Was ist los mit Israel? - Ilan Pappe - E-Book

Was ist los mit Israel? E-Book

Ilan Pappe

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Beschreibung

Jeder Versuch zur Lösung eines Konflikts muss sich zu allererst mit dessen Kern auseinandersetzen und dieser Kern findet sich meistens in seiner Geschichte. Eine verfälschte oder manipulierte Geschichte erklärt oft gut, warum ein Konflikt nicht beendet wurde, während eine wahrhaftige, umfassende Betrachtung der Vergangenheit zu einem dauerhaften Frieden und einer bleibenden Lösung beitragen kann. Wie die Untersuchung des Falls Israel/Palästina zeigt, kann eine falsch verstandene Geschichte der jüngeren oder ferneren Vergangenheit sogar noch direkteren Schaden anrichten: Sie kann die Unterdrückung, Kolonisierung und Besatzung von heute rechtfertigen. Es überrascht nicht, dass in solchen Fällen auch die Gegenwart verfälscht wird, ist sie doch Teil der Geschichte, deren Vergangenheit bereits entstellt wurde. Diese Täuschungen über Vergangenheit und Gegenwart verhindern das Verständnis des fraglichen Konfliktes, erlauben eine Manipulation der Fakten und richten sich gegen die Interessen all jener, die Opfer des Konfliktes sind. Die Tatsache, dass die israelische und zionistische Version der Geschichte des umstrittenen Landes in Deutschland weitgehend akzeptiert wird, basiert auf einer ganzen Ansammlung von Mythen, die alle darin münden, das moralische Recht und das ethische Verhalten der Palästinenser ins Zwielicht zu rücken, was allerdings jede Chance auf einen zukünftigen gerechten Frie- den enorm verringert.

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Palästina war ein menschenleeres Land

Kapitel 2: Die Juden waren ein Volk ohne Land

Kapitel 3: Zionismus und Judentum sind dasselbe

Kapitel 4: Zionismus und Kolonialismus sind zweierlei

Kapitel 5: Die Palästinenser verließen ihre Heimat 1948 freiwillig

Kapitel 6: Im Junikrieg von 1967 hatte Israel „keine Wahl“

Kapitel 7: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten

Kapitel 8: Die Mythen um Oslo

Kapitel 9: Die Gaza-Mythologien

Kapitel 10: Die Zweistaatenlösung ist nur eine Frage der Zeit

Kapitel 11: Warum Israel den Kontext und die Geschichte im Krieg gegen Gaza auslöschen will

Vorwort

Jeder Versuch zur Lösung eines Konflikts muss sich zu allererst mit dessen Kern auseinandersetzen und dieser Kern findet sich meistens in seiner Geschichte. Eine verfälschte oder manipulierte Geschichte erklärt oft gut, warum ein Konflikt nicht beendet wurde, während eine wahrhaftige, umfassende Betrachtung der Vergangenheit zu einem dauerhaften Frieden und einer bleibenden Lösung beitragen kann. Wie die Untersuchung des Falls Israel/Palästina zeigt, kann eine falsch verstandene Geschichte der jüngeren oder ferneren Vergangenheit sogar noch direkteren Schaden anrichten: Sie kann die Unterdrückung, Kolonisierung und Besatzung von heute rechtfertigen. Es überrascht nicht, dass in solchen Fällen auch die Gegenwart verfälscht wird, ist sie doch Teil der Geschichte, deren Vergangenheit bereits entstellt wurde. Diese Täuschungen über Vergangenheit und Gegenwart verhindern das Verständnis des fraglichen Konfliktes, erlauben eine Manipulation der Fakten und richten sich gegen die Interessen all jener, die Opfer des Konfliktes sind.

Die Tatsache, dass die israelische und zionistische Version der Geschichte des umstrittenen Landes in Deutschland weitgehend akzeptiert wird, basiert auf einer ganzen Ansammlung von Mythen, die alle darin münden, das moralische Recht und das ethische Verhalten der Palästinenser ins Zwielicht zu rücken, was allerdings jede Chance auf einen zukünftigen gerechten Frieden enorm verringert. Dass dies funktioniert, liegt daran, dass diese Mythen von den Mainstreammedien und politischen Eliten in Deutschland – wie im Westen überhaupt – als die Wahrheit akzeptiert werden. Damit dienen sie dann der Rechtfertigung des israelischen Handelns, aber noch viel mehr der Weigerung Deutschlands, sich auf sinnvolle Art in diesem Konflikt zu engagieren. Und sie erlauben der deutschen Regierung außerdem, das israelische Militär ohne große moralische Skrupel mit immer neuen Waffen und sonstigem Zubehör aufzurüsten.

Das vorliegende Buch zerlegt seine im Titel gestellte Frage – Was ist los mit Israel? – in die Untersuchung einer Reihe grundsätzlicher Annahmen, die unter anderem in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreitet sind. Diese Annahmen stellen in meinen Augen Mythen dar, die durch einen gründlichen Blick auf die Realität widerlegt werden können. Diese Gegenüberstellung weithin akzeptierter Mythen und der historischen Realität vor Ort bildet den roten Fadendieses Buches. Jedes der Kapitel des Buches behandelt eine dieser Annahmen und untersucht, inwieweit sie der Forschung und der historischen Wahrheit standhalten.

Es ist meine Hoffnung, damit zur Aufklärung des vorherrschenden, grundlegend falschen Verständnisses der vergangenen und gegenwärtigen Probleme in Israel und Palästina beizutragen. Solange diese Annahmen nicht in Frage gestellt wurden, übernahmen sie die Funktion eines Schutzschildes, hinter dem im Lande Palästina straflos eine unmenschliche Politik praktiziert werden konnte. Eine Untersuchung dieser Annahmen im Lichte neuerer und neuester Forschungen zeigt, wie weit sie von der historischen Wahrheit entfernt sind – und dass und warum die Richtigstellung der geschichtlichen Tatsachen einen Einfluss auf die zukünftigen Chancen für Frieden und Versöhnung in Israel und Palästina haben kann.

Teil Eins: Die Täuschungen der Vergangenheit

Kapitel 1: Palästina war ein menschenleeres Land

Beginnen wir mit einem Zitat der offiziellen Website des israelischen Außenministeriums zur Geschichte Palästinas zwischen dem Jahr 1.500 und heute:

Nach der osmanischen Eroberung 1517 wurde das Land in vier Bezirke aufgeteilt, die der Provinz Damaskus zugeschlagen und von Istanbul aus regiert wurden. Zu Beginn der osmanischen Ära lebten dort etwa 1.000 jüdische Familien, hauptsächlich in Jerusalem, Nablus (Schechem), Hebron, Gaza, Safet (Tzfad) und den Dörfern Galiläas. Die Gemeinde bestand aus Nachkommen der Juden, die immer im Land gelebt hatten, und aus Einwanderern aus Nordafrika und Europa. Bis zum Tod Sultan Suleimans des Prächtigen (1566) sorgte ein geordnetes Staatswesen für verbesserte Bedingungen für eine jüdische Einwanderung. Einige der Neuankömmlinge siedelten sich in Jerusalem an, aber die Mehrheit ging nach Safed. Dort war die jüdische Bevölkerung bis Ende des 16. Jahrhunderts auf etwa 10.000 angestiegen, und die Stadt hatte sich in ein blühendes Zentrum der Textilindustrie verwandelt.1

Diese Darstellung erweckt den Anschein, als sei Palästina im 16. Jahrhundert in erster Linie jüdisch gewesen und sein Leben habe sich in städtischen jüdischen Gemeinden konzentriert. Was geschah in den Jahrhunderten danach? Lesen wir weiter:

Der allmähliche Niedergang der osmanischen Herrschaft führte dazu, dass das Land immer mehr vernachlässigt wurde. Ende des 18. Jahrhunderts gehörte ein Großteil des Landes abwesenden Grundherren und wurde von verarmten Pachtbauern bestellt, deren Besteuerung ebenso drückend wie willkürlich war. Die großen Wälder Galiläas und des Carmel-Gebirges hatten kaum noch Baumbestand, während sich auf dem Agrarland Sümpfe und Wüsten ausbreiteten.2

In diesem Bild ist Palästina vor der Ankunft des Zionismus nur eine Wüste, in der Bauern, die dort eigentlich nichts zu suchen haben, Land bestellen, das ihnen gar nicht gehört. Palästina war offenbar eine Art Insel, die von den Osmanen von außen regiert wurde, eine beträchtliche jüdische Bevölkerung hatte und unter intensiven osmanischen Abholzungsprojekten litt. Mit jedem Jahr wurde es unfruchtbarer und glich mehr einer Wüste. Ein derartig erfundenes Bild dürfte für den offiziellen Internetauftritt eines modernen Landes wohl beispiellos sein. Besonders bemerkenswert daran finde ich, dass die Autoren dieser Passage sich für diese historische Darstellung durchaus nicht auf die israelische Geschichtswissenschaft stützen konnten. Kaum ein israelischer Wissenschaftler würde die Gültigkeit dieser Beschreibung akzeptieren oder die Darstellung auf der Website in dieser Form bestätigen. Und nicht wenige israelische Historiker haben im Lauf der Jahre erfolgreich die Fehler dieser Geschichtsversion aufgezeigt. Ihre Forschung hat demonstriert, dass Palästina im Lauf vieler Jahrhunderte eine sich immer weiter entwickelnde, blühende arabische – und größtenteils muslimische – Gesellschaft war, die ländlich geprägt war, aber ein sehr lebendiges städtisches Zentrum besaß.

Umso bemerkenswerter ist es, dass sowohl das israelische Schulkurrikulum als auch die israelischen Medien – ebenso wie einige prominente Wissenschaftler – diesen Mythos weiter propagieren. Außerhalb Israels ist diese These einer leeren, unfruchtbaren Wüste, die vor der Ankunft des Zionismus in Palästina geherrscht habe, in Ländern wie Deutschland immer noch sehr populär, weshalb es sich lohnt, näher auf sie einzugehen.

Tatsächlich war Palästina eine Gesellschaft wie alle anderen benachbarten arabischen Gesellschaften und unterschied sich nicht von den restlichen Ländern des östlichen Mittelmeers, die stärker als andere in Kontakt mit anderen Kulturen standen und daher rasch einen modernen und nationalen Charakter annahmen. Sie befanden sich alle unter osmanischer Herrschaft und waren Teil des Reiches. Aufgrund der Aktivitäten energischer lokaler Regenten wie Daher al-Umar (1690-1775), der die Städte Haifa, Shefamru Tiberias und Akko erneuerte und sie mit neuem Leben erfüllte, hatte Palästina schon lange vor der Ankunft der zionistischen Bewegung begonnen, sich zu entwickeln und zu verändern. Den Küstenregionen ging es aufgrund ihrer Handelsbeziehungen mit Europa sehr gut, während die Ebenen im Inneren in regem Austausch mit dem benachbarten Hinterland standen. Palästina war alles andere als ein Sumpf, sondern ein blühender Teil des Bilad al-Sham (des Landes im Norden), das heißt, der Levante dieser Zeit.3

Dieses Land stellte vor der Ankunft der Zionisten mit einer ertragreichen Landwirtschaft, kleinen Ortschaften und historischen Städten für eine Bevölkerung von einer halben Million Menschen die Heimat dar. Für das ausgehende 19. Jahrhunderts war die Zahl der Einwohner dort groß, wenn nicht sogar beträchtlich. Sie bestand vorwiegend aus sunnitischen Muslimen, einer nicht unerheblichen christlichen Gemeinde und einem sehr kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil von weniger als zehn Prozent, der die von der zionistischen Bewegung verbreiteten Ideen größtenteils ablehnte. Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebte in Dörfern, von denen es etwa tausend gab, aber an der Küste, auf den Ebenen abseits des Mittelmeers und in den Bergen gab es auch eine erfolgreiche städtische Elite. Damals bezeichnete „Palästina“ in erster Linie eine geografische und kulturelle und keine politische Einheit. Aber wo dieses Land sich befand, war den Menschen dort sehr klar, und so kam es, dass man schon Anfang des 20. Jahrhunderts eine Zeitung namens „Filastin“ abonnieren konnte, deren Name schlicht das Wort war, das die Menschen zur Bezeichnung ihres Landes gebrauchten.4 Sie sprachen ihren eigenen Dialekt, sie hatten ihre eigenen Bräuche und Rituale und wurden auf Landkarten der Welt als Bewohner eines Landes namens Palästina bezeichnet.

Im 19. Jahrhunderts wurde Palästina ebenso wie die Nachbargebiete aufgrund von durch Istanbul initiierten Verwaltungsreformen zu einer klarer umrissenen geopolitischen Einheit. Wie in anderen Ländern der Region begann die dortige Elite, sich Gedanken über Nationalismus und Selbstbestimmung zu machen. Ursprünglich war die Idee, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in einem vereinten Syrien oder sogar (nach dem Muster der Vereinigten Staaten) einer vereinten arabischen Welt anzustreben. Dieser panarabische nationale Ansatz heißt auf Arabisch Qawmiyya und war in Palästina und im Rest der arabischen Welt populär, solange die Hoffnung auf eine vereinte arabische Republik oder auch nur auf ein vereintes Großsyrien bestand. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs, vor allem aber nach dem Krieg, als die Region durch die kolonialen Besatzungsmächte England und Frankreich aufgeteilt wurde, entwickelte sich eine neue Haltung, nämlich eine eher lokal orientierte Art von Nationalismus. In ihrem berühmten, oder besser gesagt, berüchtigten Sykes-Picot-Abkommen von 1916 teilten die beiden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich das Gebiet in neue Nationalstaaten auf, und in diesen neuen Staaten, zu denen auch Palästina gehörte, entwickelte sich ein Nationalismus mit stärkerem lokalem Bezug, der im Arabischen als Watniyya bezeichnet wird. Unabhängig von diesen Facetten hätte sich Palästina genau wie Jordanien und Syrien ohne den Zionismus zu einem unabhängigen arabischen Staat entwickelt.5

Ohne das Auftauchen des Zionismus hätte Palästina wahrscheinlich denselben Weg eingeschlagen wie der Libanon, Jordanien oder Syrien und denselben Modernisierungs- und Wachstumsprozess erlebt wie diese Länder. Gerade aufgrund der osmanischen Politik Ende des 19. Jahrhunderts hätte das Land zu einem klar definierten politischen Raum werden können. In den 1870er Jahren schuf die osmanische Regierung durch die Gründung des Sandschaks (d.h. der Verwaltungsprovinz) Jerusalem 1872 zum ersten Mal einen zusammenhängenden geopolitischen Raum in Palästina. Einen kurzen Augenblick lang spielten die herrschenden Mächte in Istanbul mit der Möglichkeit, dem Sandschak, der einen Großteil des heutigen Palästina umfasste, die Unterprovinzen Nablus und Akko hinzuzufügen. Wäre dies geschehen, hätten sie damit eine geografische Einheit geschaffen, in der, genau wie es in Ägypten geschah, auch damals schon ein eigenständiger Nationalismus hätte entstehen können.6

Doch trotz seiner administrativen Teilung in einen von Beirut aus regierten Norden und einen von Jerusalem aus regierten Süden wurde Palästina als Ganzes 1872 aus seinem vorherigen peripheren Status, in dem es in kleine regionale Unterprovinzen aufgeteilt war, herausgehoben. Und mit Beginn der britischen Herrschaft wurden Norden und Süden 1918 zu einer Einheit. Ganz ähnlich – und im selben Jahr – schufen die Briten die Grundlage für den modernen Irak, indem sie die drei osmanischen Provinzen Mosul, Bagdad und Basra zu einem modernen Nationalstaat vereinten. Anders als im Irak wirkten in Palästina Familienbeziehungen und geografische Grenzen wie der Litani im Norden, der Jordan im Osten und das Mittelmeer im Westen darauf hin, die drei Unterprovinzen Südbeirut, Nablus und Jerusalem zu einer einzigen sozialen und kulturellen Einheit zusammenzuschweißen. Dieser geopolitische Raum besaß seinen eigenen arabischen Dialekt und seine eigenen Sitten, Bräuche und Traditionen.7 Hätte der Zionismus nicht 1882 begonnen, sich in Palästina auszubreiten, wäre es auf ganz natürliche Art zur Heimat einer palästinensischen Nation und eines palästinensischen Staates geworden.

1918 war Palästina aufgrund der erwähnten Fusion der drei Unterprovinzen zu einer einzigen Verwaltungseinheit nach dem Ersten Weltkrieg administrativ gesehen einheitlicher, als es das zur osmanischen Zeit je gewesen war. Während die britische Regierung auf die endgültige internationale Anerkennung des Status Palästinas wartete, die dann 1922 kam, legte sie die endgültigen Grenzen des Landes fest und schuf so nicht nur einen klarer definierten Raum für entstehende Nationalbewegungen, sondern auch ein deutlicheres Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Menschen, die in diesem Raum lebten. Diese endgültige Gestaltung der Grenzen half aber auch der zionistischen Bewegung bei der geografischen Konzeptualisierung von „Eretz Israel“ – des Landes Israel, in dem nur Juden ein Recht auf das Land und seine Ressourcen hatten.

Demnach waren die Palästinenser ebenso sehr ein Volk wie andere Völker im damaligen Nahen Osten, und sie waren es sicher nicht weniger als die jüdischen Siedler, von denen nun immer mehr in Palästina ankamen.

1 Offizielle Website des israelischen Außenministeriums (Englisch): www.mfa.gov.il/MFA/facts+About+Israel/.../History-+Foreign+Domination.htm.

2 Ibid.

3 Für eine sehr genaue Untersuchung solcher Handelsbeziehungen siehe Beshara Doumani, Rediscovering Palestine: Merchants and Peasants in Jabal Nablus, 17001900, Berkeley 1995.

4 Weitere Informationen zu dieser Zeitung und ihrer Rolle in der palästinensischen Nationalbewegung finden sich in Rashid Khalidis Buch: Rashid Khalidi, Palestinian Identity: the Construction of Modern National Consciousness, New York 2010.

5 Diese alternative Möglichkeit einer Modernisierung Palästinas wird brillant in einer Artikelsammlung Salim Tamaris diskutiert: The Mountain against the Sea: Essays on Palestinian Society and Culture, Berkley 2008.

6 Siehe Butrus Abu-Manneh, „The Rise of the Sanjaq of Jerusalem in the Nineteenth Century“, in: Ilan Pappé (Hg.), The Israel/Palestine Question, London/ New York 2007, S. 40-50.

7 Für eine detailliertere Analyse siehe Ilan Pappé, A History of Modern Palestine; One Land, Two Peoples, Cambridge 2006, S. 14-60.

Kapitel 2: Die Juden waren ein Volk ohne Land

Die im vorigen Kapitel untersuchte Behauptung geht normalerweise Hand in Hand mit der Behauptung, die Juden seien ein Volk ohne Land gewesen. Das ist ebenfalls zweifelhaft, wenn auch von geringerer Bedeutung. Waren die jüdischen Siedler ein Volk? Neuere Forschungen haben auch hier die bereits vor vielen Jahren angemeldeten Zweifel bestätigt. Der gemeinsame Angelpunkt dieses kritischen Standpunktes, der am besten in Shlomo Sands Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes dargelegt wird,8 ist die Beobachtung, dass die christliche Welt in einem bestimmten Moment der modernen Geschichte aus ganz eigenen Interessen die Idee unterstützt, die Juden seien eine Nation, die ins Heilige Land zurückkehren müsse, da diese Rückkehr Bestandteil des göttlichen Plans für die Endzeit, die Wiedererweckung der Toten und die Wiederkunft des Messias sei. Untersuchen wir diese Frage etwas genauer.

Der Gedanke einer Rückkehr der Juden nach Palästina war im protestantischen Christentum von Anfang an tief verwurzelt. Thomas Brightman, ein englischer Geistlicher im 16. Jahrhundert, brachte diese Ideen klar zum Ausdruck, als er schrieb:

Werden sie wieder nach Jerusalem zurückkehren? Nichts ist sicherer als das: Die Propheten bestätigen es überall und verkünden es laut.9

Wie bei allen anderen, die sich später auf ähnliche Art äußern würden, war der Wunsch nicht nur, dass die Juden die Weissagung der Propheten erfüllen sollten, sondern auch, dass sie Europa verließen. Der deutscher Theologe und Naturphilosoph Heinrich Oldenburg schrieb hundert Jahre später:

Wenn sich in den Fährnissen, denen menschliche Angelegenheiten ausgesetzt sind, die Gelegenheit ergibt, könnten [sie] vielleicht sogar ihr Reich neu errichten, und Gott könnte sie ein zweites Mal erwählen.10

Und der österreichisch-ungarische Feldmarschall Charles Joseph de Ligne verkündete:

Ich bin überzeugt, dass der Jude nicht fähig ist, sich zu assimilieren, und dass er immer und überall, wo er ist, eine „Nation innerhalb der Nation“ darstellen wird. Das Einfachste wäre meiner Meinung nach, die Juden in ihr Heimatland zurückzuführen, aus dem sie vertrieben wurden.11

Wie aus dieser Passage leicht ersichtlich, gab es eine offensichtliche Verbindungslinie zwischen dem Antisemitismus und den frühen Ideen des Zionismus.

Auch der berühmte französische Schriftsteller und Politiker Chateaubriand schrieb, die Juden seien „die rechtmäßigen Herren Judäas“. Damit beeinflusste er Napoleon Bonaparte, der Anfang des 19. Jahrhunderts für sein Vorhaben einer Besetzung des Nahen Ostens neben der Unterstützung der anderen Bewohner Palästinas auch die der jüdischen Gemeinschaft dort zu gewinnen suchte, indem er den Juden eine „Rückkehr nach Palästina“ und die Gründung eines jüdischen Staates versprach.12 Wie wir an all dem schon sehen können, war der Zionismus ein christliches Kolonisationsprojekt, noch bevor er ein jüdisches wurde.

Im 18. Jahrhundert gewannen derartige Vorstellungen besonders in Großbritannien an Popularität und ein Jahrhundert später beeinflussten sie auch die offizielle Politik des Imperiums:

Die Erde Palästinas […] wartet nur darauf, dass die Rückkehr ihrer verbannten Kinder und der Einsatz von Fleiß zusammen mit landwirtschaftlichen Fähigkeiten ein weiteres Mal zu allgemeiner Fülle führen und das Land zu all dem machen werden, was es einst zu Zeiten Salomos war.13

So die Worte des schottischen Adligen und Militärkommandeurs John Lindsay. Seine Vorahnung fand ein Echo bei dem englischen Philosophen David Hartley, der schrieb, „Wahrscheinlich werden die Juden nach Palästina zurückkommen.“

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Die aufwühlenden und oft beunruhigenden theologischen und religiösen Umwälzungen in der christlichen Welt während des 17. Jahrhunderts führten unter anderem, vor allem unter Protestanten, zu einer klaren Assoziation zwischen der messianischen Endzeit und der Bekehrung der Juden sowie ihrer Rückkehr nach Palästina.

Wie die Kreuzfahrerzeit uns lehrt, können der politische Wille, die militärische Macht und die wirtschaftlichen Ressourcen, solche Vorstellungen tatsächlich durchzusetzen, furchtbare Auswirkung auf die örtliche Bevölkerung haben. Der Wunsch, die Juden nach Palästina „zurückkehren“ zu sehen, war ein alter Gedanke, wurde aber erst im späten 19. Jahrhundert zur Realität, was dann katastrophale Konsequenzen für die Palästinenser hatte.

Verhängnisvolle Vorzeichen dafür, wie solche scheinbar rein religiösen und mythischen Texte sich in ein reales Programm der Kolonisierung und Enteignung verwandeln können, erschienen erstmals schon in den 1820er Jahren. Danach entstand eine mächtige theologische und imperiale Bewegung, die die Rückkehr der Juden nach Palästina zum Herzen eines strategischen Planes zur Übernahme Palästina und seiner Verwandlung in eine christlich beherrschte Entität machte.

Eine einfache Ideengeschichte führt uns direkt von den Vätern dieser Bewegung zu den Politikern mit der Macht, das Leben der Menschen in Palästina selbst zu verändern. Einer der wichtigsten unter ihnen war der führende britische Politiker Lord Shaftesbury (1801-1885), der höchst aktiv für ein jüdisches Heimatland in Palästina eintrat. Seine Argumente für eine stärkere britische Präsenz in Palästina waren sowohl religiöser als auch strategischer Art, eine gefährliche Mischung, die letztlich von seinen eigenen Aktivitäten Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Balfour-Erklärung führte.15

Shaftesbury hatte einen weiteren Gedanken, der später von den Architekten der Balfour-Erklärung übernommen wurde. Er erkannte, dass es nicht ausreichen würde, die Rückkehr der Juden zu unterstützen, sondern dass sie in ihren anfänglichen Kolonisierungsbemühungen von Großbritannien unterstützt werden müssten. Das sollte Shaftesburys Meinung nach dadurch geschehen, dass den Juden schon zu seiner Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, Unterstützung für Reisen ins osmanische Palästina angeboten wurde. Er überzeugte das anglikanische Bistum der Kathedrale von Jerusalem, dieses frühe Projekt aktiv zu unterstützen.

Das alles wäre wohl kaum Realität geworden, wenn Shaftesbury nicht seinen Schwiegervater, den britischen Außenminister und späteren Ministerpräsidenten Lord Palmerston, für seine Sache gewonnen hätte. Am 1. August 1838 schrieb Shaftesbury in sein Tagebuch:

Mit Palmerston zu Abend gegessen. Nach dem Essen allein mit ihm. Legte meine Pläne dar, die seinen Gefallen zu finden scheinen. Er stellte Fragen und versprach bereitwillig, es [das Programm, den Juden bei ihrer Rückkehr nach Palästina und der Übernahme des Landes zu helfen] in Betracht zu ziehen. Wie einzigartig ist doch die Fügung der Vorsehung. Einzigartig, wenn vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet. Palmerston war bereits von Gott ausersehen, ein Werkzeug für das Wohl Seines alten Volkes zu sein, dem Erbe dieses Volkes zu huldigen und seine Rechte anzuerkennen, ohne an seine Bestimmung zu glauben. Wie es scheint, wird er noch mehr tun. Aber ein wohlgesonnenes Motiv steht noch nicht auf festen Füßen. Ich bin gezwungen, politisch, finanziell, kommerziell zu argumentieren. Er weint nicht, wie sein Vorgesetzter, über Jerusalem, noch betet er, dass es jetzt endlich seine schönen Gewänder anlegt.16

Als erstes überzeugte Shaftesbury Palmerston, den ihm gleichgesonnenen „Restaurationsanhänger“ (Befürworter einer Rückgabe Palästinas an die Juden) William Young zum ersten britischen Vizekonsul in Jerusalem zu ernennen. Danach schrieb er in sein Tagebuch:

Was für ein wunderbares Ereignis ist das! Die uralte Stadt von Gottes Volk gewinnt einen Platz unter den Nationen zurück, und England ist das erste der nichtjüdischen Königreiche, das aufhört, „sie niederzuhalten“. 17

Ein Jahr später, 1839, schrieb Shaftesbury einen dreißigseitigen Artikel für

The Quarterly Review

mit dem Titel „Status und Restauration [sic] der Juden“. In diesem Artikel prophezeite Shaftesbury eine neue Ära für das auserwählte Volk Gottes. Er bestand darauf, die Juden müssten

…ermutigt werden, in noch größeren Zahlen zurückzukehren und von neuem die Landbesteller Judäas und Galiläas zu werden […] Obwohl ein halsstarriges Volk mit finsterem Herzen, abgesunken in einen Zustand des moralischen Verfalls, der Verstocktheit und der Unkenntnis des Evangeliums, waren sie nicht nur Wert der Rettung, sondern auch lebenswichtig für die Hoffnung auf Rettung in der Christenheit.18

Shaftesburys zuvorkommende Umwerbung Palmerstons erwies sich als erfolgreich.

So wurde Palmerston eher aus politischen denn aus religiösen Gründen zu einem Verfechter der jüdischen „Restauration“. Einer der Faktoren, die seine Reflexionen über eine britische Unterstützung der Rückkehr der Juden beeinflussten, war

die Auffassung, dass die Juden bei sich bei der Stärkung des zusammenbrechenden osmanischen Reiches als nützlich erweisen und so dazu beitragen könnten, das wichtigste Ziel der britischen Außenpolitik in dieser Region zu erreichen.19

Am 11. August 1840 schrieb Palmerston dem britischen Botschafter in Konstantinopel einen Brief, in dem es um den Nutzen ging, den sowohl das osmanische Reich als auch Großbritannien von einer Erlaubnis für die Juden hätten, nach Palästina zurückzukehren. Ironischerweise wurde die Rückkehr der Juden damals als wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung des Status Quo und zur Vermeidung eines Auseinanderbrechens des osmanischen Reiches betrachtet. Palmerston schrieb:

Es gibt derzeit unter den über Europa verstreuten Juden ein starkes Gefühl, die Zeit komme näher, da ihre Nation nach Palästina zurückkehren muss. […] Es wäre von großer Bedeutung, wenn der Sultan die Juden dazu ermutigte, zurückzukehren und sich in Palästina anzusiedeln, weil der Reichtum, den sie mit sich bringen würden, die Schätze der Herrschaftsgebiete des Sultans vergrößern würde, und weil das jüdische Volk, wenn es unter Billigung und Schutz und auf Einladung des Sultans zurückkehrte, ein Hindernis für alle üblen künftigen Pläne Mohamet Alis oder seines Nachfolgers darstellen würde. […] Ich muss Eure Exzellenz klar anweisen, [der türkischen Regierung] zu empfehlen, den Juden Europas jede Ermutigung zu geben, nach Palästina zurückzukehren.20

Nur wenige Tage nach der Absendung dieses Briefs forderte ein Leitartikel in

The Times

vom 17. August 1840 einen Plan, „das jüdische Volk im Land seiner Vorväter anzusiedeln“; der Autor behauptete, ein solcher Plan werde „politisch ernsthaft erwogen“ und begrüßte die Bemühungen Shaftesburys, der der Initiator dieses Plans sei, den der Artikel als „praktikabel und staatsmännisch“ lobte. Auch Lady Palmerston unterstützte die Haltung ihres Mannes und schrieb an eine Freundin:

Wir wissen die fanatischen und religiösen Elemente auf unserer Seite und Sie wissen, wie groß ihre Gefolgschaft in unserem Land ist. Sie sind absolut entschlossen, Jerusalem und ganz Palästina der Rückkehr der Juden vorzubehalten; es ist ihre einzige Sehnsucht, die Juden wieder in ihr Recht einzusetzen.21

So war die folgende Beschreibung des Earls von Shaftesbury wenig erstaunlich: Er sei

der führende Vertreter des christlichen Zionismus im 19. Jahrhundert und der erste Politiker von Statur, der versuchte, den Juden den Weg für die Etablierung eines Heimatlandes in Palästina zu bereiten.22

All dies waren Vorformen des reifen Zionismus und wir sollten nicht den Fehler begehen, in diese Traktate die Ideologie von heute hineinzulesen. Dennoch trug dieser Proto-Zionismus bereits alles in sich, was diese Ideen später in eine theologische Rechtfertigung für die Negierung und Verweigerung der grundlegenden Rechte der ursprünglich ortsansässigen Bevölkerung in Palästina verwandeln würde. Es gab sehr wohl auch Kirchengemeinden und Geistliche, die Partei für die Palästinenser vor Ort ergriffen, doch im Vergleich zu den frühen Trieben des christlichen Zionismus in Großbritannien waren sie politisch so gut wie ohnmächtig.

Der britische christliche Zionismus unterhielt enge Verbindungen zur pietistischen Bewegung in Deutschland, die später das hervorbrachte, was Historiker „den stillen Kreuzzug“ genannt haben, der sich dann kurz vor der zionistischen Kolonisierung Palästinas in der Templerbewegung manifestierte, die direkt zu dieser Kolonisierung beitrug und auf die ich im nächsten Kapitel zurückkommen werde.

Aus dieser deutsch-britischen Zusammenarbeit ging 1838 das erste britische Konsulat in Jerusalem hervor. Zum Auftrag des Konsulats gehörte informell auch, Juden dazu zu ermutigen, nach Palästina zu kommen. Das Konsulat versprach, sie zu unterstützen, und in einigen Fällen versuchte es, sie zum Christentum zu bekehren. Der bekannteste Konsul war James Finn (1806-1872), dessen Charakter und direkte Art dazu führten, dass er die Bedeutung des erwähnten Auftrags für die örtliche palästinensische Bevölkerung nicht zu verheimlichen versuchte.23

James Finn hatte diesen Posten in Jerusalem von 1845 bis 1863 inne. Israelische Historiker haben ihn dafür gepriesen, dass er Juden dabei geholfen habe, sich im Land ihrer Ahnen anzusiedeln, und seine Memoiren sind ins Hebräische übersetzt worden. Er ist nicht die einzige historische Figur, die in der Ehrengalerie der einen Nation und dafür in der Schurkengalerie einer anderen erscheint. Finn hasste den Islam insgesamt, ganz besonders aber die islamischen Notabeln von Jerusalem. Er lernte nie Arabisch und verständigte sich mit Hilfe eines Dolmetschers, was nicht gerade zu reibungsfreien Beziehungen zur lokalen palästinensischen Bevölkerung beitrug.

Finn konnte sich unter anderem auf das 1841 neu eingeweihte Anglikanische Bistum unter Michael Solomon Alexander, einem Konvertiten vom Judentum, und die 1843 eröffnete Christuskirche in der Nähe des Jaffa-Tors, die erste Anglikanische Kirche in Jerusalem stützen. Während einige dieser Institutionen später starke Sympathien für das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung entwickelten, unterstützten sie damals Finns proto-zionistische Bestrebungen.

Finn arbeitete wohl eifriger als jeder andere Europäer an der Etablierung einer dauerhaften westlichen Präsenz in Jerusalem, was hauptsächlich durch den Kauf von Ländereien und Immobilien für missionarische und später auch kommerzielle Unternehmen, Amtssitze oder die Inhaber dieser Ämter geschah.

Mit der Entwicklung der zionistische Bewegung in Ost- und Mitteleuropa und der Schaffung der ersten zionistischen Kolonien in Palästina in den 1880er Jahren wurden die britischen Beziehungen zum Zionismus noch stärker. Sie wurden schließlich so eng, dass einige der führenden Figuren in Palästina begannen, sich Sorgen zu machen, da sie davon einen sehr negativen Einfluss auf ihre Gesellschaft befürchteten. Eine dieser Figuren war der damalige Mufti von Jerusalem, Tahir al-Hussayni II, der die jüdische Einwanderung als Infragestellung des Status der Stadt als muslimisches Heiligtum durch Europa betrachtete. Einige seiner Berater hatten bereits zuvor bemerkt, dass James Finns Idee, die „Rückkehr“ der Juden mit der Wiederherstellung des Ruhms der Kreuzfahrer in Verbindung zu bringen, genau darauf hinauslief. So wundert es wenig, dass Mufti Tahir II. den Widerstand gegen diese Einwanderung anführte und insbesondere davor warnte, Land an Projekte wie die oben genannten zu verkaufen. Er wusste, dass Landbesitz einen Nachweis für langfristige Ansässigkeit und einen Anspruch auf Eigentum darstellte, während Einwanderung ohne feste Ansiedlung nicht mehr Rechte begründen konnte als eine flüchtige Pilgerfahrt.24

So traf der strategische imperiale Impuls Großbritanniens, die jüdische Rückkehr nach Palästina als Mittel einer Vertiefung des Engagements Londons im „Heiligen Land“ zu nutzen, auf vielerlei Art mit dem neuen geistigen Impuls in vielen jüdischen Gemeinden Europas zusammen, der den Judaismus als nationales Projekt und die Kolonisierung Palästinas als Akt der Rückkehr und der Erlösung neu definieren wollte. Der Zusammenfluss beider Impulse brachte ein mächtiges Bündnis hervor, das die antisemitischen und messianischen Ideen einer Transferierung der Juden von Europa nach Palästina auf Kosten der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas in ein reales Kolonisierungsprojekt verwandelte.

Somit basierte die Vorstellung von einem Volk, das in sein Heimatland zurückkehrt, um dieses zu erlösen, die in der neueren Zeit international erstmals in der Balfour-Erklärung zum Ausdruck gebracht wurde, auf verschiedene historische Strömungen, die protestantische Glaubensinhalte mit imperialen Interessen, kolonialistischen Impulsen, Antisemitismus und Islamophobie verschmolzen, ein Gemisch, aus dem sich dann mit der britischen Besatzung Palästinas 1918 eine neue Realität bildete.

Dieser Prozess hatte erst dann vollen Erfolg, als er auch von den Vereinigten Staaten unterstützt wurde. Auch dort hatte die Idee einer jüdischen Nation, die das Recht hat, nach Palästina zurückzukehren und dort ein Zion aufzubauen, eine lange Tradition und Geschichte. Zur selben Zeit, zu der viele europäische Protestanten Auffassungen klar artikulierten, erschienen sie in ähnlicher Form auf der anderen Seite des Atlantiks. So etwa meinte US-Präsident John Adams (1735-1826): „Ich wünsche mir wirklich, dass die Juden wieder eine unabhängige Nation in Judäa werden.“25Aber die Unterstützung der USA für all das wurde erst viele Jahre später entscheidend.

Ich weiß natürlich, dass einige auch bezweifeln, ob die Juden, die sich dann als Zionisten in Palästina ansiedelten, tatsächlich die Nachkommen der Juden waren, die zweitausend Jahre zuvor von den Römern ins Exil getrieben worden waren. Diese Fragestellung begann mit den populär gewordenen Zweifeln Arthur Koestlers (1905-1985), der in seinem 1976 erschienenen Buch Der dreizehnte Stamm die These vortrug, die jüdischen Siedler in Israel stammten in Wirklichkeit von den Khasaren ab, einem türkischen Stamm im Kaukasus, der im 8. Jahrhundert zum Judaismus konvertierte und später weiter nach Westen ziehen musste. Seit der Veröffentlichung seines Buchs haben israelische Wissenschaftler immer wieder zu zeigen versucht, dass es genetische- und DNA-Beweise dafür gibt, dass die Juden des römischen Palästina und die des heutigen Israel miteinander verwandt sind. Die Debatte dauert bis heute an.26

Nicht vom Zionismus beeinflusste Bibelwissenschaftler wie Keith Whitlam, Thomas Thompson und der israelische Wissenschaftler Israel Finkelstein legten dann ernsthaftere Analysen vor, die allesamt die Bibel als irgendwie bedeutsamen Tatsachenbericht zurückweisen.27 Whitlam und Thompson bezweifelten außerdem die Existenz eines Gebildes wie der jüdischen Nation zu biblischen Zeiten und kritisierten ebenso wie andere Wissenschaftler ein Phänomen, das sie als die „Erfindung des modernen Israel“ bezeichnen, als Werk pro-zionistischer christlicher Theologen. Die neueste und aktuellste Dekonstruktion dieser Idee findet sich in Shlomo Sands beiden Büchern Die Erfindung des jüdischen Volkes und Die Erfindung des Landes Israel.28

Ich respektiere und schätze diese wissenschaftliche Arbeit. Dennoch denk ich, dass die Widerlegung des Mythos von der Existenz eines jüdischen Volkes weniger wichtig ist, als die These, die bestreitet, dass es ein palästinensisches Volk gab – und das, obwohl der eine Mythos das genaue Gegenstück des anderen ist. Völker haben das Recht dazu, sich selbst zu erfinden, wie es so viele nationale Bewegungen vom Augenblick ihrer Gründung an getan haben. Das Problem wird dann akut, wenn Erzählungen von der „Geburt“ der einen Nation zu gegen andere Gruppen gerichteten politischen Projekten wie Völkermord, ethnischer Säuberung und Unterdrückung führen. Im spezifischen Fall des Zionismus kommt es nicht auf die historische Richtigkeit der Behauptung, immer ein Volk gewesen zu sein, an, sondern darauf, dass der Staat Israel darauf besteht, sämtliche Juden auf der ganzen Welt zu repräsentieren, weshalb alles, was er tut, um ihretwillen und in ihrem Namen geschehe. Bis 1967 war diese Behauptung für den Staat Israel von enormem Nutzen. Die Juden auf der ganzen Welt, insbesondere in den Vereinigten Staaten, wurden sofort zu seiner wichtigsten Gruppe von Unterstützern, wann immer seine Politik in Frage gestellt wurde. In vielerlei Hinsicht ist das in den USA immer noch der Fall. Aber selbst in den Vereinigten Staaten, und noch mehr in anderen jüdischen Gemeinschaften andernorts, wird diese klare Verbindung heute in Zweifel gezogen. Das bringt uns zu der dritten fragwürdigen Behauptung unserer Mythologie.

8 Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010. Übersetzung der hebräischen Originalausgabe von 2008.

9 Thomas Brightman, The Revelation of St. John illustrated with an analysis and scholions [sic], 4. Ausgabe, London 1644, S. 544.

10 Das ist ein Zitat aus einem Brief, den er am 4. Dezember 1665 an Baruch Spinoza schrieb. Zitiert in: Franz Kobler, The Vision Was There: The History of the British Movement for the Restoration of the Jews to Palestine, London 1956, S. 25f.

11 Hagai Baruch, Le Sionisme Politique: Precurseurs et Militants: Le Prince De Linge, Paris 1920, S. 20.

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