, der größte Fehler, den eine Superverbrecherin wie Dominique hätte begehen können, wäre es gewesen, ein einsam gelegenes Anwesen an der Côte d’Azur zu beziehen. Aber das größte Hochhaus mitten in einer 2,2-Millionen-Stadt? Diese Festung war so gut wie uneinnehmbar. Man hat es zweimal mit Sonderkommandos versucht. Einmal von unten – dieses Kommando scheiterte an den Sicherheitssystemen der 57. Etage. Einmal vom Dach aus, mit Fallschirmen hatte man den Autogyro-Landeplatz erobert. Aber Dominique hatte das beste Panzerglas der Welt in ihrer Etage. Man versuchte, sich zu ihr durchzusprengen, und musste schließlich aufgrund der eigenen Kollateralschäden abbrechen. Und einmal kappte man die Stromversorgung des gesamten Turms. Was besonders in den Galeries Lafayette eine unbeschreibliche Panik auslöste. Teuerste Lebensmittel begannen, in den Kühltruhen zu verrotten. Dominique jedoch schaltete einfach auf ihr in der 57. Etage untergebrachtes autarkes Notstromsystem um und twitterte munter, dass sie für eine dreijährige Belagerung bestens ausgestattet sei. Man beendete diesen Versuch schon nach drei Stunden, um die Galeries Lafayette nicht zu ruinieren.

Nein, der Turm war sicher. Eher versuchte man, Dominique außerhalb des Turms anzugreifen. Aber dazu später mehr.

Man merkt, dass ich nicht erfahren darin bin, komplexe Geschichten schlüssig aufzubereiten. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, so sehr schwirrt mir der Kopf vor lauter Informationen. Soll ich kurz vorm Ende ansetzen, um schamlos die Spannung zu schüren, wie das Bestsellerautoren machen? In dem Moment, in dem Mister Right den Raketenwerfer auf den Autogyro anlegt? Oder nicht doch eher in Dominiques Jugend? Also der Chronologie folgen wie in einer anständigen Biografie. Aber von Dominiques Jugend erfuhr ich ja erst sehr spät, beinahe zuletzt.

Nein, ich werde bei Luc anfangen. Dem Liftboy. Weil der so eine extrem wichtige Rolle in dieser Geschichte spielt. Und dann am besten bei der Sache mit den Kronjuwelen, weil das so etwa die Zeit war, in der Luc Dominique zum ersten Mal begegnete.

Die Sache mit den Kronjuwelen

Im Tour Montparnasse gibt es nicht weniger als 25 Aufzüge.

Nachdem Dominique die obersten drei Stockwerke (inklusive des Daches) angemietet hatte, wurde schnell klar, dass sie einen dieser Aufzüge für sich selbst haben wollte. Denn selbstverständlich wollte sie sich nicht mit normalsterblichen Körpergeruchsverbreitern in eine enge Kabine quetschen müssen.

Ebenso schnell wurde aber auch klar, dass sie keine Lust hatte, die Knöpfe selbst zu drücken. Sogar wenn sie Handschuhe trug, mochte sie es nicht besonders, öffentliche Oberflächen zu berühren. Man konnte ja nie wissen, wer da vorher dagegengeniest hatte. Auch, wenn der Aufzug nur für sie bestimmt war, gab es doch Wartungs- und Reinigungspersonal, das Zutritt benötigte.

Dazu kam noch ein weiteres Problem. Wenn Dominique mit ihrem Autogyro auf dem Dach landete und von dort aus dann nach unten fahren wollte, brauchte sie den Lift oben. Wenn sie von unten ins Gebäude kam, brauchte sie ihn unten. Nicht auszudenken, dass sie dort eine Minute lang neben auf die öffentlichen Aufzüge Wartenden dumm rumstehen musste, bis das verdammte Ding sich endlich zu ihr runterbequemt hatte.

Die Lösung für all diese Probleme lag auf der Hand und war nur inzwischen bedauerlicherweise etwas aus der Mode gekommen: Ein Liftboy, dessen einzige Aufgabe darin bestand, den Privatlift für Dominique bereitzuhalten. Das heißt, er wurde über ein absichtlich altmodisches Walkie Talkie von Dominiques Generalstab darüber unterrichtet, ob Dominique überhaupt, und wenn ja, dann ob von oben oder von unten sich dem Gebäude näherte.

Dieser Job war nicht allzu anspruchsvoll, an vielen Tagen gab es schlicht und einfach überhaupt nichts zu tun. Und dennoch durften natürlich keine Fehler passieren. Auch musste der Liftboy über ein angenehmes Äußeres bei makellosem Benehmen verfügen. Er sollte ja schließlich eine schicke Liftboy-Uniform tragen und darin nach etwas aussehen.

Ein entsprechendes Stellenangebot wurde also an der Pariser Elite-Universität Sorbonne ausgehängt, wo gerade die vorlesungsfreie Zeit begonnen hatte, weshalb viele Studenten auf Jobsuche waren. Ein Student war sinnvoll, denn immerhin war nicht auszuschließen, dass Superverbrecherin Dominique sich die lange Liftfahrt 58 Stockwerke auf- oder abwärts (Etage 59, das Dach, ist nicht mit dem Lift, sondern nur über eine Treppe zu erreichen) mit ein paar hingeworfenen Bemerkungen kurzweiliger gestalten wollte, und in diesem Fall sollte es sich bei dem Liftboy durchaus um jemanden handeln, der geistreich zu antworten imstande war. Sonst hätte man die Aufgabe ja auch gleich von einem Roboter erledigen lassen können.

An der Sorbonne – genauer gesagt: der Université Sorbonne Nouvelle Paris 3, noch genauer gesagt: dem Département Cinéma et audiovisuel – studierte Luc die Schauspielkunst, unter anderem unter einem seiner Lieblingsregisseure, dem Gastdozenten Cédric Klapisch.

Ja, der Luc. Ich glaube, die Allgemeinheit kennt ihn nur als Schauspieler, und da er seinen größten Erfolg Jahre später erst in Griechenland verbuchte, kennen ihn außerhalb Griechenlands nur wenige. Ich lasse dennoch seinen Nachnamen einfach mal weg, wer will, kann das ja alles selbst mit ein paar Klicks recherchieren. Ein dreitägiges Gespräch mit ihm, nachdem die Geschichte Dominiques offiziell abgeschlossen war, hat mir meine größten Informationslücken geschlossen. Womit schon einmal klar sein dürfte, dass ich nicht Luc bin. Aber von ihm habe ich sehr, sehr viele Details erfahren.

 

Luc studierte also die Schauspielkunst. Zum Zeitpunkt von Dominiques Liftboy-Stellengesuch war er gerade einmal 23 Jahre jung, ein hochgeschossener, eigentlich schüchterner Junge mit wuscheligen dunklen Locken und ausdrucksvollen dunklen Augen. Er war gut im Auswendiglernen und konnte selbst komplizierteste Textpassagen fehlerfrei aufsagen. Sein Problem an der Uni war höchstens, dass er beim Schauspielern etwas wenig aus sich herausging, immer zum größten Teil er selbst blieb, aber das ist so eine Sache mit Schauspielern: So jemand bringt es entweder nicht weit, oder er wird gerade aufgrund seiner Eigenheit zum Star. Bei Luc war da noch gar nichts entschieden. Er suchte einen Ferienjob, um seine Studiengebühren und die trotz Wohngeld immer noch zu zwei Dritteln fällige Miete seiner Miniaturwohnung in Montrouge finanzieren zu können. Montrouge liegt knapp außerhalb südlich von Paris, ist also Teil der Banlieue, und von dort aus sind es zum Tour Montparnasse im 14. Arrondissement nur rund zwei Kilometer, das ist mit dem Fahrrad kein Thema, der Job war also ausgesprochen attraktiv für Luc, und er legte sich – ansonsten etwas phlegmatisch veranlagt – außergewöhnlich ins Zeug, um ihn zu kriegen. Um ganz ehrlich zu sein: Er hatte keine Ahnung, dass er letzten Endes für die Superverbrecherin Dominique arbeiten sollte, die damals auch noch nicht in aller Munde war. Das war ja kurz vor der Sache mit den Kronjuwelen und deutlich vor der Sache mit dem Miss-Universe-Titel. Für ihn stellte sich das Ganze einfach als vielleicht ein wenig altmodisch wirkender, aber auf jeden Fall geruhsamer Liftboy-Job dar. Bei dem man womöglich sogar lesen konnte, weil in der Anzeige etwas von Privataufzug stand, also ein nicht besonders oft frequentierter Lift. Luc las gern, hatte gerade Zolas zwanzigbändigen Rougon-Marquart-Zyklus begonnen und dementsprechend noch viel vor sich.

 

Über die Bewerbungen entschied nicht Dominique persönlich, sondern ihre Generalin Irati. Über Irati muss man nicht viel mehr wissen, als dass ihr Vater Baske und ihre Mutter Katalanin war. Das Widerständige war dieser Spanierin also bereits doppelt gemoppelt in die Wiege gelegt. Kurzhaarig blondiert, groß und von kantiger Strenge trug sie eine Augenklappe, aber höchstwahrscheinlich nur als modisches Accessoire. Ansonsten kakifarbene, sehr enge Bürokostüme, die ihre Beine nicht allzu sehr zur Geltung brachten. Ein Kompromiss aus Uniform und Sekretärin. Irati war exzellent darin, den extravaganten Outfits ihrer Chefin nicht die Schau zu stehlen. Ihre Loyalität zu Dominique war unzerbrechlich, die beiden hatten sich gemeinsam als Jugendliche aus den Marseiller Docks hochgearbeitet. Dazu später mehr, wenn es um Dominiques Herkunft geht.

Mit Irati zusammen hatte Dominique über eine schicke Liftboyuniform nachgedacht. Die geläufigen waren meistens rot und sahen mit ihren Schulterklappen und den Goldapplikationen nach Operettensoldat aus. Sie konnten ja tun und lassen, was sie wollten, und überlegten, etwas ganz Ausgefallenes zu machen, so wie Dominiques eigene Garderobe. Warum sollte der Liftboy nicht zum Beispiel als Engel verkleidet sein, wenn er doch zwischen Oben und Unten, also Himmel und Hölle, vermittelte? Ein Engel in knappen silbernen Pants. Aber dann entschieden sie sich doch für etwas Klassischeres, denn sie fanden einen sehr lässig aussehenden mitternachtsblauen Uniformentwurf mit drei Reihen silberner Knöpfe, sehr schmalen Epauletten, einer fast keck wirkenden Kappe und keinerlei sonstigem Schnickschnack. Jetzt brauchten sie nur noch einen Männerkörper, der diesen Entwurf gut ausfüllte.

In dieser Hinsicht schlug Luc alle 68 Mitbewerber beim Sichtungstermin einfach aus dem Feld. Obwohl die Uniform noch gar nicht maßgefertigt war, stand er, der angehende Schauspieler, auf eine Art und Weise locker und gleichzeitig Aufnahmebereitschaft signalisierend da, die einzigartig war. Keinerlei militärische Strammheit. Eher ein In-sich-Ruhen. Eine subtile Form von Überlegenheit mit einer ganz leichten Nuance von Aufmüpfigkeit. Genau das, was Dominique von ihren Mitarbeitern erwartete. Dazu der dunkle, fragende Blick. Und geradezu grandios war der Effekt, wie Lucs strubbelige Haarmähne nur andeutungsweise vom Käppi gebändigt werden konnte.

Irati war begeistert und teilte ihrer Chefin mit, dass sie den perfekten Liftboy gefunden hatte. Diese war jedoch gerade mit dem Ausarbeiten der Kronjuwelenpläne beschäftigt und nickte einfach nur ab, Iratis Urteil vertrauend.

So trat Luc seinen Dienst im Tour Montparnasse an.

Er staunte nicht schlecht, als Irati ihm mitteilte, dass er nur eine einzige Person zu transportieren hätte und dass seine Hauptaufgabe darin bestand, entweder oben oder unten oder vielleicht auch einmal in den obersten Etagen – manchmal wollte Dominique spontan im Ciel de Paris essen gehen oder schaute in ihren Büros nach dem Rechten – auf diese Person zu warten. Irati würde ihn stets über Funk in Kenntnis setzen, wo ihre Chefin sich befand.

»Das klingt einfach«, sagte Luc.

»Ist auch einfach«, bestätigte Irati.

»Falls ich stundenlang nichts zu tun habe – darf ich dann ein Buch lesen?«

»Nein«, sagte Irati spitz, und Luc bekam ein erstes Mal den Eindruck, dass es im Tour Montparnasse nicht allzu locker zugehen würde. Aber er fügte sich. Er brauchte den Job.

Die Uniform wurde ihm maßgeschneidert. Er stand tadellos in ihr da. Dann erfuhr er, dass dieser Job keine regelmäßigen Arbeitszeiten bedeutete. »Es ergibt keinen Sinn, wenn du dich bereithältst, während Dominique gerade in Übersee weilt«, erklärte ihm Irati. »Ich werde dich kontaktieren, zwei Stunden, bevor sie am Tour eintrifft, und du hast dann vor Ort zu sein, in Uniform, egal, ob Tag oder Nacht, Feiertag oder Ferien, dein Geburtstag oder der Tag, an dem deine Mutter krepiert.«

»Ähhhhhhhh …«, sagte Luc, dem durch den Kopf ging, dass er durchaus mal mit Freunden wegfahren wollte oder seine Eltern besuchen und dass dieser Job wohl unmöglich mit seinem Studium zu vereinbaren wäre, wenn das nächste Semester begann.

»Zwei Stunden!«, schärfte Irati ihm ein. »Selbstverständlich gibt es Nacht- und auch Feiertagszuschläge. Und es gibt ein garantiertes Mindesthonorar für den Fall, dass Dominique mal einen ganzen Monat lang gar nicht in Paris weilt. Dieses Mindesthonorar liegt über dem, was die meisten Studentenjobs einbringen, und wird im günstigsten Fall also sogar für komplettes Nichtstun gezahlt.«

Was soll’s?, dachte sich Luc. Über die Semesterferien ist das perfekt. Wo sonst wird man denn bezahlt, selbst wenn man gar nicht zur Arbeit muss? Und falls es zu aufreibend werden sollte, kann ich ja jederzeit kündigen, die werden schon jemand anderes finden für ihre Uniform. Er nickte.

»Wenn Dominique im Tour nächtigt, hast du selbstverständlich kompletten Bereitschaftsdienst. Wir wollen nicht mehrere Liftboys haben, die sich abwechseln. Wenn sie sich hinlegt, kannst du dich auch hinlegen. Du bekommst dann ebenfalls ein Zimmer im Tour, hast aber innerhalb von zwei Minuten auf deinem Posten zu sein, komplett angekleidet, falls Dominique spontan aufwacht und raus will. Zwei Minuten. Bekommst du das hin?«

»Ähhhhhhhhh«, machte Luc wieder. »Ich denke schon.« In Gedanken fügte er wieder den Satz mit der Kündigung hintan. Dieser Gedankensatz beruhigte ihn sehr, während er Iratis von der perlmuttbeschichteten Augenklappe halbierten Blick begegnete.

»Wie willst du das anstellen?«

»Äh, was?«

»Das mit den zwei Minuten. Du wirst nicht in der Uniform schlafen, wir wollen nicht, dass du deinen Dienst im vollgeschnarchten Schlafanzug verrichtest.«

»Natürlich nicht. Am schlauesten wäre es … ich lege mich gar nicht hin, wenn Dominique schläft. Genau dann halte ich mich bereit! Ich lege mich erst hin, wenn sie den Tour verlässt!«

»Sehr gute Antwort. Aber was ist, wenn sie eine Woche lang im Tour bleibt?«

»Dann mache ich kurze Nickerchen während ihrer Ruhephasen. Ich kriege das hin.«

»Wir werden sehen.« Iratis eines zu sehendes Auge blitzte streng. Aber ihr Mund zeigte eine winzige Lächelfalte. Mehr war wohl nicht zu erwarten.

Luc fuhr mit dem Fahrrad nach Hause. Die Uniform bekam er mit. Zu Hause übte er das schnelle Ankleiden. Zum Auskleiden konnte er sich stets Zeit lassen, aber das Ankleiden musste sitzen. Besonders das Käppi hüpfte ihm immer wieder von den Haaren. Er dachte an ein Gummiband unterm Kinn nach, aber das würde Irati nicht durchgehen lassen. Ich kriege das schon hin, sagte er sich immer wieder. Ich kriege das schon hin.

 

In der Nacht grübelte er nach über seine geheimnisvolle Chefin Dominique. Von deren Schlafrhythmus würde in Zukunft sein eigener abhängen. Wie spontan sprang sie nachts auf und verließ den Turm? Das machte niemand, oder? Man wandelte vielleicht in der Wohnung umher, trank Wasser, ging aufs Klo. Aber man verließ nicht das Haus. Oder?

Wer Dominique überhaupt war, davon hatte Luc kein Bild. Er glaubte, sie sei ein verwöhnter Filmstar oder eine kapriziöse Hotelerbin oder irgendetwas in dieser Richtung. Das war – wie gesagt – kurz vor den Kronjuwelen, also natürlich auch vor der Sache mit der Miss-Universe-Wahl, deshalb gab es auch den EMU-Schriftzug an der Fassade des Tour noch gar nicht. Ehrlich gesagt interessierte Luc sich auch noch nicht dafür, wer sie war. Sein Job war klar umrissen, er war nur Liftboy. Er brauchte sich keine Gedanken zu machen, wo sie hinging und was sie machte, wenn sie den Tour verließ. Also las er weiterhin zu Hause seine Bücher, die 150 Jahre alt waren, und bereitete sich auf zwei Seminare des nächsten Semesters vor, die bereits Lektürelisten ins Netz gestellt hatten.

Einen Tag lang machte sich Luc mit den wenigen Bedienelementen und auch den Vorgängen bei Notfällen in seiner Aufzugskabine vertraut. Die Aufzüge im Tour Montparnasse waren vorübergehend die schnellsten in ganz Europa gewesen und schafften die annähernd 200 Meter in 38 Sekunden, aber inzwischen waren solche Geschwindigkeiten gang und gäbe. Ein dressierter Schimpanse hätte das alles hinbekommen können. Drei Tage später begann sein Job. Irati schickte ihm keine Textnachricht aufs Handy, sondern funkte ihn an: »Sie kommt. Zwei Stunden!«

Draußen nieselte es. Die Straßenlaternen waren bereits angegangen, Paris dadurch in herbstlichem Abendlicht wie entflammt. Luc packte die Uniform und ein Handtuch wasserdicht in eine alte Plastiktüte und schwang sich aufs Rad. Schon zwanzig Minuten nach der Message erreichte er den Tour.

Irati stand am Aufzug. Ihr Kaki war heute eher Sandbeige und erinnerte also an Wüstenkrieg. »Ausgezeichnet«, lobte sie ihn. »Mach dich zurecht. Trockne dir im Waschraum die Haare, ich lasse dir einen Föhn bringen. Der erste Eindruck kann entscheidend sein.«

Er tat, wie ihm geheißen, hatte das schließlich ohnehin so vorgehabt. Er hatte ausreichend Zeit. Die Uniform und auch das Käppi saßen perfekt. Eine halbe Stunde vor Ablauf der Zwei-Stunden-Frist stand er am Aufzug bereit. »Ausgezeichnet«, lobte Irati erneut. »Sie kommt heute von unten. Halte dich bei offener Kabine bereit. Es kann sein, dass sie erst noch mit mir sprechen möchte.«

»Alles klar.«

Dann warteten sie beide.

Draußen fuhr eine Großraumlimousine vor. Dominique ließ sich heute von einem Fahrdienst chauffieren, weil sie in ihrem Kleid nicht Auto fahren konnte. Sie trug nämlich das Kon Tiki-Ensemble, mehrere Helfer schützten es mit übergroßen Schirmen vor dem Nieselregen. Diese Robe war Thor Heyerdahls legendärem Floß nachempfunden, hatte vorne einen dreieckigen Bug aus Balsaholz, hinten ein aus mehreren leichten Styroporbalken angedeutetes Heck, von dem sogar ein kleines Steuerruder aus Mangrovenholz hing. Dominiques Busen umspann das Segel mit dem charakteristisch aufgepinselten Kon-Tiki-Gesicht darauf, ihre Rückenansicht war durch Mast- und Deckshausattrappen verborgen. Mit dem würdevoll erhobenen Kopf einer Kleopatra schritt sie in dieser Montur durch die von Iratis Helfern weit geöffnete Glastür. Trotz ihrer geradezu größenwahnsinnigen Aufmachung konnte Luc schon von Weitem erkennen, dass Dominique ein sehr hübsches Gesicht hatte. Ein Filmstar, natürlich, dachte er sich. Da er sie noch nie gesehen hatte, obwohl er sich mit Filmen einigermaßen auskannte, war sie wahrscheinlich ein Star in einem fernen Land. Zum Beispiel in Bollywood. Oder in Russland. Auch wenn ihr Name klar französisch klang.

Plötzlich fiel ihm auf, dass Irati ihm gar keine Anordnungen gegeben hatte, wie er sich im Detail zu verhalten hatte. Er war Schauspielschüler, ihm fehlten die Regieanweisungen. Sollte er sich verbeugen? Sollte er etwas sagen? Wie sollte er sie überhaupt ansprechen? Mademoiselle? Er wusste nicht einmal, ob sie ledig war. Besser ganz die Klappe halten. Aber er konnte auch nicht nichts sagen, oder? Immerhin würde er 58 Etagen mit ihr hochfahren. 38 Sekunden plus Türschließen und Türöffnen.

Er beschloss, es so förmlich wie möglich zu machen. Ganz ein Liftboy.

Dominique blieb erst einmal stehen und unterhielt sich mit ihrer Generalin. Luc spitzte nicht direkt die Ohren, konnte aber dennoch die rätselhaften Worte Kronjuwelen und genügendWindeln vernehmen.

Dann näherte sich Dominique dem Aufzug.

Sie blickte ihn an. Sie war wirklich extrem hübsch. Wunderhübsch geradezu. Mit rötlichbraunen, halblangen Haaren, die sich an den Spitzen ein wenig kräuselten. Sie ließ den Blick ohne die geringste Regung an seiner Uniform herabgleiten, dann wieder hoch zu seinem Käppi. Sie lächelte kein bisschen. Luc fragte sich, wie hübsch sie erst wäre, wenn sie lächelte.

Dann drängte sie sich zu ihm in die Kabine. Drängte, weil das Kleid so ausladend war. Genau genommen passte sie nicht richtig hinein. Sie stieß mit dem Bug an, dann mit dem Heckausleger. Luc konnte nicht tatenlos zuschauen. »Willkommen im Tour Montparnasse«, sagte er höflich. Dann half er ihr. Er bog den Bug nach oben und den Ruderausleger nach unten, sodass Dominique und die Kon Tiki diagonal in die quaderförmige Kabine passten. Sie bedachte ihn dafür mit einem kurzen Blick und nickte. Ihre Wimpern waren phänomenal. Ansonsten wandte sie ihm den Rücken zu. Natürlich. Das Heck der Kon Tiki also, um genau zu sein.

»In Ihre Privatetage?«, wagte Luc zu fragen. Wieder ganz Liftboy.

Wieder ein kurzer Blick von ihr, schräg nach hinten gerichtet, unter den phänomenalen Wimpern hervor. Sie nickte ein weiteres Mal.

»Sofort«, sagte Luc beflissen und bediente mit vielleicht übertriebener, theaterhafter Geste den Knopf mit der Nummer 58.

Dann fuhren sie gemeinsam nach oben. Dominique ruckelte ein wenig in ihrem Kleid wie eine Henne auf ihrem Ei, bis sie eine bequemere Haltung für ihren Bug gefunden hatte. Ihr Kinn behielt sie stolz erhoben. Sie war wirklich außerordentlich hübsch. Zauberhaft geradezu. Sehr zierlich, wahrscheinlich wog das Kleid noch mal so viel wie sie. Fast einen Kopf kleiner als der hoch aufgeschossene Luc, also höchstens 1,60 Meter groß. Vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Allerhöchstens. Sie konnte auch noch jünger sein, Schminke lässt Frauen oft älter wirken. Und sie duftete. Luc hatte selten etwas so Köstliches gerochen. Es roch nach Jasmin-Absolue und bulgarischer Rose und Amber, aber nicht allzu süß und aufdringlich, sondern ganz leicht, ganz schwebend – und mit einem Stich Frechheit darin. Wie grüner, saurer Apfel. Nur nicht so sauer. Eher – wie das Holz eines Sauerapfelbaums? Schwer zu beschreiben. Es war eine eigens für Dominique in New York hergestellte Variante von Narciso Rodriguez For Her L’Absolu.

Für Luc ging das Gefühl des im Lift Aufwärtsrasens perfekt einher mit dem, was seine Sinne in seinem Inneren mit ihm machten.

Er dachte darüber nach, dass viele junge Frauen heutzutage eine Art Einheitslook hatten. Dieselben langen glatten Haare, dieselbe Art, sich zu schminken, sich zu kleiden. Sogar in Paris, der Stadt der Mode, war das zu beobachten, andernorts mochte das noch viel krasser sein. Dominique dagegen sah anders aus, eigenwilliger. Sogar ihre Gesichtszüge waren eigenwillig. Sie waren keck und humorlos zugleich. Frech und anmutig. Aufmüpfig und küssenswert. Abweisend und anziehend. Hochmütig und betörend. Schlimm und graziös. Störrisch und magnetisch. Selbstbewusst und einzigartig. Lucs Kopf schwirrte vor Begriffspaaren wie in Höhenluft, als sie gemeinsam oben ankamen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich selbsttätig, Luc musste gar nichts machen. Er sagte aber dennoch »Die 58«, und seine Schauspielausbildung half ihm, dass seine Stimme dabei nicht belegt klang.

Dominique ruckelte und bekam ihr Heck mit dem Mahagoniruder nicht richtig aus der Kabine. »Sie gestatten?« – diese Wendung kannte er aus einem alten Film – fragte Luc und manövrierte das Ruder klar. Dominique verpasste ihm dafür einen unwilligen Blick, der ihm durch Mark und Bein fuhr, als hätte sie einen Armbrustbolzen auf ihn abgefeuert. Wie konnte er es wagen? Dann rauschte sie davon. Luc traute sich gar nicht, ihr hinterherzuschauen zu ihrer Gemächertür, so festgenagelt war er durch diesen Armbrustbolzen.

Er machte Atemübungen wie angesichts eines Vorsprechens.

Und bekämpfte seine Furcht, gefeuert zu werden. Um nichts in der Welt hätte er auf das kostbare Vergnügen verzichten wollen, noch einmal eine Fahrstuhlfahrt mit Dominique zu teilen. Beim nächsten Mal schleppte sie gewiss kein Floß mit sich herum. Sie musste auf einem Maskenball gewesen sein oder so was. Einem Maskenball, der früh endete. Vielleicht eine Art Mardi-Gras-Umzug? Oder sie war unpässlich geworden und deshalb eher nach Hause gefahren. Aber von wo war sie aufgebrochen? Gab es einen Mann, gab es Männer in ihrem Leben?

Ihr seht schon, Luc war bereits unrettbar verschossen und konnte an fast nichts anderes mehr denken als an seine neue Chefin. So was nennt man dann wohl Liebe auf den ersten Blick, oder zumindest Liebe auf die erste miteinander in einer Kabine verbrachte Minute.

Mit entschlossenem Gesichtsausdruck blieb er in der 58 stehen und wollte sich nicht von der Stelle rühren, bis Dominique ihn wieder benötigte. Anfangs sorgte er sogar dafür, dass die Aufzugtür offen stand, aber da das immer wieder ein kleines Ping machte, fürchtete er, mit diesem Ping seine Chefin zu nerven, und unterließ es.

Irati funkte ihn an. »Sie hat sich hingelegt, hat aber für 2 Uhr nachts eine Konferenz einberaumt in der 57. Du kannst dich also auch ein paar Stunden aufs Ohr legen.«

»Ich bin nicht müde. Ich warte.«

»So eine Konferenz kann bis zum Morgengrauen dauern.«

»Ich warte.«

»Wehe, du schläfst dann morgen tagsüber ein!«

»Werde ich nicht.«

»Gut. Over and out.« Dieses Overand out war typisch militärisch für Irati.

Luc wartete tatsächlich bis 2 Uhr morgens. Ihm war dabei erstaunlich unlangweilig. Vielmehr war er gespannt darauf, Dominique wiederzusehen. Er machte sich keine Illusionen: Für eine so schöne Frau war es nichts Besonderes, dass um sie herum die Herzen zerbrachen wie Mürbekekse. Sie wusste um ihre Wirkung und hatte ihn mit Sicherheit schon längst wieder vergessen. Aber immerhin war sie allein in ihre Wohnung gegangen. Es sei denn, dort wartete jemand auf sie. Würde er ihre Liebhaber ebenfalls befördern müssen, oder würden diese wenigstens den Anstand besitzen, diskret einen der anderen 24 Aufzüge zu benutzen?

Vor allem aber machte Luc sich Gedanken darüber, welcher Filmstar einer fernen Hemisphäre um 2 Uhr nachts eine Konferenz einberaumte. Was für ein absurder Zeitpunkt für so was!

 

2 Uhr. Niemand erschien. Dominique kam zu spät zu ihrer eigenen Konferenz. Sie musste geradezu mächtig sein. Aber wie eine Politikerin hatte sie nicht ausgesehen in ihrem Floß. Vielleicht doch ein Milliardärstöchterlein? Spross einer Oligarchenfamilie? Ja, bei den Russen war Französisch zu Dostojewskis Zeiten très chic gewesen. Vielleicht deswegen der Name. Gehörte sie zur russischen Mafia? Jedenfalls hielt Luc nun wieder die Fahrstuhltür offen. Vielleicht würde das Ping dazu beitragen, seine womöglich verschlafen habende Chefin zu wecken.

Um fünf nach zwei erschien Dominique. Zuerst glaubte Luc, sie sei im Pyjama. Aber es sah nur ein wenig so aus. Sie trug ein ganz leichtes, fast durchscheinendes Ensemble aus Hemd und Hose, weiß mit zartrosa Längsstreifen, über und über mit Bändern versehen, die sie teils zu Schleifen, teils zu Knoten gebunden hatte, andere hingen einfach nur wie Fransen oder Girlanden hinab. Das war kein Pyjama. Das war Streetwear mit Korsarenanmutung. Sie war barfuß. Ihre Haare hatte sie leicht unordentlich zusammengesteckt, dieses Unordentliche sah ganz besonders entzückend an ihr aus. Ihr Gesicht erschien – wenn das denn überhaupt möglich war – ebenfalls noch reizender als vorhin. Sie war weniger geschminkt und wirkte dadurch mädchenhaft und müde.

Luc spielte seinen größten Trumpf aus: »In die 57?«, fragte er.

Sie sah ihn kurz erstaunt an, dann begriff sie, dass Irati ihn wohl instruiert haben musste. Aber dieser kurze Blick heilte den Armbrustbolzen von vorhin völlig und war eine Trophäe, die Luc sich in die Vitrinenkammer seines Herzens stellen konnte, um noch lange daran herumzupolieren und sich zu erfreuen.

Wieder ihr Duft. Weniger hölzern, sondern wärmer jetzt. Was auch an der Abwesenheit des Floßes liegen mochte. Oder an einer gewissen Bettwärme. Sie nickte.

Die Fahrt war natürlich superkurz. Und abwärts. Ein flüchtiges Sacken im Magen.

Dann stieg sie in der 57 aus, um mit ihren Handlangern die Details des Kronjuwelenraubs durchzusprechen. Davon bekam Luc selbstverständlich nichts mit, aber wir bleiben mal bei diesem Thema, denn die Sache mit den Kronjuwelen wurde Dominiques Durchbruch an der internationalen Superverbrecherfront und rückte sie zwar noch nicht in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, aber auf sämtliche Fahndungslisten von Interpol. Für diejenigen, die sich dafür interessieren: Sie wurde Anlass zu Red Notices, Blue Notices und Green Notices. So nennt Interpol sein farbcodiertes Warnsystem.

 

Ich will jetzt versuchen, diese Sache mit den Kronjuwelen kurz zu umreißen. Der gesamte Coup bestand aus vier Teilen:

 

Informationsbeschaffung

Zugriff

Diktat

Verwertung

 

Nun weiß eigentlich jeder, dass die britischen Kronjuwelen, die in den Waterloo Barracks des Tower of London öffentlich ausgestellt werden, nur Nachbildungen sind. Seit eines Anschlags der IRA in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat Britannien sich nicht mehr getraut, die Originale an einen so öffentlichen Platz zu bringen.

Dominiques erste Aufgabe bestand also darin, den wahren Aufenthaltsort des riesigen Schatzes herauszufinden. Da es Leute gibt, die diesen Aufenthaltsort kennen, muss es auch möglich sein, an diese Informationen heranzukommen. Da es sich bei diesen Leuten um Briten handelt, bei denen das Führen eines erotischen Doppellebens beinahe zum gesellschaftlichen Standard gehört, war es nicht allzu schwer, jemanden zu finden, der bequem erpressbar war. Diese Aufgabe übernahm Irati persönlich. Sie war geübt darin, Männer gleichzeitig zu faszinieren und einzuschüchtern.

Erstaunt waren Dominique und ihr kleiner Führungsstab (außer Irati noch vier weitere Leute: zwei Frauen, ein Mann und eine Transgenderpersönlichkeit) dann aber doch über den wahren Aufbewahrungsort: ein ehemaliges Militärfort auf St. George’s Island, Bermuda. Dieses Militärfort wird stets in Zusammenhang mit den Kronjuwelen erwähnt, und zwar als Aufbewahrungsort eines Kopiensatzes. Hierbei handelt es sich jedoch offenbar um eine gezielte Irreführung der Weltöffentlichkeit: die vermeintlichen Kopien sind in Wirklichkeit die Originale.

Dieser Zugriff würde also gar nicht weiter schwierig werden. Um die Briten jedoch richtig in die Unterwerfung zu schocken, plante Dominique zwei Zugriffe gleichzeitig, nämlich die Kronjuwelen und das neueste royale Baby, die damalige Nummer 5 der Thronfolge.

Diese beiden Aktionen akribisch auszuarbeiten und miteinander zu koordinieren, dauerte eine Woche. Der Abend, an dem Luc Dominique zum ersten Mal begegnete, kennzeichnete den Beginn dieser Woche. Dominique blieb die ganze Woche über im Tour Montparnasse, Luc hatte also deswegen Dauerschicht. Mit eisernem Willen stand er das durch. Da Dominique immer nur zwischen der 58 und der 57 hin- und herfuhr und ein paarmal zum Essen in die 56, waren die Fahrten sehr kurz. Dominique verließ den Tour tatsächlich zweimal in dieser Woche, aber nur mit ihrem Autogyro über das Dach. Da sie auch immer wieder auf dem Dach landete, machte das für Luc keinen Unterschied, weil er weiterhin oben in Bereitschaft bleiben musste.

Er schlief nur, wenn sie ebenfalls schlief. Er las nichts. Er aß, wenn sie beim Essen war. Oder wenn sie schlief. Er achtete darauf, dass er keine Krümel auf seiner Uniform hatte. Er wartete auf sie.

Und er berauschte sich an den verschiedenen Outfits, die sie jeden Tag trug. Ihre begehbaren Kleiderschränke mussten die Hälfte der Fläche ihrer Etage einnehmen.

Am ersten Tag dieser Woche trug sie eine orangefarbene Leder-Kombi von Tom Ford mit einem weiten Blouson, dazu schwarze High Heels von MICHAEL Michael Kors.

Am zweiten Tag trug sie einen kurzen Kimono, der nur bis zur Hüfte reichte, darunter beige Kniebundhosen aus Wolle, sowie Getas, die traditionellen japanischen Holzsandalen.

Am dritten Tag trug sie eine Jacke aus rot lackiertem Plastik von Aspesi. Für die Hosen und Schuhe hatte Luc gar keinen Blick mehr übrig, die Fahrten waren auch sehr kurz.

Am vierten Tag trug sie eine Jacke von Prada, bedruckt mit Motiven feministischer Cartoonisten und mit Leopardenmusterkragen. Dazu eine Schlupfhose aus Velourlederimitat und absatzlose Halbstiefel von Mexicana.

Am fünften Tag goldlamierte Schuhe von Apologie, darüber einen All-White-Anzug von Agnona.

Am sechsten Tag war sie komplett golden, ein glänzender, zweiteiliger Anzug von Dior, das Gesicht wie ein Harlekin geschminkt, die Haare streng und glatt und dunkler als sonst.

Am siebten Tag trug sie dunkelrote Stiefel und ein blaues Babydollkleid, völlig durchsichtig, darunter aber noch ein weißes Trikot. Fast alles von Calvin Klein.

Am achten Tag hatte sie den Tour über das Dach verlassen, Irati gab Luc mindestens mehrere Tage frei, und der Ärmste fiel wie in einen kalten Drogenentzug.

Man muss dazu sagen: An all diesen Tagen war er vielleicht dreißigmal mit ihr gefahren, immer nur kurz, meistens hatte Irati ihn vorab informiert und er konnte die Etage ansagen, dreimal jedoch wusste er nicht Bescheid und Dominique selbst gab an, wohin sie wollte. Diese drei Zahlen waren die einzigen Worte, die sie mit ihm wechselte. Kein Guten Morgen, kein Gute Nacht, und erst recht keinen Small Talk. Keine Äußerung darüber, dass Luc immer auf Posten war. Keine Anerkennung. Eigentlich genau genommen nicht einmal ein Wiedererkennen. Absolut nichts.

Dennoch war Luc glücklich. Weil sie wie eine Sonne für ihn war, die nicht nur jeden Tag aufging, sondern an jedem Tag auch noch in komplett unerwartbaren Farben erstrahlte. Er war gespannt auf dieses Aussehen wie auf nichts sonst in seinem Leben. Er fragte sich, ob die anderen Menschen, denen sie täglich begegnete, das überhaupt so zu schätzen wussten wie er. Doch, Irati wahrscheinlich. Und ihre Konferenzteilnehmer, von denen er ab und zu mal den einen oder anderen zu Gesicht bekam, wenn er oder sie einen der anderen Aufzüge ansteuerte. Auf den einzigen Mann in der Runde wurde er schnell eifersüchtig, obwohl dieser sechzig Jahre alt war und das mürrische Gesicht einer Bulldogge hatte. Die Transgenderpersönlichkeit fiel ihm ebenfalls auf, weil sier einen ähnlich ausgefallenen Modegeschmack an den Tag legte wie Dominique, aber sihn sah Luc nur zweimal, konnte also nicht so auf dem Laufenden bleiben wie bei Dominique.

Wie hübsch Dominique war! Und jeden Tag auf unterschiedliche Weise hübsch! Sie duftete jeden Tag ähnlich, aber auch da gab es Nuancen. Einmal war Sandelholz dabei, diesen Duft konnte er identifizieren. Ein andermal schien das freche Apfelige im Vordergrund zu schweben. Ihre Größe variierte, je nachdem, ob sie barfuß war oder hohe Absätze trug. Einmal kam seine Nase ihrem Hinterkopf nahe, und er atmete schwelgerisch den Geruch ihres Haares ein. Sogar ihr Shampoo musste etwas sehr Edles sein. Das war es in der Tat: Es handelte sich um das Russian Amber Imperial Shampoo von Philip B.

 

An dieser Stelle ist vielleicht eine Bemerkung über Dominiques Geldmittel angebracht. Ihr Mode- und Markenfaible sowie das Anmieten der drei obersten Etagen des höchsten Hauses von Paris lassen den Eindruck aufkommen, Dominique sei schon damals unermesslich reich gewesen. Dem war aber überhaupt nicht so. Ich will nicht zu früh ihren Werdegang vorwegnehmen – das wird noch ausführlich im zweiten Teil des Buches behandelt –, aber Dominique und ihrer Organisation standen zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als eine Million Euro zur Verfügung. Heutzutage, wo es nicht einmal mehr Zinsen gibt, ist das nicht viel Geld. Und diese Million hatte Dominique nicht durch Verbrechen erwirtschaftet, sondern durch eine Kulturförderungsidee, die sie mit gerade einmal zwanzig Jahren gehabt hatte. Dazu aber wirklich mehr im zweiten Teil.

Ihr war jedenfalls vollkommen bewusst, dass sie diesen Lifestyle allerhöchstens vier, wahrscheinlich sogar nur drei Monate lang würde aufrechterhalten können. Nichtsdestotrotz erachtete sie diesen Lifestyle für unabdingbar, wenn sie die Superverbrecherin Nummer Eins in der Welt werden wollte, und nichts Geringeres war ihr Ziel. Deshalb die Sache mit den Kronjuwelen. Weil genau dieser Coup das Potenzial hatte, die Organisation auf Jahre zu sanieren.

 

Zurück also zu Luc. Luc ging es dreckig. Er lag in seiner Studentenbude und trauerte seiner Sonne nach. Würde sie ihn überhaupt wieder benötigen? Wann? Aber wenn alles vorbei wäre, hätte Irati ihm doch sicher gekündigt, oder? Er konnte sich also immerhin berechtigte Hoffnungen machen. Dennoch kam ihm die Welt merkwürdig schal vor. Die vielen jungen hübschen Mädchen, die Paris bevölkern wie ein Volksstamm von Engeln – sie erschienen ihm einfallslos und unfesselnd.

Was er nicht ahnen konnte, war, dass sich gleichzeitig die Sache mit den Kronjuwelen abspielte. Dominique hatte sich in ein sicheres Versteck zurückgezogen, das näher an der Nordseeküste lag, ich glaube, in der Nähe von Dieppe, wahrscheinlich in dem Tausend-Seelen-Nest Saint-Aubin-sur-Scie. Auf die Fähre von Calais nach Dover war sie ebenso wenig angewiesen wie auf den Eurotunnel, denn sie hatte ja ihren Autogyro.