Hirnforschung - Frankfurter Allgemeine Archiv - E-Book

Hirnforschung E-Book

Frankfurter Allgemeine Archiv

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Beschreibung

Die Kapitel dieses eBooks beschäftigen sich zunächst mit den Grundlagen der Hirnforschung. Unter der Fragestellung, wer denn eigentlich der »Käpt'n im Kopf« ist, steht die Diskussion um die Freiheit des Willens im Fokus des ersten Kapitels. Wie weit lässt sich das Gehirn durch Schlüsselreize beeinflussen, und wie weit können wir nur mit der Kraft unserer Gedanken Maschinen manipulieren? Können wir das Hirn zu höherer Leistung dopen, oder wirkt Meditation besser? Sind Hirnschädigungen stets irreversibel, und welche Aussichten hat der Kampf gegen die Demenz?

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Hirnforschung

Das Abenteuer unseres Bewusstseins

 

F.A.Z.-eBook 7

Frankfurter Allgemeine Archiv

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher

eBook-Produktion: Rombach Druck- und Verlagshaus

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: [email protected]

© 2012 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.

Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher. Grafik: Fotolia / Sebastian Kaulitzki.

ISBN: 978-3-89843-251-1

Vorwort

Von Hans Peter Trötscher

Die Kapitel dieses eBooks beschäftigen sich zunächst mit den Grundlagen der Hirnforschung. Unter der Fragestellung, wer denn eigentlich der „Käpt’n im Kopf“ ist, steht die Diskussion um die Freiheit des Willens im Fokus des ersten Kapitels. Legendäre psychologische Experimente, wie das Milgram-Experiment, die Versuchsanordnungen Benjamin Libets und die Pawlow’sche Futterglocke werden rekapituliert und einer neuen Bewertung unterzogen.

Wie weit lässt sich das Gehirn durch Schlüsselreize beeinflussen und wie weit können wir nur mit der Kraft unserer Gedanke Maschinen manipulieren? Die genauere Betrachtung der Art und Weise, wie Denkprozesse und Entscheidungen zustande kommen, wie wir, wenn wir wirtschaftlich entscheiden, unmerklich durch geheime Botschaften beeinflusst werden, wird im zweiten Kapitel untersucht. Abschließend werden mit David Chalmers und Christof Koch zwei Wissenschaftler porträtiert, die ungewöhnliche Wege in der Hirnforschung beschreiten.

Können wir das Hirn zu höherer Leistung dopen oder wirkt Meditation besser? Das dritte Kapitel nimmt die verschiedenen Methoden zur Verbesserung des Denkvermögens (von Ritalin bis Meditation) unter die Lupe. Am Ende steht die Erkenntnis, dass das Gehirn vielleicht doch nicht nach den gleichen Grundlagen trainiert werden kann wie ein Muskel.

Sind Hirnschädigungen stets irreversibel und wie steht der Kampf gegen die Demenz? Diese Frage steht im vierten Kapitel im Vordergrund. In einer Gesellschaft mit immer mehr alten Menschen gewinnt der Umgang mit Demenz zunehmende Bedeutung. Doch nicht nur der altersbedingte Verfall des Denkapparates, auch andere Erkrankungen und traumatische Schädigungen sind einen genaueren Blick wert. Mit einer Fotoreportage, die die faszinierenden Vorgänge während einer Hirnoperation zeigt und beschreibt, beschließen wir dieses Kapitel.

Abschließend betrachten wir den Einfluss des Digitalen auf unser Denkvermögen und bewerten gleichermaßen positive wie negative Einflüsse.

Wer ist der Käpt’n im Kopf?

Bewusstsein: Das gelenkte Ich

Die Benjamin Libet-Experimente

Von Volker Stollorz

Wer kopfüber in einen kalten Bergsee taucht, bei dem sehen die Augen die Unterwasserwelt plötzlich verzerrt, er hört dumpfe Geräusche. Seine Finger werden früher nass als die Füße, und seine Haut empfindet erst später, wie kalt das Wasser ist. Obwohl alle diese zeitlich asynchronen Signale auf das Gehirn einströmen, erleben wir das erfrischende Eintauchen im Bewusstsein einer zeitlich einheitlichen Jetzt-Empfindung. Wie ist solch ein Körpergefühl möglich? Scheinbar synchronisiert das Gehirn unbewusst die zeitlich ungeordneten Sinnesdaten, um eine bewusste Ich-Erfahrung des Körpers zu ermöglichen. Lenkt also allein unser Gehirn, wie wir fühlen und denken? Wenn ja, können wir dann aus freiem Willen heraus unser Gehirn lenken? Oder wird mein Ich gelenkt, wenn ich am See stehe und überlege, ins kalte Wasser zu springen?

Als sich der Hirnforscher Benjamin Libet 1958 entschied, mit Elektroden im Gehirn wacher Patienten nach den neurobiologischen Grundlagen des Bewusstseins zu suchen, warnten ihn viele Kollegen: Seine Experimente würden ein absolut fruchtloses und fehlgeleitetes Unternehmen sein.

Sie irrten. Libet ist weltberühmt, erster Träger des „Nobelpreises“ für Psychologie, den die Universität Klagenfurt seit 2003 verleiht. Der Neurophysiologe erhielt ihn für Pionierleistungen zur experimentellen Erforschung des Bewusstseins sowie der Handlungsinitiierung und des freien Willens. Den Grundstein dazu legte Libet schon 1958, als er an der University of California in San Francisco Zugang zu Patienten erhielt, deren Schädel für eine Operation am offenen Gehirn aufgebohrt worden war.

Sofern die Patienten zustimmten, durfte Libet mit Erlaubnis des Neurochirurgen Bertram Feinstein mit winzigen Stromstößen die Hirnrinde reizen. Er wollte dort bewusste Empfindungen auslösen. Weil er der Introspektion seiner Versuchspersonen vertraute, kam Libet einer rätselhaften Eigenschaft des Bewusstseins auf die Spur. Stimulierte er das Gehirn dort, wo Empfindungen der Hand registriert werden, dauerte es eine halbe Sekunde, bevor der Reiz das Gefühl einer Handreizung auslöste (Experiment 2). Warum subjektiv keine Verzögerung erlebt wurde, versuchte er in weiteren Experimenten zu klären (Experiment 3). Die Ergebnisse legen nahe, meint Libet, dass das Gehirn Sinneswahrnehmungen künstlich zurückdatiert. Der Trick könnte erklären, warum der Sprung ins Wasser subjektiv als Erlebniseinheit empfunden wird. Mein Ich lebt nicht in der Gegenwart, ist nicht live auf Sendung, sondern erlebt quasi eine zensierte und zeitlich umdatierte Konstruktion eingehender Sinnesdaten. Allein diese provokante These beschäftigt die Hirnforschung bis heute, scheint sie doch dem Bewusstsein eine eher nachgeordnete Rolle im Erleben der Sinnenwelt zuzuordnen.

1978 starb Feinstein, Libet fehlte fortan der direkte Zugang zum Gehirn seiner Versuchspersonen. Auf einer Konferenz in Bellagio am Comer See kam ihm dann die berüchtigte Idee mit der Uhr, um den freien Willen experimentell studieren zu können (Experiment 1). Libet wollte ergründen, wie der bewusste Wille mit unseren Gehirnfunktionen verbunden ist. Als Testfall nahm er sich einfachste Willkürbewegungen vor, zum Beispiel das Krümmen einer Hand.

Vor der Bewegung hoffte er anhand schwacher Hirnströme im EEG messen zu können, wann der Wille sich im Gehirn manifestiert. Zwei deutsche Forscher hatten Jahre zuvor entdeckt, dass sich vor Willkürbewegungen ein sogenanntes Bereitschaftspotential über dem Schädel messen lässt. Libet ersann nun den Trick mit der Uhr, um einerseits das Bereitschaftspotential messen und seine Versuchspersonen zugleich fragen zu können, wann sie den Drang zu handeln bewusst verspürten.

Tatsächlich verspürten die Versuchspersonen den Drang, sich bewegen zu wollen, stets vor der Bewegung selbst. So weit, so erwartet. Doch dann kam die Überraschung: Der Blick auf das EEG zeigte, dass sich das Bereitschaftspotential im Gehirn schon aufbaute, bevor die Versuchsperson sich ihres Willens, jetzt die Hand zu heben, bewusst wurde. Das sogenannte supplementär motorische Areal im Großhirn, wo das Bereitschaftspotential vor jeder willentlichen Bewegung auftritt, war stets schon aktiv, bevor die Versuchspersonen die Bewegung bewusst wollten. Libets unerhörter Schluss: Der bewusste freie Wille kann diesen neuronalen Prozess des Jetzt-Handelns nicht einleiten.

Immer wieder heißt es seither, Libet habe den freien Willen experimentell widerlegt. Doch so einfach ist die Sache nicht. Zunächst betont selbst der Hirnforscher in seinem neuen Buch „Mind Time“ erneut, seine Experimente hätten gezeigt, dass der freie Wille unsere Willkürhandlungen zwar nicht einleiten könne, er aber sehr wohl eine Art Vetorecht habe. Danach kontrolliert das Bewusstsein, ob wir unbewusst im Gehirn gestartete Bewegungen abbrechen oder geschehen lassen wollen.

Doch auch diese Interpretation kann nicht die ganze Wahrheit sein. Denn was genau meint die Rede vom freien Willen? Er kann zunächst als geistiger Akt einer Entscheidung zwischen Alternativen verstanden werden etwa in dem Sinne: Ich öffne meine Hand statt sie liegen zu lassen. Mit Willen kann aber auch gemeint sein, eine willentlich Handlung zu initiieren: Ich kann meine Hand öffnen. Schließlich könnte es sich auch nur um eine geistige Aktivität handeln, die Kontrolle darüber ausübt, welche unbewusst im Gehirn vorbereiteten Handlungen erfolgen sollen: Ich will jetzt meine Hand öffnen. Vieles spricht dafür, dass Libet in seinem Experiment letzteres untersuchte (siehe „Kritische Einwände“). Das Bewusstsein löste ja stets nur eine monotone Handlung aus: Krümme jetzt den Finger! Alternativen waren nicht vorgesehen.

Bei dem Hirnstrom, der vor dem Willen auftrat, handelt es sich zwar um eine unbewusste Aktivität des Gehirns. Die dokumentiert aber nicht den Willensakt. Sondern dahinter steckt eine Form unbewusster Bewegungsplanung. Dabei werden Modelle gewünschter Aktionen simuliert, je nach Wunsch des Frontalhirns. Die Kette Aufmerksamkeit, Intention, Vorbereitung, Aufmerksamkeit und erst am Ende das bewusste Auslösen der Bewegung werden dabei kooperativ von verschiedenen Hirnregionen bewirkt. Die eigentliche Intention, den Finger auf Befehl zu krümmen, ist im Bewusstsein schon zu dem Zeitpunkt entstanden, zudem sich die Versuchsperson an den Tisch setzt. Das Bewusstsein delegiert aber die Planung der intendierten Bewegung an nachgeordnete Hirnregionen.

Die korrekte Deutung der Experimente Libets hängt damit im Kern davon ab, wie wir uns das Bewusstsein konzeptionell vorstellen. Ist es schlau und stets aufmerksam, verfolgt es also jedes Detail unserer geplanten Handlungen? Oder ist es eher faul, erteilt anderen Hirnregionen nur grobe Hinweise für künftige Aktionen oder lernt aus bereits gelaufenen? So verstanden, wäre das Bewusstsein die Spitze eines Eisbergs, die sich im hellen Licht befindet, während seine Hauptmasse im Unbewussten unter der Wasseroberfläche verbleibt.

Libet will diese Sichtweise nicht akzeptieren. Seiner Überzeugung nach kann der Wille nur dann ein freier sein, wenn ihm keinerlei unbewusste Aktivität im Gehirn vorausgeht. Nur dann bleibe eine kausale Lücke in der neuronalen Wirkungskette, in die sich ein immaterieller Geist einschreiben kann. Diese Lücke liefert das bewusste Veto. Der Haken: Warum soll ausgerechnet ihm keine unbewusste neuronale Aktivität vorausgehen? Und wie ein Geist ohne Gehirn tätig werden?

In diese argumentative Lücke stoßen die Deterministen, die es für unwissenschaftlich halten, wie Libet an einem immateriellen Geist zu glauben, den er sich als eine Art mentales Magnetfeld um das Gehirn vorstellt. Von solchen Spekulationen halten strenge Deterministen wie die beiden deutschen Neurobiologen Gerhard Roth und Wolf Singer nichts. Sie behaupten: Da der Geist im Gehirn entsteht, sei der freie Wille letztlich eine Illusion. Das Gehirn agiere wie ein „Orchester ohne Dirigent“, auch wenn dessen globale Ordnungszustände bisher nicht verstanden seien. Eine angeblich freie Entscheidung, hat Singer kürzlich formuliert, sei eine „Folge all der Faktoren, die Vorgänge in meinem Gehirn beeinflussen können“. Ein Gespräch zähle in der Kette der Ursachen neuronal womöglich nicht anders als „eine Watschen in der Kindheit“. Auch für Gerhard Roth spielt es keine Rolle, ob wir spontan nach einer Kaffeetasse greifen oder überlegen, ob wir das tun sollen oder nicht. „Die Letztentscheidung, ob etwas getan wird“, behauptet Roth, falle im Stammhirn, den Basalganglien, „ein bis zwei Sekunden vor Beginn der Bewegung“.

Im Stammhirn (lila) manifestiert sich die Freiheit der Entscheidung. Grafik: Yakobchuk / Fotolia.

Auch diese Sicht greift jedoch zu kurz. Ein harter Determinist neigt dazu, das subjektive Phänomen der Freiheit wegzuerklären, anstatt es neurobiologisch zu begreifen. Offenkundig gibt es zwischen den zerstrittenen Lagern einen dritten Weg. Danach sind der freie Wille und seine Determiniertheit nicht zwangsläufig unvereinbar. Freiheit ist nicht das Gegenteil von Bestimmtsein, sondern nur eine besondere Art des Bestimmtseins. Wirkliche Freiheit ist zwar bedingt. Als frei erleben wir eine subjektive Entscheidung demnach nicht, weil es eine unerklärliche Lücke gibt zwischen ihren Gründen und ihren Wirkungen. Sondern frei nennen wir Menschen eine Entscheidung, wenn sie selbstbestimmt in unserem Bewusstsein entsteht, aus eigener Abwägung und nicht Folge externer Umstände oder innerer Zwänge ist.

Wie dem Gehirn dieses Kunststück gelingt, ist weiterhin rätelhaft. Weil aber die Neurowissenschaft immer tiefere Einblicke in mentale Zustände gewinnt, hängt künftig alles von der präzisen Deutung der Daten ab. Unter Hypnose können Menschen selbst initiierte Willkürbewegungen als ungewollt erleben (siehe Experiment 4). Es hat also den Anschein, als ob sich Wille und Bewusstsein experimentell entkoppeln lassen. Unser Gefühl der bewussten Kontrolle unserer Aktionen könnte daher selbst eine Konstruktion unseres Gehirns sein. Doch was folgt daraus für das Ich? Die Fehlinterpretationen der Libetschen Versuche sollten Warnung sein, genau hinzuschauen, was wirklich im Gehirn ist und passiert. Und was nicht.

Die Libet-Experimente

Experiment 1: Der klassische Libet-Versuch zum freien Willen

Was passiert im Gehirn, wenn wir willkürlich die Hand bewegen? Unserem subjektiven Gefühl nach fällen wir zuerst die bewusste Entscheidung, dann erst können im Gehirn die ersten Vorbereitungen für die Bewegung eingeleitet werden. Erst will ich meine Hand heben, dann bewegt sie sich. Ursache vor Wirkung. Daran kann niemand ernsthaft zweifeln. Oder doch? Benjamin Libet wollte es mit diesem wohl meistdiskutierten Experiment der Neurowissenschaften genauer wissen. Und ersann eine Versuchsanordnung, mit der er ursprünglich den freien Willen im Gehirn dingfest machen wollte.

Die geniale Idee mit der Uhr lieferte Libet den Schlüssel zum subjektiven Erleben der Versuchsteilnehmer. Die Versuchspersonen saßen bequem und blickten auf eine schnell laufende Uhr. Ihre Aufgabe: Wann immer sie bewusst den Drang verspürten, ihre Hand heben zu wollen, sollten sie sich die Uhranzeige merken. Im März 1979 begann der Versuch. Die Psychologiestudentin C. M. und acht weitere Teilnehmer nahmen auf einem Lehnstuhl Platz. Kopf und Hand wurden mit Elektroden verkabelt. Sie selbst blickte auf einen Bildschirm, auf dem ein grüner Punkt kreiste. Der benötigte 2,56 Sekunden für eine Umdrehung. Zu einem frei gewählten Zeitpunkt sollte C. M. nun spontan ihr Handgelenk heben. Den genauen Zeitpunkt der Bewegung registrierte Libet per Elektromyographie (EMG) über die Muskeln am Handgelenk (blau), die Hirnströme im Großhirn leiteten Elektroden am Kopf (Elektroenzephalogramm, EEG) ab. Den Zeitpunkt der bewussten Entscheidung zur Bewegung wiederum erfuhr Libet nach jedem Versuch von C. M. selbst, weil diese sich merkte, wo sich der kreisende Punkt befunden hatte, als der bewusste Drang, die Hand zu bewegen, einsetzte. Anhand der Hirnstromkurven konnte Libet in dem Versuch zwei verschiedene Bewegungstypen unterscheiden: als geplant erlebte (gelb) und solche, bei denen die Hand spontan bewegt wurde (rot).

Der Zeitpunkt, zu dem die Versuchsteilnehmer ihren bewussten Entschluss fassten, lag im Mittel von jeweils 40 Versuchen stets rund 0,2 Sekunden vor der eigentlichen Bewegung. Genau so hatte es Libet erwartet. Völlig überraschend aber setzten die Hirnströme in dem Bereich des Gehirns, der spontane Bewegung steuert, schon eine halbe Sekunde vor der Willkürhandlung ein. Im Durchschnitt also 300 Millisekunden vor dem Zeitpunkt, zu dem sich die Versuchspersonen ihres Willens zu handeln bewusst wurden, entstand im Gehirn ein Bereitschaftspotential, das die Aktion tatsächlich unbewusst initiierte. Hatte das Gehirn von C. M. also eine Willenshandlung eingeleitet, ohne dass die Probandin davon wusste? Immerhin hatte diese ja berichtet, sich erst eine gute Drittelsekunde später zu der Bewegung entschlossen zu haben.

Laut Libet kann das Bewusstsein eine Willkürbewegung also nicht selbst initiieren. Das Libet-Experiment habe den freien Willen experimentell widerlegt, liest man seit Jahren immer wieder. Vergessen wird von diesen Neuro-Deterministen dabei gerne, dass es inzwischen eine Flut alternativer Deutungen des Versuchs gibt (siehe „Kritische Einwände“ und „Bereit für die Freiheit“). Libet selbst hat übrigens nie wirklich behauptet, dass der freie Wille eine Illusion sei. Sein Versuch zeige ja, dass dem Bewusstsein im Durchschnitt rund 200 Millisekunden zwischen dem Auftauchen des bewussten Willens und der eigentlichen Handlung blieben. Das reiche, um eine Kontrolle darüber auszuüben und im Gehirn unbewusst eingeleitete Aktionen zumindest zu stoppen. Das Bewusstsein, so Libet, habe ein „Vetorecht in bezug auf das, was unser Gehirn an Bewegungen initiiert“. Wir sind demnach laut Libet nicht frei zu wollen, aber uns bleibt als Trost eine Art trotziger freier Unwille.

Kritische Einwände

1. Der Versuch misst keinen Akt der Entscheidung

Das stereotype Heben der Hand musste in dem Libet-Experiment bis zu 40mal wiederholt werden, damit die äußerst schwachen Hirnströme statistisch überhaupt nachweisbar wurden. Ist dieser Drang, sich zu bewegen, aber schon eine bewusste Entscheidung? Wahrscheinlicher ist, dass die willkürliche Entscheidung im Bewusstsein schon vor Beginn der monotonen Versuchsreihe getroffen wurde. Nachdem die Teilnehmer in den Versuch einwilligten, delegierte ihr Bewusstsein die präzise Vorbereitung der Handbewegungen an jene motorischen Zentren, die im Gehirn solche Handlungen vorbereiten. In diesen Hirnregionen erfolgten die neuronalen Berechnungen für einzelne Handkrümmungen, die dann kurz vor Ausführung der Aktion vom Bewusstsein nur noch mit einer Art „Jetzt-Befehl“ gestartet wurden. Der Trick mit der Uhr misst demnach gar nicht den bewussten Entschluss, sondern nur den Akt der Auslösung der simplen Bewegung. Der Anstieg des Bereitschaftspotentials dokumentiert allein die Erwartung des Bewusstseins, dass es die gleiche Fingerbewegung wiederholt auslösen soll.

2. Es gab keine echte Handlungsfreiheit

Von einer freien Entscheidung sprechen wir dann, wenn Handelnden unterschiedliche Alternativen offenstehen. Im Libet-Versuch konnten die Teilnehmer nur den Zeitpunkt einer zuvor festgelegten Bewegung „wollen“. Sie konnten also weder bestimmen, was sie tun wollen, noch ob sie es tun wollen. Darauf hat zuletzt der Philosoph Michael Pauen in seinem Buch „Illusion Freiheit?“ hingewiesen. Der Entscheidungsspielraum für den freien Willensakt bestand im Libet-Experiment also allein darin, die Bewegung innerhalb von drei zugestandenen Sekunden sofort oder eben einen Moment später auszuführen. Echte, selbst bestimmte Entscheidungen dagegen dauern eine gewisse Weile, weil nur so das Für und Wider fraglicher Optionen auszuloten ist. Das dies so ist, erkennt man schon daran, dass das Bereitschaftspotential bei vorausgeplanten im Vergleich zu spontanen Bewegungen früher einsetzte (gelber Pfeil). Auch wenn die Versuchspersonen in späteren Versuchen zwischen beiden Händen wählen durften bei der Fingerbewegung, setzte das Bereitschaftspotential im Durchschnitt früher ein.

3. Lesefehler: Falsche Datierung des Willensaktes

Die einzelnen Versuchspersonen in dem Libet-Experiment unterscheiden sich erheblich darin, zu welchem Zeitpunkt ihnen der Willensakt bewusst wird. Die Datierung des Drangs, sich bewegen zu wollen, schwankte zwischen 422 und 54 Millisekunden vor dem Beginn der eigentlichen Fingerbewegung, in einem Wiederholungsversuch sogar zwischen 984 und 4 Millisekunden.

Als Mittelwert aller Versuche ergaben sich für Libet daraus die häufig zitierten 150 bis 200 Millisekunden, bei späteren Wiederholungen der Versuche durch Patrick Haggard tauchte der bewusste Wille dagegen schon 350 Millisekunden vor der Bewegung auf, also deutlich früher. Offenbar verstanden nicht alle Teilnehmer das gleiche, als der Versuchsleiter ihnen sagte, sie sollten die Uhrzeit genau dann ablesen, wenn sie den „Drang, sich zu bewegen“, verspürten. Wahrnehmungspsychologen kennen zudem eine Art der optischen Täuschung, die entsteht, wenn Versuchspersonen einen sich rasch drehenden Zeiger verfolgen. Steht die Uhr etwa auf 12 Uhr, datiert das Bewusstsein in der Erinnerung diese Zeit um einige Dutzend Millisekunden vor, weil es den Zeitverzug zwischen Wahrnehmung und Bericht automatisch einberechnet. Solche Messfehler verringern die Zeit zwischen dem Start des Bereitschaftspotentials und dem ersten Auftreten des bewussten Willens. Voreilige Rückschlüsse auf eine zeitliche Abfolge von unbewussten Vorgängen und dem Entstehen des bewussten Willens sind daher mit Vorsicht zu genießen.

Experiment 2: Lebt unser Bewusstsein in der Gegenwart?

Klopft eine Versuchsperson mit dem Finger auf einen Tisch, erlebt sie subjektiv die Berührung just in dem Augenblick, in welchem ihr Finger die Tischplatte berührt, also in Echtzeit. Daten, die dieser Intuition widersprechen, präsentierte Benjamin Libet erstmals vor über 40 Jahren. Ein Neurochirurg hatte dem Hirnforscher erlaubt, im Operationssaal wache Patienten zu studieren. Deren Schädeldecke war für eine Operation aufgebohrt worden, und sie hatten dem Test zugestimmt. Libet wollte wissen, wann im Gehirn das Bewusstsein eines einfachen Reizes entsteht. Stimulierte Libet jenen Teil der Hirnrinde, der Informationen aus einem Finger der rechten Hand registriert, verspürte die Versuchsperson ein Prickeln in ebendiesem Finger. Die entscheidende Frage Libets lautete, welche Reizintensität im Großhirn nötig war, bevor eine Versuchsperson über das Auftreten erster bewusster Empfindungen berichten kann. Seine Befunde waren überraschend: Der Versuchsleiter musste die Hirnrinde fast eine halbe Sekunde lang stimulieren (A), bevor die Versuchsperson das Prickeln bewusst wahrnahm. Eine halbe Sekunde Verzögerung ist eine erstaunlich lange Zeit. Menschen können ihre Hand zum Beispiel innerhalb von 50 Millisekunden reflexhaft von einer heißen Herdplatte zurückziehen.

Dauerte der Reiz im Gehirn kürzer als 500 Millisekunden an, blieb die bewusste Wahrnehmung ganz aus (B), längere Reize dagegen empfanden die Patienten als intensiver (C). Auch wenn die Reizstärke unter einen Schwellenwert sank, trat kein bewusstes Erleben auf (D), war sie dagegen sehr stark, wurde eher ein Schmerz empfunden (E).

Die Interpretation dieser Daten schaffte ein Dilemma: Einerseits empfindet die Versuchsperson einen einzigen Reiz in ihrem Finger innerhalb von weniger als 50 Millisekunden. Wird jedoch das Gehirn direkt gereizt, wird die bewusste Erfahrung um eine halbe Sekunde verzögert. Libet deutete diese sich scheinbar widersprechenden Befunde durch eine provokante Interpretation: Das Gehirn verzögere Sinnesreize aus dem Körper, bevor diese in unser Bewusstsein dringen. Unser Ich verfolgt demnach keine Live-Sendung der ständig auf uns einströmenden Sinnesdaten, sondern hinkt stets eine halbe Sekunde hinter der Erlebniswirklichkeit her.

Experiment 3: Datiert das Gehirn unser Erleben zurück?

Weil unser Gehirn das Bewusstwerden eines Hautreizes künstlich verzögert (siehe Experiment 2), stellte sich für Benjamin Libet sofort eine weitere brisante Frage: Wie erzeugt das Gehirn trotz der Verzögerung das Gefühl, dass wir uns scheinbar im Augenblick der Berührung der Tischplatte unseres Fingerkontakts bewusst werden? Um dieses Paradox zu klären, führte Libet das hier gezeigte Experiment durch. Zunächst wurde bei den Versuchsteilnehmern wie im ersten Experiment im Gehirn jener Bereich für eine halbe Sekunde gereizt, der ein bewusstes Gefühl einer Handreizung erzeugt (A). Dann fügte der Experimentator zu verschiedenen Zeiten einen zweiten spürbaren Reiz hinzu (B und C), diesmal jedoch nicht im Gehirn, sondern direkt auf die Hand. Die Versuchsperson wurde nun nach jedem gekoppelten Paar von Reizen befragt, welche der beiden Empfindungen zuerst in ihr Bewusstsein trat. Erstaunlicherweise berichteten sie, dass sie den Hautreiz auch dann zuerst spürten, wenn dieser 200 oder gar 400 Millisekunden nach dem Hirnreiz erfolgte. Erst wenn die Hautreizung der Hand um eine halbe Sekunde verzögert wurde im Vergleich zum Stimulus im Gehirn, wurden den Teilnehmern beide Reize zugleich bewusst (B).

Libet interpretiert diesen überraschenden Befund dahin gehend, dass unser Gehirn das Bewusstsein eines Hautreizes nicht nur verzögert, sondern sein zeitliches Auftauchen darüber hinaus zurückdatiert auf den Augenblick, wo erstmals elektrische Signale von der Haut im Gehirn einlaufen. Die subjektiv gefühlte Datierung ist damit nicht identisch mit der neuronalen Zeit im Gehirn. Diese ziemlich unerhörte Hypothese ist bis heute umstritten. Ein häufiges Argument gegen die Interpretation der Befunde Libets ist, dass bei einer direkten Stimulation im Cortex eine Art Schwellenwert überschritten werden muss, bevor eine bewusste Wahrnehmung erfolgt. Danach dauert es nicht 500 Millisekunden per se, bis nach einem Reiz Bewusstsein entsteht. Denn künstliche Reize wirken im Gehirn nach anderen Regeln als bei natürlichen Reizen auf die Hand. Im Hirn dauert es länger, genügend Nervenzellen zum Feuern zu bringen und damit einen effektiven Stimulus für das bewusste Erleben zu setzen. Deswegen wird dieser Reiz später bewusst als der auf die Hand.

Experiment 4: Anomale Aktion – kann man Willen und Bewusstsein entkoppeln?

Unser bewusstes Gefühl, aus freien Stücken heraus eine Bewegung wollen zu können, ist Kernbereich unserer Selbstwahrnehmung. Mit diesem Experiment sind die britischen Neuropsychologen um Patrick Haggard und David Oakley vom University College in London der Idee nachgegangen, ob sich der Wille zu handeln von dem bewussten Erleben dieses Wollens entkoppeln lässt. Das gelang ihnen durch Hypnose. Verglichen wurden zunächst willentliche und unwillentliche Fingerbewegungen. Bei letzteren wurde der Finger von einer Schlaufe, die ein Versuchsleiter unter dem Tisch bediente, unvorbereitet auf einen Knopf heruntergedrückt. Wie nicht anders zu erwarten, erlebten Versuchspersonen selbstinduzierte Fingerbewegungen als freiwillig, passive dagegen als ungewollt (A). In einer weiteren Experimentalreihe wurde nun hypnotisiert. Dabei wurde suggeriert, dass der Mittelfinger der rechten Hand nach einigen Umdrehungen der Uhr von selbst eine deutliche, kurze Abwärtsbewegung vollziehen werde, und zwar genau in dem Moment, in dem die Versuchsperson ihren Finger willentlich krümmen. Wie in dem klassischen Experiment von Benjamin Libet wurde die Versuchsperson nun aufgefordert, sich den Zeitpunkt auf der Uhr zu merken, wo ihr die Fingerbewegung bewusst wurde. Zunächst stellten die Neuropsychologen fest, dass die Versuchsteilnehmer auch unter Hypnose selbstinduzierte Fingerbewegungen eindeutig von unwillentlichen unterscheiden konnten (B). Erstaunlicherweise aber erlebten die Versuchspersonen eine von ihnen willentlich ausgelöste Fingerbewegung im Bewusstsein als unwillentlich, wenn diese unter Suggestion als ungewollt imaginiert wurde (gelbe Sprechblase in B).

Offenbar kann unser Gehirn eine willentliche Aktion initiieren, die wir bewusst als ungewollt erleben. Da die Hypnose die Hirnprozesse willentlicher Bewegungen nicht stört, sind Willen und Bewusstsein des Wollens entkoppelt. Ein Beleg dafür ist auch die Tatsache, dass bei allen Versuchen das Bewusstsein der Bewegung früher auftaucht als die eigentliche Aktion (C). Bei willentlichen Handlungen antizipiert das Bewusstsein die Bewegungen früher als bei ungewollten. Auch eine psychologische Intervention wie die Hypnose kann aber die zeitliche Abfolge einer willentlichen Handlung im Bewusstsein so manipulieren, dass wir sie als fast völlig passiv erleben.

Aus der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 4.9.2005

Gehorsam: Ich erfüllte eine Aufgabe

Das Milgram-Experiment.

Von Jenny Niederstadt

Der Apparat, der die Welt schockierte, steht heute in Akron. Die Kleinstadt in Ohio beherbergt das Archiv der amerikanischen Psychologie. Dort ist die Maschine hinter Glas zu sehen. Sie zeigt 30 Hebel, 30 Kontrolleuchten. Jeder Schalter steht für eine Voltzahl, von 15 bis 450 Volt. Die Stromstärken sind in acht Gefahrengruppen eingeteilt, von „leichter Schock“ über „Gefahr: bedrohlicher Schock“ bis hin zu „XXX“. Wer einen Hebel des „Schockgenerators“ umlegt, hört ein Summen, Lichter blitzen auf, und der Zeiger des Spannungsmessers schlägt aus.

Die Maschine ist eine Attrappe. Doch als Stanley Milgram 1961 mit dem Generator sein legendäres Experiment startete, dachten die Versuchsteilnehmer, sie würden mit den Stromschlägen Menschen quälen. Ein vermeintlicher Versuchsleiter forderte die Testperson am Generator auf, immer stärkere Stromschläge zu verabreichen. Dies erfordere ein wissenschaftliches Experiment über das menschliche Gedächtnis (siehe „Foltern für die Forschung“). 63 Prozent von Milgrams Probanden gingen daraufhin bis zum Äußersten: Sie waren bereit, ihr Gegenüber im Namen der Wissenschaft mit 450 Volt zu foltern, einen an die Elektroden der Maschine angeschlossenen Schauspieler, der darauf trainiert war, Schmerzen und Qual zu zeigen, sobald ein Hebel umgelegt wurde. Bei 450 Volt reagierte er nicht einmal mehr, sondern lag wie tot auf seinem elektrischen Stuhl.

Die Öffentlichkeit war geschockt, als Stanley Milgram seine Ergebnisse veröffentlichte. Der Professor der Universität Yale berichtete zum Beispiel von einem Inspektor der Wasserwerke, der nach dem Experiment sagte: „Ich glaubte wirklich fest, dass der Mann tot war, bis wir die Tür aufmachten. Als ich ihn sah, sagte ich: ,Großartig, das ist ganz großartig.‘ Aber es hätte mich nicht beunruhigt, wenn er tot gewesen wäre. Ich erfüllte eine Aufgabe.“

Die Teilnehmer waren zu Werkzeugen der Macht geworden, sie hatten ihren moralischen Kompass verloren. Milgrams Experimente gehören mittlerweile zu den berühmtesten Versuchen der Psychologie. Von Anfang an waren sie umstritten – und gelten doch bis heute als Wegweiser. Sie zeigen, wie Autoritäten Menschen das Verantwortungsgefühl rauben können.