Die geliehene Tochter - Sana Brauner - E-Book

Die geliehene Tochter E-Book

Sana Brauner

4,7

Beschreibung

Am 26. Dezember 2004 bebte im Indischen Ozean die Erde. Der von dem Seebeben ausgelöste Tsunami tötete und verletzte Hunderttausende. Viele Augenzeugen haben seither über das Geschehene berichtet – zwölf Jahre später findet auch Sana Brauner die Kraft, in ihrem Buch auf das Ereignis zurückzublicken, das ihr Leben in Frage stellte und für immer veränderte. Den Tag der Katastrophe verbrachte sie mit ihrem Mann, ihrem Sohn Alexander, ihrer Tochter Alexandra-Anita und ihrer Mutter im südthailändischen Küstenort Khao Lak. Alle fünf wurden von der Welle erfasst. Während sie selbst sich auf einen Baum rettete und ihr Mann und ihr Sohn ebenfalls wie durch ein Wunder überlebten, musste sie auch schmerzliche Verluste hinnehmen: Ihre Mutter wurde Opfer der Flut. Das Töchterchen Alexandra-Anita blieb verschollen. Es folgte eine hochemotionale Suchaktion der Eltern nach ihrem geliebten Kind. Hotelangestellte wollten die Zweijährige am Tag nach dem Unglück in Begleitung Einheimischer gesehen haben. Mönche und ein Medium sowie viele weitere Indizien bestärkten die Hoffnung der Eltern auf die Rettung und das Wiederfinden ihrer Tochter. Das Leid katapultierte damals die Eltern aus ihrem alten Leben heraus. Die Suche wurde lange zum Lebensinhalt – eine existenzielle Zerreißprobe. Obwohl ihre Tochter bis heute vermisst wird, gelang es Sana Brauner, aus diesem Schicksalsschlag Kraft zu schöpfen. Er führte sie auf eine spirituelle Reise und zu einer neuen Art zu leben. Entstanden ist ein tief berührendes Buch über Verlust und Trauer, Loslassen und Neubeginn – ein Buch, das Hoffnung macht.

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Seitenzahl: 330

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Danksagung

Damals, als mein Leben eine so gewaltige Wende erfahren hatte, erhielt ich als langjährige Chefredakteurin eines österreichischen Magazins sehr viele Trost spendende Zuschriften. Viele begannen mit den Worten: Wenngleich wir uns nicht kennen ...

In Erinnerung an das in diesen Schreiben ausgedrückte Mitgefühl möchte ich mich bei allen bedanken, die diese Zeilen gerade lesen. Ich danke Dir einfach dafür, dass es Dich gibt.

Wenngleich wir uns nicht kennen, verbindet uns doch vieles. So befinden wir uns, obwohl wir zu unterschiedlichen Zeiten unterwegs sind, auf einer gemeinsamen Reise, auf der Reise, die das Abenteuer Leben ist. Und wir haben den Planeten Erde als unsere gemeinsame Destination gewählt. Er ist uns eine Heimat auf Zeit. Lass uns diese schöne Heimat rein halten. Und indem ich Dich darauf aufmerksam mache, ermahne ich mich selbst dazu, unsere Gedanken und die mit ihnen verbundenen Gefühle stets rein zu halten, sie zu entstauben und immer liebevoll zu schlichten.

Unsere Gedanken- und Gefühlswelten haben Schöpferkraft. Sie sind kraftvolle Werkzeuge, die uns innewohnen. Ich bitte Dich um einen respektvollen Gebrauch der Dir anvertrauten Gaben, während Du Deine eigene Geschichte schreibst, und danke Dir gleichzeitig dafür.

ICH MÖCHTE DEINE „inspirierende“ GESCHICHTE KENNENLERNEN!

Vielleicht möchtest Du Deine Geschichte auch mit anderen teilen.

Eigens dafür habe ich eine Webseite www.sanabrauner.com erstellt. Unter der Rubrik „Inspirierende Geschichten“ können jene, die das Licht am Ende des Tunnels im Auge behaltend, uns ermutigen, aus solchen Zeiten gestärkt heraus zu wachsen, hochgeladen werden. Denn jeder von uns hat eine persönliche Geschichte, die wir in und mit uns tragen. Aktuell oder vergangen. Dabei kann es sich um körperliche, emotionale, familiäre, finanzielle und berufliche Probleme handeln. Sei mit Deiner inspirierenden Geschichte ein nachahmenswerter Architekt und Träger des Lichts. Es sind manchmal nur kleine Denkanstöße für neue Betrachtungsweisen, die für andere so hilfreich sind, um ihre aussichtslosen Probleme doch tragbar werden zu lassen.

Schließlich gilt das größte Dankeschön meinen spirituellen Begleitern, meiner geistigen Heimat. Von Augenblick zu Augenblick. Von Tag zu Tag.

Inhalt

Danksagung

Die geliehene Tochter

Meine Geschichte beginnt

So also fühlt es sich an, wenn man stirbt

Drei Stunden, seitdem die Welt sich um 180° gedreht hat

Papi, ich lebe

Toni

Die Suche beginnt

Tabuthemen in der Medienlandschaft

Vor Ort in Phuket

Unsere Ankunft in Wien

Tag eins im Unternehmen

Romana

Auf Tempeltour in Phuket

Mönche lokalisieren Alexandra-Anita

Marry

Alexandra-Anita – das Falang-Kind

Alexandra-Anita in Malaysia

Andreas und die Kinderhändlermafia

Mein Mantra: Worin nur liegt die Antwort auf unsere Situation?

Landung in Wien

Und wieder in Phuket

Eine kaum nachvollziehbare Begebenheit

Zurück in Wien

Briefe aus der geistigen Welt

Der zweite Brief aus der geistigen Welt

Der dritte Brief aus der geistigen Welt

Der vierte Brief aus der geistigen Welt

Eigenverantwortung und Gesundheit, wie ich sie sehe

Ich ziehe an, was ich aussende

Das Ergebnis der DNA-Analyse

Zum Jahrestag des Tsunami in Phuket

Drei Jahre danach

Meine inneren Wandlungen an der Oneness-Universität

Das Innere Kind

Eine neue Partnerschaft

Die Ayahuasca-Zeremonie

Alaska

Das Experiment Leben

In Liebe an die himmlische Heimat

Die geliehene Tochter

Der Schalter zu meinem Herzen bedient sich ganz eigenartig. Wann immer er sich einschaltet, um mir einen Teil meiner Geschichte zu erzählen, fühle ich mich im Leben geborgen. Aus diesem zarten, fein gewebten Netz der Geborgenheit entstand der Wunsch, meine Geschichte mit dir zu teilen. Denn du und ich, wir alle, schwingen auf der Ebene des Herzens im gleichen Takt. Unabhängig davon, welche Sprache du sprichst, aus welchem Land du kommst, welchen Geschlechts du bist. Unabhängig von allem. Gleich zu Beginn verrate ich dir, ich wollte es wirklich wissen. So ganz, ganz wirklich, wenn du verstehen kannst, was ich meine. Ich denke, du kannst. Ich wollte es auf allen Ebenen erfahren, ob ich den Mut hätte, die Schöpfung in der Stille und im Abenteuer, in der Freude und im Schmerz zu ertragen. Ihr mit jeder Zelle meines Seins zu begegnen. Und noch etwas gleich zu Beginn: So manches in meiner Geschichte ist viel zu entrückt, um es mit dem Verstand erfassen zu können. Wann immer der Verstand deine Aufmerksamkeit an sich reißen möchte, melde dich doch bei ihm ab und schicke ihn auf Urlaub. Ich verspreche dir schon jetzt, es wird die Zeit kommen, genau dieses zu tun. Und nun lade ich dich ein, mit mir jenes Feld zu betreten, wo alle unsere Geschichten geschrieben werden. Hier gibt es weder Raum noch Zeit. Hier klinkt sich jener Teil von uns ein, der uns atmet, der uns das Gefühl gibt, darauf vertrauen zu dürfen, dass das Leben es besser weiß. Hier dürfen Wunder ihren Anfang nehmen, sich den Wundern anderer anschließen. Hier begegnen sich alle Geschichten. Lass mich nun mit meiner beginnen und diese mit dir teilen.

Die Art meiner inneren Gespräche mit der Anrufung »mein Vater« ist der Kontakt zu einer Quelle, für die es keinen Namen gibt. Diese Anrufung ist der Ausdruck einer tiefen, unendlich überfließenden Liebe, die aus einem Quell entspringt, der keinen Anfang und kein Ende hat.

Sie ist die Schwingung einer süßen, mich stets streichelnden und mir Mut zuflüsternden Geborgenheit. Sie ist gleich einem Ton ohne Laut, der die Luft allein durch einen Blick erzittern lässt. Sie ist mein Zuhause, dort, wo ich mich, mich aus der Materie lösend, an eine unsichtbare Schulter voller Heil und Güte anlehne, dort, wo ich angekommen bin – mein Vater. Sie ist jene Brücke, die mich, meine Hände ausstreckend, durch die sinnliche Leichtigkeit zwischen dem Diesseits und dem Jenseits trägt. Sie ist mein intimster Gesprächspartner in der dunkelsten Nacht meiner Tränen und im strahlendsten Sonnenlicht meines Lachens. Du bist jene Zuflucht, für die ich kein weltliches Wort finde. Ich nenne dich daher »mein Vater«.

Meine Geschichte beginnt

Ich komme gerade vom Frühstück.

Es ist ein gutes Stück zu Fuß, bis man vom Restaurant am Strand aus das Zimmer erreicht. Meine Schwester Teresa sitzt noch mit Alexandra-Anita und Mami beim Frühstück. Wir haben beschlossen, dass Helmut, Alexander und sein Cousin Felix zu ihnen, meiner Tochter und Mami nach vorne schwimmen, damit sie später zusammen im Meer baden können.

Jetzt ist das Wetter noch so angenehm, dass man in der Sonne bleiben kann. Ab Mittag wird es unerträglich heiß, und alle fliehen in den Schatten.

Wir sind mit Mami – alle nennen sie liebevoll Niki – bereits Mitte Dezember angereist. Meine Schwester Teresa kam mit ihrem Sohn Felix am Vormittag des 20. Dezembers nach. Eine weitere Familie und liebe Freunde, Gaby und Stephan, kamen ebenfalls am 20. an, doch es war schon spät in der Nacht. Mit ihnen kamen ihre vierzehnjährige Tochter Silvy und ihr Sohn Robert.

Noch vor unserer Reise in den nördlich gelegenen Tao Garden von Chiang Mai sollte Robert wieder zurück nach Wien fliegen, um Prüfungen an der Uni zu absolvieren. Er war nun fünfundzwanzig Jahre alt und wollte sich endlich ins Zeug legen. Doch sollte es nicht anders kommen? Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch keine Ahnung, wie anders »anders« sein würde!

Ich betrete unser Zimmer: »Wo seid ihr?«, rufe ich. »Draußen auf der Terrasse«, hallt Helmut zurück. »Die Kinder spielen im Sand auf der Insel gegenüber.« – »Helmut, lass uns nach vorne schwimmen. Habe mit Teresa ausgemacht, dass wir zu ihnen schwimmen und zusammen im Meer baden.« – »Gut, machen wir.«

So gehe ich durchs Zimmer, die Glasschiebetür ist offen, hinaus auf die Terrasse. Etwa zehn Meter gegenüber von unserem Zimmer befindet sich die Insel mit der Wasserrutsche. Die Insel ist groß, die Wasserrutsche gleicht einem Berg mitten im Wasser. Alexander und Felix spielen im Sand, nur wenig entfernt von der Wasserrutsche.

Links von unserem Zimmer befindet sich das Zimmer von Silvy und Robert mit einer Verbindungstür zum Zimmer ihrer Eltern. Rechts von uns geht es durch eine Verbindungstür ins Zimmer meiner Schwester und von Mami.

Helmut steht auf der Terrasse, die ich gerade betrete. Ich schaue zu den Kindern. Doch plötzlich. Auf einmal. Wie aus dem Nichts kommend – links von mir eine hohe Welle. Ich schreie: »Wasser. Wasser kommt. Kinder, kommt rüber. Alexander, Felix, kommt rasch!« Das Wasser ist schneller da, als ich meine Worte aussprechen kann. Erst später erfahre ich von dem Glück, dass die Kinder nicht wie ich oder Robert im Zimmer waren.

Glas klirrt. Wasser. Massig. Es trifft mich mit Wucht. Überschwemmt mich. Spült mich ins Zimmer zurück. Das Zimmer füllt sich schon im nächsten Moment bis an die Decke. Alle Gegenstände schweben wirr – überall. Ich tauche bereits. Keine Möglichkeit aufzutauchen. Wohin auch!

Zwischen Zimmer und Badezimmer lässt sich ein großes Fenster öffnen. Es bietet, dem neuen Trend entsprechend, einen direkten Blick ins Badezimmer. Es ist zu. Ich befinde mich davor. Das Wasser ist über mir. Es muss ein Nachtkästchen sein, das gegen das Fenster zum Badezimmer geschleudert wird. Das Glas – es zerbricht. Es sind Tausendstel von Sekunden, in denen sich jetzt alles abspielt.

Tausendstel von Sekunden spielen Roulette. Ich bin bei Bewusstsein, bekomme das Spektakel, das mir das Leben nehmen könnte, uneingeschränkt mit. Vollkommen im Jetzt. Keine Gefühle. Absolute Präsenz. Sein im Augenblick.

Die Glasreste im Fensterrahmen werden zu schmerzvoll tödlichen Werkzeugen. Meine ausgestreckten Arme, mit denen ich mich am Fensterrahmen halten will, um nicht ins Badezimmer hineingeschwemmt zu werden, werden intuitiv und blitzschnell eingezogen, mehr von Engeln als von mir selbst. Auch die Beine und Arme folgen. Der ganze Körper stockt in Embryonalhaltung.

Und so, nur und gerade so, entgehe ich der Kollision mit den messerscharfen Glasscherben, von denen unzählige im Fensterrahmen stecken!

Jetzt befinde ich mich im Badezimmer, immer noch unter Wasser – Zeit nachzudenken, wie es weitergeht, gibt es nicht.

Im nächsten Moment werde ich schmerzvoll gegen das Holz-Beton-Geländer des Etagenganges geschleudert. Der immense Druck und die Wucht, mit der die im Wasser treibenden Gegenstände sowohl an die Badezimmer- als auch Zimmereingangstür krachen, lassen diese mit Leichtigkeit zerbersten. Jetzt befinde ich mich außerhalb des Hotelgebäudes. Im Freien. Unter Wasser. Im alles verschlingen wollenden Wasser. Denn auch angeblich Niet- und Nagelfestes wird von der Kraft der Naturgewalt hinweggefegt. Kühlschränke, Fernseher, Tische, Stühle, Regale, Betten, Matratzen … werden gemeinsam mit mir wie Pfeile von einer unsichtbaren Hand vom Bogen abgefeuert. Das Wasser nimmt seinen Lauf und alles mit ihm.

Außerhalb der Zimmer, in den Gängen – überall tobt Wasser. Alles ist längst überflutet! Mein Händeringen, um an die Wasseroberfläche zu gelangen, ist ein verzweifelter Versuch, dem Leben längeres Leben abzugewinnen. Doch ohne Erfolg. Durch das wilde Herumgeschleudertwerden unter Wasser, die dumpfen Schläge der um mich herumwirbelnden Gegenstände weiß ich nicht mehr, wo oben oder unten, wo Freiheit, Sieg oder Tod sind.

Der Kampf gegen eine apokalyptische Kraft scheint wahnwitzig. Die Tragweite der Zeit unendlich und unbekannt.

So also fühlt es sich an, wenn man stirbt

Und irgendwie. Plötzlich. Irgendwie lasse ich jäh alles geschehen. Ich füge mich dem Sterben. Der letzte Atemzug scheint gekommen. Augenblicklich breitet sich ein besonderes Gefühl in mir aus: Ich kann meine eigenen Gedanken als Außenstehende beobachten. »So also, so also«, denke ich, »fühlt es sich an, wenn man vom Diesseits ins Jenseits übertritt.«

In diesem tobenden, alles und jeden mit sich reißenden Chaos des Untergangs breitet sich unsagbare Stille in mir aus. Gerade so, als würde man einen Film auf »Stopp« geschaltet haben. Ich verspüre keine Abwehr. Keine Angst. Nur Ruhe. Stille. Es geschieht – und ich lasse es geschehen – eine Welle in der Welle.

»Sana, willst du leben?« Ich höre sie deutlich und betont klar, diese mir bekannte Stimme. Es ist meine Stimme. Meine innere Stimme, die mir diese Frage stellt. Ein Moment des Abwartens. Eine Pause in der Pause.

Doch dann höre ich mich, höre meine Stimme klar und deutlich antworten: »Ja, ich will leben.« Mit dieser Antwort zerbricht die Stille. Der Film rennt weiter.

Meine Arme beginnen erneut zu ringen, um irgendwie auftauchen zu können. Arme, Beine, Gedanken – alles an mir arbeitet, um an die Oberfläche zu gelangen. Ich will leben. Ich will jetzt überleben.

Gleichzeitig schießt es mir durch den Kopf: die Tennisplätze. Mit den immens hohen Gitterzäunen! Ich treibe dorthin. Wenn ich jetzt dort stecken bleibe, mich womöglich in diesen verfange?

»Es geht alles gut, du schaffst es«, sage ich mir. »Durchhalten. Nur durchhalten, du schaffst es«, geht es mir tausend Male durch den Kopf.

Und tatsächlich. Luft. Endlich Luft. Ich atme durch. Huste, atme, huste, atme. Immer und immer wieder. Es brennt und schmerzt, das Atmen, ja, doch der Anblick der Hölle, der ich entronnen bin, nimmt mir den gerade zurückgewonnenen Atem beinahe wieder.

Längst bin ich aus der Hotelanlage raus. Hunderte Meter von ihr entfernt. »Was ist das hier?« Eine Frage. Meine Frage. Ein Gedanke. Das Wasser fordert mich noch immer. Ich versuche, mich an der Oberfläche zu halten. »Es ist die Sintflut. Und ich mitten drin.« Der nächste Gedanke: »Ich muss handeln.« Da, vor mir treibt ein Auto. Ein silberner Van. Instinktiv, schnell packe ich den Seitenspiegel.

»Vater, Vater, bitte, hilf! Hörst du mich?« Ich lasse mich mit dem Auto weitertreiben, schaue gleichzeitig um mich, frage mich: »Was, was mache ich als Nächstes? Wo sind andere Menschen? Es waren doch vor Minuten noch so viele Menschen da! Wo sind sie alle?«

Alles Mögliche treibt im Wasser. Ich ziehe meinen Körper noch fester an den Wagen, um so sperrigen Hindernissen auszuweichen. Ich fühle mich durch die Größe des Wagens geschützt. Mein Verstand weigert sich wahrzuhaben, was die Augen sehen. Nein, das ist nicht wahr. Es ist ein Albtraum. Es ist nicht wahr.

Es ist jetzt Mittag. Die Sonne brennt. Doch wirklich heiß sind die Tränen, die mein Gesicht bedecken. Unwillkürlich. Auf einmal will es raus aus mir. Mein Herz gibt das drängende Wort frei und ich höre mich »danke« sagen.

Die Fluten rauschen an mir vorbei. Ich werde ihrer gewahr. Werde meiner Situation gewahr. Ich bin weit außerhalb der Anlage und treibe auf einen Wald im Landesinneren zu.

»Mein Gott, viel zu eng stehen die Bäume nebeneinander. Da werde ich zerschmettert.« In diesem Moment beginnt auch der Wagen zu sinken. Ich will mich verzweifelt weiter festhalten, doch lasse los. Muss loslassen, los- und zulassen.

»Was – passiert – jetzt?«, geht es mir durch den Kopf. Das Wasser kommt zurück. Ja, es treibt wieder in die andere Richtung. In Richtung der Anlage, dem Meer zu.

Ich schaue mich nach etwas um, an dem ich mich wieder festhalten kann. Auf einen Baum hinauf möchte ich, das wäre gut. Eine Palme kommt für mich aber nicht in Frage. Das Wasser hat eine viel zu hohe Geschwindigkeit. Ich könnte mich an ihr nicht für längere Zeit festhalten. Und klettern kann ich auf so hohe Palmen erst recht nicht. Nicht einmal in Todesangst, wie jetzt.

Ich nehme einen Nadelbaum ins Visier. Er befindet sich in etwa jener Richtung, in die das Wasser mich treibt. Ja, diesen Baum schaffe ich. Unzählige Gegenstände haben sich am und um den Baum verfangen. An einem der Gegenstände würde ich mich zuerst festhalten, um mich dann langsam auf den Baum hinaufzuhangeln. Ich denke pragmatisch, und dementsprechend handle ich. Es gelingt mir nicht, direkt auf den Baum zuzutreiben. Ich halte mich erst einmal an einem ins Wasser hängenden Ast fest. Hänge, gleich einer schiefen Fahne, an ihm. Atme ein. Atme aus. Vorsichtig ziehe ich mich Stück für Stück weiter. Bis ich eines der Bretter, die sich zwischen dem restlichen Gerümpel verkeilt haben, zu packen bekomme. Halte mich am Brett fest und steige vorsichtig auf irgendetwas drauf. Zuerst ganz leicht. Dann fester, als ich merke, dass es mein Gewicht hält. Dann klettere ich weiter hinauf. Ich schaffe es, an den Stamm des Baumes zu kommen. Steige auf den nächsten Ast und bleibe stehen.

Durchhalten. Abwarten. Atmen. Mein Überleben ist vorerst gesichert! »Interessant«, denke ich, »dass man letztlich doch überleben will!«

Ich meine, wünsche, hoffe, dass ich mich mitten in einem Film befinde. »Lass es, bitte, ein Film sein, Vater, himmlischer Vater. Bitte, lass es nur ein Film sein!« Mit dieser Bitte im Herzen höre ich meine innere Stimme sagen: »Alles hat einen Sinn. Je schneller du annehmen kannst, akzeptieren kannst, desto besser. Du weißt das. Du weißt, dass alles einen Sinn im Leben hat. Nichts passiert, ohne dass es passieren soll. Du weißt das! Das gilt auch jetzt.«

Ursache und Wirkung. Ein ewiges Gesetz. Ich werde aus meiner inneren Kommunikation gerissen. Es gibt Stimmen. Ich höre da und dort Stimmen. Es sind Zurufe, Schreie, Menschen, die sich bemerkbar machen. Die ersten Lebenszeichen von Menschen, außer mir.

Auch ich will schreien. Ich will schreien nach meinen Kindern. Nach meinem Mann. Nach all den anderen Lieben. Ich rufe, nein, schreie verzweifelt: »Helmut, Alexander.« Und wieder: »Helmut, Alexander.« Sie sind jene Menschen, die in meiner Nähe sein müssten. So war es jedenfalls vor dem Unglück, jene, die mich hören könnten, meine ich. Doch keine Antwort.

Was soll ich tun? Erst einmal gar nichts, wird mir klar. Ich weiß nicht einmal, was überhaupt passiert ist. Was weiter passiert. Das Wasser zieht sich zurück. Endlich. Aber wird es wiederkommen? Und wo sind meine Lieben?!

Da ist sie wieder. Die Stimme. Die innere Stimme: »Sorge dich nicht. Es wird auch für sie gesorgt.« »So wie für euch hier und weiter weg dort«, denke ich, als ich all die kleinen Insekten, Spinnen und anderes Kleingetier sehe, das sich auf dem Baum herumbewegt. »Auch für euch wird gesorgt.« Es ist, als ob mir jemand aus der geistigen Welt mitteilen möchte: »Du bist jetzt in einer Situation, in der du nur auf dich schauen kannst. Schau, dass du selbst überlebst.«

Und tatsächlich, wenn ich mich so anschaue, dann stehe ich splitternackt, mit blutenden Schnittwunden an meinem ganzen Körper auf diesem Baum. Ich röchle mehr, als dass ich atme, und halte mich gerade noch an meinem Ast fest. Doch wie lange noch?

Jedes Zeitgefühl ist dahin. Mein Kopf ist klar. Keine Hysterie. Pure Verzweiflung über die Situation, ja. Eindeutig. Das auf jeden Fall. Gleichzeitig eine innere Gewissheit, dass hier etwas seinen Lauf genommen hat, das mein Leben für immer verändern wird.

Ich beginne zu überlegen, was ich als Nächstes tun soll. Es drängt mich zum Hotel. Ich will es wissen. Ich will wissen, was hier vor sich geht. Ich will wissen, wo der Rest meiner Familie ist. Die Hotelanlage ist aus meiner jetzigen Position ungefähr hundert Meter entfernt. Ich habe die Stufen zur Rezeption im Visier. Ich schätze, es sind an die dreißig Stufen, die hinaufführen. Die Baumallee vor der Anlage ist weggeschwemmt. Das Hotel ist architektonisch so gebaut, dass das Gebäude einer Pyramide gleicht, deren Spitze fehlt. Die Rezeption befindet sich auf der obersten Etage dieser Pyramide.

Ich schaue also zu den Stufen und beobachte das Wasser. Es zieht sich zurück. Nun, sobald es eine Höhe erreicht, bei der ich mich sicher fühle zu schwimmen, steige ich hier runter und springe ins Wasser. Irgendwann ist es so weit. Bestimmt!

Und dann ist der Moment da. Vorsichtig setze ich meinen Fuß auf irgendeinen Gegenstand des inzwischen noch größer gewordenen Berges aus Treibgut aller Art. Nun gilt es, den Ast loszulassen und sich auf allen Vieren ins Wasser hinunterzutasten. Ich habe mich bis jetzt ohne Brüche durchgeschlagen. »Das soll so bleiben«, denke ich.

Ich lasse mich ins Wasser hinab, kann mit den Zehenspitzen sogar den Boden berühren. »Langsam vorschwimmen, mich vorbewegen«, ich rede mit mir. Wie eine Führerin sage ich mir, was ich als Nächstes zu tun habe. Ich spüre ein Gefühl der Sicherheit, dass es gut gehen wird. Ich fühle kaum den Schmerz, den ich mir zufüge, als meine Schienbeine gegen irgendetwas im Wasser prallen. Es muss wohl ein Stück von der abgebrochenen Mauer der Auffahrt sein.

Gehen. Immer weitergehen. Ja nicht stehen bleiben. Das Wasser sinkt. Ich habe stets die Stufen vor Augen. Die Hälfte des Weges ist geschafft. Inzwischen sehe ich Menschen, die sich auf der Etage, auf der sich die Rezeption befindet, aufhalten. Einige Thailänder gehen bereits die Treppen hinunter. Sie haben hohe schwarze Gummistiefel an. Sie gehören zum provisorischen Hilfseinsatz des Hotels, vermute ich. Jetzt sehe ich immer mehr von der Rezeption.

Auf den Holzbalken des Daches sitzen Leute. Sie haben sich dort in Sicherheit gebracht. Sie kauern dort oben und warten ab. Ich bin beinahe bei den Stufen angelangt. Einer der Thailänder sieht mich. Er kommt mir entgegen. Er sieht, dass ich nackt bin. Zieht sich sein durchnässtes T-Shirt aus und reicht es mir. Mir laufen die Tränen über das Gesicht – und ich sage: »Danke.«

Die Leute starren mich an. Ich steige die Stufen weiter hinauf. Ich muss dabei aufpassen, nicht auf Nägel, Glasscherben oder anderes zu treten. Es ist rutschig. Es ist schlammig. Das Wasser war also auch hier oben, doch hat es hier wenig Schaden verursacht. Ich schaue mich um. Viele Menschen haben sich hierher gerettet. Es herrscht geradezu reger Betrieb.

Ich sehe mich um – und werde der vielen weißen Leintücher gewahr. Auch Menschen sehe ich, Menschen, die gleich Zombies einige Schritte in die eine, dann in die andere Richtung gehen. Ihr Blick zeigt, dass sie »abgeschaltet« haben. Ja, gerade so, als wäre innerlich ein Schalter auf körperliches Funktionieren bei gleichzeitiger Abwesenheit des Geistes gestellt.

Es liegt einiges Verbandsmaterial herum. Hier ist man also schon länger tätig. Man konnte anscheinend einiges organisieren. Rezeptionistinnen – sie sind an ihrer Hoteluniform zu erkennen – versorgen notdürftig die Gestrandeten. Der Shop, der sich auf derselben Etage befindet, hatte noch weiße Badeschlapfen aus weichem Gummi. Ich bekomme ein Paar in die Hand gedrückt.

Eine Frau sitzt auf einer meterhohen breiten Marmorplatte mit ausgestreckten Beinen und rücklings an eine hohe Säule gelehnt. Ich schätze sie auf etwa fünfzig Jahre. Sie ist aschfahl, hat blaue Ringe um die Augen. Ihr Blick schaut durch mich hindurch. Sie atmet schwer. Ich gehe weiter in Richtung unseres Gebäudekomplexes. Da sehe ich – endlich! – meine Schwester, schräg vor mir, nur etwa zwanzig Meter entfernt. Ich schreie: »Teresa, Teresa!« Sie schaut mich an. Unsere Augen treffen sich. Sie dreht den Kopf in die andere Richtung und ruft: »Sana, Sana ist da!«

Heiße Tränen rollen wieder über mein Gesicht. Ich schreie ihr zu: »Wer ist dort?« Und höre: »Helmut mit Alexander und Felix.«

»Oh Gott, Gott Vater, wie danke ich dir. Sie leben also!«

Meine Schwester kommt mir entgehen. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Ihre Hände halten ihren Nacken. Wir fallen uns in die Arme. Ich frage nichts. Ich spüre ihre panische Angst, die sie zu lähmen scheint. Sie schluchzt, will sprechen. Ich schaue, dass ich für sie einen Platz zum Sitzen bekomme. »Ich krieg keine Luft. Mein Gott, ich krieg keine Luft«, röchelt sie. »Beruhige dich, Teresa, alles wird gut.«

Wie vom himmlischen Vater geschickt, kommt ein Mann mit einer Schachtel zu uns herüber. In einer Hand hält er einen Nasenstift mit Pfefferminzaroma. Ich nehme den Stift, gebe ihn meiner Schwester in den einen Nasenflügel, dann in den anderen. Neben uns hat eine ältere Dame Platz genommen, oder sie war bereits da. Keine Ahnung. Alles geht schnell. Sehr schnell. Ihr Sohn steht vor ihr und schreit auf sie ein. Es sind Schweden, nehme ich an. Sie kriegt ebenfalls kaum Luft. Ich reiche dem Sohn den Stift. Halte gleichzeitig die Hand hin, um ihn auch wieder zurückzubekommen. Mache ihm verständlich, dass wir ihn teilen. Jetzt kriegt ihn wieder meine Schwester. Sie ist inzwischen zu Atem gekommen, doch beginnt sie hysterisch zu sprechen: »Ich habe solche Schmerzen im Nacken, alles tut weh. Was ist, wenn ich gelähmt bleibe? Ich kann nicht gehen. Mein Gott, ich will nicht im Rollstuhl leben.« Ich werde wütend: »Halt deinen Mund. Du hast gesehen, dass Felix lebt, du lebst. Jetzt reiß dich zusammen. Atme. Atme ein. Atme aus. Ein. Aus. Atme!« Ich sage es ihr immer wieder vor.

Sie beginnt zu erzählen: »Ich weiß nicht, wo Mama und Anita sind. Sie wollten auf die Toilette gehen. Sie waren kaum weg, da riefen und deuteten die Leute in Richtung Meer. Die meisten liefen hin. Sie wollten fotografieren. Keiner kapierte, was hier vor sich ging. Und im nächsten Moment war das Wasser schon überall! Es hat mich wie ein Sog hinuntergezogen. Zusammen mit dem Sand glaubte ich, im Schlamm zu ersticken. Es riss mich mit sich. Hinein zwischen die Bungalowreihe, durch die wir zum Frühstück gingen. Aus dem zweiten Stock haben mich dann Leute am Arm gepackt und über das Geländer gezogen. Als das Wasser zurückging, kam ich hier hoch zur Rezeption. Zuerst habe ich Helmut und die Buben gesehen, danach bist auch schon du erschienen.«

Während meine Schwester mir berichtet, gleitet mein Blick zu jener Frau, die sich auf der Marmorplatte befindet: Ihre Augen sind noch offen, alles starr durchdringend, alle Lebenszeichen erloschen.

»Teresa, alles wird gut. Du wirst jetzt mit diesen Leuten dort rübergehen. Sie haben begonnen, sich zu versammeln, um die Menschen von hier wegzutransportieren. Ich werde zu Helmut und den Kindern gehen.«

Tatsächlich haben Aufrufe zum Verlassen der Anlage die Leute in Bewegung versetzt. Aus der Ferne ist Motorengeräusch zu hören. An uns geht gerade ein junges Pärchen vorbei. Sie haben beide ihre Kleidung an und scheinen vollkommen unverletzt. Ich halte sie auf, bitte sie, meine Schwester hinüberzutragen. Sie mögen sie stützen. Sie könne kaum mehr gehen. Ich weiß nicht, wohin sie gebracht wird, nur würde sie ganz sicher in Sicherheit gebracht werden, und ich bin beruhigt, was ihre Person betrifft.

Ich drehe mich um. Ein weißes Leintuch ist über die Frau auf der Marmorplatte gelegt worden. Langsam gehe ich auf dem rutschigen, mit Schlamm bedeckten Boden weiter, um zu jenem Gebäude zu kommen, wo sich Helmut mit den zwei Buben befindet. Ich muss die Brücke hinuntergehen. Die Leiche eines älteren Thailänders liegt darauf ausgestreckt. Behutsam gehe ich vorbei. Ich habe keine Unterhose an, jedoch meine Blutung gestern Abend bekommen. Ich spüre das heiße Blut meine Innenschenkel hinunterrinnen.

An den Schenkeln und Waden habe ich mehrere Schnittwunden, besonders vorne, bei den Zehen, sind Fleischstücke, aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Aufprall auf ein Mauerstück unter Wasser, abgeschürft worden. »Mami«, ruft plötzlich eine süße, zarte Stimme. Ich blicke auf und sehe: meinen Alexander! »Mami, komm zu uns.« Er schaut aus dem zweiten Stock vom Geländer des Ganges hinunter. Hinter ihm steht Helmut, neben ihm sein Cousin Felix. Helmut und ich schauen uns an. Es ist nicht die Zeit für irgendwelche Worte. Ich gehe weiter.

Ich muss aufpassen auf dem Weg die Brücke hinunter und hinüber zum anderen Gebäude. Teile der Hoteleinrichtung und des Gepäcks der Gäste liegen verstreut und in Stücke gerissen im Schlamm. Schlamm ist überall, wo ich auch hintrete, wo immer ich auch hinschaue, überall Schlamm. Der Sand ist zusammen mit dem Wasser zu dieser schweren lehmartigen Masse geworden. Kaum steige ich hinein, versinke ich und rutsche einmal mehr, einmal weniger aus. Nur Millimeter für Millimeter geht es voran.

Von überall her – von näher und von weiter entfernt – höre ich Menschen, die sich in den verschiedensten Sprachen bemerkbar machen. Das ist doch der Yogalehrer! Ja, er trägt Gummistiefel und eine orangefarbene Jacke mit Signalleuchten. Er lebt also. Links von mir sehe ich, wie die Menschen die Anlage in Richtung Hügel verlassen. Von dort sollten sie mit Mopeds, Jeeps und den thailändischen Pick-ups, Kleinwagen mit großer Ladefläche, zu einer Erste-Hilfe-Station und dann weiter ins Spital gebracht werden, erfahre ich später. Um meine Schwester würde man sich sorgen, da war ich mir ganz sicher.

Ich bin bei den Stufen angekommen. Daneben befand sich einmal die Eingangstür zu unserem Zimmer. Ich blicke hin, doch sperriges Holz, vermutlich ein Kasten, versperrt mir die Sicht ins Innere. Ich gehe besonders langsam, auch auf den Treppen herrscht ein unsagbares Chaos. Und überall dieser Schlamm! Langsam, eine Stufe nach der anderen, schleppe ich mich hinauf. Ich kann nicht denken, ich will nicht denken. Es gibt hier so viele Fragen. Der Situation bewusst, in der wir uns befinden, akzeptiere ich diese Tatsache und gehe einfach weiter. Langsam. Stufe für Stufe. Ich hebe den Kopf und sehe sie. Nur noch einige Stufen, dann sind wir zusammen. Die Kinder sind aufgeregt. Sie sind unverletzt geblieben. Dank Helmut, seiner und ihrer himmlischen Helfer. Wir umarmen uns, so innig und in einem Gefühl tiefer Dankbarkeit, uns wiederzuhaben.

Hier oben im letzten Stock befinden sich noch andere Erwachsene und Kinder. Helmut führt mich in ein Zimmer. Gibt mir einen Gästebademantel. Ich zittere am ganzen Körper. »Leg dich auf das Bett. Ich habe meine Wunden selbst versorgt. Das machen wir jetzt auch bei dir.«

In den höheren Etagen sind die Zimmer unversehrt geblieben. Da sie noch nicht bewohnt waren, sind die Räume frisch und rein. Aus der Minibar hat er den Whisky genommen und die Wunden damit geputzt. Seine Haut an den Schienbeinen ist stark abgeschürft.

»Zwischendurch habe ich auch immer wieder einen Schluck genommen. Die Kinder haben zum Glück nichts abgekriegt. Sie sind vom Wasser zu mir auf die Terrasse gespült worden. Alexander hat eine Sonnenliege gepackt und ist mit ihr wie auf einer Welle zu mir getragen worden. Felix ebenfalls, nur hatte er einen Ring, an dem er sich festhielt. Mich presste das Wasser gegen die Vorderseite der Terrassenwand. Von hinten drückte ein Gegenstand auf meine Lungen und nahm mir den Atem, doch ich konnte ihn mit einem Ruck wegschieben. Im selben Moment kamen die Kinder und ich schrie: ›Räuberleiter rauf!‘ Felix überlegte, doch als er sah, wie flott Alexander hinaufsprang, machte er es ihm nach. Oben wurden sie von Leuten aus dem zweiten Stock in die Höhe gezogen. Das Wasser stieg rapide. Alles geschah in Sekundenschnelle.

Dann ging es hinauf in den nächsten Stock. Dort waren weitere Personen, die mithalfen und alle Menschen nach oben zogen. Mich hatte das Wasser eingeholt und ich hielt mich an den Holzlatten der Terrasse des zweiten Stockes fest, doch brustabwärts zog mich das Wasser hinein. Schließlich rammten sie von oben die Latten seitlich jener, an denen ich mich festhielt, ein und zogen mich rauf. Dabei wurde die Haut an meinen Schienbeinen abgeschürft. Es sollte nichts Ärgeres passieren!

Von oben konnten wir beobachten, wie die Welle zurückkam. Die zweite Welle war nicht mehr so hoch wie die erste, etwa sechs Meter. Die erste muss an die zehn Meter gewesen sein!«

Ich denke an unsere Tochter Alexandra-Anita. »Kleine Maus, wo bist du, was machst du jetzt? Es wird jemand da sein, der auf dich aufpasst, so wie ich es machen würde. Vertraue, vertraue, Sana, dass alles gut geht«, denke ich. Ich denke an meine Mama und spüre Angst: »Liebe Mami, sehe ich dich noch? Ich liebe dich so sehr. So unendlich sehr! Liebste Mama, Vater, was wartet noch auf uns? Und hat es seine Richtigkeit, dass der Mensch gerade so viel Leid erfahren darf und an Schwerem abbekommt, wie er in gewissen Situationen überhaupt ertragen kann?«

Ich frage Helmut nach unseren lieben Freunden. Da erfahre ich, dass Stephan heute, nachdem er gefrühstückt hatte, auf eine zweitägige Dschungeltour losgefahren war. Ich hatte das gar nicht mitbekommen. »Und die anderen?« – »Habe niemanden gesehen.« Er sagt mir nicht, dass er sich in unseren Zimmern umgesehen und Robert, den Sohn unserer Freunde, dort liegen gesehen hatte. Robert – der nach Hause wollte, um seine Prüfungen an der Universität abzulegen.

Ich liege auf dem Bett und schaue mich im Zimmer um. Meine Beine habe ich in einen Winkel von 90° gestellt und bewege die Unterbeine rauf und runter. Mein rechter Fuß beginnt anzuschwellen, das Fußgelenk ist bereits stark geschwollen. Dort, wo das Fleisch oberhalb der Zehen weggerissen wurde, hat sich die offene Wunde infiziert. Helmut schüttet Whisky darüber. »Es muss sein«, sagt er nur, als ich schreie. Ich weiß, dass es sein muss, doch es schmerzt einfach. Er bindet ein weißes Stück Tuch über die Wunde, damit das Fleisch nicht noch weiter einreißt.

Die zwei Buben sind auf der Terrasse. Ich schaue sie an und danke Gott innerlich, dass ich sie sehen darf. Noch dazu so unversehrt! Es ist gut, dass sie zu zweit sind. Auf diese Weise lenken sie sich gegenseitig ab. Sie schauen, was draußen passiert. Jetzt kommen sie herein. Alexander steigt zu mir aufs Bett. Ich weine. Er schaut mich an. Kein Wort. Er versteht. Legt seinen Kopf auf meine Brust. Ich streichle ihn. »Mein Gott, hab ich dich lieb, Kind.« Es tut mir gut, durch seine Haare zu streicheln und gleichzeitig zu spüren, wie meine Tränen die Wangen, den Hals entlangrinnen.

Draußen wird der Lärm immer stärker. Es sind Aufforderungen zu hören, die Anlage sofort zu verlassen. Keiner weiß, ob das Wasser wiederkommt. Es muss alles schnell gehen, auch wenn es in diesem Moment nicht nach einer weiteren Gefahr aussieht. Alle Personen, die sich auf derselben Etage wie wir befinden, gehen langsam und sehr behutsam die Treppen hinunter. Alle passen auf, dass sie ja nicht ausrutschen. Verletzungen wären beim Hinfallen kaum zu vermeiden bei all dem Gerümpel, das eins über dem anderen liegt. Unten angekommen, werden wir per Handzeichen aufgefordert zu kommen.

Die Erde ist nichts als Matsch. Mit jedem Schritt müssen wir uns aus der glitschigen Masse befreien. Das unpassende Schuhwerk ist auch nicht hilfreich. Die Kinder schimpfen, wollen die Schlapfen wegschmeißen. »Lasst sie unbedingt an, sonst verletzt ihr euch womöglich an Scherben oder Nägeln.« Sie werden einsichtig.

Doch innerlich schimpfe auch ich. Mir tut alles weh. Trotzdem heißt es weiterzugehen. Nur nicht nachdenken. Einfach tun. Jetzt ist gehen angesagt, so gut es eben geht. Es sind etwa dreihundert Meter bis zu der Stelle, an der dann tatsächlich ein Pick-up wartet.

Er fährt gerade mit einer vollen Ladung Personen weg. Einer der Zuweiser sagt: »Er bringt die Leute auf die Hauptstraße zur Erste-Hilfe-Station und kommt dann wieder zurück. Es müssen gleich mehrere Autos kommen. Doch die wenigsten können durch diesen Schlamm fahren. Daher müssen alle zu Fuß gehen, bis sie auf festen Boden kommen, um von dort aus abtransportiert zu werden.« An der Sammelstelle angekommen, warten wir in der größten Mittagshitze.

Drei Stunden, seitdem die Welt sich um 180° gedreht hat

Es sind jetzt gut drei Stunden vergangen, seit sich die Welt für viele Menschen auf diesem Planeten um 180° gedreht hat. Ich fühle, dass dies ein einschneidendes Erlebnis für alle Menschen dieser Welt ist. Es ist der Beginn einer anderen Welt. Es ist der Beginn der wahrhaften Wirkungszeit der geistigen Welt. Es ist ein Zeichen für alle Bewohner der Erde. Es sind die ersten Worte der Mutter Erde, in Taten umgesetzt. Durch dieses Ereignis hat Mutter Erde gesprochen. Sie hatte viel sanfter zu ihren Erdenbewohnern gesprochen. Zu leise für viele Ohren. Zu zart im Vergleich zum groben Lärm, dem wir uns täglich aussetzen. Nun, jetzt ist sie laut geworden. Es liegt ihr fern, so grobe Töne anzuschlagen. Sie will uns bloß erreichen. Es ist ihre Pflicht, uns zu vermitteln, was der Menschheit demnächst bevorsteht.

Sie würde es viel lieber im gegenseitigen Respekt machen. Das wäre ihre Art. Doch hat der Mensch den Respekt vor der Erde verloren.

Sie würde es viel lieber in gegenseitiger Liebe machen. Das wäre ihre Art. Doch der Mensch hat den göttlichen Liebesfunken in sich erlöschen lassen.

Unser Planet Erde wäre gar nicht angewiesen auf die Hilfe des Menschen. Er liebt die Menschen trotz der vielen Wunden, die ihm und vielen auf ihm lebenden Wesen täglich von Menschenhand zugefügt werden. Wunden, die so stark und schmerzhaft sind, dass er laut schreien muss, damit der Mensch aufwacht! Unsere Mutter Erde setzt all diese Zeichen aus Liebe. Aus Liebe zu jenen, ihren Peinigern, die sie doch retten will. Retten und hinübertragen in eine neue Dimension. In eine Dimension, die so evolutionär ist, dass sie des Menschen Verstand sprengen würde. Darum beginnt sie, sein Herz vorzubereiten. Denn das Herz des Menschen kennt diese Dimension. Es versteht, dass es sich hier um ein neues Bewusstsein handelt. Das Herz versteht mit dem Herzen. Dem Ort, dessen Sprache die reine Liebe ist.

Der Mensch muss seiner Versklavung entwachsen. Er hat sich auf seinem Weg zum Vater verirrt. Ganz einfach verirrt. Hat sich ablenken lassen. Hat jede Menge an Ablenkungen erfunden. Hat sich im Erfinden der Ablenkungen verirrt. Immer dann, wenn er meint, das Labyrinth verlassen zu wollen, lockt ihn der Ruf einer neuen Erfindung eines neuen Erfinders. So hat er sich im eigenen Netz verstrickt. Laut schreiend, zappelt er um Hilfe. Was passiert? Das Netz um ihn wird immer enger. Je mehr er zappelt, desto mehr verfängt er sich. Er will sich befreien, doch daraus wird nichts. Er zappelt noch immer zu viel. Er schreit noch immer zu laut. Bis er schließlich erkennt, dass nur Ruhe und Stille ihn retten können, – und er sich mit dieser Erkenntnis in die Liebe des Vaters rettet.

Das wollte er schon von Anbeginn an. Damals, als er auf dem Weg zum Vater war. Damals, als er von seinem Weg abkam. Damals, als er seinen geistigen Funken zu verleugnen begann. Als er dem Licht den Rücken zukehrte. So ging er, von Ablenkungen geblendet, immer weiter. Der Vater folgte ihm, stand ihm stets beiseite, war und ist in ihm. Der Vater verließ ihn nie, denn er war neugierig darauf, was Ablenkungen alles vollbringen können. Er beobachtet, ohne zu bewerten, ohne zu beurteilen. Er. Ist.

Ich höre meine innere Stimme: »Vater, wann habe ich begonnen, mich ablenken zu lassen? Wann deine Stimme überhört? Wieso nur konnte ich mich so weit entfernen von deiner Führung? Vater, ich bitte dich, hilf, und ich danke dir für deine Hilfe.«

Inzwischen sind zwei Autos gekommen. Die Flotteren unter uns beginnen einzusteigen und den anderen beim Einsteigen zu helfen. Einige haben sogar Gepäck dabei – sie sind wohl in der in der obersten Etage liegenden Rezeption beim Ein- oder Auschecken von der Welle überrascht worden. Sie müssen wohl gerade angekommen sein, als das Wasser kam.

Als der Wagen ruckartig losfährt, schreien manche vor Schmerzen, doch sie verstummen rasch. Alle wollen nur weg. Weiter vorne, wo asphaltierter Boden ist, steht ein Sanitätswagen. Zwei Personen aus unserer Gruppe werden dorthin getragen.

Wir fahren weiter. Die Kinder sind in Badehosen gekleidet. Helmut auch. Ich trage über dem T-Shirt nun diesen dünnen Gästebademantel. Er ist inzwischen voller Blutflecken. Auf unserem Wagen ist eine Familie aus Hongkong mit zwei Kindern. Eine weitere aus Slowenien, ebenfalls mit zwei Kindern. Sie haben Gepäck dabei. Alle sind unversehrt.

Für mich ist es noch immer unbegreiflich, was hier passiert war. Woher kam das Wasser? Wieso kam es? Und warum war es möglich, dass so eine Katastrophe passierte, ohne dass man uns warnte? Das war auch die Frage, die meine Schwester immer wieder gestellt hatte, als ich sie mit dem Nasenstift versorgte. Wir waren doch nicht im Dschungel. Die ganze Welt ist per Handy vereint, im Web vernetzt und trotzdem konnte so etwas passieren! Es ist und blieb mir vorerst unbegreiflich. Lange noch.

Mein Verstand suchte nach einer Erklärung. Mein Herz wusste: Egal, welche Antwort sich fand, sie war unbedeutend. Es ist geschehen. Und daher zu akzeptieren. Es gilt, die Botschaft, die dahinter liegt, zu verstehen. Denn: Alles hat einen Sinn. Ich wusste das ja, doch dieses Wissen war mir jetzt nicht von Nutzen. Mein seelischer Schmerz pochte in mir, wie kaum ein körperlicher zu spüren wäre. Ich war hin- und hergerissen zwischen diesen Welten, mir Zwänge auferlegend. »Vater!« Immer wieder rufe ich nach dem Vater und bitte um und danke für Hilfe. Gebete – sie sollten jedenfalls noch meine letzte Rettung in Zeiten größter Verzweiflung, Angst und Schmerzen werden.

Wir sind an der Erste-Hilfe-Station angekommen. Der Wagen hält an. Vor mir erblicke ich ein thailändisches Sammeltaxi. Ich schaue genauer hin. Ist das nicht Gaby, die darin sitzt? Das Sammeltaxi scheint



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