Die französische Atlantikküste - Frankfurter Allgemeine Archiv - E-Book

Die französische Atlantikküste E-Book

Frankfurter Allgemeine Archiv

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Beschreibung

Der liebe Gott hat es gut gemeint mit dem Küstenstrich, der Frankreich an den Atlantik grenzen lässt, von den sympathischen Sch'tis, den Nordlichtern oben am Pas de Calais, bis zu den lebenslustigen Basken am Südende. 14 Berichte von Reisen durch die Regionen Nord-Pas-de-Calais, Normandie, Bretagne, Pays de la Loire, Poitou-Charente und Aquitanien bringen Ihnen Die französische Atlantikküste mit ihren fantastischen Landschaften, beeindruckenden Regionalküchen und skurrilen Besonderheiten näher. Mit fünf Ausflügen in die Geschichte und einer Liste mit Empfehlungen für Reiseführer und -bücher schließt dieses eBook.

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Seitenzahl: 160

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Die französische Atlantikküste

Vom Ärmelkanal bis zur Biskaya

F.A.Z.-eBook 13

Frankfurter Allgemeine Archiv

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: [email protected]

© 2013 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.

Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher. Foto: © owik2 / Photocase.com

 

ISBN: 978-3-89843-261-0

Vorwort

Inhalt

Vorwort

Die französische Atlantikküste

Nord-Pas de Calais

Bergues: Willkommen bei den Nordlichtern

Berck-sur-Mer: Manche Drachen haften am Sand wie auf Kleister

Normandie

Dieppe: Das Spiel der Farben und des Lichts

Trouville: Mittags zum Pferderennen, abends ins Casino

La Manche: Das Lächeln der glücklichen Kuh

Bretagne

Poullaouën: Der Kuhschwanz auf dem Altar bringt Segen

Ouessant: Der Sturm reißt den Rindern die Hörner ab

Pays de la Loire

La Baule: Das leichte Leben mit dem Ungetüm

Île de Noirmoutier: Im Wechsel der Gezeiten

Poitou-Charentes

Île de Ré: Der Chansonnier sang von Melancholie

La Rochelle: Die schönen Zufälle des Meeres

Aquitanien

Lacanau: Das Prinzip der Lässigkeit

Biarritz: Am Anfang war der Walknochen

Die Gascogne: Zum Schluss ein feuerspeiender Stier

Ausflüge in die Geschichte

La Rochelle: Grünes Venedig am Atlantik

Bestrickender Herbst in Deauville

Basse Normandie: Das 21. Arrondissement von Paris liegt am Meer

Sommer an bretonischen Küsten

Noirmoutier: Austern und Krustentiere direkt vom Fischer

Literatur

Die französische Atlantikküste

Von Hans Peter Trötscher

Der liebe Gott hat es gut gemeint mit dem Küstenstrich, der Frankreich an den Atlantik grenzen lässt: Von den sympathischen Sch’tis, den Nordlichtern oben am Pas de Calais bis zu den lebenslustigen Basken am Südende bietet er eine unglaubliche Bandbreite an fantastischen Landschaften, beeindruckenden Regionalküchen und skurrilen Besonderheiten.

Die Reise beginnt ganz im Norden in der Region Nord-Pas-de-Calais, wo die Kinokomödie »Willkommen bei den Sch’tis« die Provinzstadt Bergues zu einem unerwarteten nationalen Symbol gemacht hat. Die im Film dargestellte Provinzidylle, in der eine für andere Franzosen lustig anzuhörende Mundart gesprochen wird, konnten viele Vorurteile gegenüber dem Norden umkehren und der Region ein positives und humorvolles Image verleihen. Dafür ein herzliches »Merchi«! Nichts desto trotz glauben noch immer viele Südfranzosen, dass das malerische Bergues in jedem Fall JENSEITS des Polarkreises liegen muss. Phonetisch durchaus ähnlich, landschaftlich aber komplett anders ist Berck-sur-Mer, wo wir das Drachenfestival besuchen.

Dieppe ist die erste Station in der Normandie, wo robustes, aber gutes Essen und gewisse Apfelprodukte den Tag eintakten. Wir bewegen uns in südlicher Richtung auf Le Havre zu und folgen den Spuren der französischen Impressionisten, die der normannischen Küste ein künstlerisches Denkmal gesetzt haben. Darauf einen Calvados!

So heißt auch das Département, in dem Trouville liegt: ein hübscher Badeort mit einer Strandpromenade im pseudomittelalterlichen Troubadour-Stil. So stellt man sich den typischen französischen Badeort vor.

Die Halbinsel Manche schließt die Normandie nach Süden hin ab. Nicht nur die hier hergestellte Crème Fraîche, auch die legendären Metzgerprodukte haben den Ruf, der Alptraum der Kardiologen zu sein. In manchen Ohren klingt das geradezu vielversprechend.

Die erste Begegnung mit der Bretagne findet ein paar Kilometer von der Küste entfernt statt. Im Dorf Poullaouën wird traditionell die Gavotte getanzt. Das Ganze ist nicht etwa ein nur für Touristen inszeniertes Schauspiel, hier lebt die alte musikalische Tradition des Musizierens mit Binioù und Bombarde, den typisch bretonischen Instrumenten, die in Klang und Funktion mehr an Schottland als an den romanischen Sprachraum erinnern.

Ouessant ist die am weitesten vom Kontinent entfernte Atlantikinsel Frankreichs. Das Leben hier findet noch immer im Einklang mit der See statt, auch wenn technisierte Fangflotten ganze Fischschwärme aus dem Meer holen, lange bevor sie die bretonischen Gewässer erreichen können. Allein die mächtigen Leuchttürme, die Gefahr von Schiffen und Küsten fernhalten, lohnen einen Besuch. Wenn die Meeres-Führerin dann auch noch Ondine heißt, sollte man auf alles gefasst sein.

Das etliche Kilometer südlich davon gelegene, ehemalige Fischerdorf La Baule musste mit der Zeit gehen. Der reizvolle Ort, der in einer romantischen Umgebung mit wilder Küste liegt, hat sich mittlerweile zu einem beliebten Ausflugsziel für Sommertouristen entwickelt. Der riesige, fast halbkreisförmige Strand gilt zumindest den Einheimischen als der schönste der Welt. In der Hochsaison herrscht hier eine ähnliche Betriebsamkeit wie an den beliebtesten Stränden des Mittelmeeres.

Nach einem Abstecher auf die Île de Noirmoutier bewegen wir uns schon südlich der Loire und lernen, wie die asiatische Auster in Frankreichs Gewässern ansässig werden konnte.

Auch zwischen den Inseln Oléron und Ré lebt schon seit Generationen die Tradition der Muschelzucht. Dabei handelt es sich um eine körperlich sehr anstrengende Tätigkeit mit mäßigen Gewinnaussichten. Dennoch finden sich Züchter, die sich kein anderes Leben vorstellen können. Auch sonst scheint die Île de Ré in mancherlei Hinsicht vom Strom der Geschichte und der Geschäftigkeit des Festlandes losgelöst. All ihre Besonderheiten zeigt ein winterlicher Ausflug dorthin.

Der kleine Badeort Lacanau in der Nähe der mit 117 Metern höchsten Düne Europas ist von besonders abenteuerlichem Reiz. Nur wenige Eingeweihte wissen, dass der wilde Westen eigentlich direkt an diesen kleinen Ort grenzt – zumindest in der Phantasie eines Jungen, für den hinter dem nächsten Pinienwald die Shilo Ranch liegt.

Noch weiter südlich im Baskenland lebt immer noch die Tradition des Stierkampfes, Sinnbild des dramatischen Kampfes Mensch gegen Natur. Wir wenden uns der athletischsten Variante des Stierkampfes, der »Course Landaise« zu, bei der die Sauteurs in tollkühnen Sprüngen über wilde kampflustige Rinder setzen, um sich damit ihre Prämien zu verdienen.

Doch zunächst wenden wir uns jener Kleinstadt kurz vor der belgischen Grenze zu, die es als Kulisse einer französischen Kinokomödie zu einem Ruhm brachte, der weit über die französischen Grenzen hinausging.

Nord-Pas de Calais

Bergues: Willkommen bei den Nordlichtern

Wo die Franzosen von einer Kleinstadtidylle träumen, die sie vor Modernisierungs- und Globalisierungszwängen bewahrt: Ein Film hat eine Provinzstadt zum nationalen Symbol gemacht.

Von Michaela Wiegel

Die Reise führt an einen imaginären Ort Frankreichs, den es wirklich gibt. »Nach Bergues?« Der Mann in der Autovermietung grinst, kratzt sich am Kopf und sagt wieder »Bergues«. Es klingt wie das »beurk« (zu Deutsch: »igitt«), das viele französische Kinder in der Schulkantine von sich geben. Dann studiert der Autovermieter die Karte, greift zum Kugelschreiber und zeichnet triumphierend ein Kreuz dort, wo alle Straßen enden und der Ärmelkanal beginnt. »Hier ist Bergues«, sagt er. Das stimmt nicht, wie sich später auf der Autobahn herausstellen soll, aber es bestätigt die Ausgangsvermutung: So gut wie jeder Franzose glaubt zu wissen, wo Bergues liegt.

Das ist auf den Film »Bienvenue chez les Ch‘tis« (zu Deutsch etwa: Willkommen bei den Nordlichtern) zurückzuführen, den seit März mehr als ein Drittel der knapp 60 Millionen Franzosen gesehen haben. Der Film hat sich zu einem Gesellschaftsphänomen entwickelt, er legte besser als alle Umfragen die Befindlichkeit Frankreichs im Frühsommer 2008 offen. die Die Franzosen träumten sich auf der Leinwand in eine von Modernisierungs- und Globalisierungszwängen befreite Kleinstadtidylle, in der es noch stinkenden Maroilles-Käse gibt, den keine EU-Verordnung reglementiert, in der die Postboten in Mundart palavernd um die Wette pinkeln und der netteste Kerl zum Schluss die hübscheste Braut bekommt.

Ausgelassenes Touristentrio vor markanter Infotafel. Wie jeder Südfranzose weiß, leben die Sch’tis jenseits des Polarkreises. Das kann, wer will, auch auf diesem Bild gut erkennen. F.A.Z.-Foto / Wonge Bergmann.

Der letzte französische Kultfilm, »La grande vadrouille« aus dem Jahr 1966, gab drei Jahre nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages (»Elysée-Vertrag«) die Erinnerung an die deutsche Besatzungszeit dem Gelächter preis. Mit dem unvergesslichen Komiker Louis de Funès in der Hauptrolle lachte eine Nation – ohne Häme – die dunklen Seiten des Kriegserlebens fort. Und wieder ist es ein Komiker, der die Gemütslage seiner Landsleute trifft, jenes Frankreich, das sich von der Reformwalze Sarkozys nicht plattmachen lassen will. Dany Boon lautet der Künstlername des als Daniel Hamidou 1966 im Norden geborenen Sohnes eines Boxers aus der Kabylei und einer französischen Mutter, die ihrem Spross den Dialekt der »Ch‘timi« beibrachte. »Ch‘ti« ist die Mundart der Leute aus dem Nord-Pas-de-Calais, das im Rest Frankreichs spätestens seit Emile Zolas »Germinal« mit dem Schicksal der Bergarbeiter und seit der Schließung der Minen kurzum mit Sozialtristesse assoziiert wird. Dany Boon ist mit seinem Film das Kunststück gelungen, die Vorurteile über den Norden zu widerlegen und diese Region zum Hort des freundschaftlichen Miteinanders zu erheben mit der (Über-)Lebensdevise: »Hauptsache, gut gelacht!« Jetzt pilgern Franzosen, die vorher fürchteten, die Reise in den hohen Norden nur mit ein paar abgefrorenen Zehen zu überleben, nach Bergues mit dem Wunsch, etwas vom »Ch‘ti«-Phänomen zu erhaschen. Und Präsident Sarkozy holte sich die »Ch‘tis«-Truppe samt Filmemacher und Hauptdarstellern zu einer Privatvorführung in den Elysée-Palast.

Das Ortsschild Bergues‘ steht an diesem Tag an seinem Platz nahe den Festungsmauern, welche sich schützend um den Stadtkern mit seinen flämischen Giebelhäusern schmiegen. Das ist ein Glück, denn schon dreimal ist das Ortsschild gestohlen worden. Die Bürgermeisterin hat ausrechnen lassen, dass die Souvenirjagd auf die Dauer die Bürger teuer zu stehen kommt. Jedes Schild kostet 372 Euro, ohne Mehrwertsteuer. Das weiß auch Jean, unser Führer bei der »Ch‘tis-Tour«.

Jean trägt eine blaue Postmütze zur knallroten Regenjacke und verbreitet gute Laune, die auch der Nieselregen nicht vertreiben kann. »Ich sage immer: Regen gibt‘s hier immer nur ein Mal. Aber dann den ganzen Tag«, lacht er, wie er überhaupt alles lustig findet, seit ein Film die Stadt verändert hat.

Denn in Bergues, das erzählen der Caféjunge Geoffrey und die Metzgereiverkäuferin Marie-Jo wie auch Michel und Paul, die Rentner, die gerade Lotto spielen, ist nichts mehr so, wie es war, seit »Bienvenue chez les Ch‘tis« die Bürger wie Obélix in einen Glückstrank tauchte. »Die Leute sind jetzt viel offener und freundlicher«, sagt Marie-Jo. Auch das Geschäft laufe besser, wegen der vielen Touristen, die von der »Tchiobiloute« kosten wollen. Das ist eine Wurstspezialität »aus Schwein, Kalb, Rind und dem Geheimnis des Chefs«, so steht es auf dem Schild am Ladentresen. Im Käseladen, wo es auch den Maroilles zu kaufen gibt, der wegen seines Gestanks nur in starken Kaffee getunkt genießbar ist, richtet die geschäftstüchtige Besitzerin einen Internetverkauf ein. Sie stöhnt, die Käsehersteller kämen ob der gestiegenen Nachfrage mit ihren Lieferungen nicht nach.

Lustig findet der Caféjunge Geoffrey das Bedürfnis der Kinobesucher, die Drehplätze »in Wirklichkeit« zu sehen. Routiniert sagt er, bon, hier ist die Terrasse, auf der die Hauptdarsteller – Postvorsteher Abrams und Briefträger Antoine – nach ihrer Sauftour mit ihren Fahrrädern enden. Den Kaffee serviert er schließlich auch.

Stolz sei er schon darauf, hier zu arbeiten, sagt er, aber er wäre auch ohne Film geblieben. Und natürlich kann er nicht »Ch‘ti« sprechen, wie niemand in Bergues, denn hier wird höchstens flämisch parliert. »Der Dany Boon hat das nicht so genau genommen, aber das macht nichts«, sagt Jean von der »Ch‘tis-Tour«. »Der Film ist halt ein Potpourri aus allem, was der Norden so an Eigenarten hat.« Die Frittenbude auf dem Marktplatz, die im Film zum symbolischen Ort für die Möglichkeit einer Verbrüderung aller Franzosen wird, ließ Filmemacher Dany Boon extra aus Lens herankarren. Dort steht sie jetzt wieder unweit des Fußballstadions.

Bei einem dieser aufgeheizten Spiele der französischen Erstliga, zwischen Lens und Paris Saint-Germain (PSG), kam es in der Vorzeige-Spielstätte Stade de France zu einem hässlichen Zwischenfall, der zeigt, wie leicht die Vorbehalte gegen den Norden wachzurütteln sind. »Pädophile, Inzestuöse, Arbeitslose – willkommen bei den Ch‘tis« stand auf dem Spruchband, das PSG-Hooligans ausrollten und das nicht nur Präsident Sarkozy erzürnte. Das spielte auf den schrecklichen Justizirrtum von Outreau an, den wohl größten Justizskandal der jüngeren französischen Geschichte. Jahrelang waren mutmaßliche Kinderschänder aus einem Viertel mit Sozialwohnungen – darunter auch der Arbeiterpriester – in Untersuchungshaft verwahrt worden, bis sich herausstellte, dass fast alle Vorwürfe von den Opferkindern erfunden worden waren (die in Wirklichkeit von ihren leiblichen Eltern sexuell misshandelt worden waren). Die Hartleibigkeit sozialer Vorurteile (»bei denen ist alles denkbar«) begünstigte die Härte der Justiz. Mit diesen Vorurteilen spielt Dany Boon, um sie mit Humor zu überwinden.

Die stillgelegte Bergwerkssiedlung, mit der Postvorsteher Abrams seine aus dem Süden angereiste Ehefrau vom Schrecken seiner Strafversetzung ins soziale Elend des Nordens überzeugen will, ist dabei ein Produkt der Kulissenbauer. Bergbau gab es in Bergues, das im Dreiländereck zwischen Großbritannien (seit Öffnung des Kanaltunnels), Belgien und Frankreich liegt, nie. 17 Leute unter Regenschirmen hören Jean, dem Ch‘tis-Fachmann, heute bei seinen Erklärungen zu, sie lassen sich willig durch die Stadt führen. Es ist ein Kamerateam vom staatlichen Fernsehsender France 3 dabei, ein paar Belgier, eine durchschnittliche Truppe, findet Jean. An Wochenenden, sagt er, sind es drei Mal so viele Leute, und manchmal ist er fünf Mal am Tag im Einsatz. In vielen Privathäusern stehen statt Topfblumen Erinnerungsfotos von den Dreharbeiten auf dem Fensterbrett, einige sind handsigniert, und Jean kennt zu allen eine kurze Anekdote.

Im Fremdenverkehrsbüro direkt am Fuße des »Beffroi« genannten Glockenturms (193 Stufen) sagt die Verantwortliche, der Tourismus in Bergues explodiere. »Wir haben sechs Mal so viel Besucher wie im vergangenen Jahr«, sagt sie. Bürgermeisterin Sylvie Brachet hofft, dass auf das Kinophänomen ein dauerhafter Mentalitätswandel folgt. Sie spricht von den guten Ergebnissen, die Jean-Marie Le Pen, der Chef der rechtsextremen Partei »Front National«, bei den Präsidentenwahlen hatte. 18,63 Prozent der Wähler in Bergues stimmten 2002 für Le Pen, als der FN-Chef überraschend in die entscheidende Stichwahl gelangte, und noch im vergangenen Jahr bei den Präsidentenwahlen gaben ihm hier 16,69 Prozent ihre Stimme im ersten Wahlgang. »Wir haben ja Festungsmauern, und ein bisschen haben die Leute auch Barrieren in ihren Köpfen«, sagt Bürgermeisterin Brachet.

Den europäischen Einigungsprozess haben die Leute in Bergues schon abgelehnt, als die Mehrheit der Franzosen sich noch dafür begeistern ließ. Im Referendum 1992, als es um die Gemeinschaftswährung ging, stimmten 54,93 Prozent gegen den Vertrag von Maastricht.

Man sieht es ihm eigentlich schon an. Der Maroilles-Käse, neben den obligatorischen Fritten eine Lieblingsspeise der Sch’tis, stinkt so erbärmlich, dass er beim Verzehr in Kaffee getaucht wird, um die Ausdünstung zu unterbinden. Was mit dem Kaffee geschieht, ist nicht überliefert. Foto: Fotolia / Brad Pict.

Im Rückblick wirkt es, als hätte der Norden, in dem der industrielle Wandel und der wachsende internationale Konkurrenzkampf nicht wie in lieblicheren Gefilden Frankreichs durch Zuwächse im Tourismus und im Dienstleistungssektor abgefedert wurden, die Abkehr der Durchschnittscitoyens von Europa vorweggenommen. Seit dem Nein der Franzosen zum europäischen Verfassungsvertrag Ende Mai 2005 (in Bergues sagten 61,94 Prozent Non) ist der Bruch zwischen den pro-europäischen Eliten und dem Rest der Bevölkerung (Arbeiter, Handwerker, aber auch mittlere Beschäftigte) amtlich. Daran hat auch Sarkozys Versuch nichts geändert, durch die parlamentarische Hintertür den Lissabonner Vertrag passieren zu lassen.

»Wir sind hier ja mitten in Europa, von unserem Glockenturm aus können wir Belgien sehen. Aber die Leute haben Angst vor der Konkurrenz«, sagt die Bürgermeisterin. Sie glaubt, dass eine gefestigte Identität gut ist für die Leute, für die Bereitschaft, sich Europa zu öffnen. »Der Film hat ihnen Stolz gegeben.« Für die Stadt gebe es allerdings keine finanziellen Vorteile. »Die Stadt schlummerte so vor sich hin«, sagt Bürgermeisterin Brachet. »Der Film hat die Leute aufgeweckt.« Ihre Wahl im März verdankt sie der Zerstrittenheit der bürgerlichen Rechten. Sie trat für eine unabhängige, von der Linken unterstützte Liste an. Für die Ingenieurin aus Paris (»auch nach 22 Jahren in Bergues betrachten mich einige noch als Zugereiste«) entsprach die Kandidatur dem Wunsch, die Zukunft der Stadt mit ihren 5000 Einwohnern mitzugestalten. In die deutsch-französische Städtepartnerschaft mit Erndtebrück, einer Kleinstadt im Sauerland, will sie neuen Schwung bringen, 30 Jahre nach Beginn der Partnerschaft. »Der Austausch ist kein Selbstläufer, man muss sich aktiv um eine bessere Verständigung bemühen, junge Leute anlocken«, sagt Sylvie Brachet.

Sie amüsiert, dass der Film den hartnäckigen Widerstand gegen die Aufwertung der Regionalsprachen und -dialekte zu brechen droht. Als hätte das »Ch‘ti-Fieber« die Abgeordneten der Nationalversammlung erfasst, stimmten diese einmütig einer Verfassungsänderung zu, mit der die Regionalsprachen anerkannt werden sollen. Auch wenn die zweite Parlamentskammer, der Senat, nach Protesten und Lobbyarbeit der »Unsterblichen« aus der »Académie Française« den Regionalsprachenparagraphen wieder zu Fall bringen will, hat Dany Boon einen Trend hin zur regionalen Identitätsvergewisserung im zentralistischen Frankreich aufgespürt, der unumkehrbar wirkt. Jean spricht voller Regionalstolz unterdessen seine Abschiedsformel: »Ein Fremder weint zwei Mal: das erste Mal, wenn er in den Norden kommt, und ein zweites Mal, wenn er ihn verlässt.«

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.06.2008

Berck-sur-Mer: Manche Drachen haften am Sand wie auf Kleister

Je kunstvoller die Geräte, desto eigenwilliger ihre Flugbahn – Strandbemerkungen vom Drachenfestival in Berck-sur-Mer

Von Alexander Bartl

Noch einmal bäumt sich die Hauptstraße auf, wächst in die Breite und zieht den Blick an allen Autos und Häuser vorbei ins Nichts. Berck-sur-Mer, etwa neunzig Kilometer südlich von Calais an der französischen Atlantikküste gelegen, inszeniert jede Stadtrundfahrt, jeden Spaziergang auf einen einzigen Punkt hin, der irgendwo jenseits der Strandpromenade knapp oberhalb der Horizontlinie liegt. Den ganzen Tag über steuert eine Wagenkolonne dieses Ziel an, wird jäh gebremst von der Kaimauer, verliert sich in den Seitenstraßen und schwappt zurück, denn Parkplätze sind dieser Tage so selten wie Wolken am Himmel. Zum nunmehr sechzehnten Mal richtet die französische Kleinstadt ein internationales Drachenfestival aus, das verlässlich zum größten Ereignis des Jahres gerät. Aus aller Welt zieht es Menschen hierher an den flachen Strand, wo auf den Wind Verlass ist und die Flut auf Distanz bleibt.

Berck ist diese Leidenschaft förmlich eingeschrieben: Von oben besehen, schmiegt sich die Stadt wie ein stumpfer Drachen an die Küste, wobei die rechte, westlich gelegene Flanke mächtig über den Strand schwingt, während der linke Flügel, geknickt wie nach einem Sturz, ins Landesinnere weist. Der gerasterte Straßenverlauf öffnet zwischen den Häuserreihen weite Blickachsen. Berck ist eine von allen Seiten ziemlich durchsichtige Stadt, welche von Haus zu Haus den Baustil leichtfertig ändert, dem klassischen Flachbau mit Säulenportal ein Zuckerbäcker-Puppenhaus an die Seite stellt.

Allerdings tragen Einwohner und Stammgäste eine Sehnsucht im Herzen, die einmal jährlich nach außen drängt und hinauf in den Himmel steigt. Ein Mythos überwölbt die gebaute Beliebigkeit, eine Art Ikarus-Phantasie, die heiligen Ernst gebietet, wenn Menschen, einen Drachen unter den Arm geklemmt, über den sonnengebleichten Sand stapfen, den Blick aufwärts gewandt, um die Tiefe des Raums zu ermessen, der nur für uns Laien ins Unendliche geht, für den Kenner aber eine gegliederte, in Zonen leichteren und stärkeren Winds gestaffelte Bühne ist. Morgens um zehn erobern die ersten Drachen den Luftraum über der Stadt. Manche steigen träge empor und stehen dann wie festgenagelt im Wind. Geöffneten Fallschirmen gleich, lässt sich diese Spezies durch nichts aus der Ruhe bringen, bettet sich auf weiche Luftkissen und verdöst den Tag. Raffinierte Bastler dagegen haben Tierfiguren aus Plastik über das hohle Gerippe ihrer Drachen gezogen, eine Stinktiermutter kriecht mit ihren Schützlingen gen Himmel, allerdings zieht der Nachwuchs so sehr an dem luftigen Gebilde, dass die Karawane träge zu Boden sackt. Daneben hängt ein metergroßer Kugelfisch an der Schnur wie an einem Angelhaken, auch ihm ist nur ein bodennaher Sekundenflug beschieden. Je kunstvoller die Drachen ausfallen, desto eigenwilliger geraten ihre Flugversuche. Manche haften am Sand wie auf Kleister, während der stolze Besitzer verzweifelt an den Leinen zerrt und nur lustige Verrenkungen seiner unwilligen Plastiktiere bewirkt.

Gegen Mittag füllt sich die Uferpromenade mit Schaulustigen, unterarmlange Hot dogs werden in Papptrögen gereicht, wohl um dem Publikum beim Anblick des filigranen Fluggeräts zur gebotenen Erdenschwere zu verhelfen. Das Verteidigungsministerium hat mitten auf dem Hauptplatz ein Podium errichtet, wo die Leidenschaft für die Fliegerei hineinverlängert werden soll in die Reihen der Armee. Ein Entertainer mit Sonnenbrille versucht sich an französischen Chansons. Auf seiner Fliegerjacke ist ein Kampfjet abgebildet, darunter in zarten Buchstaben der Name »Johnny« gestickt. So wird das Militär personalisiert und mit tränenseligen Melodien unterlegt, aber niemand schaut zu.