Die Dicke - Isabela Figueiredo - E-Book

Die Dicke E-Book

Isabela Figueiredo

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Beschreibung

Maria Luísa ist jung, intelligent, eigensinnig. Sie ist eine gute Schülerin und verfolgt auch später konsequent ihren eigenen Weg. Doch sie ist dick. Hoffnungslos dick. Dieser Umstand überlagert und beschädigt alles: ihre sozialen Kontakte, ihr Gefühlsleben (die komplizierte Beziehung zu David, ihrer großen Liebe), ihren Wirklichkeitsbezug. Schon als Teenager leidet sie darunter und muß in resigniertem Schweigen das Mobbing durch ihre Mitschüler ertragen. Neben ihrer dominanten Freundin Tony – schlank, schön und von allen Jungs umschwärmt – ist sie »das Monster«, »der Blauwal«. Im Studium lernt sie David kennen. Obwohl er ihren Körper begehrt, schämt er sich vor seinen Freunden für ihr Aussehen und bittet sie, ihn nicht mehr zu besuchen. Er beendet die Beziehung, doch kann sich Maria Luísa nicht vollends von ihm lösen. Von den eigenen Eltern fühlt sie sich bedrängt und eingeschränkt, dennoch werden sie ihr nach deren Tod fehlen. Als Erwachsene faßt Maria Luísa den Entschluß, ihren Magen operativ verkleinern zu lassen. Die Erzählerin dieses autobiographischen Romans geht durch die Räume der Wohnung, die sie mit ihren Eltern nach deren Rückkehr aus Mosambik bewohnt hat; die einzelnen Zimmer bilden die Kapitelüberschriften.

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Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Maria Luísa ist jung, intelligent, eigensinnig. Sie ist eine gute Schülerin und verfolgt auch später konsequent ihren eigenen Weg. Doch sie ist dick. Hoffnungslos dick. Dieser Umstand überlagert und beschädigt alles: ihre sozialen Kontakte, ihr Gefühlsleben (die komplizierte Beziehung zu David, ihrer großen Liebe), ihren Wirklichkeitsbezug. Schon als Teenager leidet sie darunter und muß in resigniertem Schweigen das Mobbing durch ihre Mitschüler ertragen. Neben ihrer dominanten Freundin Tony – schlank, schön und von allen Jungs umschwärmt – ist sie »das Monster«, »der Blauwal«. Im Studium lernt sie David kennen. Obwohl er ihren Körper begehrt, schämt er sich vor seinen Freunden für ihr Aussehen und bittet sie, ihn nicht mehr zu besuchen. Er beendet die Beziehung, doch kann sich Maria Luísa nicht vollends von ihm lösen. Von den eigenen Eltern fühlt sie sich bedrängt und eingeschränkt, dennoch werden sie ihr nach deren Tod fehlen. Als Erwachsene faßt Maria Luísa den Entschluß, ihren Magen operativ verkleinern zu lassen.

Die Erzählerin dieses autobiographischen Romans geht durch die Räume der Wohnung, die sie mit ihren Eltern nach deren Rückkehr aus Mosambik bewohnt hat; die einzelnen Zimmer bilden die Kapitelüberschriften.

Über die Autorin

Isabela Figueiredo wurde 1963 in Lourenço Marques, dem heutigen Maputo, geboren. 1975, nach der Nelkenrevolution und Mosambiks Unabhängigkeit, verließ sie Afrika allein, ihre Eltern sah sie erst zehn Jahre später in Lissabon wieder. Das Buch über ihre Kindheit in Afrika, Roter Staub, erschien 2019 im Weidle Verlag, übersetzt von Markus Sahr.

Über die Übersetzerin

Marianne Gareis studierte Lateinamerikanistik, Anglistik und Ethnologie. Seit 1989 übersetzt sie aus dem Portugiesischen und Spanischen, z. B. José Saramago, Gonçalo M. Tavares, Joaquim Machado de Assis, Andréa del Fuego, Sergio Álvarez und Samanta Schweblin. 2014 wurde sie mit dem Straelener Übersetzerpreis ausgezeichnet, 2018 mit dem Hieronymusring des Verbands deutschsprachiger Übersetzer.

Isabela Figueiredo

Die Dicke

Roman

Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis

Weidle Verlag

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Weidle Verlag, Göttingen 2025

Wallstein Verlag GmbH

Geiststr. 11, 37073 Göttingen

www.wallstein-verlag.de

[email protected]

Der Weidle Verlag ist ein Imprint der Wallstein Verlag GmbH.

Die Originalausgabe A Gorda erschien 2016.

© 2016 Isabela Figueiredo e Editorial Caminho.

Die Übersetzung wurde gefördert von Direção-Geral do Livro,

dos Arquivos e das Bibliotecas (DGLAB) / Portugal

und Camões, IP – Portugal

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e. V.

für die Förderung durch ein Arbeitsstipendium

Dank an Ana Patrícia Severino, Ana Castro, Assunção Mendonça

Lektorat: Stefan Weidle

Korrektur: Madeline Bause

Gestaltung und Satz: Friedrich Forssman

ISBN (Print) 978-3-8353-7506-2

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-7714-1

Inhaltsverzeichnis

Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Isabela Figueiredo: Die Dicke

Meiner Mutter

Ich danke Ana Bela Almeida, Burghard Baltrusch und Paulo de Sousa für die unermüdliche Lektüre der Manuskripte zu diesem Buch. Letzterem danke ich auch für das Engagement, mit dem er sie in den Computer eingegeben hat.

Glaube mir, Frankenstein, ich war anfangs nicht böse, in meiner Seele wohnten Güte und Liebe; aber ich bin allein, so furchtbar allein. Du, mein Schöpfer, verabscheust mich, und was habe ich von deinen Mitmenschen zu erwarten, die mir so gar nicht nahestehen? Sie hassen und verfolgen mich. [...] Du hast es in der Gewalt, mich versöhnlich zu stimmen [...]. Habe Mitleid mit mir und verachte meine Bitten nicht. Höre, was ich dir erzähle, und dann überlaß mich meinem Schicksal oder habe Mitleid mit mir; wie du meinst, daß ich es verdiene. Aber höre mich zuerst an.

Mary Shelley,Frankenstein oder Der moderne Prometheus

(in der Übersetzung von Heinz Widtmann)

»Die Vergangenheit ist nicht tot«, schrieb Faulkner in »Requiem für eine Nonne«; und er fügte noch hinzu: »Sie ist nicht einmal vergangen. « Besser kann man es nicht ausdrücken: Die Vergangenheit hört nie auf zu vergehen, ist stets präsent und wirkt sich auf die Gegenwart aus, wird Teil von ihr, lebt in uns weiter. Eine Gegenwart ohne Vergangenheit zu leben heißt eine verstümmelte Gegenwart zu leben, also ein verstümmeltes Leben.

Javier Cercas, »La dictadura del presente«,

In El País Semanal,, 22. 6. 2014

In einem Lyceum merkte ich unlängst, daß der Vortragende ein Thema gewählt hatte, das ihm selbst zu fern lag, und so weckte er mein Interesse nicht in dem Maße, wie er es hätte tun können. Er beschrieb Dinge, die nicht in seinem Herzen waren oder ihm nahe, sondern in seinen Extremitäten, an seiner Oberfläche. [...] Mir wäre es lieber gewesen, er hätte sich mit seinen geheimsten Erfahrungen befaßt, wie es der Dichter tut.

[...] also nehme ich mir vor, ihnen eine starke Dosis meiner selbst zu verabreichen. Sie haben nach mir geschickt und sich verpflichtet, mich zu bezahlen, und ich bin entschlossen, daß sie mich bekommen sollen, auch wenn ich sie langweile wie niemand zuvor.

Henry David Thoreau, Leben ohne Grundsätze

(in der Übersetzung von Peter Kleinhempel)

Musikalische Inschrift

Nina Simone –I put a Spell on You (1965)

The Doors –The Crystal Ship (1967)

Janis Joplin –Maybe (1969)

Abba –Dancing Queen (1976)

António Variações –Estou Além (1982)

Patti Smith –Because the Night (1983)

Stevie Nicks –Has Anyone Ever Written Anything for You (1985)

Laurie Anderson –Language is a Virus (1986)

Prince –Sometimes it Snows in April (1986)

Xutos e Pontapés –À Minha Maneira (1988)

Rádio Macau –Amanhã É Sempre Longe Demais (1989)

The Cure –Love Song (1989)

Nirvana –Come as You Are (1991)

U2 –One (1991)

Annie Lennox –Why (1992)

Ornatos Violeta –Ouvi Dizer (1999)

Lou Reed –Turning Time Around (2000)

Amy Winehouse –Back to Black (2006)

Amor Electro –A Máquina (2011)

Jorge Palma –Imperdoável (2011)

Lana del Rey –Born to Die (2012)

Eingangstür

Vierzig Kilo sind ein respektables Gewicht. Die habe ich nach meiner Magenverkleinerung verloren: Es war eine Art zweiter Körper, den ich da mit mir herumtrug. Mit mir herumschleppte, besser gesagt. Es war, als hätten die Ärzte mich von einem siamesischen Zwilling getrennt, der vor lauter Kummer Selbstmord begangen hatte, und mir dann gesagt: »Wir haben unsere Arbeit getan, tun Sie jetzt die Ihre, und kommen Sie klar damit. Lernen Sie, allein zu leben.«

Nach der Operation konnte ich nicht mehr essen. Ich trank Brühe, Milch, Säfte. Mein Körper und meine Seele taten weh. Ich verspürte einen großen Hunger, doch die Hälfte meines Magens war weggeschnitten, und das, was übrigblieb, war eine einzige Wunde. In den ersten Monaten verlor ich meine Kraft und meine Haare, ich ging ganz langsam, gewöhnte mich um. Mein Körper verringerte sich täglich um 250 Gramm, ich wurde allmählich leicht, begann fast zu schweben, so hatte ich mich seit meiner Kindheit nicht mehr gefühlt. Ich stieg ohne jedes Keuchen acht Stockwerke hoch und hätte auch noch acht weitere geschafft, so viele wie nötig, denn nichts konnte mich aufhalten. Mit solchen Übungen testete ich mich. »Mal sehen, ob ich zwanzig Kilometer wandern kann«, sagte ich, und ich schaffte es. Doch ich wurde nicht unbesiegbar. Mein Denken ist immer noch das einer Dicken. Ich werde immer die Dicke bleiben. Ich weiß, daß die Welt der normalen Menschen nicht für mich bestimmt ist. Ich habe immer noch diesen Makel, aber man sieht ihn nicht mehr so sehr; er ist weniger schlimm. Es gibt Augenblicke, da denke ich, ich hätte ein neues Leben gewonnen, wie Menschen, die eine Todeserfahrung gemacht haben, die den Tunnel ins Jenseits erblickten, mit dem verlockend weißen Licht am Ende, das sie rief, sie aber entschieden sich für die Rückkehr. Ich habe mich auch entschieden, und obwohl niemand mich mehr ausschließt, schließe ich mich selbst aus, von vornherein. Ich kenne meine Grenzen sehr gut. Kenne das, wozu ich Zugang habe, und das, was mir für immer verwehrt ist. Die Versehrten sind das, was man Diamanten nachsagt: ewig.

Letztes Jahr ist Mama gestorben, kurz nachdem Papst Benedikt XVI. abdankte und sofort ersetzt wurde durch Papst Franziskus, einen gütigen, verständnisvollen, bescheidenen Mann von gutem Charakter, der offensichtlich nicht nach materieller Macht strebt, sondern ganz Geist ist: die männliche Version von Mama. Es war das Jahr, in dem Edward Snowden der Welt enthüllte, daß Big Brother auch außerhalb der Fiktion existiert, und das Jahr, in dem die Portugiesen in Scharen an irgendwelche Orte in der Welt emigrierten, wo sie ein Gehalt bekamen, mit dem sie ihre Kinder ernähren und die Hypotheken für ihre Häuser abbezahlen konnten. Mir kam zugute, daß ich den richtigen Job hatte, im Staatsdienst nämlich, denn von mir hängt es ab, ob die zukünftigen Wähler weiterhin diese sanften Sitten erlernen, für die unser Volk bekannt ist. Ich bin Philosophielehrerin in einer Brennpunktschule, in der die Haltung vorherrscht, das Denken sei nicht interessant, wo nur das Handeln und die Ergebnisse zählen. Ich weiß genau, was Staat und Gesellschaft von mir erwarten, und ich gebe es oder auch nicht, ganz nach meinen eigenen Gesetzen. Ich habe es nie geschafft, den Idealismus meiner Jugendzeit abzulegen, der 1978 dem Schulleiter des Kollegs von Lourinhã so gegen den Strich ging, obwohl ich heute die pragmatische Klugheit dieses Mannes auch zu schätzen weiß. Man kann also wirklich nicht sagen, 2013 sei ein langweiliges Jahr gewesen. Mama hat immer schon ein gutes Gespür für den richtigen Zeitpunkt gehabt.

Als die Troika nach ihrem Tod Kürzungen bei der Rente und dem Invalidenzuschuß verlangte, atmete ich erleichtert auf, weil ich ihr nicht zu erklären brauchte, daß wir fortan mit noch weniger auskommen müßten, da unsere Regierung und die Europäische Union uns glaubhaft versicherten, wir hätten vorher über unsere Verhältnisse gelebt und sollten nun ausgelöscht werden. Zum Glück mußte Mama diesen Zusammenbruch unserer großartigen, ihr den Lebensunterhalt kürzenden Demokratie nicht mehr miterleben. Zwei Jahre lang hatte ich ihr bereits vorenthalten, daß ich dem Staat einen Teil ihrer bescheidenen Rente zurückzahlte, in Form von Steuern, die ich komplett aus meinem Urlaubsgeld finanzierte. Ich durfte ihr keinen Kummer bereiten, weil sich dadurch die Aortenstenose, an der sie litt, vielleicht verschlimmert hätte, aber länger hätte ich die Realität auch nicht mehr vor ihr geheimhalten können. Im Klartext heißt das, ich bezahlte schon so viele Steuern und so viele Rechnungen, daß mir meine Fähigkeit, stets irgendwo Geld aufzutreiben, abhandengekommen war. Mamas Tod war eine Erleichterung. Letztes Jahr ist sie gestorben, das heißt, sie hat noch miterlebt, daß ich diese vierzig Kilo verloren habe, ein Abenteuer, das zwei Jahre zuvor, als Passos Coelho an die Regierung kam, begann. Die Magenverkleinerung war nicht billig, aber sie macht sich durch das bezahlt, was ich nun an Essen spare. Mama war sehr stolz auf mich, und sie starb in dem Glauben, daß ich nun länger leben werde als Papa, und das war immer ihr großer Wunsch. Wie sie habe auch ich ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Schließlich habe ich nicht nur ihre Blutgruppe geerbt.

Wir schreiben das Jahr 2014. Mama ist nicht mehr. Und irgendwann bin ich dran; das dauert zwar hoffentlich noch etwas, aber während ich jetzt zum Jahreszeitenwechsel die Schränke ausmiste, Pullover auseinanderfalte und betrachte, kann ich es kaum glauben, daß diese Kleidungsstücke vor ein paar Jahren noch mir gehört haben. Diese großen Unterhosen und alten BHs! Riesige Schlafanzüge, ganze Schubladen voll. Gigantische T-Shirts und Hosen! Alles ungeheuer weit, abgetragen, eine schlechte Erinnerung. Es fällt mir schwer, mich dieser Kleidergröße zu stellen. Ich will mir mich nicht in Klamotten vorstellen, die mich so viele Kilos und Leiden zurückwerfen, möchte auch nicht mehr der Frau ähneln, die sich nicht im Spiegel anschauen konnte; aber ich schaffe es nicht, die Kleider wegzuwerfen, die ich damals trug, die sich ohne Scham an meinen süßen, kaum berührten Körper schmiegten. Sie schämen sich nicht für das, was ich war. Ich glaube daran, daß Gegenstände eine Aura haben, eine Beziehung zu ihren menschlichen Gefährten, ein Eigenleben. Es fällt mir schwer, mich von dem zu lösen, was mit mir gelebt hat, und meine Dicken-Kleidung war eine geduldige Partnerin und Zeugin vieler Gefühle und Handlungen, vieler Erfolge und Mißerfolge. Vielleicht kann ich sie ja verschenken, dann würde sie ihre Karriere mit einer neuen Freundin fortsetzen, aber es ist grausam, auf jemanden zuzugehen und zu sagen: »Da Sie weiterhin dick sind und ich mich doch ziemlich verbessert habe, schauen Sie doch mal, ob Sie diese Hose brauchen können.« Das macht man nicht! Niemand möchte an seine Unförmigkeit erinnert werden. Das wäre, als würde man einem Beinamputierten eine Hose ohne Hosenbeine schenken. Eine Beleidigung. Vielleicht kann ich ja ein paar Kleidungsstücke recyceln, indem ich Wäschesäckchen oder Staubtücher daraus mache. Aber erst einmal behalte ich alles. Dadurch gewinne ich ein paar Monate, und in der Zeit entscheide ich, was ich mit diesen riesigen, an der Hüfte und am Busen abgewetzten Lappen anfange. Ich packe die alten Kleider der traurigen, doch stets lächelnden Dicken in Schachteln, verstaue sie im Schlafzimmerschrank und schiebe die Entscheidung auf. Eins nach dem anderen, so, wie man es eben schafft. Auf diese Weise gewinne ich Zeit, die ich für die Distanzierung und Ablösung brauche, denn was dem Auge fern ist, ist bald auch dem Herzen fern. Das passiert unweigerlich. Ist das Gesetz des Überlebens.

Nach der Magenverkleinerung sehe ich ganz passabel aus! Angekleidet verstecke ich nun meine Unvollkommenheiten. Ich werde nie einen Körper wie Tony haben, nie schlank genug sein, um David zu gefallen, doch ich muß gestehen, ich bin eitel geworden, und das ist die Wahrheit, denn die ist mir heilig.

Manchmal ist der Aufzug kaputt in dem Haus, in dem sich die Wohnung meiner Eltern befindet, die nun meine ist, und ich muß die Treppen bis zum sechsten Stock zu Fuß hochsteigen. Früher hat mich das gequält, doch jetzt liebe ich es. Ich steige sie hoch wie eine Schauspielerin, die lächelnd und den Fotografen zuwinkend die mit einem roten Teppich belegten Stufen zur Bühne erklimmt, und ich sage mir : »Was für ein Sieg, Maria Luísa, was für eine Heldentat! Wer hätte das gedacht!?«

Wenn im Haus ein Umzug stattfindet, geht im Aufzug regelmäßig der Spiegel kaputt. Das ärgert mich, denn dort male ich mir auf dem Weg zur Arbeit immer die Lippen an, in aller Eile. Als ich noch dick war, habe ich es vermieden, mein Spiegelbild zu betrachten, doch heute betrachte ich mich und erfreue mich an meiner reifen Schönheit. Manchmal denke ich, ich habe früher viel Zeit verloren, weil ich mich nicht mochte, aber dann formuliere ich den Gedanken um und komme zu dem Schluß, daß verlorene Zeit genauso wahrhaftig gelebt wird wie neu gewonnene, nur eben als Verlust. Das beruhigt mich dann wieder.

Wenn ich nach Hause komme und die Wohnungstür öffne, gelange ich in eine dunkle Diele ohne Licht. Ich durchquere sie, und sobald ich irgendein Zimmer betrete, erschlägt mich das unbarmherzige Licht, ganz gleich ob im vorderen Teil, der nach Osten geht, oder im hinteren, der nach Westen ausgerichtet ist. Das Licht schmerzt in den Augen. Ich kann es kaum ertragen, aber es macht den Raum weicher und die Tage freundlicher. Wenn ich traurig bin, rufe ich Leonel an, der mich mit seinen Plänen, doch noch ein Kind mit mir zu zeugen, zum Lachen bringt. Ich sage ihm: »Mann, ich bin doch schon in den Wechseljahren«, doch er entgegnet mir: »Das macht nichts, wir gehen einfach nach Kalifornien, da ist alles möglich.« Er und sein Partner wären gern Eltern. Geblieben ist ihnen die Erinnerung an unseren gescheiterten Versuch. Sie haben immer von einem Kind geträumt, das aber nie zur Welt kam. Ich erkläre ihm, daß es Dinge gibt, die einfach nicht sein sollen, auf die wir keinen Einfluß haben. Wir sind der Geschichte, die für uns bestimmt ist, hoffnungslos ausgeliefert.

Als meine Eltern aus Mosambik wiederkamen und wir 1985 diese zum Verkauf stehende Wohnung besichtigten, verliebten wir uns in das Licht und in die Aussicht im hinteren Teil. Es war eine luftige, schwebende Wohnung mit weitem Horizont. Mama sagte, in einem Haus voller Licht schimpft niemand und alle haben recht, aber ehrlich gesagt wurde bei uns zu Hause in all den Jahren immer wieder geschimpft, mit und ohne Grund, wie in anderen Häusern auch.

Als meine Eltern zurückkehrten, kamen sie nicht auf die Idee, in ihre Heimatorte zu ziehen, sie hatten zuviel von der Welt gesehen, als daß sie sich hätten in der Provinz ansiedeln können. Ausgesprochen wurde das zwar nie, aber man spürte es. Sie hatten mich 1975 nach Portugal geschickt, gleich nach der Unabhängigkeit Mosambiks, und da meine einsame Reise im Haus von Tante Maria da Luz in Cova da Piedade endete, blieben auch sie dort. Lissabons südliches Ufer war der rechte Arm der Hauptstadt, war entspannt und multikulturell wie dieses Lourenço Marques der Mittelschicht, aus dem sie kamen. Deshalb kauften sie diese Wohnung, in der nun ich lebe, und blieben dort bis an ihr Lebensende. Das war das Schicksal, dem niemand entkommt, nicht mal die Götter selbst.

Papa kam 1924 in Caldas da Rainha zur Welt. Dort lernte er auch Mama kennen, die aus Alcobaça stammte und im selben Jahr geboren war wie er; sie verbrachte gerade ihre Ferien in Caldas, bei ihrer Cousine Irene, die sie gebeten hatte, in ihrem Café auszuhelfen. 1952 wanderte Papa nach Mosambik aus, auf der Suche nach einem würdevollen Leben. Einige Jahre später machte er Mama einen Heiratsantrag per Post, und sie heirateten kraft Vollmacht, wie das in solchen Situationen üblich war. Als Mama es schließlich geschafft hatte, einen Platz auf dem Überseedampfer ­Império zu ergattern, zog sie zu ihm. Papa hatte seine Reise auf der Pátria gemacht.

Zwölf Jahre später kam ich zur Welt. Mama konnte keine Kinder im Bauch behalten. Sie wurden gezeugt und wieder abgestoßen, es war Gottes Wille, und deshalb war meine Geburt ein echtes Wunder. Das erste und letzte in unseren Leben. Eigentlich sollte ich Maria Josefa heißen wie Papas Mutter, oder Carla Maria wie meine mosambikanische Patentante, doch Mama widersetzte sich und nannte mich Maria Luísa, weil das ein fröhlicherer Name war und er sie an Louise Brooks erinnerte, eine Schauspielerin, die sie in den Sommernächten ihrer Jugend in den Stummfilmen des Freiluftkinos gesehen hatte.

Die Wohnung, die ich von meinen Eltern geerbt habe, liegt am anderen Ufer, das, wie allseits bekannt, ein weites, warmes Land des Südens ist. Und das andere Ufer nahm uns so freundlich auf, daß wir nie wieder von dort wegwollten. Hier ruhen unsere Körper, der meine noch im Fleisch, der ihre wird gerade zu Staub, obwohl ich mich täglich bemühe, sie lebendig zu halten, und an diese meine Fähigkeit glaube wie an das Wasser, das aus dem Wasserhahn kommt, solange es im Verteilernetz keinen Rohrbruch gibt.

Ich vergleiche unser Leben gern mit einer Durchquerung der südlichen Meere, die bevölkert sind von Piraten und einsamen Seeleuten, was manchmal auch ein und dasselbe ist.

Mädchenzimmer

Es liegt im hinteren Teil des Gebäudes, ist nach Osten ausgerichtet, und seine Tür befindet sich links des Eingangs an derselben Wand. Das Zimmer hat Zugang zu einem geschlossenen, in einen Wintergarten umgewandelten Balkon, von dem aus man den Tejo und das Mar da Palha, das große Flußdelta sieht, an dem die Orte Lissabon, Barreiro, Montijo und Alcochete liegen. Morgens hat es volle Sonne. Vor der Tür zum Wintergarten hängen graue Shantung-Vorhänge, die die Lichtfülle etwas dämpfen.

David lernte ich Anfang 1985 kennen. Er war ein junger Dichter, der gerade sein Debüt hinter sich hatte, und ich schrieb ihm einen kurzen Brief, in dem ich ihm meine Bewunderung für seine Texte in der Zeitschrift Ideia e Acção zum Ausdruck brachte, die ich inzwischen regelmäßig las. Er antwortete mir und bedankte sich, schrieb aber, es gebe keinen Grund, daß ich mich für einen Erben der Aufständischen im Alentejo interessierte. Er sei lediglich ein dilettantischer Student, der es wegen der Klassenschranken niemals zu etwas bringen würde. Er hatte keinerlei Selbstwertgefühl. »Ich bin nichts wert. Schreib mir nicht wieder.«

Das genügte mir. Unsere Korrespondenz intensivierte sich, wir begannen uns in Amora zu treffen, und er verliebte sich in mich. Ich hatte eigentlich keine Ambitionen, zumal der Junge höchstens siebzehn und ich gerade einundzwanzig geworden war, doch im Jahr darauf kam alles anders. Ich wurde geblendet vom Licht und küßte ihn in seinem nach Süden gehenden Zimmer der elterlichen Vorstadtwohnung in Arrentela, worauf wir unseren Lektürenachmittag unterbrachen. Ich hatte einfach Lust darauf und tat es. Er wünschte es sich auch, traute sich aber nicht. Wir saßen auf dem Boden, um uns herum Zeitungen, Bücher und Zeitschriften. Das war der Beginn unserer Reise.

Tony lernte ich viel früher kennen, lange bevor David in mein Leben trat.

1978 sahen Tonys Brüste aus wie kleine, im Wachstum begriffene Birnen, hart und symmetrisch, mit braunen Nippeln.

Wir waren Klassenkameradinnen und Zimmergenossinnen im Kolleg von Lourinhã, nach der Entkolonisierung, in den Jahren, in denen ich von meinen Eltern getrennt lebte.

Tony kam mitten im ersten Halbjahr dazu, an einem Novemberabend während des Abendessens. Daher wurden wir angewiesen, uns vom Tisch zu erheben, und der Herr Direktor rief mich in das kleine Besucherzimmer, dessen Wände mit lackiertem Holz verkleidet und mit den gerahmten Fotos der besten Schülerinnen behangen waren. Er stellte mir Tony vor.

»Das ist Antónia, sie ist aus Angola gekommen, und ihre Eltern sind noch dort geblieben, genau wie deine. Ihr habt das gleiche Schicksal, daher solltet ihr euch gegenseitig unterstützen und anfreunden.«

Der Herr Direktor vertraute mir. Wahrscheinlich verrieten ihm meine Augen eine Verletztheit, die sich nach Frieden sehnte und daher ins Kolleg geflüchtet war, wo nach dem ganzen Chaos seit meiner Ankunft aus Mosambik, kurz nach der Unabhängigkeit, die klare institutionelle Ordnung das Paradies für mich war. Das Internat war damals, nach allem, was ich durchgemacht hatte, ein Luxus. Dort gab es ein Bett und anständige Mahlzeiten. Für alle galten die gleichen Gesetze. Ich war nicht mehr minderwertig, nicht mehr die andersartige »Zurückgekehrte«, sondern eine von vielen, die niemanden hatten, der sich um ihre Erziehung kümmern konnte, oder zur Strafe dort hinmußten, weil sie »verrückt nach Jungs waren«.

Wir selbst sahen uns nicht als problematisch. Ich kann mir vorstellen, daß auch Strafgefangene sich gegenseitig als ganz normal empfinden, als Menschen, die vorübergehend im Gefängnis sind, ohne Bleibe oder Halt. In ihrem Kern, in ihren Koordinaten, sind die Menschen doch alle gleich.

Antónia – Tony für die Freunde – und ich wurden bald unzertrennlich, und sie führte sich bei uns wie eine Königin ein, mit dem kühlen und distanzierten Äußeren einer verwirrten angolanischen Clarice Lispector. Weder sie noch ich waren dort zur Strafe. Unsere Eltern arbeiteten in Angola und Mosambik, versuchten das wiederaufzubauen, was sie durch die Entkolonisierung verloren hatten, und wir waren aus Sicherheitsgründen nach Portugal geschickt worden. Ich wußte nichts über Angola außer dem, was man in der Schule über seine Geographie und Kultur lernte, und die Namen der Misses aus den 70er Jahren, die alle viel häßlicher waren als die aus Mosambik. Ich wußte, Angola lag in Afrika, doch Afrika war für mich der Süden des Kontinents.

Ich schrieb endlos lange Briefe an meine Eltern, in denen ich meine angolanische Freundin als Tochter bedeutender Leute beschrieb, denn so präsentierte sie sich. Meine Eltern sollten meine neue, für mich so wichtige Freundin unbedingt gutheißen, vielleicht auch, weil sie meine Freundinnen nie besonders geschätzt hatten, vor allem Mama.

Tony war schlank, ein Strich in der Landschaft, und trug sehr enge Levi’s, die ihre Beine dünn machten und ihren Bauch flach. Ihre Brust war klein. Ich war dick, sehr kurzsichtig, hatte einen Bauch und ernstzunehmende Brüste. Ich war die Untergebene. Die gute und intelligente häßliche Bedienstete.

Tony fühlte sich wie die Königin der Rückkehrer, sie entwickelte einen starken Widerwillen gegen sämtliche Pflichten und ging sofort auf mein Angebot ein, mich am Samstagnachmittag über den Wassertank im Hof zu beugen und ihre Socken, BHs und Unterhosen zu schrubben, selbst die mit Blutflecken, als wäre es die Wäsche meines eigenen Körpers, nur daß ihrer heilig war. Tonys Körper war ein duftendes Etwas, war zum Anbeißen, und in meinen Träumen vergrub ich mich gänzlich darin, in einer Art körperlicher Verschmelzung, falls es so etwas gibt. Ich diente Tony, wie man einem geliebten Menschen dient, aus freien Stücken, ohne daß es eine Anstrengung oder Gefälligkeit war.

An den Samstagvormittagen nach dem Baden, wenn ihre Haut noch lauwarm war, trug ich Feuchtigkeitscreme auf ihrem ganzen Körper auf, außer an den Brüsten und im Intimbereich. Tony zog sich langsam aus, und ich beobachtete, wie ihre Muskeln sich unter der feuchten Haut spannten, eine gleichmütige Sphinx im strahlenden Morgenlicht, unerträglich grell für die Augen, doch gefiltert durch den bestickten Vorhang vor dem Schlafsaalfenster. Sie murmelte: »So ganz nackt ist mir ein bißchen kalt«, machte ein genervtes Gesicht, weil sie mir ja einen Gefallen tat, wenn ich sie umsorgen konnte, obwohl es ihr natürlich recht war, daß eine von uns freiwillig die Haut der afrikanischen Königin massierte und eincremte. Sie legte sich bäuchlings auf das schmale Bett, entspannte sich mit seitlich herabhängenden Armen und ließ sich einfach behandeln, so­lange sie die Massage als angenehm empfand. Sie hatte diese feste, etwas dunklere Haut einer nicht rein weißen Angolanerin, und ihr langes volles Haar fiel in dunkelbraunen, kupfern glänzenden Locken herab. Tony war die dunkle Version von Bo Derek.

Sie frisierte sich, indem sie seitliche Haarsträhnen über die Ohren zog und im Nacken straff zusammenband, damit ihre Augen japanisch wirkten. In Luanda war ihre Mutter eine Dame der besseren Gesellschaft, die in anderen Häusern Epilationen durchführte. Daher wußte Tony aus praktischer Erfahrung, wie man seine Körperhaare fast gänzlich entfernte, auch an Stellen, die ich mir nie hätte träumen lassen. Ungläubig hörte ich zu, wenn sie über die Begrifflichkeiten und Techniken sprach, die zur Auslöschung des über die menschliche Haut verteilten Flaums führten. Offensichtlich entfernten die Frauen nicht nur die Haare über der Oberlippe, an den Beinen und in den Achselhöhlen. In Luanda gab es Frauen, die auch den Intimbereich epilierten, und zwar komplett. Das konnte ich kaum glauben. Doch die Genetik hatte den Frauen in meiner Familie nicht viel zum Epilieren geschenkt.

»Die Schamhaare in der Leistengegend, wegen des Badeanzugs?« fragte ich.

»Nein. Mehr. Alles. Hier, und auch alles bis nach hinten zwischen die Pobacken«, erklärte sie, während sie ihre Beine spreizte und mir die betreffenden Stellen zeigte.

»Da hat man keine Haare«, argumentierte ich.

Sie antwortete mir, ihre Mutter sei Spezialistin, und das mache sie selbst auch zu einer, sie habe es schließlich oft genug gesehen, ja. Ich stellte mir das Ganze bildlich vor und konnte es nicht glauben, zumal Tony manchmal zwar klug wirkte, sich aber in Widersprüche verstrickte und eine Tendenz zum Phantasieren hatte.

Tonys Leben in Luanda war ein spannender amerikanischer Actionfilm gewesen. Ihr Vater war Mechaniker bei Kawasaki, doch den Worten der Tochter nach war er ein stinkreicher, charmanter Playboy, der sich mit der Mutter, wenn er nicht gerade als Mechaniker und sie als Epilateurin arbeitete, in den besten Kreisen bewegte, was Tony ein erwachsenes, unabhängiges Leben ermöglichte. Angolas Motorradwerkstätten gehörten praktisch alle ihm. In Luanda hatte Tony die unterschiedlichsten Modelle von Lederjeans und -jacken getragen und war auf PS-starken Motorrädern der Marken Honda, Yamaha oder Kawasaki unterwegs gewesen, damit sie auch auf die Insel und nach Mussulo gelangte, wo sie immer gegrillte Langusten mit Limette und Gindungo speiste, wo sie schwamm, surfte und Tennis spielte; sie war Motocross- und Formel-1-­Champion und auf du und du mit Piloten aus aller Welt, gegen die sie angetreten war und die sie auch häufig besiegt hatte. Sie ging in den riesigen Luxusvillen von Emerson Fittipaldi und Björn Borg ein und aus. Alle bewunderten sie und konkurrierten beim Spitzenmotorsport und Tennis mit ihr. Sie war in allen sportlichen Disziplinen ein vielversprechendes Talent gewesen.

»Siehst du das hier auf dem Foto, dieses Brett?! Das bin ich bei einer Surfmeisterschaft in Mussulo; ich habe gewonnen.« Ich erkannte ein paar grellbunte Segel in der Ferne und ein paar unmöglich zu identifizierende Umrisse. Das war Tony, die gerade die Surfmeisterschaft gewann.

In Luanda hatte sie eine Band gehabt, in der sie sang und Leadgitarre spielte, zusammen mit den anderen Mitgliedern, die nicht in die Geschichte eingingen. Sowohl in der Musik als auch beim Tanzen war sie sehr erfolgreich. Sie besuchte Diskotheken, in denen grellbunte Lichter zum Sound der allerneuesten, aus leistungsstarken Lautsprechern erklingenden Musik blinkten. Diskotheken wie die von John Travolta, der in Saturday Night Fever getanzt hatte, ein Schauspieler, den sie persönlich kannte und der sie jedes Mal, wenn sie in die USA gereist war, mit Blumen und Essenseinladungen hatte verführen wollen, obwohl Tony ihn immer wieder abwies. Er war ihr zu alt.

Mit vierzehn reiste sie im Flugzeug, Auto oder auf dem Motorrad allein durch die Welt. Keine Grenze konnte sie aufhalten. Die Grenzpolizisten kannten sie oder ihre reichen, mächtigen Eltern oder wußten, daß sie mit Fittipaldi befreundet war, und ließen sie durch. Sie sahen sie ankommen, sie war die Tony, und man ließ sie passieren. Sie mußte nicht einmal den Paß vorzeigen. Alles easy. Sie lächelte schwach und bedankte sich distanziert. Wo immer sie auftauchte, öffneten sich Türen, blieben Menschen stehen, um sie zu betrachten und ihr zuzuhören, ihre Schönheit löste Streit aus, den sie aber gleich wieder schlichtete. Tony war Karatemeisterin; sie besaß den schwarzen Gürtel und so, wie sie mit ihrer Sinnlichkeit Duelle auslöste, setzte sie diesen mit treffsicheren Karateschlägen ein Ende. Hatte sie wieder für Gerechtigkeit und Ordnung gesorgt, betrat sie in enganliegender Glitzerkleidung Diskotheken und Bars, stolzierte mit ihren hohen Absätzen auf dem Laufsteg der Sinnlichkeit und Eleganz und warf zum Abschied erhobenen Hauptes einen Blick zurück.

In Tonys Adern strömte ein ungewöhnliches Blut, einzigartig auf der ganzen Welt. Das stellte sich noch vor der Entkolonisierung heraus, als man es für die Sportwettkämpfe untersuchte. Es war nicht Blutgruppe A und auch nicht B, und auch nicht AB oder 0, weder positiv noch negativ. Es war eine Blutgruppe, die beim Menschen unbekannt war.

Dies kam den Amerikanern zu Ohren. Irgendwann klopften sonnenbebrillte Männer vom Geheimdienst in hellgrauen Anzügen an der palastartigen Villa in Luanda an, nachdem sie die Wachhunde getäuscht hatten, die darauf getrimmt waren, die nach Unabhängigkeit strebenden bösen Schwarzen anzugreifen. Sie baten um Einlaß, wurden im größten Wohnzimmer empfangen und wollten von Tonys Eltern die Erlaubnis, sie in den großen Ferien mitnehmen zu dürfen in eine blasenförmige unterirdische Infrastruktur mitten in einer amerikanischen Wüste, die sie selbst nicht kannten, wo Tony in steriler Umgebung allen möglichen Tests unterzogen werden sollte. Die riesige Blase sei eigens dafür gebaut worden, um Tonys Blut zu untersuchen. Es war ein Mysterium, wie sie mit einer so merkwürdigen Blutgruppe auf Erden überleben konnte, doch diese Besonderheit erklärte ihre sportlichen Ausnahmeleistungen ebenso wie ihren Hochmut und ihre Eleganz. In dieser geheimen schneeweißen Blase trugen alle an dem wissenschaftlichen Experiment Beteiligten, Tony eingeschlossen, Schutzanzüge wie Astronauten, und täglich bekam sie intravenös Chemikalien verabreicht, wurden Untersuchungen und Transfusionen gemacht und sie in riesigen elektronischen Geräten wie in einem Science-Fiction-Film von Kopf bis Fuß gescannt. Sie wäre auch mitgenommen worden, wenn ihre Eltern die Tests nicht genehmigt hätten, denn von der Entschlüsselung dieses Blutphänomens hing die Rettung der Menschheit ab und ihr Eintritt in eine neue wissenschaftliche und gesellschaftliche Phase. Nachdem der amerikanische Geheimdienst die Genehmigung der Eltern erlangt hatte, wurde sie mit Auto und Flugzeug weggebracht, mit verbundenen Augen, damit sie den Weg und den Hochsicherheitstrakt, in dem sie getestet wurde, niemals wiederfände, und niemand auf der Welt wußte davon, nur die Amerikaner, Tony, ihre Eltern und ich, aber ich durfte es nicht weitererzählen. Nein, natürlich würde ich es nicht weitererzählen, wem auch, und ein Geheimnis war schließlich ein Geheimnis.

Während sie von ihren internationalen Abenteuern berichtete, trug ich ganz langsam die Bodylotion auf Rücken, Arme und Beine dieses angolanischen Alien-Phänomens auf.

Die Präfektinnen und auch die Mitschülerinnen fanden diese Samstagsrituale leicht befremdlich, obwohl sie uns in »rechtlicher« Hinsicht nichts vorwerfen konnten. Alles spielte sich im Rahmen des unter Mädchen Üblichen ab, doch im Kolleg kamen gewisse Gerüchte über Tony und mich auf, die ihrem Ruf als weißer afrikanischer Schönheit, der Schönsten unter den Schönen, keineswegs abträglich waren. In meinem Fall war der Schaden größer. Ich war der Wal.

Im Jungs-Kolleg, wohin wir täglich zum Unterricht gingen, war unser Klassenzimmer das letzte auf dem Flur der Jüngeren, und die Jungs aus unserem Jahrgang versammelten sich regelmäßig, um uns vorbeigehen zu sehen. Tony zu begleiten war ein ziemlicher Streß, denn sie zog die Blicke der Jungs auf sich, und das verschlimmerte meine Situation. Da ich an ihrer Seite ging, sahen sie einfach nur die Schöne und, zwei Schritte dahinter, das Monster. Die Jungs umringten sie. Ich hätte mich lieber versteckt. Aber sie rief mich herbei. »Das ist meine Freundin«, stellte sie mich vor, da sie jemanden brauchte, die keine Konkurrenz für sie darstellte. Die Jungs lachten, nahmen mich voll Verachtung hin, spotteten aber insgeheim immer wieder über die dicke Freundin, denn sie wollten nur Tony.

In hochhackigen schwarzen Lederstiefeln, ähnlich denen von Tony, durchquere ich im Mädchentrupp den Flur mit den Klassenzimmern. Wir gehen alle mit hochhackigen Schuhen zum Unterricht und tragen dazu die weiß-rot karierte Baumwollschürze, eine Uniform, die wir alle hassen und die wir Küchentuch nennen, doch ich spüre, daß sie mich schützt, denn sie bewahrt mich davor, mein Fett offenbaren zu müssen, das in normalen Mädchenkleidern sichtbar würde. Über der Schürze trage ich eine blaue Leinenjacke der Marke Melka, die ich im Sommerschlußverkauf bei Porfírios in der Lissabonner Baixa gekauft habe. Ich entdeckte sie in einem Kleiderhaufen für Männer, wo fast alles in XL war, weil Männer groß sein dürfen. Ihr Schnitt ist männlich, an den Seiten verlaufen über die ganze Länge zwei senfgelbe und beige Streifen. Ich habe mir weder die Farbe noch das Modell ausgesucht. Mir hat einfach nichts anderes gepaßt. Die Jacke hat sich selbst ausgesucht. Sie war groß genug, und deshalb war sie für mich die richtige.

»Sie ist zwar nicht warm, aber sie paßt. Ich zieh einfach mehrere Pullis drunter. Das geht schon. Ich weiß, wie ich klarkomme, wie ich nicht auffalle, mich in der Menge verstecke und einfach abwarte«, dachte ich. »Die Zukunft wird besser. Sie wird mir ein kleines, aber gemütliches Häuschen bescheren, und das wird dann mein Schloß und meine Zuflucht sein.« Ich stellte es mir vor wie dieses Arbeiterhaus auf dem Weg zum Kolleg, dessen Eingangstür direkt auf den Bürgersteig ging, mit einem Fenster auf jeder Seite und einer Fassade, die einen neuen Anstrich nötig hatte. Innen wäre es nicht irgendein Haus, sondern Ali Babas Höhle, und der versteckte Schatz wären seine Stoffe und Polster, der Honig, die Behaglichkeit und Sicherheit. Das wäre mein Haus, ein zweiter Mutterbauch. Vor dem Einschlafen stellte ich mir mein zukünftiges Haus vor, errichtete es mir im Geiste.

Die Jungs aus unserer Stufe, die die reiferen Mädchen begehrten, rieben, wenn wir vorbeikamen, ihre Rücken an den Wänden des grün-blau gestrichenen Flurs und flirteten mit uns. Sie durften den Bereich vor ihren Klassenzimmern nicht verlassen. Sich an der Wand zu reiben war die einzige Möglichkeit, sich irgendwie zu bewegen. Sie durften nicht zu uns kommen, zu der Wand mit den hohen Fenstern, an der wir uns ebenfalls rieben und Blicke und freche Bemerkungen mit ihnen tauschten, solange die Lehrer noch nicht da waren. Die üblichen Beleidigungen verliebter Jugendlicher. Trottel! Blöde Kuh! Du bist ja so doof! Steckenbeine! Im Vorbeigehen höre ich »schau mal, der Wal, der Blauwal«. Das bin ich. Sie lachen. Verspotten mich. Ich verstehe nicht alles. Weigere mich, es zu hören. Auf dem Weg zwischen Mädchen-Gemeinschaftsraum und Klassenzimmer blockiere ich mein Gehör, in das dieser Name eindringt, um dann in meinem Kopf widerzuhallen. Ich flüchte vor den Stimmen, ohne meine Schritte zu beschleunigen, als wollte ich ein soeben begangenes Verbrechen vertuschen, als hörte ich um mich herum nichts außer der Cello-­Suite Nr. 1 von Bach, als wären keine Worte ausgesprochen worden, die mich kleinmachen; doch gleichzeitig weigere ich mich, meinen Schritt zu beschleunigen, weil ich einfach keinen Grund dafür sehe, es ist doch völlig uninteressant, was sie denken und sagen, es ist mir vollkommen gleichgültig, ich lebe in meiner unerschütterlichen, einzig mir gehörenden Welt, unberührbar in dieser Wolfshöhle, die ich mir in der Festung meiner Seele errichtet habe. Es sind doch nur die Jungs aus unserer Stufe, die Jüngeren. Es könnten ja auch die anderen sein. Und irgendwie haben sie auch recht. Ein Wal in der Farbe meiner Melka-Jacke, die zwar nicht wärmt, aber meinen Bauch kaschiert. Der Wal antwortet ihnen nicht, tut so, als würde er sie nicht hören. Sie rufen: »Da kommt das Monster, das Monster von Arrábida!« »Von Arrábida?!« frage ich mich. Welches Arrábida, das von Porto oder das von Palmela? Gibt es in einem dieser Arrábidas etwa ein Monster? Gerade läuft sehr erfolgreich ein Film à la Der weiße Hai von Spielberg, Orca, der Killerwal heißt er. Der Killerwal ist größer als der Hai, fast so groß wie ein richtiger Wal, aber gefährlicher, es gilt ihn zu meiden, er ist ein Walhai, ein tödlicher Horror, weil er gnadenlos zuschlägt. Sie lachen, wenn ich vorbeigehe, sagen: »Hallo Killerwal, du Killer der Meere, hast du heute schon jemanden gefressen?!« Sie lachen. Haben ihren Spaß, sind kindisch und grausam. Plappern vor sich hin. Doch der Wal hört es. Ohne daß man es will, schreiben sich diese Sätze in das Gehirn ein, das sie zurückweist. Der Wal. Der Killerwal. Das Monster.

Tonys Brüste fesseln meinen Blick. Ich sehe feste, üppige Äpfel darin, sie sind verlockend. Ich male mir aus, wie ich ihre Festigkeit mit der Hand prüfe. Dieser Gedanke irrt durch mein Bewußtsein, ohne einen Platz zu finden, ohne sich niederzulassen. Es ist ein hündischer, namenloser Impuls, er kommt in unpassenden Flashs, die ich verdränge und ignoriere, aber ich würde diese Brüste wirklich gern in meinen Händen spüren. Damit herumspielen. Sehen, wie sie sich anfühlen.

Ich bin Rechtshänderin, und an einem dieser Samstage verlor meine rechte Hand die Kontrolle und fand in nur drei Sekunden ihren Weg vom unteren äußeren Rand zur Innenseite von Tonys Brüsten. Tony erwachte augenblicklich aus ihrem Delirieren über den Surfspaß an Luandas Stränden, den Luxus ihrer Vorstadtvilla, den Motorsport und das Tennisspiel, Disziplinen, in denen sie internationaler Champion war, und brüllte: »Bist du übergeschnappt?!« Sie schlug mir mit dem erstbesten Gegenstand, den sie auf dem Boden neben dem Bett zu fassen bekam, auf den Kopf, es war einer ihrer Stöckelschuhe aus silbernem Leder, die sie gekauft hatte, um zusammen mit Miguel aus unserer Klasse ins Finale des vom Kolleg organisierten Tanzwettbewerbs zu kommen, wo sie Dancing Queen