Die Entfernung, die uns trennt - Renato Cisneros - E-Book

Die Entfernung, die uns trennt E-Book

Renato Cisneros

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Beschreibung

Als Sohn eines der wichtigsten Generäle der peruanischen Militärdiktatur, des Generalobersts Luis Federico Cisneros, genannt El Gaucho, hatte Renato Ciscneros Einblick in die Vorgänge hinter den Kulissen, die uns Europäern praktisch unbekannt sind. Doch der berüchtigte El Gaucho hütete noch ein ganz anderes, schmerzhaftes Geheimnis: die große, ihm verwehrte Liebe seiner Jugend. Renato Cisneros erzählt von der Suche nach diesem Geheimnis seines Vaters. Sie offenbart, wie der Konflikt zwischen Leidenschaft und Konvention Menschen über Generationen hinweg formt, deformiert und wiederkehrende Muster erzeugt. Jahrelange Recherche fließt hier zusammen zu einem Fresko, das in gleicher Weise persönlich, historisch und universal ist. So spiegelt der Roman auch den Wandel, den Südamerika durchläuft: Eine quälende, aber auch befreiende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Quälend, da El Gaucho seinen Freunden Jorge Videla und Augusto Pinochet in nichts nachstand. Befreiend, da die Entdeckung des Dramas, das diesen gefürchteten Mann ein Leben lang verfolgte, dem Sohn die Liebe zum eigenen Vater rettet. Als eine Anatomie des Bösen wird das Buch selbst zum Dokument einer Befreiung auch für seine Leser, weil es Mitgefühl mit jenen weckt, die selbst keines zu empfinden vermögen. 2018 Pen Translates Awards 2017 Nominiert für den Prix Médicis Ausgezeichnet mit dem Prix Transfuge du meilleur roman de Littérature Hispanophone Finalist für den Vargas Llosa Biannual Award

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Renato Cisneros

Die Entfernung, die uns trenntRoman

Aus dem peruanischenSpanisch ins Deutsche übertragen von Steven Uhly

Die Entfernung, die uns trennt

Renato Cisneros

Roman

Die Originalausgabe erschien unter demTitel La distancia que nos separa.© 2015 Editorial Planeta Perú S.A., LimaErste Auflage

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurdevom SüdKulturFonds in Zusammenarbeitmit Litprom e.V. – Literaturen der Welt unterstützt.Der Verlag dankt ausdrücklich für diese Hilfe.

© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Steven Uhly

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung: Ferdinand Ulrich, Berlin

Satz: Irene Pranter, Berlin

Printed in Germany

ISBN 978-3-906910-55-0

eISBN 978-3-906910-56-7

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

(Dieses Buch ist eine

fiktive Biografie.

Es ist nicht die Absicht

des Autors, die hier

erzählten Begebenheiten

oder die im Folgenden

beschriebenen Personen

außerhalb der Literatur

zu beurteilen.)

1

ICH WERDE HIER NICHT die Geschichte einer Frau erzählen, die sieben Kinder mit einem Priester hatte. Es genügt zu sagen, dass sie Nicolasa Cisneros hieß und meine Ururgroßmutter war. Der Geistliche, den sie liebte, Gregorio Cartagena, war während der Jahre vor und nach der Unabhängigkeit ein wichtiger Bischof in den peruanischen Bergen von Huánuco gewesen. In den vier Jahrzehnten, die diese Beziehung andauerte, taten beide ihr Möglichstes, um einen Skandal zu vermeiden. Da Gregorio seine Nachkommen nicht anerkennen konnte oder wollte, gab er sich als entfernter Verwandter aus, als Freund der Familie. So konnte er in ihrer Nähe bleiben und sie heranwachsen sehen. Nicolasa unterfütterte die Lüge, indem sie das Taufregister mit falschen Informationen ausfüllte. Sie erfand Roberto Benjamín, ihren angeblichen Ehemann – ein Gespenst, das als legaler, aber fiktiver Gatte und Vater fungierte. An dem Tag, da die Kinder herausfanden, dass es besagten Roberto nie gegeben hatte und ihr biologischer Vater Gregorio war, wollten sie ihre Vergangenheit und uneheliche Herkunft hinter sich lassen. In Zukunft sollte Benjamín nur noch ihr zweiter Nachname sein.

Auch werde ich nicht über den letzten der illegitimen Söhne, Luis Benjamín Cisneros, meinen Urgroßvater, sprechen. Nur so viel sei gesagt: Seine Schulkameraden nannten ihn den »Dichter«. Er war ein sehr energischer Mensch. Mit siebzehn Jahren setzte er sich in den Kopf, Carolina Colichón, die Geliebte des Präsidenten Ramón Castilla, zu erobern. Es gelang ihm tatsächlich. Als er einundzwanzig Jahre alt wurde, hatte er mit ihr bereits drei leibliche Töchter. Aus Furcht vor Repressalien lebten die fünf versteckt in einem Zimmerchen im Zentrum von Lima. Als die Mutter entdeckte, wie beschwerlich das Leben ihres Sohnes war, überredete sie ihn dazu, es hinter sich zu lassen. Und so schiffte Luis sich eines frühen Morgens nach Paris ein. Dort widmete er sich der Abfassung romantischer Erzählungen und schuldbewusster Briefe. Zwei Jahrzehnte später kehrte er als Diplomat nach Lima zurück, heiratete ein junges Ding von vierzehn Jahren und wurde wieder Vater. Er zeugte fünf weitere Kinder. Das vorletzte, Fernán, war mein Großvater.

Fernán wurde Journalist und mit dreiundzwanzig Jahren Redakteur bei La Prensa. Nur zwei Jahre später übernahm er die Chefredaktion der Zeitung, nachdem der Diktator Augusto Leguía die gesamte Verlagsleitung ins Gefängnis hatte werfen lassen. Er selbst wurde gleichfalls vom Regime verfolgt und 1921 nach Panama verbannt, zog letztendlich aber nach Buenos Aires ins Exil. Zu dieser Zeit hatte er bereits fünf Kinder mit seiner Gattin Hermelinda Diez Canseco sowie ein weiteres, gerade erst zur Welt gekommenes mit seiner Geliebten Esperanza Vizquerra, meiner Großmutter. Beide Frauen folgten ihm nach Argentinien, wo Fernán es irgendwie fertigbrachte, die zwei Familien zu versorgen und jeglichen Kontakt zwischen ihnen zu vermeiden.

Aber dieses Buch handelt auch nicht von ihm. Oder vielleicht doch, wenn auch ohne Absicht. Dieses Buch handelt von meinem Vater, dem Generalleutnant der peruanischen Streitkräfte Luis Federico Cisneros Vizquerra, genannt »El Gaucho Cisneros«, dem dritten Sohn von Fernán und Esperanza, der am 23. Januar 1926 in Buenos Aires zur Welt kam und am 15. Juli 1995 in Lima an Prostatakrebs starb. Dies ist ein Buch über ihn oder jemanden, der ihm sehr ähnlich ist, verfasst von mir oder jemandem, der mir sehr ähnlich ist. Ein Roman, keine Biografie. Nicht historisch. Nicht dokumentarisch. Ein Roman, der sich des Umstandes bewusst ist, dass die Wirklichkeit ein einziges Mal geschieht und dass jede Wiedergabe dieser Wirklichkeit zur Fälschung, zur Verzerrung, zum Trugbild verdammt ist.

Mehrfach, aber erfolglos habe ich versucht, dieses Buch auf den Weg zu bringen, verwarf jedoch immer wieder alles Niedergeschriebene. Es gelang mir einfach nicht, dem umfangreichen Material, das ich über Jahre angesammelt hatte, eine Struktur zu verpassen. Das gilt auch heute noch, doch diese ersten hier von mir formulierten Absätze verankern mich, sie vertäuen mich, verleihen mir eine unerwartete Stabilität. Die Zweifel sind nicht ausgeräumt, aber mir will scheinen, als glimme im Hintergrund das schwache Licht einer Überzeugung auf. Mir ist einzig und allein gewiss, dass ich kein Buch über das Leben meines Vaters schreiben werde, sondern über seinen Tod. Über das, was dieser Tod ausgelöst und offengelegt hat.

Zu diesem Zweck muss ich zurückgehen in den April des Jahres 2006.

Zurück zu dem, was mir an jenen Tagen widerfuhr.

Monatelang schon war ich einer Psychoanalyse aus dem Weg gegangen. Die Auflösung meiner Verlobung mit Pierina Arbulú hatte mich – nach fünfjähriger Beziehung inklusive zweier Jahre des Zusammenlebens – am Boden zerstört. Ich sträubte mich dagegen einzusehen, dass die Depression einer Behandlung bedurfte. Ich fuhr in die Redaktion der Zeitung, für die ich arbeitete, und fuhr wieder nach Hause. Ich betrat meine Wohnung und verließ sie wieder. Ich stand auf, ich dachte nach, ich schlief. Vor allem aber hing ich meinen Gedanken nach und aß so gut wie gar nichts mehr.

Ein Freund brachte mich mit Elías Colmenares in Kontakt, einem Psychoanalytiker, dessen Praxis sich in einem zweigeschossigen Haus auf dem Paseo de la Fuente befand, der quer zur Avenida 28 de Julio in Miraflores verläuft. Da ich nur drei Blocks entfernt wohnte, willigte ich aus rein geografischen Gründen ein, ihn aufzusuchen. Vielleicht war mir die nachbarschaftliche Nähe aber auch nur ein Vorwand, endlich zu handeln.

An dem Tag, da ich Elías zum ersten Mal traf, war er gerade fünfzig geworden. Ein Mann mit hohen, von rosig schimmernder Haut überzogenen Wangenknochen. Unter der schwarzen Linie seiner dichten Brauen blickte er mich aus auffällig lebhaften Augen an, deren Blau in seiner Klarheit an Mundwasser erinnerte. Wir betraten einen Raum, er schloss die Tür hinter sich, wir setzten uns. Trotz einiger hyperaktiver Ticks vermittelte Colmenares die Gelassenheit eines Ozeans. Seine wandlungsfähige, angenehme Sprache glich dem Zimmer, in welchem er behandelte: ein Porträt von Lacan, ein Diwan mit gelbem Samtbezug, von der Decke herabhängende Marionetten, die Freud, Warhol und Dalí darstellten, ein Schachbrett, auf dem sich zwei Phalangen hölzerner Wasserspeier gegenüberstanden, ein mit Schnullern gefülltes Einmachglas, winzige Lämpchen, Reisebücher über Athen, Prag, Rom, diverse Romane von Kundera und García Márquez, Schallplatten von Dylan und Van Morrison. Je nach Aspekt, der die Aufmerksamkeit des Patienten erregte, konnte dieser Ort wie das Heiligtum eines ruhelosen Erwachsenen oder wie der Zufluchtsort eines gehemmten Jugendlichen wirken.

Während unserer ersten beiden Sitzungen war ich derjenige, der redete. Elías forderte mich auf, die Gründe meines Besuchs darzulegen, und ich empfand eine moralische Verpflichtung, ihm meine Beziehung zu Pierina zu erläutern. Ich redete fast ausschließlich davon, weder meine Familie noch meine langweilige Arbeit kamen zur Sprache. Ich erwähnte zwar kurz den Tod meines Vaters, konzentrierte mich aber im Wesentlichen auf Pierina, auf die Art und Weise, wie sie in mein Leben getreten war und es wieder verlassen hatte: einer Gewehrkugel gleich, die auf ihrem Weg durch einen Organismus lebenswichtige Organe zerstört. Colmenares thronte derweil auf seinem Ledersofa, nickte ab und an, räusperte sich und vervollständigte mit gelehrter Miene Sätze, die ich nicht selbst beenden konnte.

In der dritten Sitzung kam es zur ersten wirklichen Unterhaltung zwischen uns. Ich monologisierte zunächst über die schreckliche Eifersucht, die mich in den letzten gemeinsamen Monaten mit Pierina befallen hatte, und sprach mir selbst die Schuld zu, unsere Trennung durch ständige Angriffe, Kontrollen, Verfolgungen befördert zu haben. Ich saß mit gesenktem Kopf da, starrte die geometrischen Muster des terrakottafarbenen Teppichs auf dem Parkett an, ohne Colmenares auch nur einmal anzublicken, und gestand, ich hätte nicht länger das Verhalten eines Verlobten an den Tag gelegt, sondern sei stattdessen zu einem Wachmann geworden. Meine eigene Erzählung setzte mir zu, denn sie veranlasste mich, mir die Streitereien wieder vor Augen zu führen, die unsere Verlobung aufgerieben hatten, das Schweigen, das schmerzhafter war als die Beleidigungen, die Beleidigungen, die schmerzhafter ausfielen als das Zuschlagen von Türen, das Zuschlagen von Türen, das sich mit der Regelmäßigkeit von Glockenschlägen wiederholte.

Plötzlich herrschte Stille, die eine Ewigkeit anzudauern schien. Colmenares unterbrach sie, indem er überraschend das Thema wechselte: »Sag mal, deine Eltern, wie haben die sich kennengelernt?«, fragte er.

»Haben wir nicht von etwas anderem gesprochen?«, entgegnete ich und faltete die Hände in meinem Schoß.

»Ich glaube, ein Themenwechsel kann uns von Nutzen sein«, beharrte Colmenares und schlug ein Bein übers andere.

»Mal sehen, puh, ich weiß nicht, lass mich nachdenken«, antwortete ich und blickte nach oben, als suchte ich in der Luft nach Informationen, die sich doch eigentlich in meinem Gedächtnis befinden sollten. »Sie lernten sich im Finanzministerium kennen, als es noch Haushaltsministerium hieß.« Ich atmete tief durch.

»Könntest du etwas genauer sein? Unter welchen Umständen? Wer hatte sie einander vorgestellt?«

»Meine Mutter arbeitete damals als Sekretärin im Büro von Minister Morales Bermúdez. Mein Vater war sein Vizeminister oder Berater. Ich nehme an, Morales stellte sie einander vor. Damals war mein Vater noch mit seiner ersten Frau verheiratet.«

»Wie heißt sie?«

»Sie hieß Lucila. Lucila Mendiola.«

»Sie hieß? Ist sie verstorben?«

»Ja, vor ein paar Jahren.«

»Hast du sie kennengelernt?«

»Nicht wirklich. Ich hab sie zweimal gesehen: bei der Totenwache meiner Großmutter väterlicherseits, Esperanza, und dann bei der Totenwache meines Vaters.«

»Erinnerst du dich, was für ein Mensch sie war?«

»Ein schwieriges Temperament. Sie stammte aus einer einflussreichen Familie in Sullana, wo sie auch meinen Vater kennengelernt hat. Man sagt, er sei an einer Blinddarmentzündung erkrankt und sie habe ihn so hingebungsvoll gepflegt, dass er schließlich vor lauter Dankbarkeit, halb aus Liebe, halb aus Pflichtgefühl, um ihre Hand anhielt. Ich weiß es nicht genau. Sie heirateten und bekamen drei Kinder. Meine drei älteren Geschwister.«

»Wer sagt das?«

»Meine Mutter, meine Onkel und Tanten.«

»Erzähl weiter.«

»Nach einigen Jahren fingen ihre Probleme an. Als meine Mutter im Leben meines Vaters auftauchte, war seine Ehe mit Lucila bereits am Ende. Doch obwohl er sie unzählige Male bat, in die Scheidung einzuwilligen, lehnte sie ab. So beschlossen meine Eltern schließlich, nicht in Peru zu heiraten, sondern in den Vereinigten Staaten, vor einem Gericht in San Francisco.«

»Und warum verweigerte Lucila die Scheidung?«

»Groll, Trotz, Stolz, so etwas, vermute ich. Als sie begriff, dass ihr Gatte in eine andere, jüngere Frau verliebt war, muss sie sich wohl gedemütigt oder bloßgestellt gefühlt haben, keine Ahnung. Ich spekuliere. Jedenfalls gab sie nicht nach. Für uns wurde sie zur Schurkin, zur Hexe dieser Geschichte. Vielleicht glaubte sie, meinen Vater mit ihrer Weigerung, die Scheidungspapiere zu unterschreiben, doch noch halten zu können, aber sie irrte sich. Dass er aus ihrem gemeinsamen Haus auszog, dass er sie und die Kinder verließ, konnte oder wollte Lucila ihm ihr Leben lang nicht verzeihen. Ich vermute, sie hatte unterschätzt, was er für meine Mutter empfand. Vielleicht dachte sie, dass es sich nur um ein Abenteuer handelte, um die Laune eines uniformierten Schürzenjägers. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass er es tatsächlich wagen würde zu gehen, dass er sogar noch einmal heiraten und drei weitere Kinder bekommen würde.«

»Wenn sie die Scheidungspapiere nicht unterschrieben hat, so ist Lucila als offizielle Ehefrau gestorben …«

»Sagen wir: als legale Ehefrau.«

»Und wie konnten deine Eltern dann heiraten? Warum in San Francisco?«

»Keine Ahnung. Soweit ich weiß, hat ein Verwandter, irgendein Botschafter, ihnen bei der Angelegenheit geholfen. Es war eine Frage der günstigen Gelegenheit. Es hätte Kanada, Panama oder irgendein anderes Land sein können. Es war bestimmt eine sehr kleine, schnelle, funktionale Zeremonie. Keine Gäste.«

»Und Zeugen?«

»Wahrscheinlich niemand. Keine Ahnung. Ich bin nicht sicher.«

»Hast du mal ein Foto von dieser Trauung gesehen?«

»Nie.«

»Aber weißt du, ob es Fotos von diesem Tag gibt?«

»Soweit ich weiß, nicht. Es gibt keine Fotos.«

»Und das Dokument?«

»Das Dokument? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich bin nie auf die Idee gekommen, meine Eltern nach ihrem Trauschein zu fragen. Tun die Leute so was?«

»Ich meine: Gibt es gar keinen Beleg für diese Trauung?«

»Was soll ich dir sagen, Elías? Ich habe nie ein Foto gesehen. Ich habe nicht einmal daran gedacht.«

Elías Colmenares stellte die Beine nebeneinander, lehnte sich nach vorn und rutschte auf die Kante der Couch.

»Da gibt es eine Verbindung. Siehst du sie?«, fragte er.

»Was für eine Verbindung?«

»Schau es dir noch einmal an: Du bist das Ergebnis einer Ehe, die im Rahmen einer Ungewissheit entstanden ist und auf eher holprige Weise Gestalt annahm, weit ab von allem Gewohnten, nach den Gesetzen eines anderen Landes, vielleicht sogar in einer anderen Sprache, ohne Zeugen, ohne Bekanntmachungen, fast im Geheimen. Eine Heirat, die perfekt zu Flüchtlingen passen könnte. Eine Heirat ohne Beleg. Es gibt keine Dokumente, keine Fotos; nichts, was beweisen könnte, welche Dinge damals in jenem Gericht vonstattengegangen sind. Ich versuche, dir deutlich zu machen, dass die Heirat deiner Eltern den Anschein eines Mythos hat. Du bist der Sohn eines Mythos. Zu einem guten Teil sind wir das alle. Was du erzählst, ist bestimmt passiert, doch es gibt keine Urkunde. Da du das Ergebnis dieses Geschehens bist, keimt in deinem Unbewussten so etwas wie die Wurzel der Ungewissheit. Hast du nicht erwähnt, dass du jedes Mal, wenn du Pierinas E-Mails überprüftest, genau das gefühlt hast: Ungewissheit?«

»Habe ich richtig verstanden: Ich war eifersüchtig, weil ich nie ein Foto von der Heirat meiner Eltern zu sehen bekommen habe? Meinst du das?«, fragte ich.

»Nein. Ich meine, dass es eine – wenn du so willst – symbolische Verbindung zwischen der Handlungsweise deines Vaters und deinen Gefühlen gibt.«

»Warum mein Vater und nicht meine Mutter? Sie war auch dort, sie war ebenfalls Teil der Geschichte und hat vieles akzeptiert.«

»Aber es war nicht deine Mutter, sondern dein Vater, der die Entscheidung traf, eine zweite Ehe auf Treibsand zu errichten. Schau, obwohl das Subjekt durch den mütterlichen Wunsch zur Welt kommt, strukturiert es sich durch Identifikation und Übertragung mit der väterlichen Figur. Der Vater bestimmt seine Identität. Einmal aus dem Bauch der Mutter, gliedert es sich dank des Vaters in die Kultur ein. Der Vater bringt es auf den Weg, stattet es mit Sprache aus. Die Mutter erzeugt im Subjekt Liebe und Vertrauen, der Vater aber gibt ihm das Werkzeug an die Hand, mit dem es seinen Platz in der Welt einnehmen kann. Verstehst du?«

Einen Moment lang störte mich, dass Colmenares über meine Eltern wie jemand sprach, der sie besser kannte als ich, doch seine Logik schien mir unwiderlegbar zu sein. Es war ihm gelungen, dass meine Skepsis einer Art Überwältigung wich. Als hätte er mir ein Wissen offenbart, das ohne meine Kenntnis in meinem Inneren bereits vorhanden gewesen war. Damals wurde mir nicht klar, was sich da alles in meinem Kopf auflöste und neu gruppierte. Ich erinnere mich nur noch daran, wie erschöpft und überdrüssig ich mich fühlte. Ich erlitt so etwas wie eine geistige Kolik. Was ich soeben vernommen hatte, löste in mir eine Entladung aus, eine Erschütterung, die – das ahnte ich – zu einer Bruchstelle führen sollte.

Nach dieser Sitzung, ich war bereits wieder auf der Straße und kehrte langsam zu meiner Wohnung zurück, dachte ich noch einmal über Elías’ Theorie nach und fragte mich, wie viele Verbindungen es wohl noch zwischen meinem eigenen und dem unerforschten Leben meines Vaters geben mochte. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen. Allerdings beruhigte mich die Tatsache, dass mir die quälende Erinnerung an Pierina plötzlich nicht mehr die Luft abdrückte. Das Gespenst meiner Ex-Verlobten hatte sich zwar nicht in Luft aufgelöst, angesichts der Größe dieser neuen Aufgabe hatte es jedoch immerhin den Ort gewechselt. Und genau dies empfand ich von nun an: Ich hatte eine Aufgabe. Ich wusste nicht, worin sie bestand, doch ich war bereit, sie anzunehmen.

2

EINES SCHÖNEN MITTAGS IM Jahr 1929 besiegt der neunjährige Juvenal Cisneros an der San-Marón-Schule in Buenos Aires während der Pause einen Schulkameraden bei einem Quiz mit mathematischen Fragen. Der andere Junge wirft ihm vor zu schummeln und versetzt ihm einen Stoß. Juvenal reagiert, die beiden prügeln sich. Es ist eine Lappalie, die bald schon in etwas Heftigeres umschlägt. Jemand trennt sie voneinander, und mitten in der Streiterei ruft der Junge, der verloren hat, wütend aus: »Wenigstens muss ich meinen Papá nicht mit anderen teilen wie du!«

Noch Minuten später, als die Gemüter sich bereits beruhigt haben und die Kinder wieder in ihre Klassenräume zurückkehren, hallen diese Worte in Juvenals Ohren nach. Er wird sie für den Rest seines Lebens vernehmen: »Wenigstens muss ich meinen Papá nicht mit anderen teilen wie du!«

Am nächsten Morgen steht er auf und beschließt, seinem Vater zu folgen. Fernáns zusätzliche Arbeit als Journalist bei La Nación hat ihm, zusammen mit dem geringen Lohn, der ihm als Lehrer zur Verfügung steht, ermöglicht, eine bessere Wohnung zu mieten. Die billigen Hotels und Buden der ersten Jahre gehören der Vergangenheit an – die kleine Wohnung in der Calle Suipacha 400 ebenso wie das Zimmer mit Gemeinschaftsbad in der Calle Cerrito 330 oder der große Hof auf der Paraguay 2200. Jetzt leben sie in der Wohnung Nummer 20 auf der Calle Esmeralda 865, im inneren Teil eines alten, lehmfarbenen Landhauses, dessen Foyer mit Majolika-Fliesen gekachelt ist. Wasserleitungen zieren hier die Wände.

Juvenal sagt zu seiner Mutter Esperanza, er müsse früher in der Schule sein, und steigt die Treppenstufen aus gebrochenem Marmor herab. Er tritt durch das Gatter an der Vorderseite des Landhauses auf die Straße und erspäht seinen Vater an der Ecke. Er folgt ihm einen, drei, sechs, sieben, zehn Häuserblocks weit und versucht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er geht die Avenida Córdoba entlang, überquert die Calles Maipú, Florida, San Martín und Reconquista. Bald geht er auf der Calle Sarmiento parallel zur Avenida Corrientes und in Richtung Avenida Rivadavia. Er weiß weder, was er dort soll, noch, wonach er sucht. Es erscheint ihm unvernünftig und doch dringend notwendig, der Silhouette jenes Mannes zu folgen, der ihm nun geheimnisvoller denn je erscheint.

»Ist das, was der Junge angedeutet hat, etwa wahr? Mit wem muss ich meinen Vater teilen? Wenn er ein Geheimnis hätte, würde er es mir nicht anvertrauen? Natürlich würde er«, antwortet Juvenal sich selbst, während er versucht, mit dem graubläulichen Fleck in der Ferne Schritt zu halten, der sich ohne Eile auf dem Bürgersteig vorwärtsbewegt. Juvenal sieht, wie er vor dem Schaufenster eines Ladens stehen bleibt und vielleicht ein gutes Geschenk für ihn oder seine Geschwister betrachtet, und in diesem Moment kommt er sich töricht vor, weil er misstraut, weil er auf ein Gerücht hört, das ein rachelüsterner Junge gestreut hat. Aber so sehr er sich auch davon überzeugen will, dass diese Verfolgung eine Dummheit ist, gehorcht er doch einer höheren Macht und setzt sein Detektivspiel fort. Als Juvenal um die nächste Ecke biegt, will er aufgeben.

»Was tue ich hier? Was werden sie in der Schule von mir denken? Ob sie wohl schon bei mir zu Hause angerufen haben?«, fragt er sich, während er langsamer wird, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen. »Noch zwei Blocks, dann verschwinde ich«, verspricht er sich. Er schämt sich jetzt, am liebsten würde er zu seinem Vater rennen, ihn umarmen und um Verzeihung bitten, da er die Ausschließlichkeit seiner Liebe in Zweifel gezogen hat.

Er lässt zu, dass Fernáns Vorsprung größer wird, und fühlt sich jetzt außer Gefahr. Doch als er an die nächste Kreuzung gelangt, wo die Calles Tacuarí und Moreno aufeinandertreffen, sieht Juvenal, was er so sehr befürchtet hat und was er im Grunde entdecken wollte. Niemals würde er jene Szene aus seinem Gedächtnis löschen können. Dort, auf der anderen Seite der Avenida Belgrano, betritt sein Vater ein Haus und nimmt zwei Kinder an die Hand. Einen Jungen und ein Mädchen, beide älter als er. Der Junge ist etwa vierzehn, das Mädchen fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Juvenal, der sich starr hinter einem Zeitungskiosk verbirgt, sieht, wie diese Fremden seinen Vater ebenso stürmisch und feierlich küssen und umarmen, wie er ihn allabendlich bei seiner Ankunft im Landhaus in der Calle Esmeralda küsst und umarmt. Und Juvenal fühlt deutlich, wie etwas in seinem Inneren birst, ja wie es förmlich einstürzt. Das Bild ist eine Offenbarung. Vielleicht eine zu mächtige.

Die Tür des Hauses wird plötzlich geschlossen. Und dann bemerkt Juvenal, dass dieses Haus doppelt so groß ist wie sein eigenes, und in diesem Moment staut sich eine Wut, die nicht seinem Alter entspricht, in seinem Inneren an. So sehr er es auch will, er kann die Tränen, die Scham, den Schmerz nicht mehr unterdrücken.

»Bursche, geht’s dir gut?«, fragt ihn der Kioskverkäufer.

Aber der Bursche ist zu angeschlagen, um antworten zu können. Orientierungslos läuft er weg, nirgendwo- und überallhin, er überhäuft sich mit Schuldvorwürfen, am Morgen nicht sofort in die Schule gegangen zu sein, und während er läuft, während er fühlt, wie sein Gesicht sich verzerrt und die Tränen zu fließen beginnen, fragt er sich, wer diese Kinder sind.

Er weiß nicht, dass sie Mincho und Rosario heißen. Er weiß nicht, dass es dort drinnen drei weitere gibt, Fernando, Moruno und María Jesús – alles Kinder seines Vaters mit Hermelinda Diez Canseco. Er weiß nicht, dass er in Wirklichkeit das erste von sieben leiblichen Kindern ist, dass er einer wunderschönen, doch unreinen Verbindung entstammt.

Und dennoch versteht er etwas, er begreift unwillkürlich einen Zusammenhang und denkt, während er weiterrennt, plötzlich an Lima, an das Zimmer, in dem er auf die Welt gekommen ist, auf einem Grundstück neben dem geisterhaften Haus Matusita, direkt an der Kreuzung der Avenidas del Sol und España, ein Schlafzimmer, in welchem seine Mutter immer allein gewesen war. Und jetzt, in den Straßen von Buenos Aires, erhält diese alte Einsamkeit plötzlich einen Sinn. Juvenal rennt weiter, wohin, weiß er nicht, nur nicht Richtung Schule. Irgendwann beginnt er, sich zu fragen, seit wann sein Vater wohl dieses große Haus besucht, dessen Bild er vergeblich aus seinem Gedächtnis zu löschen versucht.

Juvenal sprach mit niemandem über das, was er hier gesehen hatte. Erst Jahre später, als Erwachsener, sollte sich dies ändern. Zunächst aber behielt er es für sich. Und so ahnte auch nur er allein, wie sehr ihn diese Entdeckung veränderte.

Als sein Bruder Gustavo im Alter von sechzig Jahren die Briefe ihres Vaters fand und folglich die Wahrheiten, die sie offenbarten – die Existenz des Geistlichen Cartagena, die uneheliche Herkunft von Luis Benjamín, Fernáns Ehebruch –, schlug er Juvenal vor, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Aus seiner Sicht war das nachvollziehbar: Juvenal war der Älteste, der Einzige, der Literatur studiert hatte, außerdem inzwischen ein geschätzter und angesehener Intellektueller in Peru. Wenn es jemanden in der Familie gab, der dazu berufen war, jene dunklen Jahrhunderte zu erhellen, dann ihn.

Doch Juvenal nahm die Nachforschungen und Funde seines jüngeren Bruders von Anfang an mit großer Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Er wollte nichts von der Vergangenheit wissen. Gustavo gab trotzdem nicht auf und bedrängte ihn, dieses Projekt zu zweit anzugehen, bis Juvenal dann eines Tages einen Satz fallen ließ, den der Bruder erst viel später verstehen sollte: »Für mich war unser Vater nicht mehr als ein Mann, der um Mitternacht das Haus betrat und es um sechs Uhr morgens verließ.«

Als mein Onkel Gustavo mir zum ersten Mal die Geschichte von der Verfolgungsjagd durch Buenos Aires erzählte, war ich nachhaltig beeindruckt. Immer wieder dachte ich über Onkel Juvenal nach, über seinen Widerwillen, bestimmte Einzelheiten seiner Kindheit zur Sprache zu bringen. Die Vorstellung vom Sohn, der heimlich durch die große Stadt geht und einen Blick auf das verborgene Leben seines Vaters wirft, erstaunte mich und erzeugte ein Gefühl von Leere in mir.

Anhand der Briefe, die Gustavo mir später anvertraute, war ich in der Lage, jene Jahre zu rekonstruieren, in denen Fernán, mein Großvater, diese kraftraubende Methode des ehelichen Nebeneinanders bis zur Perfektion getrieben hatte: Er schlief bei meiner Großmutter Esperanza, verbrachte den Tag mit seiner Gattin Hermelinda und seinen älteren Kindern, wobei er den Umstand nutzte, dass die jüngeren in der Schule waren, ging dann zur Arbeit in die Büroräume von La Nación und kehrte spät nachts zu seiner Geliebten und den mit ihr gezeugten Kindern zurück.

Diese jüngeren, verborgen gehaltenen Kinder erzog mein Großvater unter anderem dadurch, dass er ihnen bis zum Überdruss von Peru erzählte. Stets erinnerte er daran, dass sie, obgleich in Argentinien geboren, Peruaner waren, und betonte dabei wieder und wieder, dass die Berufung der Familie eines Tages mit der Rückkehr nach Lima in Erfüllung gehen würde. Seine Kinder begriffen, dass man ihren Vater aus einem anderen Land vertrieben hatte und sie also Ausländer waren. Sie wuchsen in der Hoffnung auf, der Diktator Leguía würde eines Tages gestürzt werden, womit ihre Verbannung gerächt wäre und sie endlich ihr Land kennenlernen würden.

In der Zwischenzeit war es ihre Pflicht, wie Peruaner zu klingen. Esperanza lag ihnen damit in den Ohren, sooft sie auch nur ein che oder vos aus ihrem Mund hörte, und sie warnte die Jungs davor, sich zu verlieben, damit sie nicht litten, wenn der Tag der Abreise kam. Mein Vater, der Gaucho, missachtete genau diesen Rat.

Von der Calle Esmeralda zogen sie in die Nummer 3104 der Calle Avellaneda und zwei Jahre später in ein Hochparterre in der Avenida Boyacá 611, eine Wohnung mit zwei riesigen Fenstern.

Mein Großvater stellte Fernando, den ältesten seiner »offiziellen« Söhne, als persönlichen Sekretär ein, nachdem ihm die peruanische Regierung einen diplomatischen Posten in Argentinien verschafft hatte. Abend für Abend begleitete Fernando seinen Vater bis zu jener Stelle, wo sich die Calles Boyacá und Méndez de Andes kreuzen. Er trennte sich dort von ihm und setzte seinen Weg fort. Doch eines Abends im Jahr 1936 änderte er seine Meinung.

»Können wir bis zu deiner Haustür weitergehen?«, fragte Fernando seinen Vater, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, was er als Nächstes tun würde.

»Natürlich«, antwortete Fernán zwanglos, ohne vorherzusehen, was in der Folge geschehen sollte.

Sie gingen schweigend ein paar Meter weiter über die Avenida Boyacá und hielten vor dem Haupteingang der Nummer 611 an. Fernán näherte sich seinem neunundzwanzig Jahre alten Sohn, um ihm einen Abschiedskuss zu geben. Fernando wehrte ab.

»Kann ich jetzt mit nach oben gehen, Papá?«, fragte er.

Seine Stimme durchschnitt die Nacht.

»Wozu?«, wollte Fernán wissen. Seine Kiefermuskeln spannten sich, und er blickte seinen Sohn ungläubig an.

»Glaubst du etwa, ich hätte nichts bemerkt?«

»Wozu willst du nach oben?«, wiederholte Fernán stur. Er heftete den Blick auf den Schlüsselbund, den seine Hände ungeschickt hielten. Noch immer versuchte er, die Wahrheit aufzuschieben.

»Ich will meine Geschwister kennenlernen!«, sagte Fernando mit klarer Stimme und drückte den Klingelknopf.

Esperanza hatte die Szene von einem der beiden großen Fenster aus beobachtet, und als sie eine Minute später die Tür öffnete, fand sie Vater und Sohn umarmt und hemmungslos schluchzend vor.

Mein Onkel Gustavo erinnert sich an das Folgende wie an einen Film: Fernando, der älteste Sohn, den die Geschwister Cisneros Vizquerra noch nie gesehen haben, kommt die Treppe herauf. Vom Wohnzimmer aus hört man die Schritte auf den hölzernen Stufen. Sie klingen wie Schüsse. Esperanza trocknet nervös ihre Hände ab und empfängt ihn am oberen Treppenabsatz mit ausgestreckten Armen zum Zeichen des Willkommens. Hinter ihren Rockfalten verstecken sich Carlota, Luis Federico und Gustavo wie schüchterne Kobolde und machen große Augen. Im Hintergrund sitzt Juvenal gegen die Lehne eines Sessels gestützt und verbirgt sein Interesse hinter einem Comic. In einem weiteren Zimmer schläft Reynaldo in einer Wiege. Alle betrachten den Ankömmling mit einer Mischung aus Schrecken und Neugier. Die Kleinen wissen nicht, wer dieser Señor ist, doch sie fühlen, dass sie ihn kennen oder kennen sollten. Fernandos Augen glänzen feucht im schwachen, fast orangefarbenen Licht der einzigen Glühbirne, die den Ort erhellt. Fernán sagt etwas, Esperanza sagt etwas. Alles geschieht schnell und steif. Plötzlich öffnet der Besucher den Mund und wendet sich an seine Geschwister. Seine Worte sind ungeschickt und ungenau, doch sie hallen wie Donnergrollen wider.

Ein Jahr nach dieser Begegnung – Hermelinda Diez Canseco war inzwischen verstorben und mehrere ihrer Kinder waren nach Peru übergesiedelt – fühlten Fernán und Esperanza sich frei genug, um in Buenos Aires endlich zu heiraten. Tante Carlota und Onkel Gustavo spielten die Messdiener in der Kirche, in der die Zeremonie abgehalten wurde.

Es gibt nur eine einzige Fotografie von jenem Tag des Jahres 1937, ein Bild, auf dem meine Großmutter Esperanza mit der Güte eines Menschen lächelt, der eine Belohnung erhält, die viel früher fällig gewesen wäre. Zu beiden Seiten stehen als Trauzeugen zwei befreundete Paare, die Arriolas und die Pancorvos. Pater López, ein Franziskaner, der in Argentinien lebt, vervollständigt die Gruppe.

Das genaue Datum ist nicht bekannt, doch es war Sommer, jener schreckliche Sommer 37, als Buenos Aires von einer Heuschreckenplage heimgesucht wurde, bei der die Insekten aus der Pampa gekommen waren und sich über die Felder der Umgebung hergemacht hatten, bevor sie dann auch in die Stadt einfielen, den Himmel verdunkelten und Panik in der Bevölkerung auslösten. Der Schwarm dieser gefräßigen und zähen Insekten belagerte tagelang das Zentrum der Hauptstadt. Während der Hochzeit musste Fernán mehrmals mit seinem Stock in der Luft herumfuchteln, um die Heuschrecken zu vertreiben, die ihm die Sicht nahmen.

Die Jahre nach der Heirat waren vielleicht die denkwürdigsten der Verbannung. Da er nichts mehr zu verbergen hatte, widmete Fernán sich ganz und gar seinen Kindern. Er erzog sie, begleitete sie in die Schule, nahm sie mit auf Spaziergänge durch die Straßen der Stadt oder über die Felder der Umgebung. Und die Kinder sollten für immer ein Bild ihres Vaters im Gedächtnis behalten, wie er Kaufhäuser betrat, in Straßenbahnen stieg, Dokumente für die Friedenskonferenz des Chacokrieges redigierte, sich in langen Unterhosen vor dem Spiegel stehend rasierte und den Jüngsten von allen, Adrián, der gerade erst zur Welt gekommen war, im Arm hielt. Fernán las ihnen Werke französischer und spanischer Dichter vor, zeigte ihnen, wie man mit dem Kamm einen Seitenscheitel zog, und verfasste Lehrverse, die er anschließend in kleinen Rahmen an die Badezimmertür hängte. Jahre später sollten mein Vater und seine Geschwister diese Verse noch immer zu all ihren Mahlzeiten auswendig rezitieren – wie zum Dank für eine Zeit voller aufregender Entdeckungen.

»Wenn die hübsche Carlotita

und die Jungs der Cisneros

sich nicht jeden Morgen waschen,

werden sie keine Caballeros

und sie auch keine Señorita«

Damals kaufte Fernán ein Kurzwellenradio, damit er Radio Nacional del Perú hören und den Ereignissen unter der Regierung von General Benavides folgen konnte. Der Apparat wurde für die Familie zu einer Art Maskottchen. Alle pflegten ihn, sie wechselten sich bei der Bedienung seiner verschiedenen Knöpfe und Regler ab und achteten darauf, dass er keinen Schaden nahm. Die Kinder Cisneros Vizquerra verbrachten Stunden vor dem Radio, als handelte es sich bei dem Ding um ein Orakel oder ein Lagerfeuer. Die Nachrichten führten sie in Länder, nach denen sie unverzüglich auf dem Globus suchten, der in einer Ecke in Fernáns Büro stand und sich um eine Metallachse drehen ließ. Im Radio verfolgten sie zudem aufmerksam die neuesten Nachrichten über den Spanischen Bürgerkrieg, allerdings beeinflusst von Fernáns politischer Meinung, der allen Kommunisten misstraute und Francisco Franco bewunderte – ihn und den Oberst José Moscardó, der lieber seinen Sohn opferte, als das Stadtschloss von Toledo dem Feind zu übergeben.

Fünfzig Jahre später wird mein Vater mir diese Geschichte mit Tränen in den Augen erzählen, während wir am Esstisch unseres Hauses in Monterrico sitzen. Mich wird diese Geschichte so bewegen, dass ich den Oberst Moscardó augenblicklich hoch achte und seinen Sohn Luis bemitleide, wie dieser am anderen Ende der Telefonleitung zu seinem Vater sagt, er solle sich keine Sorgen um ihn machen, er wisse, dass man ihn exekutieren werde, da das Stadtschloss sich nicht ergebe. Der Oberst bittet ihn, seine Seele Gott anzuvertrauen und Spanien hochleben zu lassen, und als er sich von ihm verabschiedet und sagt: »Adiós, mein Sohn, ich gebe dir einen Kuss«, verspricht er ihm noch, er werde als Nationalheld in die Geschichte eingehen.

Dreißig Jahre nachdem er gezwungen worden war, sich nach Panama einzuschiffen, kehrte mein Großvater Fernán am 12. August 1951 unter der Regierung von General Odría nach Peru zurück. Er war damals siebzig Jahre alt. Dreißig dieser Jahre hatte er im Exil verbracht. Er kam als Diplomat zurück, fühlte sich aber noch immer als Journalist und Dichter.

In Lima lebte er zunächst mit seinen Kindern Cisneros Vizquerra in einem Landhaus in der Avenida Pardo. Von dort aus ging er täglich zu Fuß ins Stadtzentrum, lief den Jirón de la Unión und die Calle Baquíjano hinunter, wo sich der Sitz von La Prensa befand. Er überquerte die Straßen, wo sich heute anstelle des alten Palais Concert ein Kaufhaus erhebt, er querte die Kreuzung der Calles Mercaderes und Plateros gegenüber der Casa Welsch, in der meine Großmutter Esperanza als junges Mädchen gearbeitet hatte.

Nach einiger Zeit zog Fernán mit der Familie in die Nähe der Schlucht von Armendáriz. Dort lebten sie in einem Haus in der Calle La Paz mit Blick aufs Meer. Jahrzehnte später sollte ich dort mit meinen Eltern und Geschwistern wohnen. In diesem Haus begann Fernán wieder, Vorträge und Essays zu schreiben, die allerdings unveröffentlicht blieben.

Zu Beginn des Jahres 1953, als er von einem seiner Spaziergänge heimkehrte, fühlte er sich müde und schwindelig. Es handelte sich um Symptome eines Lungenemphysems, das ihn zwingen sollte, sich zu schonen und einen Sauerstoffballon zu benutzen, der die Farbe und Größe einer Kanonenkugel hatte.

Sein Sohn, der Gaucho, sah ihn an jenem Nachmittag heimkommen und bemerkte an Fernáns Gesicht etwas, das ihm nicht gefiel, einen Ausdruck von Furcht und Benommenheit.

Den gleichen Ausdruck sollte ich Jahre später, 1995, nach dem ersten Anfall auf seinem Gesicht wahrnehmen.

Am 17. März 1954 folgte Fernán der Einladung des Direktors von La Prensa, Pedro Beltrán, der ihn zu einer Besprechung in seine Wohnung gegenüber der Kirche von San Marcelo eingeladen hatte. Da er in Eile war, unterbrach mein Großvater seinen Artikel, von dem nur der Titel lesbar ist – »Und nun die Krise« –, und bat seinen Sohn Mincho, ihn zu begleiten. Beltrán empfing die beiden, schenkte ihnen Cognac ein und bot Fernán mitten im Gespräch offiziell an, wieder eine Kolumne für die Zeitung zu schreiben. Fernán freute sich sehr. Er wusste nicht, dass diese freudige Erregung ihn nur wenige Minuten später töten sollte.

Da sitzt er und brütet Ideen für mögliche Namen für die neue Kolumne aus – »Das Lima, das einmal war«, »Bedeutende Peruaner«, »Berühmte Limeñas«, »Landschaften« – und verhandelt mit Don Pedro über Häufigkeit und Länge der Kolumne, als er eine Beklemmung und einen Stich spürt. Sein Herz hat zu bersten begonnen.

Beltrán legt ihn auf den Boden, und als er bemerkt, dass der linke Arm steif ist, rennt er los und holt einen benachbarten Arzt, der unmittelbar nach seiner Ankunft die Heftigkeit des Infarkts bestätigt. Als der stumm dabeistehende Mincho sieht, wie das Bein seines Vaters spastisch zuckt, fällt ihm nichts Besseres ein, als sich zu bekreuzigen.

Vor mir liegt ein Album mit den Titelseiten der Zeitungen vom Folgetag, dem 18. Mai 1954. »Gestern starb Fernán Cisneros. Er war ein Vorbild an bürgerlicher Tugendhaftigkeit«, La Prensa. »Fernán Cisneros ist verstorben«, El Comercio. »Der Dichter der edlen Absichten ist tot«, Última Hora. »Gestern ist Fernán Cisneros aus dem Leben geschieden«, La Nación. »Tiefe Trauer über den Tod von Cisneros«, La Crónica. Darauf folgen Ausschnitte mit Schlagzeilen wie »Der nationale Journalismus trägt Trauer«. Es gibt Telegramme von uruguayischen, mexikanischen und argentinischen Zeitungen, die über seinen Tod berichteten, außerdem etliche Nachrichten über die Totenwache, die im Büro der Direktion von La Prensa stattgefunden hat, und schließlich auch über die Beerdigung selbst, abgehalten auf dem Friedhof Presbítero Maestro.

Des Weiteren besitze ich Aufnahmen der anlässlich des hundertsten Jahrestages seiner Geburt im November 1982 begangenen Festlichkeiten in der Diplomatischen Akademie im Park von Miraflores, der seinen Namen trägt: Parque Fernán Cisneros. Auf einigen dieser Fotos bin ich im Alter von sieben Jahren zu sehen – gemeinsam mit meinem Vater, meinen Geschwistern und Cousins.

Ich kann mich noch gut an jenen sonnigen Tag im Park erinnern, an die Enthüllung einer Büste, die Fernán als »Dichter, Journalist und Diplomat« bezeichnet, und auch an die zusätzlich eingravierten Verse, die wir Hunderte Male bei unzähligen Frühstücken und Mittagessen wiederholen sollten:

»Geburt, Leben und Tod

gehören nicht zu den schrecklichsten Dingen.

Ohne ein Lächeln das Leben zu verbringen –

darin liegt tragische Not.

Mit Liebe kann alles ins Schöne schwingen.

Geburt, Leben und Tod.«

Melodische und traurige Verse – sie überlagern andere mögliche Grabinschriften, die wahrer gewesen wären: Das Schrecklichste ist nicht der Tod, sondern Unwissenheit. Die tragische Not liegt nicht darin, das Lächeln aufzugeben, sondern darin, zu schweigen.

Gerade eben durch das, was Fernán weder tat noch sagte, aber weitaus weniger durch das, was er tat oder sagte, erkenne ich mich wieder als seinen Enkel und auch als den Sohn jenes anderen schweigsamen Mannes, des Gaucho, der seinen Vater ebenso bewundert und geliebt hat wie ich den meinen: mit derselben von Geheimnis und Ferne durchsetzten Liebe – jener einzigen Art und Weise, wie man einen Menschen lieben kann, der über fünfzig Jahre alt ist und dir dein Leben schenkt, ohne jegliche Kraft oder auch nur den Elan, dein Verbündeter sein zu wollen, sondern nur, um anschließend als Regent deiner Welt in Erscheinung zu treten, als Architekt von alldem, was du berührst, sagst, siehst. Aber eben nicht von dem, was du fühlst.

Weil ich in der Lage bin zu fühlen, was er mich nicht hatte lehren können, ertrage ich die unzähligen Fragen, die nun fern jener Welt auftauchen, welche er für mich entworfen hatte, Fragen aus jener dunklen Gegend, die er nie hatte erforschen können, weil er vielleicht von seinem eigenen Vater ebendies empfangen hatte: Disziplin und Distanz. Etikette und Abwesenheit. Ein Bewusstsein für Pflicht, Willenskraft, Benehmen. Einen verantwortungsvollen Blick für die Zukunft. Und hinter alldem eine misslungene, genauer vielleicht: eine ungeschickte Liebe, ausgedrückt in Briefen und Widmungen, Versen und Liedern, schwülstigen, rhetorischen Worten, jedoch ohne jegliche Umarmung, ohne irgendeine Nähe, ohne ebenjene Wärme, die ein Jahrhundert später noch ihre Spuren hätte zeitigen können.

3

»MEXIKO, DEN 14. JULI 1940

Geliebte,

ich beginne diesmal damit, dass ich einen Brief vom Gaucho einfordere, mal sehen, ob er dann auf mich hört. Und sag ihm, dass ich nicht irgendeinen Brief will, sondern eine Ausführung über alles, was er denkt, will und tut. Ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen, dass der Vater sich über die Einstellung des Sohnes Klarheit verschaffen muss. In unserem wunderschönen Sohn gibt es, aufgrund der Nervenkrankheit seiner ersten Jahre, einen verständlichen und schmerzhaften Minderwertigkeitskomplex, den man ihm aus der Seele reißen muss. Mein Eindruck ist, dass er sehr oft gute Absichten hegt, vernünftig zu werden und zu lernen. Doch die Überzeugung, dass es sehr arbeitsaufwendig ist und er nur langsam vorankommt, macht ihn traurig, ärgert und demütigt ihn und provoziert ihn schließlich zu Reaktionen. Das kommt häufig vor. Da er stolz ist, gibt er es nicht zu, und da er es nicht zugeben will, macht ihn sein geistiges Unbehagen wütend. Er lernt nicht, weil er es nicht mag, und er mag es nicht, weil er glaubt, dass er es nicht kann. Deshalb geht er nicht in die Schule und belügt uns alle. Doch so unschuldig es heute ist, die Schule zu schwänzen, so gewiss kann dies morgen zum Weg in den Untergang führen.

Daher scheint es mir gut, wenn Du ihn erneut und auf meine Anordnung hin in ein Internat bringst, aber, Geliebte, gib ihm die Möglichkeit, das Internat auszuwählen. Oder mache ihn irgendwie glauben, er sei derjenige, der es auswählt. Man könnte ihm zum Beispiel die Militärschule anpreisen. Damit er nicht den Verdacht hegt, es gehe darum, ihn zu maßregeln oder zu bestrafen. Damit er erhobenen Hauptes die Schule besuchen kann. Natürlich wäre das die Schule, die mir am besten gefällt, denn sie wird ihn Liebe zur Disziplin, zur Methode und zur Arbeit lehren. Aber Gott möge Dich erleuchten, geliebtes Wesen, sodass Dein Herz und nicht Deine Strenge ihn zum Guten führt.

Damit mein fortgeschrittenes Alter nicht beginnt, sich glücklos anzufühlen, ist es unabdinglich, dass wir alle uns zusammentun, um diesen Jungen zu retten. Doch lass es uns in dem Bewusstsein tun, dass es sich bislang nur um ein schüchternes und orientierungsloses Kind handelt. Du denkst womöglich, seine aggressiven Reaktionen seien nicht schüchtern. Doch sie sind genau dies, mein Schatz. Die Schüchternheit zwingt ihn zu schweigen, er verschweigt, was er denkt, und da er schweigt, explodiert er, ohne zu wissen, warum. Schreib mir und verschweige nichts, Geliebte, denn das Leben fällt mir schwer. Bedecke meine Kinder mit Küssen und halte mein Herz.«

Als ich diesen Brief entdeckte, mit dem mein Großvater Fernán sich an meine Großmutter Esperanza wandte, um über meinen Vater zu sprechen, war er, der Gaucho, seit vierzehn Jahren tot. 1940 aber war er erst vierzehn und wies eine Reihe von Zügen auf, die ich niemals mit ihm in Verbindung gebracht hätte.

So war es überraschend zu lesen, dass mein Vater als Kind an einer Nervenkrankheit gelitten haben soll, von der weder ich noch meine Geschwister oder meine Mutter je etwas erfahren hatten. Ich habe in meiner eigenen Jugend an Nervenkrisen, Allergien und akuten Asthmaanfällen gelitten, die zu mühseligen Dampfbehandlungen in einem kalten Raum des Militärkrankenhauses führten – wobei niemand nachvollziehen konnte, von wem ich Schwächen wie diese geerbt haben könnte.

Nun erst wurde klar, dass es stets eine Vorbelastung gegeben hatte, doch da niemand im Bilde gewesen war, hatte meine Kränklichkeit mit nichts in Verbindung gebracht werden können.

Mein Großvater behauptete, diese Krankheit hätte meinen Vater verunsichert. Das zu lesen kam der Entdeckung eines Kontinents gleich. Aus meiner Sicht war mein Vater der unüberwindbarste Mensch, den es auf Erden gab. Eine Wand. Eine Festung. Ein Bunker. Stets seiner Worte gewiss, seiner Taten, seiner Moral, seiner Identität, seiner Entscheidungen, und stets darin sicher, sich niemals zu irren. Angst und Zweifel glichen nebelhaften Gestalten in seinem Geist, die irgendwo in der Ferne vorüberzogen.

Doch auf der Röntgenaufnahme, die mein Großvater Fernán erstellt, als er diesen Brief schreibt, ist der Gaucho ein unterlegenes, richtungsloses, schüchternes und aggressives Kind. Auf mich wirkt diese Beschreibung deshalb so unglaublich, weil sie mit dem vierzehnjährigen Jungen übereinstimmt, der ich selbst gewesen bin oder geglaubt habe zu sein: einer, der Angst hatte vor der Familienrunde nach dem Essen, der sich fern und unfähig fühlte, weil er nicht imstande war, mit seinem Vater zu reden.

Mein Großvater erwähnt in dem Text die Notwendigkeit, dass alle ihre Kräfte vereinen müssen, um »diesen Jungen zu retten«, der mein Vater gewesen ist. Ich frage mich, ob mein Vater diesen Brief jemals gelesen hat. Aber wichtiger noch: Ich frage mich, ob er sich jemals vor seinen kindlichen Qualen sicher fühlte, die den meinen so ähnlich waren und über die wir nie haben sprechen können.

Ein weiterer Brief meines Großvaters aus demselben Jahr, der direkt an meinen Vater gerichtet ist, offenbart die schwierige Liebe dieser Beziehung ebenso wie den zugewandten, doch subtil manipulierenden Ton, den Fernán bei dem Versuch anschlug, seinen Sohn zu gewinnen:

»Es ist notwendig, dass Du mir auf besonnene Weise alles, was Du willst, was Du fühlst, was Du denkst, mit der Offenheit erzählst, die guten Männern zu eigen ist, und in der Hoffnung, dass Dein Vater das, was Du benötigst, finden wird: Hilfe, Zuspruch, Lösungen oder Belohnung. Ich trage Dich wie eine geliebte Last im Herzen, mein Sohn, und ich will, dass diese Last sich so schnell wie möglich in Freude verwandelt. Ich küsse Dich inniglich.«

Eine geliebte Last. Das war mein Vater für den seinen. Bin auch ich eine geliebte Last für den meinen gewesen? Wenn dem so war, dann hat er es nie ausgesprochen. Oder sprach er es aus, ohne dass ich darauf achtete? Warum habe ich die Briefe verloren, die mein Vater mir geschrieben hat? Wie ist es möglich, dass sie mir abhandengekommen sind? Ich erinnere mich an zwei, in denen er seine Worte so ungewöhnlich vorsichtig und zugewandt an mich richtete, dass ich mehrmals überprüfen musste, ob wirklich er unterschrieben hatte oder ob die Unterschrift nicht vielleicht gefälscht war. Ich denke an diese Briefe – an ihre akkurate Schrift, an die Reliefs auf ihrer Rückseite als Ergebnis des Drucks der Hand beim Vorgang des Schreibens – und verstehe, dass mein Vater nur auf diese Weise mit mir in Kontakt treten konnte.

Es gibt Menschen, die ihre Gefühle nur schriftlich zum Ausdruck bringen können. Mein Vater war ein solcher Mensch. Für ihn galten Worte als Ort der Zuneigung, als ein Terrain, auf dem Gefühle, die im Alltag geleugnet wurden, auftauchen und Gestalt annehmen durften. In seinen Briefen war er wirklich er selbst, und so nahm ich ihn wahr. Er schrieb mir, was er vor den anderen Anwesenden im Speisesaal oder im Wohnzimmer nicht sagen konnte. In der Privatsphäre dieser Briefe war er mein Freund, in der Öffentlichkeit eher nicht. Fast schon ein erdachter Freund, der nie in der wirklichen Welt und nur selten durch die Schrift in Erscheinung trat. Nach außen hin setzte er seine Härte durch und ließ alle die Kälte seiner Alleinherrschaft spüren. Ich bin mir nicht sicher, ob er wusste, wer er in seinen Briefen war, doch in jener gesamten Zeit habe ich gelernt, den Menschen, der sie schrieb, mehr zu lieben als jenen, der außerhalb ihrer lebte. In den Briefen – auch wenn es nur zwei oder drei waren – hörte er auf, der Gaucho Cisneros zu sein, und wurde wieder zu jenem Jungen voller Risse und Sprünge, um den sich mein Großvater solche Sorgen gemacht hatte. Außerhalb der Schrift war seine Liebe schweigsam, ungewiss und schmerzhaft – eine Reproduktion der Liebe, die sein Vater ihm eingepflanzt hatte, eine ausgetrocknete Liebe, bei der man tief graben musste, wollte man den Diamanten einiger seltener Worte finden, um diesen anschließend an der Oberfläche studieren zu können.

Ebenso wenig hatte ich gewusst, dass mein Vater in die Militärschule gesteckt worden war. Was ich immer für eine selbst erwählte Berufung gehalten hatte, stellte sich in Wirklichkeit als aufgezwungene Bestimmung heraus. Weil er fehlgeleitet war und ständig die Schule schwänzte, hatten sie ihn nicht wählen lassen. Schon als Kind war er von meiner Großmutter an einen Bettpfosten gebunden worden, wenn sie allein aus dem Haus gehen musste. Und während seiner Ausbildung an der britischen Schule ging er lieber zum Hafen von Buenos Aires und schaute vom Kai aus zu, wie von großen Lastkähnen und Dampfschiffen orangefarbene Container, die riesigen Ziegelsteinen glichen, auf- und abgeladen wurden.

Seinen Beinamen, der bis zum Schluss an ihm haften bleiben sollte, hatte er sich mit elf Jahren durch einen seiner Streiche verdient: Eines Morgens versammelte er seine Geschwister und die Freunde aus dem Viertel im großen Innenhof des Hauses an der Avellaneda 3104. Damals begeisterte er sich für Zauberkunst und träumte davon, selbst ein Magier zu werden.

»Ruhe!«, herrschte er sein aus lauter kleinen Kindern bestehendes quirliges Publikum an und zwang seiner Umgebung eine Aura falschen Mysteriums auf. »Ihr seid hier, um Zeugen des neuesten und überraschendsten Tricks von Mandrake dem Magier zu werden.«

»Und wie heißt der Trick?«, fragte eine misstrauische Stimme schrill.

»Die tote Hand!«, antwortete mein Vater oder der Junge, der er war, und zog dann ein scharfes Küchenmesser mit Holzgriff hervor, das er in seinem Gürtel verborgen gehalten hatte, nahm es in die linke Hand, richtete die Klinge langsam auf seine rechte Handfläche, ließ sie dort einige Sekunden verharren, um die Spannung dieses Publikums in kurzen Hosen, heruntergerutschten Strümpfen und schmutzigen Schuhen noch zu steigern. Anschließend stieß er einen theatralischen Schrei aus und schlitzte seine Hand von oben bis unten auf, zum Entsetzen der Kinder, die zu schreien begannen, während das Blut in ornamenthaften Schnörkeln aus dieser Hand hervorquoll, die weder falsch war noch eine Requisite, sondern sehr real und sehr starr.

Mein Vater stand da, das blutverschmierte Messer in der Hand, die Augen weit aufgerissen, und lächelte vor Schmerz. Meine Großmutter Esperanza kam aus dem Haus gerannt, und als sie sah, was er angestellt hatte, zerrte sie ihn an den Haaren zum nächsten staatlichen Sanitätsposten und ließ ihn dort ambulant behandeln.

Der Arzt war überrascht vom Verhalten meines Vaters, der sein morbides Lächeln beibehielt und, ohne mit der Wimper zu zucken, die fünfzehn Stiche ertrug, die notwendig waren, um seine offene Hand zu nähen, und die dann jene lange Narbe hinterlassen sollten, die ich stets mit der Lebenslinie verwechselte.

»Señora, Ihr Sohn ist ein wahrhaftiger Gaucho«, urteilte der Arzt nach der Behandlung, ohne zu ahnen, dass er in jenem Moment dem Jungen einen Spitznamen verpasst hatte, der legendär werden sollte und der seine Wesensart, die sich bereits herauszubilden begann, auf den Punkt brachte.

Der Gaucho – dieser Cowboy aus dem achtzehnten Jahrhundert, den die Pampa im Süden des Kontinents geschmiedet hatte – war jener zähe Mann, der die Kälte Patagoniens ertrug, jener Reiter, den die Einsamkeit der Ödlande stark machte, jener Nomade, der in die Weite floh und sich im Niemandsland heimisch fühlte. In diesem Sinn war mein Vater unbestreitbar ein Gaucho. Er verstand es, Grenzen aufzusuchen und sich an ihnen aufzuhalten. Er gewöhnte sich zunächst an das Exil seines Vaters, das diese Familie immer wieder zu Umzügen gezwungen hatte, und später auch an sein eigenes Exil, als er Argentinien verlassen und in einem Land sein Leben neu beginnen musste, das er überhaupt nicht kannte und von dem man ihm versichert hatte, es sei das seine. Und selbstverständlich passte er sich an das rigide Ambiente der Militärschule an, wo er Strenge erfuhr und allmählich zu sein begann, was andere für ihn gutgeheißen hatten.

Heute denke ich, er hätte sich, wäre es nur nach seinem Willen gegangen, vielleicht ganz anders entschieden. Etwas Künstlerischeres, warum nicht? Vielleicht Magier wie Mandrake. Oder womöglich Tänzer. Hatte Tante Carlota, seine ältere Schwester, nicht erzählt, mein Vater habe sie zum Ballettunterricht begleitet, wenn zunächst auch nur, um sie vor einem Freier zu schützen, der ihr auf dem Rückweg aus der Akademie auflauerte? Später dann sollte ein weiterer Grund hinzukommen: Mirtha, die Tochter der Schauspielerin Libertad Lamarque, mit der er flirtete. Und ganz am Ende schließlich zeigte sich ein dritter Grund: Er wollte hinter dem Rücken seines Vaters tanzen, so fasziniert war er von diesen schwingenden Schritten auf den Fußspitzen, von diesen Drehungen um die eigene Achse, von dieser Harmonie des Körpers, die Konzentration und Kraft in den Beinen erforderte. War er nicht ein ausgezeichneter Tangotänzer, der die schwierigsten Choreografien, die ich je gesehen habe, beherrschte – im Tanz mit Carlota, Stirn gegen Stirn gelehnt, die Hände auf dem Rücken, die Beine gekreuzt wie Schwerter in einem Wald?

Vielleicht glaubte er nicht an seine Fähigkeiten oder wollte schlichtweg nicht in ihnen aufgehen. Vielleicht unterdrückte er auch seine Sehnsüchte, da irgendjemand ihm eingeflüstert hatte, sie gehörten der Sphäre der Frauen an. Vielleicht wurde er auch nur aus reiner Trotzreaktion Soldat, damit ihn niemand herablassend anblicken konnte, und um jedem, der an seinen Fähigkeiten zweifelte, stur zu beweisen, dass er fähig war, selbst dasjenige effizient auszuführen, was ihn in keiner Weise inspirierte. Wenn seine Eltern glaubten, es gäbe kein Mittel gegen seine Disziplinlosigkeit und er würde sich weigern, die Militärschule zu besuchen, so würde er den Beweis dafür erbringen, wie sehr sie sich irrten. Als sein Vater die positive Nachricht im April 1941 erhielt, schrieb er ihm aus Mexiko: »So glücklich Du Dich auch fühlen magst, Du bist es doch nicht so sehr wie Dein abwesender Vater.«

Mein Vater traf die Entscheidung, Soldat zu werden, nicht selbst. Einmal in der Armee jedoch, stellte er rasch fest, dass ihm dieses Leben etwas gab, das er während der Zeit der Verbannung meines Großvaters Fernán stets eingefordert hatte: Ordnung. Eine Ordnung, die das Chaos zu mildern vermochte. Eine Ordnung, die durch die Autorität wiederhergestellt wurde. Er nahm diese Lebensweise mit unverbrüchlicher Hingabe an, benötigte er doch etwas, das seinen Kopf und sein Leben zurechtrückte. Trotzdem richtete er sein Leben in den Kasernen stets so ein, dass der Künstler, den er in sich trug, nicht verraten werden musste, er hielt eine Öffnung frei, durch die er atmen konnte: die Reiterei.

Das war folgerichtig. Das Pferd verlangt letztlich von seinem Reiter dasselbe wie das Ballett von einem Tänzer: eine korrekte Haltung, starke Waden, ein gutes Gleichgewicht, ein Gefühl für den Raum und Gelassenheit. Ein gelassener Tänzer kommt niemals aus dem Takt. Ein gelassener Reiter kontrolliert nicht nur das Pferd, auf dem er sitzt, sondern das wilde Tier in seinem eigenen Inneren. Und mein Vater war genau dies: ein wildes Tier. Seine Natur trieb ihn dazu an, wegzulaufen, zu fliehen und in der Wildnis zu verschwinden wie ein heimatloser Gaucho, der sich immer weiter entfernt, bis er nur noch ein beliebiger Lichtreflex in der Ebene ist.

Nach seinem dritten Jahr an der Militärschule von Buenos Aires erhielt er im September 1943 einen weiteren Brief von seinem Vater aus Mexiko, den letzten, den ich in den Archiven meines Onkels Gustavo gefunden habe.

»Du schickst Dich an, gelassen und kraftvoll dem Ruf Deines Schicksals zu folgen, und ich, der ich Dir stets dicht auf den Fersen folgen und mein Herz in Deine Wege legen werde, begleite Dich nun aus der Entfernung mit einem tiefen Gefühl, das aus meiner Zuneigung für Dich und meiner wachsamen Verantwortung rührt. Ich bin mir sicher, dass wir uns weiterhin lieben und verstehen werden im Leben, nicht nur als Vater und Sohn, sondern als zwei gute Freunde, die beiderseits darum bemüht sind, die Tradition der Redlichkeit, der Ernsthaftigkeit und des Patriotismus, die mit unserem Namen verbunden ist, fortzuführen.«

Der Vater gesteht dem Sohn seine verantwortungsvolle Zuneigung und verspricht ihm seine Freundschaft. Doch es ist eine Freundschaft, die auf unseren rechtschaffensten Familientraditionen beruht, das heißt eine rhetorische, von der geografischen Entfernung verwundete Freundschaft. Der Brief enthält außerdem einen Schlüsselsatz: »Du schickst Dich an, dem Ruf Deines Schicksals zu folgen.«

Im Jahr 1943 fehlten nur noch vier Jahre, bis mein Vater Argentinien verlassen und diesem Ruf folgen sollte. Seit ihrer Kindheit hatten seine Geschwister und er sich den Auftrag zu eigen gemacht, ins Geburtsland ihrer Eltern, aus dem ihr Vater verbannt worden war, zurückzukehren. Und sie nannten es auch so, mit diesem Verb, zurückkehren, obwohl sie davon sprachen, in ein ihnen unbekanntes Land zu ziehen. Wie kehrt man an einen Ort zurück, an dem man nie zuvor gewesen ist? Sie empfanden das Gewicht dieses Widerspruchs nicht, da sie davon ausgingen, in einer Art vorgestelltem Peru zu leben, in einer Blase aus Millionen von Verweisen, die ihre Eltern ihnen immer schon bereitgelegt hatten: die Verse ihres Großvaters Luis Benjamín; die Seiten der Geschichtsbücher, die sie in die Hände bekamen; die Postkarten, die von verschiedenen Verwandten, die sie nie gesehen hatten, aus Lima geschickt wurden; die Stimmen der Onkel oder Vettern, die nach Buenos Aires kamen, um sie kennenzulernen und ihnen von all den Dingen zu erzählen, die sie in Peru sehen würden.

1947 traten die Geschwister Cisneros Vizquerra einer nach dem anderen die Reise in ein Peru an, das bald schon nicht mehr nur in ihrer Vorstellungskraft existieren sollte. Als sie sich in Lima niedergelassen hatten, hielten sie zwar die familiäre Brüderlichkeit und Solidarität aufrecht, doch die Tätigkeiten, denen sie sich zu widmen begannen, waren sehr unterschiedlich. Juvenal studierte Medizin und Sprachwissenschaft, Carlota Psychologie. Mein Vater blieb in der Armee. Gustavo wurde Industrieingenieur, Adrián Bauingenieur. Und Reynaldo, ah, Reynaldo, Onkel Reynaldo, der Querschläger-Onkel! Er studierte Tourismus, wurde zum König der Public Relations, zum frustrierten Designer und schließlich zum Bonvivant, immer bereit, rauschende Feste zu feiern, selbst wenn er nicht einmal mehr eine Mango in der Tasche hatte. Alles, was die Geschwister während ihrer in Argentinien verlebten Kindheit scheinbar gemeinsam hatten, nahm in Peru, im Laufe ihres Werdegangs als Erwachsene, eine andere Gestalt an. In Buenos Aires hatte sie die Zukunft geeint. Peru war ihr gemeinsames Ziel gewesen. Einmal jedoch dort, sollte das, was sie noch am ehesten teilten, ihre gemeinsame Vergangenheit sein.

Der Gaucho war einundzwanzig Jahre alt, als er aus Argentinien wegziehen musste. Es fiel ihm sehr schwer, Buenos Aires den Rücken zu kehren, da dies nicht nur hieß, sich von seinen Kindheitsfreunden zu trennen – von Pepe Breide, Tito Arenas, Chino Falsía – und seine Ausbildung in der argentinischen Armee abzubrechen, sondern vor allem, eine gefährliche Pause mit Beatriz einzulegen. Mit Beatriz Abdulá.

Ich hörte diesen Namen zu Hause seit meiner frühen Kindheit. Ein beinahe mythischer Name, obwohl sich hinter ihm, wie Papá stets behauptete, nur »eine kleine Liebelei damals in Argentinien« verbarg, und diese Version wurde von meinen Onkeln im Chor bestätigt, als ich sie nach Beatriz befragte, weil ich wissen wollte, wie mein Vater wohl zu ebenjener Zeit gewesen sein mochte, da er zum ersten Mal verliebt war. Sogar meine Mutter sprach ganz vertraut und ohne irgendeine Spur von Eifersucht über sie, ja beinahe voller Sympathie.

Doch niemand nannte irgendwelche Details. Diese Wortkargheit vermochte meinen Wissensdurst nicht zu stillen, im Gegenteil: Sie stachelte ihn nur noch an. Was für ein Typ Frau war Beatriz wohl gewesen? Wie hatte diese Beziehung ausgesehen? Warum war sie auseinandergegangen? Wer hatte wen verlassen? Der Gaucho sagte, sie sei nur eine Schwärmerei gewesen, aber während er so sprach, verriet die Leere in seinen Augen das Gegenteil. Wie immer, wenn er über jene Gefühle sprach, die seine Kindheit und Jugend geprägt hatten, flößten mir seine Aussagen über Beatriz kein Vertrauen ein. Stets modellierte er die Ereignisse, zergliederte sie und fügte sie wieder neu zusammen, sodass wir Kinder nicht sehen konnten, was sich tatsächlich hinter der Collage verbarg. Er wollte weder im Leben noch in der Erzählung vom Leben als Verlierer dastehen. Deshalb blieb Beatriz zu seinen Lebzeiten nichts als eine Jugendliebe, eine bedeutungslose Grille, eine sterile Erinnerung, nicht wert, hinterfragt oder genauer betrachtet zu werden.