Die Farben meines Lebens - Arik Brauer - E-Book

Die Farben meines Lebens E-Book

Arik Brauer

0,0

Beschreibung

»Ich kann nicht anders. Malen ist mein Leben.« Arik Brauer Zeitgeschichte und Lebensgeschichte: Die bewegenden Memoiren von Universalkünstler Arik Brauer, ein farbiges Kaleidoskop aus Geschichten, Liedtexten und Illustrationen, erzählen von seiner Kindheit und Jugend, seiner Karriere und seinen Überzeugungen – ein Werk, das poetische Literatur und eine schonungslose Darstellung der Ereignisse des 20. Jahrhunderts meisterhaft in sich vereint. Im liebevollen Andenken an Arik Brauer enthält die vorliegende Neuausgabe seiner Autobiografie persönliche Beiträge seiner Töchter Timna, Talia und Ruth sowie ausgewählte Abschiedsworte namhafter Wegbegleiter und Freunde wie Danielle Spera, Otto Schenk, Rudolf Buchbinder oder Alexander Van der Bellen. Mit zahlreichen Abbildungen und Illustrationen

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Farben meines Lebens

Erinnerungen

Bildnachweis

Alle Abbildungen stammen aus dem Privatarchiv von Prof. Arik Brauer, mit Ausnahme der folgenden:

Johann Klinger, Wien (193), Jonathan Meiri-Brauer (314), Archiv Talia Brauer (316), Ruth Brauer-Kvam (317), Mijou Kovacs (334)

Originalgrafiken: © Arik Brauer

Herzlichen Dank an Mijou Kovacs für die Bereitstellung ihres Porträtfotos von Arik Brauer.

Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt. Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten Bilder nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2021 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Ergänzte Neuausgabe, basierend auf der durchgesehenen, erweiterten Neuausgabe von 2014; Originalausgabe 2006 © Amalthea Signum Verlag, Wien

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT

Umschlagfoto: © Jasmin Meiri

Herstellung: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-99050-216-7

eISBN 978-3-903217-85-0

Dieses Buchist meiner Frau Naomigewidmet

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Neuausgabe

Simche und die Wölfe

Die Mutter

Bericht eines Nasenbären

Das Viererhaus

Vater Wanz

Der Chef

Die Hausmeisterin

Der Surmi sui

Komm zur Waffen-SS

Die Tischlerei im Tempel

Das Dummerl

Die Panzerfaust

Völker, hört die Signale

Die singenden Holzfäller

Die Akademie-Zentauren

Die Sudetendeutsche

Berg Heil

Kunsthandel mit Glockenmenschen

Die Sklavin

Ein Vater aus Kärnten

Vom Raimund Theater nach Israel

Familie Dahabani

Paris, je t’aime

Berichte aus der Gebärmutter

Die Fruchtbarkeitsgöttin

Die Macht der Lieder

Wie baut man ein Haus im Morgenland?

Die 68er

Amerika

Ein Beduine erzählt

Die Vollversammlung

Wie wird man ein Ölgemälde?

Der Flüchtling

Familienzwist

Die Wiener Schule des phantastischen Realismus auf Reisen

La Flute

Die Ritter von der Stopfenreuth

Bericht einer Qualle

Guten Tag, Herr Professor

Bericht einer Krähe

Architektur, wohin?

Bericht eines Murmeltiers

Das Großväterseminar

Das Haus unter der Blutbuche

Das Steinzeitgenie

Aus dem Tagebuch einer Kaulquappe

Festrede von Arik Brauer

In memoriam Arik Brauer

Vorwort zur Neuausgabe

Ich habe mein Leben in einer Zeit verbracht, in der große und dramatische Veränderungen in allen Bereichen der menschlichen Gesellschaft stattfanden. Dies ist wohl ein guter Grund, das Erlebte und Beobachtete festzuhalten. Was mir dabei zugute kam, ist die Tatsache, dass ich die gesamte soziale Skala durchlebt habe: von „unter der Brücke“ bis zur Gründerzeitvilla, vom verfolgten „Untermenschen“ bis zum anerkannten Künstler.

Ich schildere in diesem Buch Personen und Situationen, die mir für die jeweilige Zeit und soziale Situation aussagekräftig schienen. Über mich selbst schreibe ich in der dritten Person, denn es ging mir nicht darum, einen detaillierten Lebenslauf zu schildern, eher wollte ich mir vorstellen, wie mich meine Mitmenschen und „Mittiere“ erleben.

Wenn ich Tieren menschliches Denken zugeschrieben habe, so ist dies natürlich eine stilisierte Vereinfachung. Ich glaube aber, dass alle Lebewesen auf ihre Art die Welt nicht viel anders erleben als wir. Alle Ereignisse, die von Tieren bezeugt werden, haben sich im Wesentlichen so zugetragen, wie sie von der Qualle, der Krähe, dem Murmeltier, der Wanze und dem Wolf geschildert werden. Dass ich dem Wolf die Rolle des SS-Mannes aufgebürdet habe, ist eigentlich unzulässig, denn Wölfe haben ja im Unterschied zu SS-Männern Artgenossen gegenüber eine Tötungshemmung. Ich möchte mich hiermit bei den Wölfen entschuldigen.

Das tragische Ende der Autistin, des „Dummerls“, habe ich, so weit wie es möglich war, recherchiert. Ihre kleine Blockflöte besitze ich bis heute und spiele darauf manchmal das Schubertlied „Du bist die Ruh“.

Bei dem Erlebnis mit der Sklavin ist wohl das Wunschdenken mit mir durchgegangen. Die Geschichte entspricht bis zu ihrem Ankauf durch die Fremdenlegionäre den Tatsachen. Ihre anschließende Karriere habe ich erfunden. Wahrscheinlich hatte sie das traurige Schicksal einer Prostituierten in Algerien.

Eine Nachbarin in Ottakring, die eine entfernte Verwandte des SS-Mannes Gerhard war, hat mir sein Schicksal während des Krieges in groben Zügen geschildert. Das Plakat „Kommt zur Waffen-SS“ hat existiert. Es war so gut gezeichnet, dass ich als 10-jähriger Jude bedauert habe, nicht zur Waffen-SS gehen zu können.

Die kleine Fruchtbarkeitsgöttin steht bei uns in einer Vitrine zwischen byzantinischen Gläsern und ihr Gesicht zeigt ein zufriedenes Grinsen, wenn die Scharen unserer Nachkommen eintreffen.

Dass sich das Schiller-Denkmal an den Kunstgesprächen der Akademie-Zentauren öfters beteiligte, ist schwer nachzuweisen, aber dass Schiller ein lüsternes Grinsen zeigte, wenn Kunststudentinnen auf seinem Sockel saßen, dafür gibt es zahlreiche Zeugen.

Den Palästinenser-Krieger habe ich nach und vor unserer kurzen dramatischen Begegnung nie gesehen. Ich kenne aber durch zahlreiche intensive Kontakte mit Arabern und Drusen die unterschiedlichen Abläufe der Flüchtlingsschicksale sehr gut. Meine Schilderung kommt sicher der Wirklichkeit sehr nahe.

Was das Tagebuch der Kaulquappe betrifft, es gibt in der Wüste tatsächlich eine Krötenart, deren Überleben durch geplanten Kannibalismus ermöglicht wird.

Die Malerei ist natürlich ein zentrales Thema in meinem Leben und daher auch in meinem Buch. Künstler sind sicher nicht die richtige Adresse, um die verschiedenen zeitgenössischen Strömungen der Kunstgeschichte zu beurteilen, da sie natürlich alles auf die eigene Tätigkeit beziehen. Ich war bemüht, mir in diesem Buch diesbezügliche Werturteile zu ersparen, was mir vielleicht nicht immer gelungen ist. Geht es aber um das „Sein oder Nichtsein“ der Malerei oder des Kunstbegriffs schlechthin, muss sich wohl jeder Künstler verpflichtet fühlen, Stellung zu beziehen. „Jeder ist Künstler“ oder jeder Gegenstand wird zum Kunstwerk, wenn er von einem Künstler dazu erklärt wird. Das sind griffige Parolen, in denen sich aber der Begriff und das Wort Kunst in Luft auflösen. Das Entstehen von Kunst setzt voraus, dass jemand Kunst anstrebt und dafür begabt ist. Alle Kunstsparten basieren auf arterhaltenden Fähigkeiten, mit denen wir geboren werden. Wir sind imstande, uns zu bewegen, und diesbezüglich besonders Begabte tanzen. Wir können schreien – Begabte singen. Wir können sprechen – Begabte dichten. Wir lernen als Kind zeichnen – Begabte können im Alter von 10 Jahren ein naturgetreues Porträt der Mama zeichnen und haben damit das Potenzial, Künstler zu werden. Der bleibende Wert eines Kunstwerks hängt einzig und alleine von der Begabung des Künstlers ab und keineswegs von der zeitgebundenen Wichtigkeit, die das Werk im Lauf der Kunstgeschichte erhält. Johann Nestroy sagte: „Kunst is, was man net kann, weil wenn man es kann, ist’s ja ka Kunst.“ Diesem brillanten Sager könnte man auch eine andere Bedeutung geben: Kunst kann man nicht „können“. Die Muse küsst, wen sie will und wann sie will.

Arik BrauerSommer 2014

Mein Vaterwurde im Jahr 1883 in Vilna geboren. Er emigrierte 1907 nach Wien und arbeitete hier als selbstständiger Schuhmachermeister. Im Jahr 1924 heiratete er die 1898 geborene Hermine, geb. Sekirnjak, die zwei Kinder zur Welt brachte – 1927 meine Schwester Lena und 1929 mich, Erich. Meine Familie wohnte in einer Zimmer-Küche-Wohnung im 16. Wiener Gemeindebezirk.

Die Rassegesetze in den Jahren 1938 bis 1945 hatten auch für unsere Familie katastrophale Folgen. Mein Vater wurde aus dem Haus gewiesen, musste sich verstecken und seine Werkstätte wurde konfisziert, desgleichen die Ersparnisse meiner Mutter. Meine Schwester und ich wurden aus den Schulen geworfen. Meine Mutter und meine Schwester waren zum so genannten Stichtag 1933 nicht Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde (Ältestenrat der Juden in Wien), sie mussten daher keinen Judenstern tragen. Ich hingegen war Mitglied, trug den Stern, hatte jüdische Lebensmittelkarten und im Reisepass das große rote „J“. Die Flucht nach Riga gelang nur meinem Vater. Für den Rest der Familie war es zu spät. Bis zu meinem 13. Lebensjahr besuchte ich noch diverse jüdische Schulen, dann arbeitete ich in der Kultusgemeinde. Gegen Ende des Krieges wurde mir die Kennkarte abgenommen und ich wurde zur Verschickung „ausgehoben“. Es gelang mir unterzutauchen und in den Wirrnissen des Kriegsendes zu überleben. Mein Vater verstarb 1944 in einem Konzentrationslager in Lettland, meine Mutter lebte in Wien bis zu ihrem Tod 1987.

Simche und die Wölfe

Sein Name war Simche Mosche Segal. Segal ist ein bedeutender Name im Judentum und kommt gleich nach Levy und Cohen. Der 13-jährige Simche ahnte nicht, dass er mit 26 Jahren mit einem gefälschten Pass – lautend auf den Namen Brauer – aus Russland nach Wien flüchten würde. Die Familie Segal hatte ein kleines Fuhrwerksunternehmen in Vilna, bestehend aus einer Kutsche und einem Pferd. Es waren natürlich fromme Leute, wie jedermann im 19. Jahrhundert. Der Großvater war Kantor und alle männlichen Mitglieder der Familie konnten einiges Hebräisch. Außer Haus wurde Russisch gesprochen, daheim litauisches Jiddisch, das dem Deutschen näher ist als die polnische Variante. Litauisch wurde nur von der Landbevölkerung gesprochen und verstanden.

Simche hatte soeben seine Bar Mizwa gefeiert. Er war hochmusikalisch, hatte eine helle Knabenstimme, sein Vortrag im Tempel hatte allgemeine Anerkennung gefunden, und es regnete Geschenke. Das Fest wurde traditionell gefeiert, Verwandte waren angereist, und die Klezmorim (Musiker) spielten auf, wie es sich gehört. Für Simche aber war das Wichtigste die Einladung bei seinen Großeltern. Der Kantor, den er über alles liebte, hatte immer ein kleines Liedel auf den Lippen und verstand es vorzüglich, Witze und kleine Geschichten zu erzählen. Die Großeltern wohnten in einer entfernten Kleinstadt, und die Anreise mit der Kutsche dauerte einen ganzen Tag. Nach einer Woche Liedeln, Mohnkreplach (mit Mohn gefüllte Teigtaschen) und Zimes wurde das Pferd wieder aufgezäumt und Abschied genommen. Es war ein kalter Novembertag, und der Morast auf den Straßen war festgefroren. Das Pferd fühlte sich unsicher, man kam nur langsam voran und bald nach Mittag begann es bereits zu dämmern. Der Kutscher – ein gutmütiger Litauer – sparte nicht mit saftigen russischen Flüchen und Peitschengeknall. Simche saß in eine Decke gehüllt im halboffenen Wagen und betrachtete verträumt die langsam vorbeiziehenden Wälder und Sümpfe. Ein gelbliches, trübes Licht hing zwischen den vernebelten Birkenkronen, und die dünne, harte Schneekruste, die den Boden bedeckte, zeigte zahlreiche Risse und Rinnen, Spuren des letzten Tauwetters. Gegen Abend hatte sich eine trübe Dunkelheit breit gemacht, und das Pferd bekam es langsam mit der Angst zu tun. Es wusste nichts von dem sich langsam vergrößernden Sprung in der Wagenachse, aber es fühlte, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. „Sollten wir nicht lieber einen nahen Stall aufsuchen?“, meinte das Tier. Der gutmütige Litauer verstand das Geschnaube genau und antwortete: „Mach weiter Pferd, hier gibt es keine Ställe.“ Simche schlief in seine Decke eingewickelt, als die Achse brach und er unsanft geweckt wurde. Das Pferd tanzte und ärgerte sich, dass es weder Russisch noch Jiddisch sprechen konnte, wollte es doch seiner Empörung und Angst Luft machen. Der Kutscher fluchte und kroch unter den halb umgekippten Wagen, wobei sich Tempo und Lautstärke seiner Verwünschungen noch steigerten. Schließlich spannte er das Pferd aus, bestieg es ohne Sattel, beauftragte Simche im Wagen zu warten und ritt davon. Simche saß im Wagen, er machte sich mit der Decke vom Kutschbock eine Art Zelt und hatte es verhältnismäßig warm. Bald schlief er wieder ein. Nach Mitternacht wurde es empfindlich kalt, er wachte auf und starrte in die zähe Finsternis. Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun. Wie spät ist es? Wann kommt der Kutscher? Wo bin ich? Muss ich jetzt erfrieren? Er begann zu beten: Schema Israel Adonai Eloheino. Er murmelte Psalmen, die er auswendig wusste. Die Zeit wurde endlos. Im Halbschlaf glaubte er, Leute sprechen zu hören, aber es war nur sein eigenes Gemurmel. Dann hörte er ganz deutlich Hundegebell, wachte auf und schälte sich aus der Decke. Irgendwo wurde gebellt, kein Zweifel, er hatte nicht geträumt, da waren wohl auch die Stimmen kein Traum gewesen – wo es Hunde gibt, da sind auch Menschen. Ein Haus vielleicht, ein Dorf. Er kletterte aus dem Wagen und lauschte in den Wald hinein. Jetzt war ein Heulen zu hören, ganz in der Nähe. Er begann dem Geräusch nach in den Wald zu stolpern. Kaum hundert Meter hatte er sich von Baum zu Baum vorangetastet, als sich eine Lichtung vor ihm auftat. Der Nebel hatte sich gehoben, und zwischen schweren Wolkenfetzen schickte der Mond einen fahlen Schein auf einen kleinen zugefrorenen Teich. Die ganze Lichtung war von dichtem Gestrüpp umstanden, das wie ein Zaun den Teich umrandete. Simche trat einige Schritte auf die feste Eisdecke vor. Das Heulen war verstummt und passend zum fahlen Mondlicht erfüllte eine lähmende Stille die Lichtung. Simche wartete ziemlich lange, aber alles blieb ruhig. Er wollte schon weitergehen, als sich etwas Dunkles langsam aus dem Dickicht herausbewegte. Der Knabe hatte einen riesigen Hund vor sich, der sich schwarz von der hellen Eisdecke abhob. Das Tier blieb in der Mitte des Teiches stehen und starrte unverwandt auf den jungen Menschen. Wieder vergingen Minuten, die Simche endlos erschienen. Dann begann sich das Dickicht zu bewegen und an die zwanzig graue Wesen traten ins Mondlicht. Da begriff Simche, dass er ein Rudel Wölfe vor sich hatte. Er stand wie gelähmt da und sah in die glänzenden Augen des regungslos vor ihm verharrenden Leitwolfes. Was in seinem Kopf abrollte, war nicht sein vergangenes Leben, sondern sein zukünftiges. Er hörte den Wolf sprechen: „Hier bin ich, aber du hast noch fünfzig Jahre, dann komm ich wieder.“ Der Wolf hechelte bloß, aber im Kopf des Knaben wandelte sich das Geräusch in Worte, die ihm für einen kurzen Moment jenes weltumspannende Netz sichtbar machten, jenen Zusammenhang von allem mit allem, in dem der unabänderliche Ablauf von Ursache und Wirkung die Zukunft entscheidet. Kurz darauf drehte sich der Wolf um und verschwand im Gebüsch, so als wüsste er, dass seine Aufgabe vorläufig erfüllt war. Sogleich verschwand das gesamte Rudel. Simche taumelte benommen zurück durch den Wald. Als er bei der Kutsche war, begann es im Osten bereits zu dämmern und der gutmütige Litauer war damit beschäftigt, die mitgebrachte neue Wagenachse zu montieren. Sie erreichten Vilna am späten Nachmittag.

Simche benützte seine geborgten fünfzig Jahre auf seine Weise. Er wandte sich vom Talmud ab, wurde nachdenklicher Marxist und erlernte das Schusterhandwerk. Eine Religion oder fixe Ideologie, die man als Kind eingraviert bekommt, ist sehr schwer abzuschütteln. Die jüdische Religion ist nur zu ertragen, wenn man ihre Grundlage, nämlich das Alte Testament, als absolute und unhinterfragbare – vom Schöpfer selbst – verkündete Wahrheit akzeptiert. Für ein Kind stellt dies kein Problem dar, ein Erwachsener hingegen muss viele zunächst eindeutig scheinende Fakten als falsch abkanzeln. Ein ideologischer Eiertanz, der umso komplizierter wird, je mehr Tatsachen einem bekannt sind. Simche lernte in seiner Jugendzeit offensichtlich zu viele solcher Fakten, die in krassem Widerspruch zur Schöpfungsgeschichte stehen, zum Beispiel die Erschaffung der Pflanzen am Dienstag und die Erschaffung der Sonne am Mittwoch. Das Weltbild seiner Kindheit, das ja auch von seiner ganzen Umgebung mitgetragen wurde, brach für ihn zusammen. Was weiß eine Ameise, die über ein Buch klettert, vom Inhalt und Sinn des Geschriebenen? Nichts. Selbst eine noch so begabte Ameise – ein Ameiseneinstein – kann nur erkennen, wofür ihre Antennen gebaut sind, was für den Fortbestand ihrer Art von Relevanz ist. So eine Ameise ist der Mensch vor dem Ursprung und der Ursache von allem. Weil wir aber auch neugierige Affen sind, füllen wir dieses totale Nichtverstehen mit Phantasiegebilden, die sich auf erstaunlich naive Weise an menschlichen Lebensbedingungen orientieren.

Als der Russisch-Japanische Krieg ausbrach und das Väterchen Zar mit eisernen Krallen nach allem fasste, was sich im Krieg verheizen ließ, floh Simche nach Wien. Er fand dort Arbeit und lebte als Junggeselle im Arbeiterheim. Eine Zeit lang wohnte dort auch „a verkrampfter Oberchochem“, der wenige Jahre später als der „Führer“ Adolf Hitler die Welt ins Unglück stürzen sollte.

Brauers fünfzig Jahre waren keine sehr günstigen: Erster Weltkrieg, Nachkriegselend, Wirtschaftskrise und Nationalsozialismus. Trotzdem gelang es ihm, eine Familie zu gründen und dieselbe bescheiden, aber gut über die Runden zu bringen. Gewohnt wurde in einer Zinskaserne am Ludo-Hartmann-Platz 4. Zimmer, Küche, Wasser und Toilette am Gang. 1927 kam ein Mädchen zur Welt, das nach dem russischen Fluss Lena benannt wurde, 1929 ein Knabe: Erich Brauer.

Simche arbeitete alleine in seiner kleinen Werkstätte. Er machte orthopädische Schuhe. Von einem Achtstundentag konnte keine Rede sein. Wenn er abends nach Hause kam, waren die Kinder bereits im Bett, dann trank er zusammen mit seiner Frau eine Tasse Tee in der Küche und es wurde im Flüsterton geplaudert. Die Schule des Knaben lag nahe der Werkstätte, und der Bub verbrachte dort drei Nachmittage pro Woche. Es blieben ein Nachmittag für die Religionsstunde, die der „Sozialistenspross“ aus unerklärlichen Gründen besuchen musste, und zwei für den Park. In der „Schil“ war das Kind ein Jude unter Juden, im Park ein Goi (eigentlich Stamm, für Nichtjuden gebrauchter Ausdruck) unter Goim. Der Bub wuchs in einem friedlichen Elternhaus auf, mit Schrebergarten-Besuchen und Wienerwald-Ausflügen. Trotzdem rannte er – wann immer er konnte – in den Park, wo grausame Sitten herrschten. Simche, der sehr gut Deutsch sprach und schrieb, verehrte die deutsche Literatur über alles. Die im Deutschen allgemein bekannten hebräischen Worte wie Tachles, Masel, Tinnef etc. verwendete er selten, häufig aber jene charakteristischen, aus dem Mittelhochdeutschen stammenden jiddischen Wendungen wie „sei sennen“ („sie sind“) oder „daffen“ („bedürfen“ in der Bedeutung von „sollen“). Als sein Sohn zu fragen begann, wieso Papa anders spreche als die Mutter, wurde ihm verschämt mitgeteilt: „Papa hat einen russischen Akzent.“ In der Werkstätte jedoch wurde oft Jiddisch gesprochen, da natürlich viele Leute mit Platt- und Klumpfüßen Juden waren. Der kleine Erich machte seine Hausaufgaben schnell und schlampig, um sich nur ja möglichst rasch seiner Haupt- und Lieblingsbeschäftigung zu widmen, nämlich am Fensterbrett sitzend zu zeichnen. Simche erkannte bald, dass sein Sohn begabt war, viele Erwachsene fanden ihn sogar außergewöhnlich begabt. Diese Erkenntnis war von großer Bedeutung für den Vater, und selbst in seinem letzten Brief, den ein Soldat nach Wien geschmuggelt hatte, fragte er, ob der Bub noch male.

Simche Brauer erzählt seinem Sohn Erich im Schrebergarten Geschichten.

Sosehr die deutschsprachige Kultur und die Errungenschaften des Austro-Marxismus von ihm bewundert wurden, gelang es ihm doch nie, ein Wiener unter Wienern zu werden. Er trank keinen Alkohol, war absolut nicht sportbegeistert und bei Wienerwald-Ausflügen immer unpassend gekleidet. Mit seiner Arbeit und seiner Familie war er glücklich, was er hatte und was er war, genügte ihm. Das Wolfsrudel tauchte indes wieder auf und diesmal war es von der Tollwut befallen. Simche erkannte es nicht – Bänke nur für Arier, Straßen abbürsten, Ersparnisse konfisziert, Zusatznamen Israel und Sarah, Kinder aus der Schule geworfen. Simche wollte es nicht glauben: „Ein Gewitter wird vorübergehen. Das sind doch keine Kosaken, diese Menschen haben die allgemeine Schulpflicht eingeführt, haben Goethe und Schubert hervorgebracht, man wird sich wieder beruhigen.“ Aber auch die Kosaken haben einen Dostojewski und Tolstoi und Gorki hervorgebracht, und das hat sie nie gehindert, Judenkinder mit Lanzen aufzuspießen. Es war kein Gewitter, sondern eine Eiszeit.

Als die Werkstatt versiegelt war und man sich verstecken musste, begann eine hektische, hoffnungslose Suche nach einem Fluchtweg. Amerika wollte ein Affidavit sehen, die Schweizer schickten zurück nach Dachau, was sich in ihr Land hineingeschlichen hatte, Shanghai war offen für Juden, aber die Reisekosten unerschwinglich. Also auf über die grüne Grenze – zurück in die ungeliebte östliche Heimat. Simche schaffte es im letzten Moment, die Familie blieb hängen. In Riga ging er sofort daran, eine neue Existenz aufzubauen. Das Verhängnis aber rollte schneller. Bald stand er vor der Alternative, wieder in die Hände der Nazis zu geraten oder nach Russland zu fliehen, was mit einem deutschen Pass Sibirien bedeutete.

Wohl meldete sich die gute Stimme der Erkenntnis: „Deine fünfzig Jahre sind noch nicht ganz um. Menschen mit kranken Füßen gibt es auch in Sibirien.“ Aber Simche wollte nicht hören. Sibirien ist weit und Russland ist grausam. In Deutschland dachte er, muss früher oder später die Kultur obsiegen. Dass es Gaskammern gibt, konnte oder wollte er nicht glauben, das Knurren des Wolfsrudels wollte er nicht hören. Er blieb in Riga. Im Herrschaftsbereich der Deutschen träumte er, gäbe es vielleicht noch eine Möglichkeit, seine Familie wiederzusehen oder zumindest eine Nachricht zu erhalten. Im Jahr 1944 aber waren seine fünfzig Jahre um. Er stand wieder im kalten Mondlicht auf dem hart gefrorenen Schnee. Zum Skelett abgemagert, hatte ihm jemand eine zerschlissene Decke umgehängt. Der Platz war wieder umzäunt, diesmal mit Stacheldraht. Vor ihm stand der Leitwolf im schwarzen Ledermantel und deutete mit der Pfote auf das Tor mit der Aufschrift „Waschraum“. Gestützt auf einen Menschen schwankte Simche zum Eingang. „Hast du noch etwas zu sagen?“, fragte der Mensch. „Wenn du meinen Sohn in Israel triffst, sag ihm, meine letzten Gedanken galten meiner geliebten Familie.“ Der Mensch hat seinen Wunsch erfüllt.

Die Mutter

Der Name Sekirnjak kommt aus dem Serbokroatischen und bedeutet so viel wie Wurfaxt (Zakan). Das hebräische Wort Sakin (Messer) hat wohl etwas damit zu tun. Josef Sekirnjak war Schriftsetzer, ein Elite-Beruf in der Arbeiterklasse der damaligen Zeit. Dies bedeutete keineswegs, dass er wohlhabend war. Mit Müh und Not konnte er seine sieben Kinder über die Runden bringen. Sein Interesse galt nicht dem Kaiser, sondern der sozialistischen Bewegung, und so waren auch seine Kinder Naturfreunde, Kinderfreunde, Abstinenzler, Besucher der Volkshochschulen et cetera. Die drei Töchter waren Pionierinnen im Tragen moderner Kleider: „knöchelfrei!“ Man spielte Klavier, man sang in allen möglichen Chören und man hatte einen Schrebergarten, der als Vitaminlieferant von großer Bedeutung war. Sport und Naturliebe standen hoch im Kurs, auch bei den jüdischen Zweigen des Stammbaums. Hermine, die Zweitälteste, war eine Vorzugsschülerin in allen Fächern, hochmusikalisch und hatte eine wunderbare Altstimme. Sie war groß, hatte dunkle Augen und Haare, aber schlechte Zähne, unter denen sie sehr litt. Ihre wohlgeformten Beine vererbten sich bis ins vierte Glied der Familienkette. Sie hätte eine ausgezeichnete Musiklehrerin oder Ärztin werden können, aber nicht als eines von sieben Kindern eines Proletariers. Mit 14 begann sie zu arbeiten und ihre Fähigkeiten wurden rücksichtslos ausgebeutet, was von ihr aber willig akzeptiert wurde. Im Volksheim Ottakring lernte sie den Immigranten Simon Brauer kennen. Beide besuchten einen Kurs für deutsche Literatur, und Bücher waren auch die erste Brücke, die das Paar zueinander führte. Die Lebensbedingungen der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts waren äußerst schwierig, und es dauerte acht Jahre bis es gelang, einen gemeinsamen Hausstand zu gründen. Simon machte Schuhe, Hermine führte Buch, lieferte die Ware mit der Straßenbahn aus, besorgte den Haushalt und brachte zwei Kinder zur Welt. Im Jahr 1934, als es in Österreich zu Kampfhandlungen kam und vom nahen Arbeiterheim her Schüsse zu hören waren, stopfte Hermine die Fenster mit Matratzen zu und beweinte die verloren gegangene Demokratie. Ihr fünfjähriger Sohn, der sich mit einem Tschako aus Krepppapier auf ein Faschingsfest im Kindergarten vorbereitet hatte, musste erleben, dass dieses Fest abgesagt wurde. Was Wunder, dass aus dem Buben ein glühender Antifaschist wurde.

Im Sommer fuhr man aufs Land. Der Exadel nach Bad Ischl, das Großbürgertum auf den Semmering, die Mittelschicht und gehobene Arbeiterklasse in die Umgebung der Stadt, die armen Teufel in die Lobau. Die Familie Brauer, ihrer sozialen Position entsprechend, besuchte teils Umgebung, teils Lobau. Was man heute als Vororte von Wien bezeichnen würde, war in den 30er Jahren wie eine Reise in die Karibik. Nach Alland fuhr man beispielsweise mit Straßenbahn, Bahn und Bus sechs bis sieben Stunden. Dort sprachen die Leute bereits einen anderen Dialekt als in Wien, waren anders gekleidet und besaßen überhaupt eine andere Kultur. Gewohnt wurde bei Bauern oder Kleinhäuslern, die einen Teil ihrer kleinen Wohnstätten vermieteten. Es roch interessant nach Stall und der kleine Sohn begann sogleich mit Feuereifer Kühe und Ziegen zu zeichnen.

Einquartiert waren auch Cousine und Cousin Spitzer und natürlich die ältere Schwester des Buben. Der Cousin war um einige Jahre älter als die Brauer-Kinder und daher bewundertes Vorbild und Chef aller Spiele und Unternehmungen. In der Umgebung von Alland gibt es eine Tropfsteinhöhle, deren Besuch die Kinder in eine Art „Tropfstein-Ekstase“ versetzte. Es wurden sofort Mineraliensammlungen angelegt und man zog los, um auf der Geröllhalde des Berges Tropfsteine zu suchen. Der zeichnende Sohn wurde als der Jüngste nur sehr ungern mitgenommen, da seine Anwesenheit die nach Erwachsen-Sein dürstende Gesellschaft an den soeben überwundenen Kindergarten erinnerte. Aber Gott ist nicht immer ungerecht und der Kleine fand als Einziger zwei Tropfsteine, einen großen und einen kleineren. Der Bub, bereits wissend, in welche Welt er hineingeboren worden war, fürchtete – und das mit Recht –, dass ihm die Großen die Steine wegnehmen würden. Andererseits wollte er sich natürlich mit seinem Fund wichtig machen. Er löste das Problem, indem er den großen Stein versteckte und sich mit dem kleinen wichtig machte. Wie erwartet fielen alle über ihn her: „Du bist klein, du verstehst nichts von Steinen, du hast keine Sammlung, du bist blöd, gib uns den Stein.“ Ein Machtwort der Mutter machte den Kleinen zum alleinigen und rechtmäßigen Besitzer des Steins. Die Rache des Cousins war schrecklich. Nachdem er die Kleinheit des Steins entsprechen betont hatte, gab er dem Buben folgenden Rat: „Leg den Stein unter die Wasserleitung und lass sie tropfen, morgen Früh ist der Stein größer.“ Der Rat wurde von dem Buben natürlich mit Begeisterung befolgt und nach einer Nacht unruhiger Tropfsteinträume eilte er voll freudiger Hoffnung zur Wasserleitung. Es war nicht die letzte Enttäuschung, die das Leben für ihn bereithielt, aber sicher eine der größten. In seiner Not machte er Folgendes: Er versteckte den kleinen Stein und legte den großen unter die Wasserleitung. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er den Triumph des gelungenen Betrugs empfand. Jahre später gestand der Cousin, dass er den Trick sehr wohl durchschaut hätte, aber den Sieg des Kleinen respektieren wollte. 1939 floh dieser Verwandte über die Schweiz nach England und kehrte 1945 als englischer Soldat und glühender Kommunist nach Wien zurück.

Was hätten wir für eine Welt, wenn alle Menschen so einen Charakter besitzen würden wie die Hermine Brauer. Man bräuchte keine Schlösser an den Türen, keine Polizei, keine Gerichte, kein Militär, kein Geld, keine Tretminen und keine Atombomben. Jeder wüsste, was er der Gesellschaft schuldet und würde mit Freuden seinen Teil zum Wohlergehen der Menschheit beitragen. Solch ein Paradies hätten wir, wären alle so wie Hermine. Wenn es darum ging, einen Schrebergarten zu erben oder eine Wohnung im Gemeindebau zu bekommen, ließ sie anderen den Vortritt. Die Zimmer-Küche-Wohnung am Ludo-Hartmann-Platz schien ihr groß genug für vier Personen und besonders die schönen Parkbäume vor den Fenstern waren ihr wichtiger als die Probleme mit den Gangtoiletten und der Waschküche. Der monatliche Waschtag forderte tatsächlich alle ihre physischen Kräfte, denn die gekochte, gebürstete und gerumpelte nasse Wäsche musste zum Trocknen vom Keller auf den Dachboden im fünften Stock getragen werden. Als es für Juden verboten war, einen Beruf auszuüben, wusch Hermine auch die Wäsche anderer Leute, machte Näharbeiten und lernte Englisch in der Hoffnung, mit ihrer Familie in die USA auswandern zu können. Als es ans Hungern ging, fütterte sie ihre heranwachsenden Kinder und magerte selbst zum Skelett ab. Das Hungerödem hinderte sie aber nicht, ihren Sohn in die Geheimnisse der Harmonielehre einzuweihen und für ihre Tochter alte Kleider zu wenden. Sie konnte nicht lügen, Versprechungen wurden immer eingehalten und im Verzeihen war sie Weltmeisterin. Wieso konnte sie sich so verhalten, obwohl sie weder Lohn noch Strafe in einem Jenseits erwartete? Und wieso zeigen so viele Menschen ein gegenteiliges Verhalten, obwohl sie eine fixe Vorstellung von Himmel und Hölle haben? Es mag schon stimmen, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, aber offensichtlich hat unser Bewusstsein keine sehr große Bedeutung für unser Verhalten. Das Lebenswetter der Hermine Sekirnjak-Brauer zeigte fast immer schwere Wolkenberge mit bescheidenen Aufhellungen zwischen den beiden Weltkriegen. Den Verlust ihres Mannes konnte sie nie verwinden, aber im Alter sah sie mit Stolz auf das geglückte Leben ihrer erwachsenen Kinder.

Hermine Brauer mit den Kindern Lena und Erich 1935 bei einem Ausflug in den Wienerwald.

Bericht eines Nasenbären

Ich bin ein Nasenbär von der edelsten Sorte und die von mir unterjochten Lebewesen sind Legion. Abgesehen von Fischen, Leguanen, Schlangen und dergleichen Kreppzeug wären da zu nennen: ein Uhu, ein Stinktier, zwei widerliche hundeartige Haarbüschel und meine persönliche Sklavin, die Menschin Lena Brauer. Über Intelligenz und Bildungsgrad des Schuppengesindels will ich mich gar nicht äußern. Was sich aber der Uhu an Peinlichkeiten leistet, muss unbedingt geschildert werden. Seine ganze Flugkunst besteht darin, dass er seine Flügel abwechselnd ausbreitet und nach unten klappt. Wenn er nun durch eine offene Türe fliegt und die Flügel sind abwärts geklappt, kommt er durch, sind sie ausgebreitet, bleibt er am Türstock hängen und fällt krächzend zu Boden. Dieser Trottel von einem Vogel ist nicht imstande, das zu begreifen und entsprechende Flügelschlagberechnungen anzustellen. Das Stinktier sollte eigentlich Tier ohne Stink heißen, denn seine Stinkdrüsen, die das einzig Bemerkenswerte an ihm waren, wurden ihm entfernt. Die beiden widerlichen Haarbüschel werden manchmal frech und müssen von mir regelmäßig und prophylaktisch gebissen werden. Mit der Menschin gab es zu Beginn sogar einen kleinen Machtkampf um die Vorherrschaft im Haus, der natürlich von mir gewonnen wurde. Zur Sicherheit beiße ich sie ab und zu in die Hand, wenn sie mich füttert oder streichelt. Es empfiehlt sich immer, Sklaven an ihre untergeordnete Position zu erinnern. Im Verhältnis zu anderen Menschen beweist diese meine Untergebene aber ein recht gutes Durchsetzungsvermögen, und wenn sie sich mit ihrem Nachbarn streitet, der wegen eines ausgelaufenen Aquariums viel Wirbel macht, bin ich so richtig stolz auf sie.

Als die Menschin Lena fünf Jahre alt war, verließ sie in einem unbewachten Moment die elterliche Wohnung und machte sich auf den Weg zu ihrer Cousine. Es war nicht sosehr die Cousine, die ihre Phantasie beflügelte, als vielmehr ein Goldfisch, den diese um zwei Jahre ältere Verwandte in einem Einsiedeglas züchtete. Der Fisch ihrer Sehnsüchte befand sich in der Brigittenau. Der Weg von Ottakring dorthin ist weit und kompliziert und selbst der Bürgermeister von Wien würde sich schwer tun, ihn zu finden. Dass sich jemand im Wiener Großstadtverkehr in Lebensgefahr begibt, für einen lächerlichen Goldfisch, kann nur damit erklärt werden, dass im Wunschdenken des Betreffenden der Fisch zum Nasenbären mutierte. Die kleine Lena war ein aufgewecktes Kind mit einem eisernen Willen. Sie wusste, dass die Straßenbahnlinie 5 in die Gegend ihrer Cousine fährt und zappelte unverdrossen dem Schienenstrang nach. Bald befand sie sich in ihr unbekannten Gassen und die Häuser schienen beängstigend groß und grau. Nach zwei Stunden erreichte sie am Donaukanal wieder bekannte Gassen und fühlte im Herzen das unbändige Glücksgefühl des Sieges über mächtige Gewalten. Sie stand vor der Türe mit dem Namen Spitzer, den sie zwar nicht lesen konnte, aber sie kannte die Türe. Die Cousine war da, allerdings war der Goldfisch inzwischen gestorben.

Ihr ganzes Leben ist auf diese Weise verlaufen. Hatte sich einmal ein Goldfisch in ihrer Phantasie festgesetzt, verfolgte sie ihr Ziel mit Intelligenz, Talent und einem geradezu unglaublichen Ausmaß an Energie bis ins hohe Alter. Das gesteckte Ziel erreichte sie immer, nur der Goldfisch war dann meist schon tot. Dies konnte sie aber nie entmutigen, denn der Weg war ihr wohl wichtiger als das Ziel. Als Tänzerin in allen möglichen Theatern und Clubs blieb sie, völlig unbeeinflusst von ihrer Umgebung, stets ihrer Wandervogelromantik verhaftet. Zwanzig Jahre Amerika, Ehe, Scheidung, Häuserbau, Tanzschulen gegründet, Hundezucht im großen Stil betrieben, Studium, Doktorat in Art, zuletzt als Malerin zurück nach Wien. Alles geschafft und alles zwischen den Fingern zerronnen.

Im Jahr 1945 war Lena bei einer „arischen“ Tante, als die russischen Panzer von Ottakring in Richtung Gürtel rollten. Dies war auch ihr Weg und sie marschierte unerschrocken und munter neben den Panzern die Koppstraße hinunter. Ihr Winken und Küsseschicken blieb zunächst unbeantwortet, aber als eine Granate mit Getöse in der Nähe einschlug, steckte ein Russe den Kopf aus dem Panzer, brüllte auf Russisch: „Verschwinde!“, und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Lena verschwand in das Haus Nr. 4 am Ludo-Hartmann-Platz und hisste am Fenster ein weißes Leintuch.

Aus dem Liederzyklus „Wien 1945“

Im Viererhaus, im Viererhaus,

do hängen’s a weiße Fahne auf.

Der Nachbar schaut beim Fenster raus,

der reißt vor Schreck seine Augen auf.

„Seid’s denn es wahnsinnig, die SSler schiaßen uns

des Dach weg, überm Kopf.“

Im Viererhaus, im Viererhaus,

do hängen’s gschwind a Hakenkreuz auf.

Der Nachbar schaut beim Fenster raus,

der reißt vor Schreck seine Augen auf.

„Seid’s denn es wahnsinnig, die Russen schiaßen uns

des Dach weg, überm Kopf.“

Im Viererhaus, im Viererhaus,

do hängen’s die dreckige Wäsch auf.

Die Russen glauben a weiße Fahn (Bierliflag)

SSler sagen: „Deutsche Hausfrauen“.

Und so wurde das Viererhaus gerettet.

Bald darauf klopfte jemand an die Tür und herein kam ein blutjunger Tatar, der mit Applaus empfangen wurde. Er hatte rohe Kartoffeln mitgebracht, die in einem Rest von Margarine gebraten wurden. Nach dieser frugalen Mahlzeit wurden alle russischen Lieder gesungen, die man vom Vater gelernt hatte. Es war eine grandiose Siegesfeier, und als eine Granate knapp über dem Fenster das Haus aufriss, zuckte der Russe nicht einmal mit der Wimper.

Einige Tage später, als die Front schon am Donaukanal war, kamen endlose Reihen von Russen mit Pferdefuhrwerken. Diese Soldaten hatten keine Schlitzaugen, waren aber oft völlig besoffen. Als im Haus Nr. 4 das Haustor aufgebrochen wurde und jemand laut brüllte: „Frau, Frau!“, versteckte sich Lena in der Bettlade und die Mutter verschwand in dem mit Müll vollgerammelten Kabinett der Nachbarin. Ein Russe taumelte ins Zimmer, fiel aufs Bett und begann sogleich zu schnarchen. Es bestand kein Zweifel, dass Lena ersticken würde, ehe der Russe seinen Rausch ausgeschlafen haben würde. Wenn ich, der Nasenbär, schon damals existiert hätte, wäre es dem Besoffenen schlecht ergangen, denn wenn die Ehre seiner Menschin in Gefahr ist, wird der echte Nasenbär zur Eierschleifmaschine. Der Russe wurde im Traum offensichtlich von einem riesigen Nasenbären gejagt, denn er wälzte sich unruhig hin und her, fiel vom Bett, kotzte den Boden voll und taumelte seines Weges.

Lena war schon als Kind vor allem mit sich selber und ihren fixen Ideen beschäftigt, aber für ihren kleinen Bruder hatte sie immer eine Schwäche. Ich selber habe ja mit diesem Bruder nichts am Hut. Er ist ein hochnasiger Fatzke, der seine spitze Nase rümpft, wenn von meinem uringetränkten Nest zwischen Rigips und Außenwand die Rede ist. Aber meine Menschin schätzte als Kind sowohl die gemeinsamen Spiele und Unternehmungen mit diesem Kerl als auch die Streitereien, die nie in Entfremdung mündeten. Als das Baby Erich gebracht wurde, knallte sie ihm sogleich eine, um deutlich zu machen, wer hier das Sagen hat. Als der Knabe heranwuchs, wurde das meiste gemeinsam unternommen: Pilze gesammelt, Kirschen geerntet, Theater aufgeführt, groß angelegte Bastelprojekte verwirklicht und jahrelang Indianer gespielt, mit fix verteilten Rollen. Der im Wienerwald am versteckten Ort gebaute Wigwam wurde von Ottakring aus immer zu Fuß erwandert.

In den frühen 50er Jahren lehrte sie ihren Bruder die Grundregeln des Balletttanzes und die beiden gingen als Duo Brauer auf Tournee. Im 21. Jahrhundert wurde sie ihres Bruders letzte Partnerin für Bergwanderungen. Zu diesem Zweck gebe ich ihr in meiner übertriebenen Güte oft einen Tag Urlaub, nur um die beiden widerlichen Haarbüschelhunde nicht riechen zu müssen, die bei diesen Touren mitgenommen werden. Eines Tages aber geschah eine bodenlose Gemeinheit, ein richtiges Verbrechen. Man wollte mich loswerden und brachte mich nach Schönbrunn. Ich wusste gleich, dass hinter dieser Teufelei nur der Spitznasenbruder stecken kann, und der Tag meiner Rache wird unweigerlich kommen. In Schönbrunn wurde ich mit anderen Nasenbären zusammengesperrt, lauter ungebildetes, langweiliges Tiergartengesindel. Ich verstand es aber, mich so aufzuführen, dass ich nach wenigen Tagen wieder in meine Wohnung gebracht wurde. Über das Geschehene verlor ich kein Wort, aber ich erscheine meiner verräterischen Menschin oft im Traum, wo sie erleben muss, wie ich von Wärtern und Besuchern gedemütigt und gefoltert werde. Damit muss sie jetzt leben.

Das Viererhaus

Das Haus Nr. 4 am Ludo-Hartmann-Platz war wie alle Zinskasernen von armen Teufeln bewohnt. Es scheint Naturgesetz zu sein, dass sich Armut durch besondere Kreativität und intensive zwischenmenschliche Beziehungen entschädigt, Wohlstand hingegen sich selbst mit Kälte und Einsamkeit bestraft. In den 30er Jahren war die Armut in Ottakring so groß, dass der Einfallsreichtum der Leute die merkwürdigsten Blüten zeigte. Da war zum Beispiel die „Spinnerin“, die im dritten Stock ein fensterloses Kabinett bewohnte. Sie besaß vier Meerschweinchen, welche sie in einem Zwillingskinderwagen an sonnigen Tagen im Park spazieren führte. Leider hatte sie Schwierigkeiten mit ihrer Blase und verbreitete gemeinsam mit ihren Meerschweinchen einen furchtbaren Gestank. Es galt bei den Kindern als Mutprobe, in ihrer Nähe vorbeizugehen. Sie pflegte oft alleine bei der Treppe zu stehen und laut schreiend Allfälligem Ausdruck zu verleihen. Diese Gewohnheit behielt sie auch in der Zeit der Nazi-Herrschaft bei, wo besonders die Person Adolf Hitlers das Ziel ihrer teils tschechischen, teils deutschen Beschimpfungen war. Einmal wurde sie auch angezeigt, aber der zuständige Beamte wollte mit ihr nichts zu tun haben.

Im ersten Stock wohnte ein schreckliches Weib. Es trug stets eine bunt geflickte Schürze und hatte eine scharf gespitzte Nase. Das Weib erinnerte an einen Wellensittich und besaß auch einige Wellensittiche, welche es in einem Käfig am Gangfenster aufbewahrte. Es verbrachte sein Leben am Gang, um darauf zu achten, dass die Nachbarn beim Wasserholen seine Vögel nicht verschreckten. Man musste schleichend gehen und durfte den Wasserhahn nur sukzessive aufdrehen.

Ein interessanter Mann war auch der „Huat-Onkel“. Er sammelte alte Hüte, welche er einen über dem anderen aufsetzte, so dass er immer einen meterhohen Hutturm balancieren musste.