Die ethnische Säuberung Palästinas - Ilan Pappe - E-Book

Die ethnische Säuberung Palästinas E-Book

Ilan Pappe

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Beschreibung

Ilan Pappe beschreibt, wie der militärische Konflikt in den Jahren 1947 bis 1949 in eine systematische Politik Israels übergegangen ist, die bis heute einen Frieden in Palästina verhindert. Zwei Monate vor dem Ende der britischen Verwaltung Palästinas im Auftrag der UN, am 10. März 1948, trifft sich im Roten Haus in Tel Aviv, dem Hauptquartier der Untergrundmiliz Hagana, eine Runde hochrangiger zionistischer Politiker. Eingeladen hat David Ben Gurion, später Ministerpräsident Israels. Mit dabei Yigal Allon (später Außenminister), Moshe Dayan (später Verteidigungs- und Außenminister), Yigael Yadin (später stellvertretender Ministerpräsident), Yitzchak Rabin (später Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger). Sie verabreden die Endfassung eines Masterplans zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung: "Plan Dalet" (Plan D). Das Land – nur zu elf Prozent im Besitz der jüdischen Einwanderer, die nicht einmal ein Drittel der Einwohner stellen – soll systematisch freigemacht werden für eine endgültige jüdische Besiedelung, und hierzu ist jedes Mittel recht. "Wer den Kernkonflikt im Nahen Osten besser verstehen will, sollte das mit viel Herzblut geschriebene Buch von Ilan Pappe lesen." Marcel Pott im Deutschlandfunk

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Seitenzahl: 583

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Ilan Pappe

Die ethnische Säuberung

Palästinas

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Die englische Originalausgabe ist 2006 unter dem Titel

»The Ethnic Cleansing of Palestine« erschienen.

Published by arrangement with Oneworld Publications, London

Copyright © 2006 by Ilan Pappe

Abbildungsnachweise:

Umschlagfotos gemeinfrei. Seite 380, 381 oben © United Nations Relief and Works Agency (UNRWA): S. 382 f. sowie die Karten S. 389 f., 393 Institute of Palesine Studies, Beirut, aus: W. Khalidi (Hg.), All That Remains; S. 374 oben, 381 unten © Bettmann/Corbis; S. 378 © New York Times.

Alle Rechte für die deutsche Ausgabe und Übersetzung

© Palästinakomitee Stuttgart e.V. + Abraham Melzer Verlag

Lektorat und Register der deutschen Ausgabe:

Ekkehard Kunze (Büro Wiesbaden)

Korrektorat: Ursula Maria Ott, Frankfurt

Umschlaggestaltung: Manuela Kunkel, kupola.de

Übersetzung des Grußworts aus dem Hebräischen: Abraham Melzer

Satz: Dieter Kohler GmbH, Wallenstein

Herstellung & Produktion von Urs Jakob

Druck & Bindung: CPI books GmbH, Ulm

Printed in Germany

ISBN: 976-3-86489-256-1

eISBN: 978-3-86489-761-0

Ein Buch der Edition Ostend im Westend Verlag

Inhalt

Vorwort

Das Rote Haus

1. Eine »angebliche« ethnische Säuberung?

Definitionen ethnischer Säuberung

Ethnische Säuberung als Verbrechen

Rekonstruktion einer ethnischen Säuberung

2. Das Streben nach einem ausschließlich jüdischen Staat

Die ideologische Motivation des Zionismus

Militärische Vorbereitungen

Die Dorfdossiers

Frontstellung gegen die Briten: 1945 bis 1947

Ben Gurion: Der Architekt

3. Teilung und Zerstörung: Die UN-Resolution 181 und ihre Folgen

Die Bevölkerung Palästinas

Der UN-Teilungsplan

Die arabische und palästinensische Position

Die jüdische Reaktion

Die Beratergruppe nimmt die Arbeit auf

4. Aufstellen eines Masterplans

Die Methoden der Säuberung

Der Stimmungsumschwung in der Beratergruppe: Von Vergeltung zu Einschüchterung

Dezember 1947: Erste Aktionen

Januar 1948: Abschied vom Vergeltungsgedanken

Die lange Tagung: 31. Dezember bis 2. Januar

Februar 1948: »Shock and Awe«

März 1948: Letzte Abstimmungen der Blaupause

5. Die Blaupause der ethnischen Säuberung: Plan Dalet

Operation Nachshon: Die erste Plan-Dalet-Operation

Der Urbizid in Palästina

Weitere ethnische Säuberungen

Einer überlegenen Macht erlegen

Arabische Reaktionen

Auf dem Weg zum »realen Krieg«

6. Der Scheinkrieg und der reale Krieg um Palästina: Mai 1948

Tihur-Zeit

Das Massaker in Tantura

Die blutige Spur der Brigaden

Rachefeldzüge

7. Die Eskalation der Säuberungsaktionen: Juni bis September 1948

Die erste Waffenruhe

Operation Palme

Zwischen den Waffenruhen

Die Waffenruhe, die keine war

8. Abschluss der Säuberungen: Oktober 1948 bis Januar 1949

Operation Hiram

Israels Antirepatriierungspolitik

Ein Kleinimperium im Werden

Letzte Säuberungen im Süden und Osten

Das Massaker in Dawaymeh

9. Die Besatzung und ihr hässliches Gesicht

Unmenschliche Haftbedingungen

Misshandlungen während der Besatzung

Teilen der Beute

Entweihung heiliger Stätten

Zementierung der Besatzung

10. Der Memorizid an der Nakba

Die Neuerfindung Palästinas

Praktischer Kolonialismus und der JNF

Die JNF-Erholungsgebiete in Israel

11. Die Leugnung der Nakba und der »Friedensprozess«

Erste Friedensbemühungen

Ausschluss der Ereignisse von 1948 aus dem Friedensprozess

Das Rückkehrrecht

12. Festung Israel

Das »demografische Problem«

Epilog

Das Grüne Haus

Anmerkungen

Bibliografie

Anhang

Zeittafel

Historisches Bildmaterial

Karten und Tabellen

Register

Dank

Über den Autor

Grußwort zur deutschen Ausgabe 2019

Der Judenstaat würde eine Assoziation mit der arabischen Föderation eingehen, so daß die Araber Palästinas, auch wenn sie im Lande selbst eine Minderheit wären, keinen Minderheitsstatus hätten.

David Ben-Gurion 1937 zu Mussa Alami

Weizmann und die anderen geben immer wieder Erklärungen des guten Willens gegenüber den Arabern ab – doch wo ist dieser gute Willen? Wollt ihr uns mit schönen Erklärungen betrügen?

Mussa Alami beim Gespräch mit David-Ben Gurion

Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seitdem mein Buch »Die ethnische Säuberung Palästinas« in fünfzehn Sprachen erschienen ist, darunter auch auf Deutsch. Bei den palästinensischen Lesern und gleichermaßen bei denen, die sich für Israel und Palästina interessieren und die Bemühungen um Frieden und Versöhnung unterstützen, ist das Buch mit Interesse aufgenommen worden. Viele meiner palästinensischen Leser empfanden es offensichtlich so, dass das Buch ihrer persönlichen und kollektiven Geschichte während der Nakba und danach gerecht wird. Bei israelischen Lesern und Unterstützern Israels überall auf der Welt rief das Buch massive Ablehnung und scharfe Kritik hervor. Tatsächlich ist es nicht nur kein neutrales sondern gleichzeitig auch ein historisch-wissenschaftliches Werk, das von einem Israeli geschrieben wurde, der eine moralische Verpflichtung empfindet, der Welt aus einer tiefen Überzeugung heraus zu erzählen, was dem palästinensischen Volk geschehen ist, dass die Leugnung der Nakba einer der entscheidenden Gründe ist für den Misserfolg der Friedensbemühungen in Israel und Palästina.

Die Absicht des Buches ist es in der Tat, die Erfahrungen von 1948 mit einem breiten Publikum zu teilen und zu versuchen, so viele Leser wie möglich zu überzeugen, dass das, was in diesem Jahr geschah, eine ethnische Säuberung war und von daher ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das immer noch verschwiegen wird und bis heute andauert. Besonders wichtig ist das Buch für Deutschland. Die Geschichte meiner Familie war einer der Hauptgründe für das Vorhaben, die Geschichte der Nakba so vielen Menschen wie möglich zu erzählen, insbesondere einem deutschen Publikum. Meine Eltern waren deutsche Juden, »Jekkes«, wie man sie in Israel nennt, die als Folge der Machtergreifung Adolf Hitlers nach Palästina kamen. Ihre Lebensgeschichte und das, was mit ihren Familienangehörigen geschah, ist einer der Hauptgründe für die tiefgehende Verpflichtung, die ich empfinde, die Geschichte der Nakba auch deutschen Lesern zu vermitteln.

Aber auch jenseits meiner persönlichen Geschichte fühle ich, dass die Geschichte der Nakba auf Deutsch eine besondere Bedeutung hat. Wie schon der namhafte palästinensische Intellektuelle Edward Said sagte, sind die Palästinenser »die Opfer der Opfer«. Deshalb gibt es eine besondere deutsche Verantwortung für das, was die zionistische Bewegung und später der Staat Israel den Palästinensern angetan haben.

Man kann aber keine Verantwortung übernehmen, ohne die Schwere des Unglücks im Einzelnen zu kennen, das dem palästinensischen Volk widerfahren ist, und das Ausmaß des Verbrechens zu erkennen, dass Israel an ihm begangen hat. Viele meiner Leser schrieben mir, dass sie das Buch des Öfteren zur Seite legen mussten, weil die Beschreibung der Zerstörung eines malerischen Dorfes, der Tötung von Säuglingen und Vertreibung von ganzen Familien unerträglich war.

Es war meine Absicht, auch durch den von mir gewählten Schreibstil zu verdeutlichen, dass die ethnischen Säuberungen von 1948 und vergleichbare israelische Aktionen bis heute das Ergebnis der siedlerkolonialistischen Ideologie ist, die in der indigenen Bevölkerung keine gleichwertigen Menschen sieht. Die Dehumanisierung der Palästinenser ist ein wichtiger Bestandteil der zionistischen Ideologie (Nicht von Anfang an, sondern erst ab dem Augenblick, an dem die zionistischen Führer Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts beschlossen, dass der einzige Weg sich des europäischen Antisemitismus zu erwehren, die Kolonisation Palästinas sei). Der einzige Weg, die Kolonisierung zu vollenden, so wie es in Nordamerika geschah, in Australien und Süd-Afrika, war, sich der ursprünglichen Bevölkerung zu entledigen.

Ich habe versucht, den menschlichen Blick auf die palästinensischen Opfer der ethnischen Säuberung zu lenken, nicht nur durch die Beschreibung der Vertreibung, zuweilen auch der Massaker und der Zerstörung der Häuser, sondern auch durch die Beschreibung der Versuche Israels, die historische Erinnerung eines ganzen Volkes auszulöschen.

In gewissem Sinne ist es eine Anklageschrift, aber in erster Linie der Versuch zu erklären. Man kann und muss dieses schwierige Kapitel, in dem wir immer noch leben, erklären, um es abschließen zu können. Es ist wichtig für alle, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, aber auch für alle palästinensischen Flüchtlinge, die 1948 und danach vertrieben wurden, und deren Rückkehrrecht im Völkerrecht verankert ist. Die erforderliche Wiedergutmachung kann nicht darin bestehen, irgendjemanden vor Gericht zu stellen, sondern die Besatzung, die Enteignung und die Unterdrückung von Millionen Palästinensern, die schon seit mehr als siebzig Jahren andauert, endlich zu beenden.

Wenn es uns gelänge, im historischen Palästina einen demokratischen Staat für alle zu gründen, dem auch die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge willkommen wäre, könnten wir nicht nur für das Ende des Konflikts sorgen, sondern gleichermaßen für das Ende vieler anderer Konflikte im Nahen Osten. Und vor allem könnten wir sagen, dass die letzten Opfer der Shoa, die Opfer der Opfer, endlich auch die historische Gerechtigkeit erfahren haben, die uns allen ermöglichen wird weiterzukämpfen für eine gerechtere und anständigere Welt.

Vorwort

Das Rote Haus

Wir betrauern nicht den Abschied

Wir haben keine Zeit für Tränen

Wir begreifen nicht den Moment des Abschieds

Aber es ist der Abschied

Und uns bleiben nur die Tränen

Muhammad Ali Taha (1988),Flüchtling aus Saffuriyya

»Ich bin für Zwangsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches.«

David Ben Gurion an die Exekutiveder Jewish Agency, Juni 19381

Das »Rote Haus«, ein typischer Bau aus den Gründerjahren Tel Avivs, war der ganze Stolz der jüdischen Bauarbeiter und Handwerker, die es in den 1920er Jahren als Hauptsitz des örtlichen Arbeiterverbandes errichteten. Diese Funktion behielt es bis Ende 1947, als die Hagana, die größte zionistische Untergrundmiliz in Palästina, es zu ihrem Hauptquartier machte. Es stand in Küstennähe an der Yarkon Street im Norden Tel Avivs und bildete eine schöne Ergänzung für die erste »hebräische« Stadt am Mittelmeer, die »Weiße Stadt«, wie Literaten und Intellektuelle sie liebevoll nannten. Denn im Unterschied zu heute tauchte damals das makellose Weiß der Häuser die ganze Stadt noch in das opulente Licht, das so typisch war für mediterrane Hafenstädte dieser Region in jener Zeit. Die elegante Verbindung von Bauhausmotiven mit heimischer palästinensischer Architektur zu einer Mischung, die man im positivsten Sinne als levantinisch bezeichnete, machte die Stadt zu einer wahren Augenweide. Und das galt auch für das »Rote Haus« mit seinen schlichten kubischen Formen und den Rundbögen, die den Eingang rahmten und die Balkons in den beiden Obergeschossen trugen. Zu seinem Namen kam das Haus entweder, weil die Verbindung zur Arbeiterbewegung das Attribut »rot« nahelegte oder weil es bei Sonnenuntergang eine rötliche Färbung annahm.2 Die erste Erklärung war passender, da das Gebäude auch später noch mit der zionistischen Sozialismusvariante assoziiert wurde, als die israelische Kibbuzbewegung in den 1970er Jahren hier ihren Hauptsitz hatte. Häuser wie dieses waren bedeutende historische Denkmäler der Mandatszeit und veranlassten die UNESCO 2003, Tel Aviv in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen.

Das Rote Haus existiert heute nicht mehr: Das architektonische Relikt fiel dem Bauboom zum Opfer und wurde abgerissen, um Platz für ein Parkhaus neben dem neuen Sheraton Hotel zu schaffen. So ist auch in dieser Straße keine Spur mehr von der »Weißen Stadt« zu finden, die sich nach und nach in das moderne Tel Aviv verwandelt hat: eine ausufernde, verpestete, extravagante Metropole.

In diesem Gebäude saßen am 10. März 1948, einem kalten Mittwochnachmittag, elf Männer zusammen – altgediente zionistische Führer und junge jüdische Offiziere – und legten letzte Hand an einen Plan für die ethnische Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes vorzubereiten.3 Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor: groß angelegte Einschüchterungen; Belagerung und Beschuss von Dörfern und Wohngebieten; Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut; Vertreibung; Abriss und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen dieses Masterplans. Er trug den Codenamen Plan D (Dalet in Hebräisch) und war die vierte und endgültige Version vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung vorsahen. Die ersten drei Pläne hatten nur vage umrissen, wie die zionistische Führung mit der Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land, das die jüdische Nationalbewegung für sich haben wollte, umzugehen gedachte. Diese vierte und letzte Blaupause sprach es klar und deutlich aus: Die Palästinenser mussten raus.4 Als einer der ersten Historiker erkannte Simcha Flapan die Bedeutung dieses Plans; er schrieb: »Das militärische Vorgehen gegen die Araber einschließlich der ›Eroberung und Zerstörung ländlicher Gebiete‹ war Teil des … ›Plans Dalet‹ der Hagana.«5 Ziel des Plans war tatsächlich die Zerstörung ländlicher wie auch städtischer Gebiete Palästinas.

Wie die ersten Kapitel dieses Buches zu zeigen versuchen, war dieser Plan einerseits das zwangsläufige Ergebnis der ideologischen zionistischen Bestrebung, in Palästina eine ausschließlich jüdische Bevölkerung zu haben, und andererseits eine Reaktion auf Entwicklungen vor Ort, nachdem die britische Regierung beschlossen hatte, das Mandat zu beenden. Zusammenstöße mit palästinensischen Milizen boten einen perfekten Kontext und Vorwand, die ideologische Vision eines ethnisch gesäuberten Palästina umzusetzen. Die zionistische Politik zielte zunächst auf Vergeltungsschläge für palästinensische Angriffe im Februar 1947 und mündete im März 1948 in eine Initiative, das ganze Land ethnisch zu säubern.6

Nachdem die Entscheidung gefallen war, dauerte es sechs Monate, den Befehl auszuführen. Als es vorbei war, waren mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas, annähernd 800000 Menschen, entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Stadtteile entvölkert. Der am 10. März 1948 beschlossene Plan und vor allem seine systematische Umsetzung in den folgenden Monaten war eindeutig ein Fall ethnischer Säuberung, die nach heutigem Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt.

Nach dem Holocaust ist es fast unmöglich geworden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vertuschen. Unsere moderne, von Kommunikation gestützte Welt lässt es besonders seit dem Aufkommen elektronischer Medien nicht mehr zu, von Menschen verschuldete Katastrophen vor der Öffentlichkeit zu verbergen oder zu leugnen. Und dennoch ist ein solches Verbrechen fast vollständig aus dem weltweiten öffentlichen Gedächtnis gelöscht worden: nämlich die Vertreibung der Palästinenser durch Israel 1948. Dieses höchst prägende Ereignis in der modernen Geschichte des Landes Palästina wurde seit damals systematisch geleugnet und ist bis heute nicht als historische Tatsache, geschweige denn als ein Verbrechen anerkannt, dem man sich politisch wie moralisch zu stellen hat.

Ethnische Säuberung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Menschen, die es begehen, gelten heute als Verbrecher, die es vor spezielle Tribunale zu bringen gilt. Es mag schwer zu entscheiden sein, wie man diejenigen, die 1948 in Palästina die ethnischen Säuberungen in die Wege leiteten und durchführten, bezeichnen soll oder wie juristisch mit ihnen zu verfahren sei. Aber man kann durchaus ihre Verbrechen rekonstruieren und zu einer zutreffenderen geschichtlichen Darstellung als bisher und auch zu einer moralischen Einstellung von größerer Integrität gelangen.

Wir kennen die Namen derer, die in jenem Raum im obersten Stock des Roten Hauses saßen, umgeben von marxistischen Postern mit Parolen wie »Waffenbrüder« und »Die stählerne Faust« und darauf abgebildeten »neuen« – muskulösen, gesunden, sonnengebräunten – Juden, die hinter Verteidigungsstellungen ihre Gewehre im »tapferen Kampf« gegen »feindliche arabische Invasoren« richteten. Wir kennen auch die Namen der Offiziere, die die Befehle an Ort und Stelle ausführten. Alle sind bekannte Persönlichkeiten im Pantheon israelischer Helden.7 Vor nicht allzu langer Zeit lebten viele von ihnen noch und spielten eine wichtige Rolle in Israels Politik und Gesellschaft; mittlerweile sind nur noch sehr wenige von ihnen unter uns.

Palästinensern und allen, die sich weigerten, die zionistische Darstellung zu übernehmen, war schon lange, bevor dieses Buch geschrieben wurde, klar, dass diese Leute Verbrechen begangen hatten, aber der Justiz erfolgreich entgangen waren und wahrscheinlich nie für ihre Taten vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen würden. Abgesehen von dem erlittenen Trauma war es für Palästinenser zutiefst frustrierend, dass das verbrecherische Tun, für das diese Männer verantwortlich waren, seit 1948 so gründlich geleugnet und das Leid der Palästinenser so vollständig ignoriert wurde.

Vor etwa dreißig Jahren begannen die Opfer der ethnischen Säuberung das historische Bild, das die offizielle israelische Darstellung von der Zeit von 1948 mit allen Mitteln vertuscht oder verdreht hatte, wieder zu rekonstruieren. Das Märchen, das die israelische Geschichtsschreibung erfunden hatte, sprach von massivem »freiwilligem Transfer« Hunderttausender Palästinenser, die sich entschlossen hätten, vorübergehend ihre Häuser und Dörfer zu verlassen, um den vordringenden arabischen Truppen Platz zu machen, die den jungen jüdischen Staat vernichten wollten. In den 1970er Jahren sammelten palästinensische Historiker, namentlich Walid Khalidi, authentische Erinnerungen und Dokumente über das, was ihrem Volk zugestoßen war, und konnten so einen beträchtlichen Teil des Bildes wiederherstellen, das Israel auszulöschen versucht hatte. Sehr schnell wurden sie jedoch übertönt von Publikationen wie Dan Kurzmans Genesis 1948, das 1970 erschien und 1992 neu aufgelegt wurde (dieses Mal mit einer Einleitung von einem Mann, der an der Ausführung der ethnischen Säuberung Palästinas beteiligt war, Yitzhak Rabin, zu dieser Zeit Ministerpräsident Israels). Es gab jedoch auch manche, die die palästinensischen Bemühungen unterstützten. So erhärtete Michael Palumbo in seinem Buch The Palestinian Catastrophe (1987) die palästinensische Version der Ereignisse von 1948 anhand von UN-Dokumenten und Interviews mit palästinensischen Flüchtlingen und Exilanten, deren Erinnerungen an das, was sie während der Nakba durchgemacht hatten, noch erschreckend lebendig war.8

Im Ringen um die Erinnerung in Palästina hätte es zu einem politischen Durchbruch kommen können, als in den 1980er Jahren die »neue Geschichte« in Israel aufkam. Eine kleine Gruppe israelischer Historiker versuchte damals die zionistische Darstellung des Krieges von 1948 zu revidieren.9 Ich war einer von ihnen. Aber wir, die neuen Historiker, leisteten nie einen signifikanten Beitrag zum Kampf gegen die Leugnung der Nakba, da wir die Frage der ethnischen Säuberung umgingen und uns auf Details konzentrierten, wie es für diplomatische Historiker typisch ist. Dennoch gelang es den revisionistischen israelischen Historikern – in erster Linie anhand von israelischen Militärarchiven – zu zeigen, wie falsch und absurd die israelische Behauptung war, die Palästinenser hätten das Land »aus freien Stücken« verlassen. Sie konnten viele Fälle massiver Vertreibungen aus Dörfern und Städten nachweisen und enthüllen, dass die jüdischen Truppen eine beträchtliche Zahl von Gräueltaten bis hin zu Massakern begangen hatten.

Eine der bekanntesten Persönlichkeiten, die über dieses Thema schrieb, war der israelische Historiker Benny Morris.10 Da er sich ausschließlich auf Dokumente aus israelischen Militärarchiven stützte, gelangte Morris zu einem sehr einseitigen Bild des Geschehens vor Ort. Manchen seiner israelischen Leser genügte es jedoch, um zu erkennen, dass die »freiwillige Flucht« der Palästinenser ein Mythos war und das israelische Selbstbild, 1948 einen »moralischen« Krieg gegen eine »primitive« und feindselige arabische Welt geführt zu haben, voller Fehler und möglicherweise eine komplette Fälschung war.

Morris’ Bild war einseitig, weil er die israelischen Militärberichte, die er in den Archiven fand, für bare Münze nahm. So konnte er von Juden begangene Gräueltaten ignorieren, wie das Vergiften der Wasserversorgung von Akko (Acre) mit Typhus, zahlreiche Fälle von Vergewaltigung und Dutzende Massaker. Außerdem beharrte er – zu Unrecht – darauf, dass es vor dem 15. Mai 1948 keine Zwangsräumungen gegeben habe.11 Palästinensische Quellen belegen eindeutig, dass es den jüdischen Truppen schon Monate vor dem Einmarsch arabischer Truppen in Palästina, während die Briten noch für Recht und Ordnung im Land zuständig waren – nämlich vor dem 15. Mai –, gelungen war, nahezu eine Viertelmillion Palästinenser zwangsweise zu vertreiben.12 Hätten Morris und andere Historiker auch arabische Quellen verwendet oder mündlich überlieferte Geschichte hinzugezogen, wären sie vielleicht besser in der Lage gewesen, die systematische Planung zu erkennen, die hinter der Vertreibung der Palästinenser 1948 stand, und eine wahrheitsgetreuere Darstellung der ungeheuren Verbrechen zu geben, die die israelischen Soldaten begangen haben.

Damals wie heute besteht eine historische und politische Notwendigkeit, über solche Darstellungen, wie sie bei Morris zu finden sind, hinauszugehen, und zwar nicht nur, um das Bild (um die andere Hälfte) zu vervollständigen, sondern auch – was weitaus wichtiger ist –, weil es für uns keinen anderen Weg gibt, die Wurzeln des gegenwärtigen israelisch-palästinensischen Konflikts umfassend zu verstehen. Vor allem aber besteht selbstverständlich ein moralischer Imperativ, den Kampf gegen die Leugnung dieser Verbrechen weiterzuführen. Diese Bestrebungen wurden bereits von anderen begonnen. Das bedeutendste Werk – was angesichts seiner vorherigen beträchtlichen Beiträge zum Kampf gegen die Leugnung durchaus zu erwarten war – ist Walid Khalidis bahnbrechendes Buch All That Remains. Dieser Almanach der zerstörten Dörfer ist nach wie vor unverzichtbar für jeden, der die ungeheuren Ausmaße der Katastrophe von 1948 begreifen möchte.13

Eigentlich hätte die bereits aufgedeckte Geschichte dazu führen müssen, dass man sich beunruhigende Fragen stellt. Doch die Darstellung der »neuen Geschichte« und die jüngeren Beiträge palästinensischer Geschichtsforschung drangen nicht in den öffentlichen Bereich moralischen Bewusstseins und Handelns vor. In diesem Buch möchte ich sowohl die Mechanismen der ethnischen Säuberung von 1948 als auch das kognitive System untersuchen, das es der Welt und den Tätern ermöglichte, die von der zionistischen Bewegung 1948 am palästinensischen Volk begangenen Verbrechen zu vergessen beziehungsweise zu leugnen.

Mit anderen Worten: Ich möchte das Paradigma ethnischer Säuberung etablieren und anstelle des Kriegsparadigmas zur Basis der wissenschaftlichen Forschung und öffentlichen Debatte über die Ereignisse von 1948 machen. Für mich steht außer Zweifel, dass das bisherige Fehlen des Paradigmas ethnischer Säuberung mit ein Grund ist, weshalb die Katastrophe so lange geleugnet werden konnte. Als die zionistische Bewegung ihren Nationalstaat gründete, war es keineswegs so, dass sie einen Krieg führte, der »tragischerweise, aber unvermeidbar« zur Vertreibung eines »Teils« der heimischen Bevölkerung führte; vielmehr war es umgekehrt: Hauptziel war die ethnische Säuberung ganz Palästinas, das die Bewegung für ihren neuen Staat haben wollte. Einige Wochen, nachdem die ethnischen Säuberungsaktionen begonnen hatten, schickten die benachbarten arabischen Staaten eine kleine Armee – klein, gemessen an ihrer gesamten militärischen Stärke – und versuchten vergeblich, die ethnische Säuberung zu verhindern. Bis sie im Herbst 1948 erfolgreich abgeschlossen war, brachte der Krieg mit den regulären arabischen Truppen die ethnische Säuberung nicht zum Stillstand.

Manchen mag diese Herangehensweise – das Paradigma ethnischer Säuberung a priori als Basis für die Darstellung der Ereignisse von 1948 zu nehmen – vom Ansatz her als Anklage erscheinen. In mancherlei Hinsicht ist es tatsächlich mein eigenes J’accuse! gegen die Politiker, die die ethnische Säuberung planten, und gegen die Generäle, die sie durchführten. Aber wenn ich ihre Namen nenne, so tue ich es nicht, weil ich sie posthum vor Gericht gestellt sehen möchte, sondern um Tätern wie Opfern ein Gesicht zu verleihen: Ich möchte verhindern, dass die Verbrechen, die Israel begangen hat, auf so schwer fassbare Faktoren geschoben werden wie »die Umstände«, »die Armee« oder, wie Morris sagt, »à la guerre comme à la guerre« und ähnlich vage Verweise, die souveräne Staaten aus der Verantwortung entlassen und Individuen straflos davonkommen lassen. Ich klage an, aber ich bin auch Teil der Gesellschaft, die in diesem Buch verurteilt wird. Ich fühle mich sowohl verantwortlich für als auch beteiligt an der Geschichte und bin ebenso wie andere in meiner Gesellschaft überzeugt – wie der Schluss dieses Buches zeigt –, dass eine derart schmerzhafte Reise in die Vergangenheit der einzige Weg nach vorn ist, wenn wir eine bessere Zukunft für uns alle, Palästinenser wie Israelis, schaffen wollen. Darum geht es in diesem Buch.

Soviel ich weiß, hat bisher noch niemand einen solchen Ansatz versucht. Die beiden offiziellen historischen Darstellungen, die um das Geschehen 1948 in Palästina konkurrieren, ignorieren beide den Begriff der ethnischen Säuberung. Die Version der Zionisten/Israelis behauptet, die lokale Bevölkerung sei »freiwillig« gegangen, und die Palästinenser sprechen von der »Katastrophe«, der Nakba, die sie ereilt habe, was in gewisser Weise auch ein ausweichender Begriff ist, da er sich mehr auf das Unglück an sich als darauf bezieht, wer oder was es verursacht hat. Der Begriff Nakba wurde aus verständlichen Gründen in dem Versuch gewählt, dem moralischen Gewicht des Holocaust an den Juden (Shoa) etwas entgegenzusetzen, aber da er die Täter ausspart, mag er in gewisser Weise dazu beigetragen haben, dass die Welt die ethnische Säuberung Palästinas 1948 und danach fortwährend leugnete.

Dieses Buch beginnt mit einer Definition ethnischer Säuberung, die, wie ich hoffe, transparent genug ist, um für alle annehmbar zu sein, eine Definition, die als Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Tätern gedient hat und dient, die solche Verbrechen in der Vergangenheit und in unserer Zeit begangen haben. An die Stelle des sonst so komplexen und (für die meisten von uns) unverständlichen juristischen Diskurses tritt hier eine überraschend klare Sprache ohne jeden Fachjargon. Diese Schlichtheit mindert weder die Abscheulichkeit der Tat noch täuscht sie über die Schwere des Verbrechens hinweg. Im Gegenteil: Das Ergebnis ist eine klare Beschreibung einer abscheulichen Politik, über die stillschweigend hinwegzusehen die internationale Gemeinschaft sich heutzutage weigert.

Die allgemeine Definition, worin ethnische Säuberung besteht, trifft fast wörtlich auf den Fall Palästina zu. So gesehen, stellen sich die Ereignisse von 1948 als unkompliziertes, aber deshalb durchaus nicht simplifiziertes oder zweitrangiges Kapitel in der Vertreibungsgeschichte Palästinas dar. Der Blick durch das Prismenglas der ethnischen Säuberung ermöglicht es ohne weiteres, den Deckmantel der Komplexität zu durchdringen, den israelische Diplomaten fast instinktiv ausbreiten und hinter dem israelische Akademiker sich regelmäßig verstecken, wenn sie Kritik von außen am Zionismus oder am jüdischen Staat wegen seiner Politik und seines Verhaltens abwehren. In meinem Land sagen sie: »Ausländer begreifen diese komplizierte Geschichte nicht und können sie auch nicht begreifen«, deshalb brauche man gar nicht erst zu versuchen, sie ihnen zu erklären. Wir sollten dem Ausland auch nicht erlauben, sich an Lösungsversuchen des Konflikts zu beteiligen – es sei denn, es akzeptiere den israelischen Standpunkt. Alles, was das Ausland tun könne, sei (wie die jeweiligen israelischen Regierungen der Welt seit Jahren erklärt haben), »uns« – die Israelis, als Repräsentanten der »zivilisierten« und »rationalen« Seite in diesem Konflikt – eine gerechte Lösung für »uns selbst« suchen zu lassen und für die andere Seite, die Palästinenser, die schließlich der Inbegriff der »unzivilisierten« und »emotionalen« arabischen Welt seien, zu der Palästina gehört. In dem Moment, als die Vereinigten Staaten bereit waren, diese sich selbst zurechtgebogene Herangehensweise zu übernehmen und die ihr zugrunde liegende Arroganz zu unterstützen, hatten wir einen »Friedensprozess«, der nirgendwohin führte und führen konnte, weil er den Kern des Problems völlig außer Acht ließ.

Aber die Geschichte der Ereignisse von 1948 ist durchaus nicht kompliziert. Daher richtet sich dieses Buch gleichermaßen an Leser, die sich zum ersten Mal mit diesem Thema befassen, wie an solche, die sich seit vielen Jahren und aus unterschiedlichen Gründen mit der Palästinafrage und dem Versuch, uns einer Lösung näher zu bringen, beschäftigt haben. Es ist die einfache, aber entsetzliche Geschichte der ethnischen Säuberung Palästinas, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das Israel leugnen und die Welt vergessen machen wollte. Es ist unsere Pflicht, es aus der Vergessenheit zu holen, und zwar nicht nur als längst überfällige historiographische Rekonstruktion oder professionelle Aufgabe; meiner Ansicht nach ist es eine moralische Entscheidung, der allererste Schritt, den wir tun müssen, wenn wir wollen, dass Versöhnung jemals eine Chance haben und der Frieden in den zerrissenen Ländern Palästina und Israel Fuß fassen sollen.

KAPITEL 1

Eine »angebliche« ethnische Säuberung?

Nach Auffassung des Autors ist ethnische Säuberung eine klar umrissene Politik einer bestimmten Personengruppe, eine andere Gruppe aufgrund religiöser, ethnischer oder nationaler Herkunft systematisch aus einem bestimmten Territorium zu eliminieren. Eine solche Politik umfasst Gewalt und geht sehr oft mit Militäroperationen einher. Sie ist mit allen möglichen Mitteln von Diskriminierung bis zur Vernichtung zu erreichen und bringt Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts mit sich … Die meisten Methoden ethnischer Säuberung stellen schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen von 1949 und die Zusatzprotokolle von 1977 dar.

Drazen Petrovic, »Ethnic Cleansing – An Attemptat Methodology«, European Journal of International Law,5/3, 1994, S. 342–360.

Definitionen ethnischer Säuberung

Ethnische Säuberung ist heute ein klar definierter Begriff. Assoziierte man den Ausdruck »ethnische Säuberung« anfangs fast ausschließlich mit den Ereignissen im ehemaligen Jugoslawien, so ist er inzwischen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert, das nach internationalem Recht strafbar ist. Die besondere Weise, in der manche serbischen Generale und Politiker von »ethnischer Säuberung« sprachen, erinnerte Wissenschaftler daran, dass sie diesen Ausdruck schon vorher gehört hatten. Im Zweiten Weltkrieg benutzten ihn die Nazis und ihre Verbündeten wie später die kroatischen Milizen in Jugoslawien. Die Wurzeln kollektiver Vertreibung reichen natürlich wesentlich weiter zurück: Von biblischer Zeit bis zur Blütezeit des Kolonialismus benutzten ausländische Invasoren regelmäßig diesen (oder einen entsprechenden) Begriff und praktizierten dieses Konzept gegen die heimische Bevölkerung.

Die Hutchinson Encyclopedia definiert ethnische Säuberung als gewaltsame Vertreibung, um die ethnisch gemischte Bevölkerung einer bestimmten Region oder eines Territoriums zu homogenisieren. Zweck der Vertreibung ist es, mit allen, auch gewaltlosen Mitteln, die dem Vertreibenden zu Gebote stehen, so viele Einwohner wie möglich zu evakuieren, wie es mit den Muslimen in Kroatien geschah, die nach der Dayton-Vereinbarung vom November 1995 vertrieben wurden.

Diese Definition wird auch vom US-Außenministerium akzeptiert. Seine Experten fügen hinzu, dass es elementarer Bestandteil der ethnischen Säuberung ist, die Geschichte einer Region mit allen verfügbaren Mitteln auszulöschen. Die gängigste Methode ist die Entvölkerung in »einer Atmosphäre, die Vergeltungs- und Racheakte legitimiert«. Das Endergebnis solcher Akte ist die Schaffung eines Flüchtlingsproblems. Das US-Außenministerium befasste sich vor allem mit Vorgängen, die sich im Mai 1999 in der Stadt Peć im Westkosovo ereigneten. Peć wurde innerhalb von 24 Stunden entvölkert, ein Resultat, das nur mit vorheriger Planung und systematischer Durchführung zu erreichen war. Sporadisch kam es auch zu Massakern, die die Operation beschleunigen sollten. Was 1999 in Peć geschah, spielte sich fast auf die gleiche Weise 1948 in Hunderten palästinensischen Dörfern ab.1

Ähnliche Definitionen verwenden auch die Vereinten Nationen. Die UN diskutierte den Begriff eingehend 1993. Die UN-Menschenrechtskommission (seit 2006 UN-Menschenrechtsrat, UNHRC) verknüpft das Bestreben eines Staates oder eines Regimes, einem gemischten Gebiet eine ethnische Herrschaft aufzuzwingen (wie die Schaffung Großserbiens), mit dem Einsatz von Vertreibung und anderen Zwangsmaßnahmen. Der von der Menschenrechtskommission vorgelegte Bericht zählt zu den Akten ethnischer Säuberungen auch die »Trennung von Männern und Frauen, Inhaftierung von Männern, Sprengung von Häusern« und anschließende Besiedlung der verbliebenen Häuser mit Angehörigen einer anderen ethnischen Gruppe. Wie der Bericht feststellte, hatten muslimische Milizen in bestimmten Orten im Kosovo Widerstand geleistet: Wo der Widerstand sich als hartnäckig erwies, kam es bei der Vertreibung zu Massakern.2

Der im Vorwort angeführte israelische Plan D von 1948 enthält ein Repertoire von Säuberungsmaßnahmen, die genau den Mitteln entsprechen, wie sie die UNO in ihrer Definition einer ethnischen Säuberung schildert, und die den Hintergrund für die Massaker bildeten, mit denen die massive Vertreibung einherging.

In dieser Weise ist der Begriff der ethnischen Säuberung auch unter Fachleuten und in der akademischen Welt gebräuchlich. Drazen Petrovic veröffentlichte eine der umfassendsten Studien über den Begriff der ethnischen Säuberung. Er stellt die ethnische Säuberung in einen Zusammenhang mit Nationalismus, der Schaffung neuer Nationalstaaten und nationalen Auseinandersetzungen. Unter diesem Aspekt zeigt er die enge Verbindung auf, die bei der Verübung dieses Verbrechens zwischen Politikern und Armee besteht, und ordnet den Stellenwert ein, den Massaker darin einnehmen. Demnach delegiert die politische Führung die Durchführung der ethnischen Säuberung an die militärische Ebene, ohne ihr unbedingt systematische Pläne oder explizite Anweisungen zu geben, lässt aber keinerlei Zweifel am Gesamtziel.3

Ab einem gewissen Punkt hört die politische Führung also auf, eine aktive Rolle zu spielen – auch das spiegelt exakt wider, was in Palästina geschah –, sobald die Vertreibungsmaschinerie in Gang gekommen ist, wie ein gewaltiger Bulldozer durch ihr Trägheitsmoment weiterrollt und erst zum Stillstand kommt, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat. Die Menschen, die sie unter sich zerquetscht und tötet, interessieren die Politiker, die diese Maschinerie in Gang gesetzt haben, nicht. Petrovic und andere lenken die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen Massakern im Rahmen eines Völkermords, wo sie von vorneherein geplant sind, und »ungeplanten« Massakern als direkter Folge von Hass und Rachegefühlen, wie sie vor dem Hintergrund einer allgemeinen Direktive von oben, eine ethnische Säuberung durchzuführen, geschürt werden.

Die oben angeführte Lexikondefinition deckt sich also offenbar mit dem wissenschaftlicheren Versuch, das Verbrechen der ethnischen Säuberung begrifflich zu fassen. Nach beiden Auffassungen ist ethnische Säuberung ein Bestreben, ein ethnisch gemischtes Land zu homogenisieren, indem man eine bestimmte Menschengruppe vertreibt, zu Flüchtlingen macht und die Häuser zerstört, aus denen sie vertrieben wurden. Es mag einen Masterplan geben, aber die meisten Truppen, die an einer ethnischen Säuberung beteiligt sind, brauchen keine ausdrücklichen Befehle: Sie wissen von Anfang an, was von ihnen erwartet wird. Die Operationen gehen mit Massakern einher, aber die Massaker, zu denen es kommt, sind nicht Teil eines geplanten Völkermordes: Sie sind eine entscheidende Taktik, um die Flucht der zur Vertreibung vorgesehenen Bevölkerung zu beschleunigen. Später werden die Vertriebenen aus der offiziellen Geschichtsschreibung verbannt und aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. Vom Planungsstadium bis zur endgültigen Ausführung stellt das, was 1948 in Palästina geschah, nach diesen Definitionen einen eindeutigen Fall ethnischer Säuberung dar.

Populärdefinitionen

Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia ist ein leicht zugängliches Reservoir an Wissen und Informationen. Da jeder sich einloggen und Definitionen hinzufügen oder bestehende ändern kann, spiegelt sie – zwar keinesfalls empirisch, aber doch intuitiv – eine weit verbreitete öffentliche Sicht einer bestimmten Vorstellung oder eines Begriffs wider. Wie die oben angeführten Fach- und Lexikondefinitionen charakterisiert auch Wikipedia ethnische Säuberung als massive Vertreibung und Verbrechen:

Auf der allgemeinsten Ebene kann ethnische Säuberung verstanden werden als zwangsweise Entfernung einer »unerwünschten« Bevölkerung aus einem bestimmten Territorium aufgrund religiöser oder ethnischer Diskriminierung, politischer, strategischer oder ideologischer Erwägungen oder einer Kombination aus beidem.4

Der Beitrag führt verschiedene Fälle ethnischer Säuberungen im 20. Jahrhundert an, von der Vertreibung der Bulgaren aus der Türkei 1913 bis zum israelischen Abzug jüdischer Siedler aus dem Gazastreifen 2005. Die Liste mag insofern merkwürdig erscheinen, als sie ethnische Säuberungen durch die Nazis in dieselbe Kategorie einordnet wie die Räumung eines Gebiets von eigenen Staatsangehörigen durch einen souveränen Staat, nachdem er sie zu illegalen Siedlern erklärt hatte. Möglich wird diese Klassifizierung durch die gewählte Vorgehensweise der Autoren – in diesem Fall jeder, der Zugang zu dieser Seite hat: Sie schicken ihrer Liste historischer Beispiele die Einschränkung voraus, dass manche Experten sie als »ethnische Säuberung« einstufen, was andere in einzelnen Fällen bestreiten, und machen sie somit zu »angeblichen« Fällen.

In dieser [nicht in der deutschen] Wikipedia-Liste steht auch die palästinensische Nakba von 1948. Es lässt sich allerdings nicht feststellen, ob die Autoren die Nakba für einen unzweideutigen Fall von ethnischer Säuberung halten wie die Beispiele im Nazideutschland oder im ehemaligen Jugoslawien oder für einen zweifelhafteren Fall etwa wie den der jüdischen Siedler, die Israel aus dem Gazastreifen entfernte. Als Maßstab für die Seriosität einer behaupteten ethnischen Säuberung akzeptieren diese und andere Quellen im Allgemeinen aber das Kriterium, ob es zu einer Anklage vor einem internationalen Gericht gekommen ist. Mit anderen Worten, wenn Täter zur Rechenschaft gezogen, das heißt von einer internationalen Gerichtsbarkeit verurteilt wurden, ist jede Zweideutigkeit beseitigt und das Verbrechen der ethnischen Säuberung gilt nicht mehr als »angeblich«. Denkt man jedoch genauer darüber nach, so müsste dieses Kriterium auch auf Fälle angewandt werden, die vor ein solches Tribunal gehört hätten, aber nie vor ein Gericht kamen. Das Ende ist damit zugegebenermaßen offener, aber bei manchen eindeutigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfordert es einen langen Kampf, bevor die Welt sie als historische Tatsachen anerkennt. Das mussten die Armenier beim Völkermord an ihnen erfahren: Das Osmanische Reich begann 1915, die armenische Bevölkerung systematisch zu dezimieren. Bis 1918 starben schätzungsweise eine Million Armenier, aber weder Einzelpersonen noch Personengruppen wurden je vor Gericht gestellt.

Ethnische Säuberung als Verbrechen

Ethnische Säuberung gilt nach internationalen Verträgen wie den Abkommen zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und unterliegt der völkerrechtlichen Adjudikation, ganz gleich, ob es sich um »angebliche« oder faktisch anerkannte Fälle handelt. Um die Täter und Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen, wurde im Fall des ehemaligen Jugoslawien ein eigener Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag und im Fall Ruandas ein Tribunal in Arusha, Tansania, eingerichtet. In anderen Fällen stufte man ethnische Säuberungen als Kriegsverbrechen ein, auch wenn kein rechtliches Verfahren eingeleitet wurde (das gilt z.B. für das Vorgehen der sudanesischen Regierung in Darfur).

Dieses Buch ist aus der tiefen Überzeugung entstanden, dass die ethnische Säuberung Palästinas in unserem Gedächtnis und Bewusstsein als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verankert und aus der Liste angeblicher Verbrechen gestrichen werden muss. Die Täter sind hier nicht unbekannt – sie gehören einer sehr spezifischen Gruppe an: den Helden des jüdischen Unabhängigkeitskrieges, deren Namen den meisten Lesern vertraut sein dürften. Die Liste beginnt mit dem unbestrittenen Führer der zionistischen Bewegung, David Ben Gurion, in dessen Privathaus die ersten und letzten Kapitel der Geschichte ethnischer Säuberungen diskutiert und festgelegt wurden. Ihm half eine kleine Gruppe von Leuten, die ich als »Berater« bezeichne, ein ad hoc gebildeter Zirkel, dessen einziger Zweck darin bestand, die Vertreibung der Palästinenser zu planen und auszuführen.5 In einem der seltenen Dokumente über die Zusammenkünfte der Beratergruppe wird sie als Beratendes Komitee – Haveadah Hamyeazet – bezeichnet. In einem anderen Dokument tauchen die elf Namen der Komiteemitglieder auf, sind aber alle vom Zensor geschwärzt (wie sich noch zeigen wird, ist es mir jedoch gelungen, alle Namen zu rekonstruieren).6

Diese Führungsriege entwickelte die Pläne für die ethnische Säuberung und beaufsichtigte ihre Durchführung, bis die Aufgabe erfüllt und die Hälfte der angestammten Bevölkerung Palästinas entwurzelt war. Ihr gehörten in erster Linie die höchsten Offiziere in der Armee des zukünftigen jüdischen Staates an wie die legendären Yigael Yadin und Moshe Dayan. Hinzu kamen Personen, die außerhalb Israels wenig bekannt, aber im lokalen Ethos fest verwurzelt sind wie Yigal Allon und Yitzhak Sadeh. Zu diesen Militärs gesellten sich die »Orientalisten«, wie wir sie heute nennen würden: Experten der arabischen Welt im Allgemeinen und der Palästinenser im Besonderen, weil sie entweder selbst aus arabischen Ländern stammten oder sich eingehend mit Studien des Nahen und Mittleren Ostens befasst hatten. Auf ihre Namen werden wir später noch stoßen.

Die Offiziere und Experten wurden unterstützt von regionalen Kommandeuren wie Moshe Kalman, der die Safad-Region »säuberte«, und Moshe Carmel, der den größten Teil der Bevölkerung Galiläas entwurzelte. Yitzhak Rabin operierte sowohl in Lydda (Lyyd oder Lod) und Ramla als auch im Großraum Jerusalem. Ihre Namen werden uns oft begegnen, allerdings sollte man sich darauf einstellen, sie nicht nur als israelische Kriegshelden zu sehen. Sie hatten zwar großen Anteil an der Gründung eines Staates für Juden und werden für viele ihrer Taten von ihrem eigenen Volk verehrt, weil sie es vor Angriffen von außen bewahren halfen, durch Krisenzeiten führten und ihm vor allem eine sichere Zuflucht vor religiöser Verfolgung in verschiedenen Teilen der Welt boten. Aber die Geschichte wird beurteilen, wie diese Leistungen letztlich zu Buche schlagen, wenn man sie gegen die Verbrechen aufwiegt, die sie gegen die heimische Bevölkerung Palästinas begangen haben. Zu diesen Regionalkommandeuren gehörte auch Shimon Avidan, der den Süden »säuberte« und von dem sein Kollege und Mitkämpfer Rehavam Zeevi viele Jahre später sagte: »Kommandeure wie Shimon Avidan, der Kommandeur der Givati-Brigade säuberte seine Front von zig Dörfern und Städten …«7 Er wurde unterstützt von Yitzhak Pundak, der der Zeitung Ha’aretz 2004 erklärte: »Es gab zweihundert Dörfer [an der Front] und sie sind verschwunden. Wir mussten sie zerstören, sonst hätten wir hier [im Süden Palästinas] Araber gehabt wie in Galiläa. Wir hätten eine weitere Million Palästinenser gehabt.«8

Außerdem gab es noch die Geheimdienstoffiziere vor Ort, die keineswegs nur Informationen über den »Feind« sammelten: Sie spielten nicht nur eine wesentliche Rolle bei den Säuberungen, sondern waren auch an einigen der schlimmsten Gräueltaten beteiligt, die mit der systematischen Vertreibung der Palästinenser einhergingen. Bei ihnen lag die endgültige Entscheidung, welche Dörfer zerstört und welche Einwohner exekutiert werden sollten.9 Nach den Erinnerungen überlebender Palästinenser waren sie diejenigen, die nach der Einnahme eines Dorfes oder Stadtviertels über das Schicksal der Bewohner entschieden, also über Inhaftierung oder Freiheit, Leben oder Tod. Die Aufsicht über ihre Operationen lag 1948 bei Issar Harel, der später erster Leiter der israelischen Geheimdienste Mossad und Shabak wurde. Das Bild dieses kleinen, gedrungenen Mannes ist vielen Israelis vertraut. Harel hatte 1948 den bescheidenen Rang eines Oberst inne, war aber dennoch der höchste Offizier, dem sämtliche Operationen unterstanden, die mit Verhören, schwarzen Listen und den übrigen Schikanen des palästinensischen Lebens unter israelischer Besatzung zu tun hatten.

Um es noch einmal zu sagen: Aus welchem Blickwinkel man es auch betrachtet – aus rechtlicher, wissenschaftlicher oder populärer Sicht –, ethnische Säuberung gilt heutzutage unumstritten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als ein Vorgehen, das mit Kriegsverbrechen einhergeht, und jene, denen zur Last gelegt wird, ethnische Säuberungen geplant und begangen zu haben, werden vor speziellen internationalen Tribunalen angeklagt. Allerdings sollte ich an dieser Stelle hinzufügen, dass wir rückblickend in Erwägung ziehen sollten, in diesem Fall eine Verjährungsregel anzuwenden – offen gesagt, um dem Frieden in Palästina eine Chance zu geben, müssten wir dies tun –, allerdings unter einer Bedingung: dass auch hier die einzige politische Lösung durchgesetzt wird, die sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von den Vereinten Nationen normalerweise als entscheidend für eine Aussöhnung angesehen wird, nämlich die bedingungslose Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat. Die USA unterstützten einmal einen solchen UN-Beschluss für Palästina vom 11. Dezember 1948 (Resolution 194) für kurze – sehr kurze – Zeit. Bis zum Frühjahr 1949 hatte in der amerikanischen Politik jedoch eine Umorientierung hin zu einer auffallend pro-israelischen Haltung stattgefunden, die Washingtons Vermittler zum Gegenteil ehrlicher Mittler machte, da sie die palästinensische Sicht im Allgemeinen weitgehend ignorierten und im Besonderen das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge missachteten.

Rekonstruktion einer ethnischen Säuberung

Ein Festhalten an der oben angeführten Definition ethnischer Säuberung enthebt uns der Notwendigkeit, tief schürfend auf die Ursprünge des Zionismus als ideologischer Ursache der ethnischen Säuberung einzugehen. Nicht, dass dieses Thema nicht wichtig wäre, aber es wurde bereits von einigen palästinensischen und israelischen Fachleuten wie Walid Khalidi, Nur Masalha, Gershon Shafir und Baruch Kimmerling eingehend behandelt.10 Obwohl ich mich auf die Hintergründe im unmittelbaren Vorfeld der Operationen beschränken möchte, dürfte es interessant sein, die wichtigsten Argumente dieser Wissenschaftler zu rekapitulieren.

Eine gute Einführung bietet Nur Masalhas Expulsion of the Palestinians,11 das deutlich zeigt, wie tief das Transferkonzept im zionistischen politischen Denken verankert war und ist. Für die Zionisten – vom Begründer der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, bis zu den führenden Köpfen des zionistischen Unternehmens in Palästina – war die Räumung des Landes eine berechtigte Option. Einer der liberalsten Denker der Bewegung, Leo Motzkin, schrieb 1917:

Nach unserer Vorstellung muss die Kolonisierung Palästinas in zwei Richtungen erfolgen: Jüdische Ansiedelung in Eretz Israel und Umsiedlung der Araber aus Eretz Israel in Gebiete außerhalb des Landes. Die Umsiedlung so vieler Araber mag zunächst wirtschaftlich unvertretbar erscheinen, ist aber dennoch machbar. Es erfordert nicht allzu viel Geld, ein palästinensisches Dorf auf anderem Land neu anzusiedeln.12

Die Tatsache, dass die Vertreiber im Zuge eines Kolonisierungsprojekts neu ins Land kamen, stellt den Fall Palästina in einen Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte ethnischer Säuberungen in Nord- und Südamerika, Afrika und Australien, wo weiße Siedler regelmäßig solche Verbrechen begingen. Dieser hochinteressante Aspekt des historischen Falles, den Israel darstellt, war in jüngster Zeit Thema mehrerer exzellenter Studien. Gershon Shafir und Baruch Kimmerling beleuchteten den Zusammenhang zwischen Zionismus und Kolonialismus, ein Nexus, der zunächst nicht zur Vertreibung, sondern zur Ausbeutung führte, aber sobald die Idee einer ausschließlich jüdischen Wirtschaft zu einem zentralen Bestandteil der Vision wurde, blieb kein Raum mehr für arabische Arbeiter und Bauern.13 Walid Khalidi und Samih Farsoun stellten die zentrale Bedeutung der Transferideologie in einen engeren Zusammenhang mit dem Ende der Mandatszeit und fragten, warum die Vereinten Nationen das Schicksal so vieler Palästinenser einer Bewegung anvertrauten, die deren Umsiedlung eindeutig in ihrer Ideologie vorsah.14

Mir geht es weniger darum, die ideologische Haltung der Beteiligten aufzudecken, als vielmehr darum, die systematische Planung zu beleuchten, mit der sie ein ethnisch gemischtes Gebiet in einen ethnisch reinen Raum verwandelten. Damit befassen sich die ersten Kapitel dieses Buches. Auf den ideologischen Zusammenhang komme ich gegen Ende des Buches zurück, wenn ich ihn als einzige adäquate Erklärung für Israels ethnische Säuberung von Palästinensern analysiere, die 1948 begann, sich aber mit einer Vielzahl von Mitteln bis heute fortsetzt.

Eine zweite, unangenehmere Aufgabe ist die Rekonstruktion der Methoden, die Israel zur Umsetzung seines Masterplans der Vertreibung und Zerstörung einsetzte, und die Prüfung, wie und in welchem Maße sie regelmäßig mit Akten ethnischer Säuberung einhergingen. Wie bereits erwähnt, habe ich den Eindruck, wenn wir nie von den Ereignissen im ehemaligen Jugoslawien gehört hätten und lediglich den Fall Palästina kennen würden, wäre der Gedanke verzeihlich, dass die US- und UN-Definitionen fast bis ins letzte Detail von der Nakba inspiriert wären.

Bevor wir uns der Geschichte der ethnischen Säuberung in Palästina zuwenden und die Folgen abzuschätzen versuchen, die sie bis heute hatte, sollten wir uns einen Moment Zeit nehmen, über Zahlenverhältnisse nachzudenken. Eine Dreiviertelmillion vertriebener Palästinenser mag als Zahl vergleichsweise »bescheiden« erscheinen, wenn man sie in den Kontext der Vertreibungen von Millionen Menschen stellt, die infolge des Zweiten Weltkriegs in Europa oder Anfang des 21. Jahrhunderts in Afrika stattgefunden haben. Aber manchmal lässt sich das Ausmaß einer Tragödie, die die Bevölkerung eines ganzen Landes betrifft, erst ansatzweise begreifen, wenn man die Zahlen relativiert und in Prozentanteilen denkt. Die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas wurde vertrieben, die Hälfte ihrer Dörfer und Städte zerstört, und nur sehr wenigen von ihnen gelang es jemals zurückzukehren.

Aber jenseits der Zahlen ist die tiefe Kluft zwischen Realität und Darstellung das wirklich Bestürzende am Fall Palästina. Es ist tatsächlich schwer zu verstehen und somit auch kaum zu erklären, wieso ein Verbrechen, das in unserer Zeit und an einem kritischen Punkt der Geschichte begangen wurde, der die Anwesenheit ausländischer Reporter und UN-Beobachter verlangt hätte, so vollständig ignoriert wurde. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass die ethnische Säuberung von 1948 nahezu vollständig aus dem kollektiven globalen Gedächtnis gelöscht und aus dem Bewusstsein der Welt getilgt wurde. Man stelle sich einmal vor, dass in irgendeinem Land, das man kennt, die Hälfte der gesamten Bevölkerung innerhalb eines Jahres zwangsweise vertrieben, die Hälfte der Dörfer und Städte ausradiert und dem Erdboden gleichgemacht würden. Man stelle sich einmal vor, diese Taten würden niemals Eingang in die Geschichtsbücher finden und sämtliche diplomatischen Bemühungen um eine Lösung der Konflikte, die in diesem Land ausbrächen, würden diese katastrophalen Ereignisse völlig außer Acht lassen, wenn nicht gar ignorieren. Ich habe vergebens in der uns bekannten Weltgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg nach einem solchen Fall und einem solchen Schicksal gesucht. Es gibt andere, frühere Fälle, die ähnlich verliefen: man denke an die ethnische Säuberung gegen Nichtungarn Ende des 19. Jahrhunderts, den Völkermord an den Armeniern und den Holocaust der Nazis an den Sinti und Roma in den 1940er Jahren. Ich hoffe, dass Palästina in Zukunft nicht mehr zu diesen Fällen gehört.

KAPITEL 2

Das Streben nach einem ausschließlich jüdischen Staat

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen lehnt nachdrücklich jede Politik und Ideologie ab, die darauf abzielt, ethnische Säuberung in irgendeiner Form zu fördern.

Resolution 47/80 vom 16. Dezember 1992

Die ideologische Motivation des Zionismus

Der Zionismus entstand Ende der 1880er Jahre in Mittel- und Osteuropa als nationale Erneuerungsbewegung, ausgelöst durch den wachsenden Druck auf Juden in diesen Regionen, sich vollständig zu assimilieren oder anhaltende Verfolgung zu riskieren (wie wir wissen, bot allerdings im Fall Nazi-Deutschlands auch die vollständige Assimilation keinen Schutz vor der Vernichtung). Anfang des 20. Jahrhunderts assoziierten die meisten Führer der zionistischen Bewegung diese nationale Erneuerung mit der Kolonisierung Palästinas. Andere, vor allem der Gründer der Bewegung, Theodor Herzl, waren weniger klar festgelegt, doch nach seinem Tod 1904 setzte sich die Orientierung auf Palästina als allgemeiner Konsens durch.

Generationen von Juden hatten Eretz Israel, wie Palästina in der jüdischen Religion heißt, im Laufe der Jahrhunderte als Ziel heiliger Pilgerfahrten verehrt, nie als zukünftigen säkularen Staat. Die jüdische Tradition und Religion gibt Juden die klare Anweisung, das Kommen des verheißenen Messias am »Ende der Zeit« abzuwarten, bevor sie als souveränes Volk in einer jüdischen Theokratie, also als gehorsame Diener Gottes, nach Eretz Israel zurückkehren können (aus diesem Grund sind heute diverse Richtungen ultraorthodoxer Juden entweder nicht- oder sogar antizionistisch eingestellt). Der Zionismus säkularisierte und nationalisierte also das Judentum. Um ihr Projekt zu verwirklichen, erhoben zionistische Denker Anspruch auf das biblische Territorium und erschufen, ja, erfanden es neu als Wiege ihrer jungen Nationalbewegung. Nach ihrer Ansicht war Palästina von »Fremden« bewohnt und musste wieder in Besitz genommen werden. »Fremde« waren demnach alle Nichtjuden, die seit der Römerzeit in Palästina lebten.1 Tatsächlich war Palästina für viele Zionisten nicht einmal ein »bewohntes«, sondern ein »leeres« Land, als sie 1882 hier eintrafen: Die einheimischen Palästinenser, die dort lebten, waren für sie weitgehend unsichtbar oder, wenn nicht, Teil der harten Natur, die es zu besiegen und zu beseitigen galt. Nichts, weder Steine noch Palästinenser, sollten der nationalen »Wiedererlangung« des Landes im Weg stehen, die die zionistische Bewegung anstrebte.2

Bis zur britischen Besetzung Palästinas 1918 war der Zionismus eine Mischung aus nationalistischer Ideologie und kolonialistischer Praxis. Aber seine Reichweite war begrenzt: Zionisten machten damals nur fünf Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes aus. Sie lebten in eigenen Siedlungen und beeinträchtigten die einheimische Bevölkerung nicht, die von ihnen keine sonderliche Notiz nahm. Die Möglichkeit, dass Juden in Zukunft das Land übernehmen und die heimische palästinensische Bevölkerung vertreiben könnten, die Historiker rückblickend in den Schriften der Gründungsväter des Zionismus so eindeutig ausgemacht haben, wurde manchen palästinensischen Führern bereits vor dem Ersten Weltkrieg klar, andere hatten weniger Interesse an der Bewegung.

Historische Belege zeigen, dass einige palästinensische Führer irgendwann zwischen 1905 und 1910 über den Zionismus als politische Bewegung diskutierten, die darauf abzielte, in Palästina Land, Vermögenswerte und Macht zu kaufen, auch wenn sie damals das destruktive Potenzial noch nicht vollständig erfassten. Viele Angehörige der lokalen Elite sahen den Zionismus als Teil der missionarischen und kolonialistischen Bestrebungen Europas – was er teils ja auch war, aber er besaß noch eine zusätzliche Triebkraft, die ihn für die heimische Bevölkerung gefährlich machte.3

Die zionistischen Führer diskutierten oder artikulierten dieses Potenzial zwar nicht oft, aber manche palästinensischen Notabeln und Intellektuellen müssen die drohende Gefahr wohl gespürt haben, denn sie versuchten, die osmanische Regierung in Istanbul zu bewegen, in Palästina, das bis 1918 unter türkischer Herrschaft stand, die jüdische Einwanderung und Ansiedlung einzuschränken, wenn nicht gar völlig zu verbieten.4

Der palästinensische Abgeordnete im osmanischen Parlament, Said al-Husayni, erklärte am 6. Mai 1911: »Die Juden beabsichtigen, in der Region einen Staat zu schaffen, der Palästina, Syrien und Irak umfassen soll.«5 Al-Husayni gehörte jedoch zu einer Familie und einer Gruppe örtlicher Notabeln, die bis in die 1930er Jahre gegen die zionistische Kolonisierung predigten, gleichzeitig aber Land an die neuen Zuwanderer verkauften. Im Laufe der Mandatszeit verdichtete sich in intellektuelleren Kreisen der Elite das Gefühl einer drohenden Gefahr, ja Katastrophe, setzte sich aber nie in regelrechten Vorbereitungen auf die existenzielle Gefahr um, die ihre Gesellschaft erwartete.6

Andere im Umfeld Palästinas – wie die führende ägyptische Intelligenz – sahen im Zuzug von Juden nach Palästina einen unverantwortlichen Versuch Europas, seine ärmsten und oft staatenlosen Bevölkerungsteile abzuschieben, vermuteten aber keinen Masterplan, der auf die Vertreibung der heimischen Bevölkerung zielte. Ihnen erschien der Zustrom von Armen als kleinere Bedrohung im Vergleich zu den wesentlich auffälligeren Versuchen europäischer Kolonialmächte und Kirchen, das »Heilige Land« durch ihre Missionare, Diplomaten und Kolonien zu vereinnahmen.7 Vor der britischen Besetzung Palästinas Ende 1917 äußerten sich die Zionisten nur vage über ihre tatsächlichen Pläne, weniger aus Mangel an Orientierung als aus der Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, was die Belange der noch kleinen jüdischen Einwanderergemeinde anging: Es bestand ständig die Gefahr, dass die Regierung in Istanbul sie wieder hinauswerfen würde.

Wenn es innerhalb der Bewegung jedoch notwendig wurde, intern eine klarere Zukunftsvision zu formulieren, herrschte nicht die geringste Zweideutigkeit. Was den Zionisten vorschwebte, war die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina, um einer Geschichte der Verfolgungen und Pogrome im Westen zu entgehen, und als Mittel zum Zweck beriefen sie sich auf die religiöse »Wiedererlangung« einer »alten Heimat«. Das war die offizielle Darstellung, die ohne Zweifel die Motivation der meisten zionistischen Führer wahrheitsgemäß zum Ausdruck brachte. Aber die kritischere Sicht von heute sieht das zionistische Bestreben, sich in Palästina statt an anderen möglichen Orten niederzulassen, eng verwoben mit dem christlichen Chiliasmus und europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. Die verschiedenen protestantischen Missionarswerke und die Regierungen des Europäischen Konzerts wetteiferten untereinander um die Zukunft eines »christlichen« Palästina, das sie dem Osmanischen Reich abluchsen wollten. Die religiöseren unter den Aspiranten im Westen betrachteten die Rückkehr der Juden nach Palästina als ein Kapitel im göttlichen Plan, das der zweiten Wiederkunft Christi und der Schaffung eines pietistischen Staats dort vorausgehen würde. Dieser religiöse Eifer trieb fromme Politiker wie Lloyd George, den britischen Premierminister im Ersten Weltkrieg, sich mit noch größerem Engagement für den Erfolg des zionistischen Projekts einzusetzen. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, seiner Regierung gleichzeitig eine Fülle von »strategischen«, statt messianischen Erwägungen darzulegen, weshalb man Palästina von der zionistischen Bewegung kolonisieren lassen solle; Erwägungen, die zumeist durchdrungen waren von seinem überwältigenden Misstrauen gegen und seiner Verachtung für »Araber« und »Mohammedaner«, wie er die Palästinenser nannte.8

In letzter Zeit stellen Fachkreise tendenziell auch die stärker marxistisch angehauchte Ausrichtung in Frage, die die offizielle israelische Geschichtsschreibung der frühen Kolonisierung Palästinas nachsagte, indem sie den Zionismus als positive Bestrebung darstellte, die sozialistischen und marxistischen Revolutionen über ihre weniger erfolgreichen Versuche in Russland hinauszuführen.9 Die kritischere Sicht hält diese Bestrebungen bestenfalls für zweifelhaft und schlimmstenfalls für manipulativ. Ebenso wie liberal gesinnte israelische Juden von heute bereit sind, demokratische Prinzipien aufzugeben, sobald sie sich mit der Aussicht auf eine demografische Mehrheit von Nichtjuden im Land konfrontiert sehen, gaben auch die sozialistischen Zionisten offenbar ihre universelleren Träume zugunsten der starken Reize des Nationalismus auf. Und als es zum Hauptziel avancierte, Palästina zu einem ausschließlich jüdischen, statt zu einem sozialistischen Staat zu machen, war es bezeichnenderweise die Arbeiterbewegung innerhalb des Zionismus, die die ethnische Säuberung gegen die heimische Bevölkerung initiierte und umsetzte.

Die frühen zionistischen Siedler setzten ihre Energie und ihre Ressourcen überwiegend für den Ankauf von Land ein, um sich Zugang zum örtlichen Arbeitsmarkt zu verschaffen und soziale und kommunale Netzwerke aufzubauen, die ihre kleine und wirtschaftlich anfällige Gruppe von Zuwanderern ernähren konnten. Klarere Strategien, wie sie Palästina ganz oder teilweise übernehmen und dort einen Nationalstaat schaffen könnten, entwickelten sich erst später in engem Zusammenhang mit britischen Ideen, wie sich der Konflikt am besten lösen ließe, zu dessen Verschärfung die Briten erheblich beigetragen hatten.

In dem Moment, als der britische Außenminister Lord Balfour der zionistischen Bewegung 1917 das Versprechen gab, eine nationale Heimstätte für die Juden in Palästina zu schaffen,10 öffnete er Tür und Tor für den endlosen Konflikt, der schon bald das ganze Land und sein Volk verschlingen sollte. In der Erklärung, die Balfour im Namen seiner Regierung abgab, verpflichtete er sich, die Rechte der nichtjüdischen Gemeinschaften – eine seltsame Bezeichnung für die große einheimische Mehrheit – zu schützen, aber diese Deklaration kollidierte von vorneherein sowohl mit den Bestrebungen als auch mit den natürlichen Rechten der Palästinenser auf nationale Souveränität und Unabhängigkeit.

Ende der 1920er Jahre zeigte sich deutlich, dass dieser Vorschlag einen potenziell gewaltsamen Kern besaß, da er bis dahin bereits das Leben Hunderter Palästinenser und Juden gefordert hatte. Das veranlasste die Briten zu einem ernsthaften, wenn auch zögerlichen Versuch, den schwelenden Konflikt zu lösen.

Bis 1928 hatte die britische Regierung Palästina nicht als Kolonie, sondern als Staat innerhalb der britischen Machtsphäre behandelt, in dem sich sowohl das Versprechen an die Juden als auch die Bestrebungen der Palästinenser unter britischer Aufsicht umsetzen ließen. Sie versuchten eine politische Struktur einzuführen, die beide Gemeinschaften im Parlament wie auch in der Regierung des Staates gleichberechtigt repräsentieren würde. In der Praxis war das Angebot, das sie ihnen machten, weniger ausgewogen; es begünstigte die zionistischen Siedlungen und diskriminierte die palästinensische Mehrheit. In dem vorgeschlagenen neuen Legislativrat fiel die Balance zugunsten der jüdischen Gemeinde aus, und die palästinensischen Mitglieder sollten von der britischen Verwaltung ernannt werden.11

Da die Palästinenser in den 1920er Jahren eine Mehrheit von achtzig bis neunzig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, lehnten sie es verständlicherweise ab, die von den Briten vorgeschlagene paritätische Vertretung zu akzeptieren, geschweige denn eine, die sie in der Praxis benachteiligte – eine Position, die die zionistischen Führer ermunterte, den Vorschlag zu befürworten. Von nun an zeichnete sich ein Muster ab: Als die palästinensische Führung 1928 aus Sorge über die zunehmende jüdische Einwanderung ins Land und die Expansion ihrer Siedlungen einwilligte, die Formel als Verhandlungsbasis zu akzeptieren, lehnte die zionistische Führung sie rasch ab. Der palästinensische Aufstand 1929 war eine unmittelbare Folge der britischen Weigerung, zumindest ihr Versprechen einer paritätischen Vertretung einzulösen, nachdem die Palästinenser schon bereit waren, auf das demokratische Mehrheitsprinzip in der Politik zu verzichten, das Großbritannien in allen anderen arabischen Staaten seiner Machtsphäre als Verhandlungsbasis verfochten hatte.12

Nach dem Aufstand von 1929 schien die Labour-Regierung in London geneigt, auf die palästinensischen Forderungen einzugehen, aber der zionistischen Lobby gelang es, die britische Regierung wieder auf den Balfour-Kurs zurückzubringen. Das machte weitere Unruhen unausweichlich. Sie brachen schließlich 1936 in Form eines so entschlossenen Volksaufstandes aus, dass die britische Regierung sich gezwungen sah, in Palästina mehr Truppen zu stationieren als auf dem Indischen Subkontinent. Nach drei Jahren mit brutalen und rücksichtslosen Angriffen auf ländliche Gebiete Palästinas schlug das britische Militär die Revolte nieder. Die palästinensischen Führer wurden ins Exil geschickt und die paramilitärischen Verbände aufgelöst, die den Guerillakrieg gegen die Mandatstruppen unterstützt hatten. Im Laufe dieses Prozesses wurden viele der beteiligten Dorfbewohner inhaftiert, verwundet oder getötet. Da ein Großteil der palästinensischen Führung nicht mehr im Land war und einsatzfähige palästinensische Kampfeinheiten fehlten, war es 1947 für die jüdischen Truppen ein Leichtes, die ländlichen Gebiete Palästinas einzunehmen.

Zwischen den beiden Aufständen nutzte die zionistische Führung die Zeit, um ihre Pläne für eine ausschließlich jüdische Präsenz in Palästina auszuarbeiten: Zunächst akzeptierte sie 1937 einen bescheidenen Anteil des Landes, als sie positiv auf eine Empfehlung der British Royal Peel Commission reagierte, Palästina in zwei Staaten zu teilen;13 dann versuchte sie 1942 eine Maximalstrategie und forderte ganz Palästina für sich. Das angestrebte geografische Territorium mag sich im Laufe der Zeit und je nach Umständen und Chancen verändert haben, aber das prinzipielle Ziel blieb gleich. Das zionistische Projekt ließ sich nur durch die Schaffung eines rein jüdischen Staates in Palästina realisieren, der Juden eine sichere Zuflucht vor Verfolgung bieten und als Wiege eines neuen jüdischen Nationalismus dienen sollte. Und ein solcher Staat musste nicht nur in seiner soziopolitischen Struktur, sondern auch in seiner ethnischen Zusammensetzung ausschließlich jüdisch sein.

Militärische Vorbereitungen

Von Anfang an hatten die britischen Mandatsbehörden der zionistischen Bewegung erlaubt, sich in Palästina eine unabhängige Enklave als Infrastruktur eines zukünftigen Staates zu schaffen. Ende der 1930er Jahre waren die Führer der Bewegung imstande, die abstrakte Vision jüdischer Exklusivität in konkretere Pläne zu übersetzen. Die zionistischen Vorbereitungen auf die Möglichkeit, das Land mit Gewalt einzunehmen, falls man es ihnen nicht auf diplomatischem Wege zusprechen sollte, umfassten unter anderem den Aufbau einer effizienten militärischen Organisation – mit Hilfe wohlwollender britischer Offiziere – und die Suche nach ausreichenden finanziellen Mitteln (um die sie die jüdische Diaspora angehen konnten). In mancherlei Hinsicht war auch der Aufbau eines rudimentären diplomatischen Corps wesentlicher Bestandteil dieser allgemeinen Vorbereitungen, die darauf abzielten, sich mit Gewalt einen Staat in Palästina zu verschaffen.14

Vor allem ein britischer Offizier, Orde Charles Wingate, machte den zionistischen Führern klar, dass die Idee eines jüdischen Staates eng mit Militarismus und einer Armee verbunden werden musste, um zum einen die wachsende Zahl jüdischer Enklaven und Siedlungen in Palästina zu schützen, zum anderen aber auch – was noch wichtiger war –, weil Akte bewaffneter Aggression eine effektive Abschreckung gegen möglichen Widerstand der einheimischen Palästinenser boten. Von hier aus erwies es sich nur noch als kleiner Schritt, die Zwangsumsiedelung der gesamten einheimischen Bevölkerung in Erwägung zu ziehen.15

Orde Wingate wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als Sohn einer Soldatenfamilie geboren und streng religiös erzogen. Er begann eine arabophile Karriere im Sudan, wo er sich einen Namen machte, indem er besonders effektiv aus dem Hinterhalt gegen Sklavenhändler vorging. Als er 1936 nach Palästina versetzt wurde, war er schon bald fasziniert vom zionistischen Traum. Er beschloss, die jüdischen Siedler aktiv zu unterstützen, und begann ihre Truppen in effektiveren Kampftaktiken und Vergeltungsmaßnahmen gegen die örtliche Bevölkerung zu schulen. Kein Wunder, dass seine zionistischen Verbündeten ihn bewunderten.

Wingate gestaltete die wichtigste paramilitärische Organisation der jüdischen Gemeinde in Palästina um, die 1920 gegründete Hagana. Ihr hebräischer Name bedeutet wörtlich »Verteidigung«, offenbar um zu zeigen, dass ihr Hauptzweck im Schutz der jüdischen Siedlungen bestand. Durch Wingates Einfluss und die militante Stimmung, die er bei ihren Kommandeuren verbreitete, entwickelte sich die Hagana schnell zum militärischen Arm der Jewish Agency, der zionistischen Körperschaft in Palästina, die letzten Endes die Pläne für die zionistische militärische Einnahme ganz Palästinas und die ethnische Säuberung von seiner heimischen Bevölkerung entwickelte und umsetzte.16

Die arabische Revolte gab den Hagana-Mitgliedern Gelegenheit, die Militärtaktiken anzuwenden, die Wingate ihnen in den ländlichen Gegenden Palästinas beigebracht hatte, überwiegend in Form von Vergeltungsschlägen gegen Ziele wie Heckenschützen oder Diebe, die einen Kibbuz bestohlen hatten. Hauptziel war aber anscheinend, palästinensische Gemeinden einzuschüchtern, die zufällig in der Nähe jüdischer Siedlungen existierten.

Wingate gelang es, während der arabischen Revolte Hagana-Truppen in die britischen Streitkräfte einzugliedern, so dass sie noch besser lernen konnten, wie eine »Strafaktion« gegen ein arabisches Dorf auszusehen hat. So bekamen jüdische Truppen im Juni 1938 einen ersten Vorgeschmack, was es bedeutete, ein palästinensisches Dorf zu besetzen: Eine Hagana-Einheit und eine britische Kompanie griffen gemeinsam ein Dorf an der libanesischen Grenze an und hielten es einige Stunden besetzt.17