Menschen im Schnee - Frankfurter Allgemeine Archiv - E-Book

Menschen im Schnee E-Book

Frankfurter Allgemeine Archiv

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Beschreibung

Es gibt Menschen, für die ist erst richtig Winter, wenn es schneit und Schneeflocken der Landschaft ein weißes Kleid überziehen. Wenn dann der Schnee in der Sonne glitzert, gleiten sie mit Begeisterung auf Kufen, Skiern und anderen Brettern durch verschneite Wälder und steile Berghänge hinab. Ihre verschiedenen Erlebnisse im Schnee geben F.A.Z.-Autoren in diesem eBook zum Besten. Sie haben beliebte Wintersportgebiete besucht und sich in diversen winterlichen Aktivitäten versucht. So können Sie teilhaben an Übernachtungen in Schnee und Eis und erste Fahrversuche auf Pisten und im Gelände miterleben, die nicht immer nur Glücksgefühle hervorrufen. Damit Sie den Spuren unserer Autoren im Schnee selbst folgen können, ergänzen Reisetipps und Landkarten die Informationen über die verschiedenen verschneiten Schauplätze.

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Seitenzahl: 142

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Menschen im Schnee

Die schönsten Wintersport-Geschichten aus F.A.Z. und Sonntagszeitung

 

 

F.A.Z.-eBook 9

Frankfurter Allgemeine Archiv

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher, Birgitta Fella

eBook-Produktion: Rombach Druck- und Verlagshaus

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: [email protected]

© 2012 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.

Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher. Foto: Manuel_07 / Photocase,

www.photocase.de

ISBN: 978-3-89843-247-4

 

Vorwort

Von Birgitta Fella

Es gibt Menschen, für die ist erst richtig Winter, wenn es schneit und Schneeflocken der Landschaft ein weißes Kleid überziehen. Wenn dann der Schnee in der Sonne glitzert, gleiten sie mit Begeisterung auf Kufen, Skiern und anderen Brettern durch verschneite Wälder und über steile Berghänge.

Beim Wintersport lieben es einige mondän, andere rustikal, der eine mag es sportlich, der andere eher gemütlich. Ihre verschiedenen Erlebnisse im Schnee geben F.A.Z.-Autoren hier zum Besten. Sie haben beliebte Wintersportgebiete besucht und sich in diversen winterlichen Aktivitäten versucht. So können Sie teilhaben an Übernachtungen in Schnee und Eis und erste Fahrversuche auf Pisten und im Gelände miterleben, die meist, aber nicht immer, Glücksgefühle hervorrufen.

Damit Sie den Spuren unserer Autoren im Schnee selbst folgen können, ergänzen Reisetipps und Landkarten die Informationen über die verschiedenen verschneiten Schauplätze.

In Dörfern und Städten

Damüls: An die Schneekette gelegt

Damüls empfiehlt sich als schneereichstes Dorf der Welt. Aber so eindrucksvoll wie am vergangenen Wochenende hätte der Beweis nicht ausfallen müssen.

Von Hannes Hintermeier

Die Legendenbildung im alpinen Skilauf scheint einem Gesetz zu gehorchen: Je weiter entfernt vom Ort des Geschehens der Erzähler lebt, desto größer ist sein Hang, die Geschehnisse am Berg ins Mythologische zu überhöhen. Je geringer seine Fähigkeit, die Ski richtig um die Kurven zu steuern, desto titanischer gerät im Gegenzug die Darstellung dieses Unvermögens (Sprünge, Schleuderstürze, Jägertee). Und natürlich macht dieses Skifahrerlatein auch vor der Urmaterie nicht halt – dem Schnee. Wirklich richtig ist er nur, wenn sonnenbeschienen und pulvrig; der Rest ist der Schönfärberei anheimgegeben: griffiger, eisiger, sulziger als damals in – na, du weißt schon, wo ich meine – war er nie. Das gilt auch für die Mengenangaben. Deren Gipfel ist erreicht, wenn man vermelden kann, man sei eingeschneit. Und das passiert nur einem erlesenen Kreis. Diesen Winter war es wieder so weit. Das Orkantief Andrea, das sich in der ersten Januarwoche die Ehre gab, sorgte dafür, dass fünfzehntausend Erlauchte in österreichischen und Schweizer Skiorten festsaßen. Lawinengefahr inklusive.

Der Autor dieses Berichts zählte nicht dazu, was ein wenig ungerecht ist, denn die Zielmarke wurde nur knapp verfehlt, weil das Dorf als solches noch erreichbar gewesen sein soll. Das Dorf vielleicht, aber vom Hotel oberhalb des Dorfes aus, sah das ganz anders aus. Das mag auch erklären, warum das ausersehene Zielgebiet nicht erschöpfend erkundet werden konnte: Es schneite einfach zu viel, zu lang und zu stark. Der Berggasthof konnte schon am Ankunftstag erst verlassen werden, nachdem auch die Gäste in einer Mischung aus Nächstenliebe und Panik zu den Schaufeln gegriffen und den Eingang freigelegt hatten. Somit war schnell klar: Damüls hat sich den Titel »schneereichstes ständig bewohntes Dorf der Alpen« offenkundig redlich erschneit und seit 2005 erfolgreich verteidigt. Dass man daraus in der Werbung nassforsch »Das schneereichste Dorf der Welt« gemacht hat, war sicher nur Zufall.

Es war vorherzusehen, dass bei diesen Witterungsbedingungen schon die Anreise zu einem Abenteuer werden würde. Gleichgültig, ob man vom Norden her über Mellau in den Bregenzerwald vorstößt oder vom Süden her über das Große Walsertal: Wenn das blaue Verkehrszeichen »Beginn des Schneekettengebots« auftaucht, ist Schluss, wenn man keine Ketten hat, oder – was ebenfalls häufig zu beobachten ist – sie nicht anzulegen im Stande ist.

Dass eine der neu erworbenen Aufstiegshilfen allerdings nach wenigen Kilometern und dreihundert Meter vor dem Ziel den Geist aufgab und sich in unschöner Weise um die Lenkmanschette zu wickeln drohten, war nur das Vorspiel zum Beweis, dass wahre Heldengeschichten am Berg geschrieben werden. Der Günter kam rückwärts mit dem Jeep – Vierradantrieb, Differentialsperre, Schneeketten, dick genug, um einen Höhlentroll zu binden -, bockte den Wagen auf, schraubte das Vorderrad ab und wieder an, sagte, es sei unglaublich, was für ein »Scheißdreck« heutzutage als Ketten verkauft würde. Blieb dabei die Ruhe selbst, als er den Karren auf 1700 Meter Seehöhe und inmitten eines wütend fauchenden Sturms aus der Schneewehe zog. Es gibt kein falsches Wetter, wie der Engländer sagt, nur falsche Kleidung. Wohl dem, der einen solchen Burschen in seiner Nähe hat.

»Die Gestaltungen der Gegend waren nicht mehr sichtbar«, schreibt Adalbert Stifter in seiner letzten, 1867 entstandenen Erzählung »Aus dem bairischen Walde«, in deren Zentrum ein Schneesturm sich ereignet: »Es war ein Gemische da von undurchdringlichem Grau und Weiß, von Licht und Dämmerung, von Tag und Nacht, das sich unaufhörlich regte und durcheinander tobte, Alles verschlang, unendlich groß zu sein schien, in sich selber bald weiße fliegende Streifen gebar, bald ganz weiße Flächen, bald Ballen und andere Gebilde, und sogar in der nächsten Nähe nicht die geringste Linie oder Grenze eines festen Körpers erblicken ließ. Die Erscheinung hatte etwas Furchtbares und großartig Erhabenes.«

Klimawandel war gestern, oder sind wir in den falschen Film geraten? Noch bis kurz vor Weihnachten sah alles so aus, als würde der Skiwinter auf der Nordseite der Alpen ausfallen. Der Bayerische Rundfunk brachte sogar einen Bericht, dass in Garmisch-Partenkirchen zwar genügend Wasser für die künstliche Beschneiung in den Speicherteichen sei, das Wasser aber zu warm sei, weswegen man es kühlen müsse, wenn schon das Wetter nicht mitspiele. Im Bregenzerwald ist man gelassener, obwohl auch hier Schneekanonen die Pistenränder begleiten.

Man mag sich in der dreifach verglasten Behaglichkeit nicht wirklich vorstellen, wie hart die Existenz der Menschen gewesen sein muss, die diesen Landstrich besiedelten. Die Walser, die im Spätmittelalter aus dem Schweizer Wallis hier einwanderten, waren arm und an harte Arbeit gewöhnt. Hier und in Graubünden fanden sie ein Siedlungsgebiet, dessen Schwierigkeitsgrad sich bis heute in Liftnamen wie »Uga« für unwegiges Tal niederschlägt. In einer besonders kalten Etappe der Kleinen Eiszeit, Ende des siebzehnten, Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, verheizten die Walser mangels Holzvorräten sogar ihre Kirchenbänke. Das Vieh mussten sie im tiefsten Winter über freigeschaufelte Pfade alle paar Wochen zu neuen Heustadeln treiben, die im Sommer gefüllt worden waren.

Kontakt zur Außenwelt in den Nachbartälern gab es nur über die Gebirgspässe, Inzucht mangels Alternative war die Regel. Bis heute ist das Dorf mit seinen 330 Einwohnern in der Hand von zwei Familien, den Bischofs (sie stellen derzeit in Personalunion den Bürgermeister und Tourismus-Chef) und den Madleners. Erst vor achtzig Jahren zog die Moderne hier ein, in Gestalt eines »reichsdeutschen« Skipioniers aus Stuttgart namens Fritz Kiedaisch. Der heiratete im April 1933 an einem Schneealtar in Damüls seine Auserwählte Mathik Fenerdjian, Tocher württembergischer Auswanderer aus dem türkischen Amasya.

Zwanzig Jahre später gelang es ihm, das »Sonnenheim« zu erwerben. Um diese Zeit kutschierte der Gastwirt Anton Madlener seine Gäste per Pferdefuhrwerk aus Au hinauf in den »Adler«. Beide setzten sich unermüdlich für den Ausbau des Skitourismus ein. Kiedaischs Sohn Harald trat am Berg alsbald in die Fußstapfen des Vaters, wurde mit einer Arbeit über das Große Walsertal promoviert, gründete in Stuttgart nach der Skischule Privatschulen zur Ausbildung von Sport- und Gymnastiklehrern, Physio- und Ergotherapeuten. Den winterlichen Hotelbetrieb erledigt er zusammen mit seiner hochenergetischen Frau sozusagen im Nebenerwerb. Vergangenen Sommer wurden das Haus und das bei Skifahrern beliebte Selbstbedienungsrestaurant um einen komfortablen Erweiterungsbau ergänzt. Kiedaisch ist eine starke Präsenz und hat als Endsiebziger etliche Bergwinter gesehen, aber auch er ist beeindruckt von der Niederschlagsmenge in diesen Tagen: »Der stärkste Wintereinbruch seit zwanzig Jahren.«

Das will etwas heißen, denn hier kann man sich in der Regel darauf verlassen, dass die von Nordwesten anstürmenden Schneewolken auf das erste Hindernis herabschneien, das sich ihnen in Form des Bregenzerwaldes entgegenreckt. Das sind beste Voraussetzungen für das Skifahren. Vor zwei Jahren hat sich Damüls mit dem benachbarten Gemeinden Faschina und Mellau zu einem Skigebiet zusammengeschlossen. Geboten sind hundert Pistenkilometer und 21 Liftanlagen. Für Tagesausflüge aus der nahen Bodensee-Region ist der Ort nicht unbedingt bequem zu erreichen, hat aber seine Fans. Ein großer Teil der Gäste kommt denn auch aus dem großen Einzugsgebiet Baden-Württemberg. Dass viele Skifahrer übernachten, hat eine beträchtliche Infrastruktur an Hotels, Berggasthöfen und Ferienwohnungen entstehen lassen. Der Tourismusindustrie gilt das Gebiet mit dem Slogan »schneereich« als Aufsteiger, auch wenn man sagen muss, dass es von einer wirklich gut vernetzten Skischaukel noch ein Stück entfernt ist.

Es sind geübte Skifahrer, die hier auf ordentlich langen Abfahrten auf ihre Kosten kommen; wichtige Skirouten zwischen den Tälern sind als »schwierig«, manche sogar als »extrem« klassifiziert. Das mag man als Stärke werten, wenn man Winterurlaub als sportliche Herausforderung betrachtet und nicht nur als Kilometerfresserei auf planen Rennstrecken. Das Angebot konzentriert sich traditionell auf den Skilauf, und dass soll auch so bleiben. Für Langläufer gibt es eine Höhenloipe, dazu Winterwanderwege, darunter einen »Schmuseweg«, Nachtskilauf in Faschina, einen Snowpark für Boarder sowie eine lange Rodelbahn. Der neue Sechsersessel zum Ragazer Blanken war nicht in Betrieb.

Der winzige Dorfkern, das Kirchdorf, hat sich mit seiner barockisierten Kirche St.Nikolaus den Charme eines entrückten Ortes bewahrt, den zahlreichen Schneefräsen und SUVs zum Trotz. Ein »räumliches Entwicklungskonzept« gibt es auch, denn Damüls will weiter wachsen, aber zurückhaltend. Am Ende des Jahrzehnts sollen 2500 Gästebetten zur Verfügung stehen. Weitere Ferienwohnungen und Zweitwohnsitze sind nicht erwünscht; eine Stärkung der Landwirtschaft aber schon. Der Charakter der Streusiedlung erzwingt es, auf eine weitere Zersiedlung zugunsten einzelner Hotelanlagen in spektakulären Hanglagen zu verzichten. Nun will man sich auf den Ausbau der einzelnen Weiler konzentrieren. Bleibt das Problem, wohin mit den Autos. Eine Tiefgarage, wie man sie seitens der Gemeinde am Uga-Parkplatz erträumt, wäre sicher eine probate, aber kostspielige Lösung.

Zunächst könnte man indes in Sessellifte mit Schutzhaube investieren, die Doppelsesselbahnen Furka, Oberdamüls, Sunnegg und Hohes Licht sind Veteranen und haben allenfalls für Anhänger des Nostalgieskilaufs entschleunigende Wirkung. Gerade bei unfreundlichem Wetter erleichtert so eine Schutzvorrichtung die von Marketingexperten so gern in den Mund genommene Floskel von der »Aufenthaltsqualität«.

Das Verlassen des Hauses war dann endgültig ein Problem geworden, als der Schnee bis unter den Fenstern im zweiten Stock lag. Bewohner der unteren Etagen berichteten von Iglu-Feeling. Der vom Hotelbesitzer genüsslich ausgebreitete Fall eines Schneekollers, den ein Zimmermädchen dereinst befallen hatte, rundete die Stimmung beim Frühstück aufs trefflichste. Der aus Kenia stammende Küchenhelfer war der Mann der Tage, weil er Stund‘ um Stund‘ den einzig möglichen Zugang zum Haus, die Schleuse zum Skikeller, freischaufelte. Passt schon, sagte er in schönem Österreichisch, das ist halt im Winter so.

Zum Glück hat es am Samstag dann einen Lichtstreif am Horizont gegeben. Für ein paar Stunden war nämlich in Ansätzen zu erkennen, wo man sich aufhielt und wie die Berge hier aussehen. Die schroff gezackte Damülser Mittagsspitze im Osten, das Glatthorn auf der gegenüberliegenden Talseite, lauter Zweitausender kurz vor dem Hochgebirgsgefühl. Weil die Schneemenge für die Pistendienste nicht mehr in den Griff zu bekommen war, spielte es keine Rolle mehr, ob man sich auf eine Piste oder auf einer Skiroute begab: Beide erwiesen sich in ihrer Tiefschneeverfassung als jederzeit fahrbare Varianten, die dem Fahren ohne Sicht mit butterweicher Sanftheit entgegenkamen.

In Stifters Erzählung fragt der Erzähler nach jenem »zwei und siebenzig Stunden« währenden Schneesturm bei der Abfahrt zwei Mal bang den Kutscher: »Martin, wenn uns ein Schlitten begegnet.« Worauf der beide Male antwortet: »Es begegnet uns keiner.« »,Wenn uns doch einer begegnet‘, beharrte ich. ,Dann weiß ich es nicht‘, sagte er.«

So auch bei unserer Abfahrt am Sonntag. Von Norden her neue Schneefälle. Die Zufahrt zur »Sonnenalm« war ein konturloser Eiskanal, von Günter als eine fahrzeugbreite Spur mit ebenso hohen Seitenwänden herausgefräst. Am oberen Bildrand ragten noch die bunten Markierungsstangen zwei Handbreit hervor. Der Versuch, den Blindflug in der absoluten Weißheit mit Hilfe einer Skibrille am Steuer zu beenden, schlug fehl. Vereinzelt auftauchende Fußgänger halfen als schwarze Striche bei der Orientierung. Erst tausend Höhenmeter tiefer hinter Mellau wagten wir die Weiterfahrt ohne Ketten. Entkommen. Einerseits. Andererseits auch wieder schade. Da hatte die Legendenbildung schon eingesetzt: Damals, in Damüls.

Nachtrag: Wieder daheim, schauten wir uns im Internet einen Werbefilm über Damüls mit Luftaufnahmen an. Nun erst erkannten wir, was uns entgangen war. Sagenhaft. Doch noch mal hinfahren.

 

Reisetipps

Damüls Faschina Tourismus, Kirchdorf 138, A-6884 Damüls,

Telefon: +43/5510/6200, Email: [email protected], www.damuels.at

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Januar 2012

Bettmeralp: Vier Sitze schweben ins Paradies

Zwischen Barockkapelle und Weltnaturerbe: Winterurlaub auf der Bettmeralp im Oberwallis

Von Gerhard Fitzthum

An der Bergstation ins Freie zu treten heißt sich erst einmal die Augen zu reiben. In nur acht Minuten wurde man aus der Welt nassen Asphalts in eine perfekte Schneelandschaft katapultiert. Die meisten Seilbahnbenutzer stapfen nun nach rechts ins Dorf hinauf, kommen aber nicht wirklich vorwärts. Statt brav hinterherzutrotten, toben die Kinder nämlich durch die weiße Pracht und bewerfen sich mit Schneebällen. Ein Grund mehr, einen Moment zu verweilen und ein paar Schritte in die Gegenrichtung zu schlendern. Dort öffnet sich ein Panorama, das seinesgleichen sucht. Der Blick fällt auf ein endloses Nebelmeer, aus dem nur die Kette der Walliser Alpen herausragt. Ein ganzes Dutzend Viertausender glänzt dort, an der Grenze zu Italien, im Gegenlicht – im Mittelpunkt die Giganten der Mischabel-Gruppe und das Matterhorn. Fassungslos steht man da und kann es kaum glauben. Nicht weniger verblüffend ist indes der ungewohnte Geruch abgasfreier Luft – und die kaum mehr für möglich gehaltene Ruhe.

Beides kommt nicht von ungefähr, sondern daher, dass es auf der Bettmeralp keine Autos gibt. Schon 1988 hat sich das Wintersportdorf im Oberwallis mit sechs anderen Gemeinden zur »Gemeinschaft Autofreier Schweizer Tourismusorte«, kurz »Gast«, zusammengeschlossen und angefangen, aus dem vermeintlichen Standortnachteil Kapital zu schlagen. Mit Erfolg, denn im Zeitalter der totalen Mobilität, in dem auch die abgelegensten Gebirgswinkel den Autos gehören, sind Freizeitlandschaften ohne Straßenverkehr gefragt. Von der unzeitgemäßen Ruhe im Schnee fühlen sich keineswegs nur ältere Menschen angesprochen. Besonders beliebt ist die Destination bei Familien, die auch aus ganz praktischen Gründen kommen: Zum einen, weil die Preise für Schweizer Verhältnisse moderat sind, zum anderen, weil Bett und Lift beispiellos dicht beieinander liegen. So kann man die Größeren unter den Kleinen gefahrlos alleine zum Snowboarden schicken. In der Hauptsaison lässt jede zweite Familie ihr Auto gleich ganz zu Hause. Dadurch bleiben der Atmosphäre jährlich Hunderte von Tonnen Kohlendioxyd erspart. Und an den Hängen legt sich kein giftiger Rußteppich auf den Schnee.

Allerdings irrt, wer die Autofreiheit für das Ergebnis einer besonders weitsichtigen Kommunalpolitik hält. Sie verdankt sich schlicht den topographischen Gegebenheiten: Immerhin tausendeinhundert Höhenmeter liegen zwischen der Talsohle des Rotten und dem Plateau, auf dem die Walserbauern einst ihr Vieh sömmerten. In einem der ärmsten Kantone der Schweiz fehlte das Geld, um das Bergdorf Betten und seine Almsiedlung ans Straßennetz anzuschließen. Es ist einem lokalen Initiativkomitee zu verdanken, dass Anfang der fünfziger Jahre wenigstens eine viersitzige Schwebebahn gebaut wurde.

Damit schloss sich ein Kapitel der bergbäuerlichen Alltagsgeschichte, in dem ein Teil der Arbeitskraft auf den weiten Wegen verlorenging. Zu Fuß brauchten die Bettmer insgesamt dreieinhalb Stunden von der Bahnstation in Mörel bis zur Alp – meist mit schwerem Gepäck auf dem Rücken. Was nicht selber geschultert wurde, ließ man von einem Berufssäumer hinaufbringen, der zugleich die Post auslieferte. Zwischen dem Talgrund und Betten ging Alfons Mangisch bis Ende 1951 täglich dreimal mit seinen Maultieren, dazu addierten sich im Sommer je zwei Aufstiege zur Alm. In der Hauptsaison stellte der erste Spediteur des Dorfs noch Hilfskräfte an, die die Schwerstarbeit zumindest bergab mit großen Holzschlitten verrichteten. Die touristische Entwicklung hatte in den dreißiger Jahren eingesetzt und den Bedarf an Transporten merklich erhöht.

Aus der alten Zeit übriggeblieben sind nur ein paar wettergegerbte Holzhäuser und die Barockkapelle »Maria zum Schnee«. Allein auf einem dem Südhang vorgelagerten Hügel stehend, ist sie das meistfotografierte Motiv der Bettmeralp. Kirchgänger sind dort nicht zu sehen, wohl aber Eltern mit Kindern, die zum Skifahren noch zu klein sind. Der kurze Abhang in die tief verschneite Mulde ist bestens geeignet, ihnen die ersten Schlittenerlebnisse zu verschaffen. Unten locken zudem Spielfiguren, ein Iglu und eine große Kunststoffrutsche.

Jenseits dieser bezaubernden Freifläche ist in den letzten Jahrzehnten viel gebaut worden, meist einstöckige Häuschen im Heimatstil – mit Terrasse und Sonnenbalkon. Aus der bescheidenen Sommersiedlung von einst ist ein komfortables Chaletstädtchen geworden, in dem es alles gibt: Arzt, Apotheke, Skiverleih, Kinderhort, Einkaufsläden, Restaurants und Bars. Besonders verlockend sind die beiden sonnigen Straßencafés, die den Bilderbuchblick auf Kirchlein und Alpenkulisse freigeben. Hier sitzt man in Mänteln oder Skianzug, nicht selten jedoch auch im Pullover oder gar im Hemd. Das Aufstehen fällt schwer, denn man befindet sich an einem der schönsten Plätze der Alpen.

Auch das Skigebiet lässt kaum Wünsche offen. Durch den Zusammenschluss mit der Riederalp und Fiescheralp zur »Aletschregion« stehen ambitionierten Carvern und Snowboardern hundert Pistenkilometer zur Verfügung – bestens präpariert, sonnenexponiert und schneesicher. Trotz des insgesamt trockenen inneralpinen Klimas bekommt das Oberwallis im Winter mehr Niederschläge als die nahe Alpensüdseite. Und in der Höhe zwischen zwei- und dreitausend Metern fallen sie auch dann als Schnee, wenn es unten in Strömen regnet.